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Generalstreik

Teestunde mit Rolf...Moin Rolf, wieder mal nichts über Raben. Aber diese Teestunde ist ein Zwischenspiel zu dem, was wir in der nächsten Woche vorhaben. Daher: Erzähl' uns doch mal wieder eine Geschichte, Rolf. Der Tee ist serviert ...

Generalstreik

Es gibt Momente, da hat man zu nichts Lust.

Vor allem nicht zu den Dingen, die man eigentlich machen müsste. In diesem Fall wären das die Raben-Geschichten.

 

Aber weil ich in der darauffolgenden Teestunde zum hundertsten Jahrestag vom Untergang der »Titanic« mich diesem Thema widmen möchte, will ich heute nichts bringen, was evtl. Kommentare nach sich ziehen würde, auf die eine Antwort nötig ist.

Glücklicherweise ist mir beim Sichten meiner halb vergessenen Kurzgeschichten anlässlich der Suche nach der »Geister-Stunde« noch eine Story aus der ›Zamorra-Zeit‹ in die Hände gefallen, die es wert ist, auf diese Weise vor dem Vergessen gerettet zu werden. Wie bei mir damals in der ›Horror-Zeit‹ üblich: Der Anfang voller Dramatik - und dann wird daraus so etwas wie eine Satire.

Als die Story geschrieben wurde, gab es noch im US-Staat New York die Todesstrafe. Wie bei den anderen Geschichten auch, ist hier etwas die Feile darüber geglitten, was aber keine Veränderung der Substanz bedeutet.

Sie passt auch schön in die derzeitige politische Situation, weil sich bei der Gewerkschaft VERDI ein Streik anbahnen könnte. Und um Streik geht es auch in dieser Geschichte. Genauer gesagt um einen ...
General-Streik
 
"Nein, Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben", flüsterte der Henker mit leiser Stimme. "Unter meiner Hand zu sterben ist geradezu ein Vergnügen. Es geht schneller, als wenn man einen Zahn zieht. Dafür ist es weniger schmerzhaft!"

"Wenn das so ist, dann ziehen Sie mir lieber einen Zahn!", krächzte Jack Cortello, und auf seiner Stirn perlten Tropfen von kaltem Schweiß. Er hoffte, dass er sich wenigstens noch einen guten Abgang verschaffen konnte. Auch wenn er hündische Angst vor dem hatte, was jetzt vor ihm lag.

Das Sterben.

Wenn Cortello die Augen schloss, glaubte er, unter einem schmutzig-gelben, ein Gerippe umflatterndes Totenlaken einen blanken Schädel hervorgrinsen zu sehen. Von dem Sand in dem altertümlichen Stundenglas, das ihm die Inkarnation des Todes empor hielt, rieselten gerade die letzten Partikel nach unten. Und vom Blatt der Sense in der Knochenhand schienen kleine, zuckende Blitze auszugehen. In den Augenhöhlen aber lag eine grauenerregende Leere.

Die Leere der Ewigkeit - die auf Jack Cortello wartete, wenn die Hand des Henkers den Energieschalter nach unten gelegt und die Welt einen Schwerverbrecher weniger hatte.

Jack Cortello war ein Wolf der Bronx gewesen. Was man ihm nicht gutwillig gab, das nahm er sich. Wer ihm etwas verweigerte oder es gar wagte, sich Cortello in den Weg zu stellen, der musste die Konsequenzen tragen. Dass dies bedeutete, dass Menschen dabei starben, ließ dieses menschliche Raubtier stets kalt.

Genau so kalt, wie Jack Cortello den Spruch des Richters über sich ergehen ließ, nachdem die Hand des Gesetzes endgültig zugegriffen hatte. Sein Pflichtverteidiger hatte seinen Job getan und seinem Mandanten schon vorher klar gemacht, dass er sein Leben nur retten könne, wenn er auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren würde. Doch das wusste Cortello mit seinen Aussagen zu verhindern. Den Rest seines Lebens in der Irrenanstalt verbringen - nein, lieber sollte es rasch zu Ende gehen.

So war der Schuldspruch der Geschworenen und das Todesurteil des Gerichts von Anfang an absehbar. Und wegen der Vielzahl und der Scheußlichkeiten seiner Verbrechen wagte es niemand, für Jack Cortello ein Gnadengesuch zu stellen.

Und heute war der Tag gekommen, an dem der vielfache Mörder nach dem Spruch des Gerichts durch die Hand des Henkers vom Leben zum Tode befördert werden sollte. Und bis dieser Moment gekommen war, hatte Jack Cortello die bevorstehende Hinrichtung kalt gelassen.

Doch schon das Pasta-Gericht nach einem besonderen Rezept aus der Gegend von Napoli, das ihm als Henkersmahlzeit serviert wurde, wollte Cortello überhaupt nicht munden und der exklusive Wein aus der Toscana war ihm in diesem Moment wie Essig. 

Den katholischen Priester hatte Jack Cortello noch mit einem Aufwallen seines wilden Temperaments aus der Zelle geworfen. Doch als dann dieser hagere Mann im unauffälligen dunklen Anzug mit dem bleichen Gesicht und den stechenden Augen die Zelle betrat und Cortello mit Interesse musterte, war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei.

Würgende Angst stieg in ihm hoch. Die beiden kräftigen Begleiter des Henkers mussten ihn mehr schleifen, als dass sie ihn durch die Gänge führten, die zur "Kammer" führten. Die Kammer, in der die Urteile durch den elektrischen Stuhl vollstreckt wurden.

Es ist dein letzter Gang, Jack Cortello. Und am Ende deines letzten Weges nimmt die Vollstreckung des irdischen Richtspruches seinen Lauf. Danach hast du in dieser Welt deine Taten gesühnt. Doch wie wird das Urteil in jener anderen Welt lauten, an die dich deine Mutter einst glauben lehrte ...?

Trotz des von Cortellos Faust blau gezeichneten Auges hatte es sich der Priester nicht nehmen lassen, den Verurteilten auf seinem letzten Gang zu begleiten.

"Denken Sie daran, Cortello, dass Sie nach der Arbeit des Henkers vor einem anderen Richter stehen werden!", vernahm Cortello die Stimme des Gottesmannes wie einen Hauch aus der Ewigkeit. "In weniger als einer Stunde werden Sie ihm gegenüber stehen ..."

Jetzt sprang es Jack Cortello an wie ein reißendes Tier. Die Angst! Ja, jetzt musste er sterben. Nichts half mehr. Gar nichts. In weniger als einer Stunde war er ausgelöscht. So ausgelöscht - wie die vielen anderen Menschenleben, die er ausgelöscht hatte.

Doch daran dachte Jack Cortello jetzt nicht. Denn außer der grauenvollen Angst vor dem Sterben wuchsen darüber die Schatten der Angst vor dem zweiten Richter, vor dem er gleich stehen musste.

Der große Richter. Und das große Urteil! Und danach kam ... die Ewigkeit! Der Himmel und die Seligkeit, an die er einmal als Kind geglaubt hatte. Himmel und Seligkeit ... für ihn und das Leben, das er geführt hatte ...?

Jack Cortello sah sich als Kind in der Kirche knien, als ihm zum ersten Mal das Sakrament des Altares gereicht wurde. Denn das war das letzte Mal, dass er mit guten Gedanken ein Gotteshaus betreten hatte. Gewiss, er war auch später gelegentlich noch das eine oder andere Mal in einer Kirche gewesen. Doch nur, um als Halbwüchsiger die Opferstöcke zu knacken und später die goldenen Kelche und Patenen aus den Tabernakeln zu rauben. Doch das konnte man wohl kaum als "Kirchgänge" bezeichnen.

Auch diese Dinge würden neben vielen anderen Gewaltverbrechen auf der großen Abrechnungsliste stehen, die man ihm vor Gottes Thron vorlegen würde.

Es war sicher keine Frage, wie das Urteil des Ewigen Richters bei aller Barmherzigkeit ausfallen würde.

In der Hölle heizten die gewiss schon die Kessel für Jack Cortello vor.

Jedenfalls hatte man ihm in seiner Kindheit vonseiten der Geistlichkeit versichert, dass die armen Seelen in der Hölle gekocht und gebraten würden. Und so hatte es sicher seine Berechtigung, als Hochwürden ihm den Begriff "Satansbraten" hinterher rief, als Jack Cortello die frisch zubereitete Weihnachtsgans aus der Pfarrküche mauste und damit den Beginn seiner zweifelhaften Karriere begann.

Und nun kam das Ende dieser "Karriere". Unausweichlich.

Cortello nahm kaum das Klappern der Essgeschirre wahr, die seine Mitgefangenen gegen die Gitterstäbe ihrer Zellen schlugen, um ihm mit diesem ohrenbetäubenden Rasseln die letzte Ehre zu erweisen.

Die Todesmelodie von Sing-Sing.

"Keine Bange, mein Junge, es geht alles ganz schnell!", erklärte Jonathan Smith, der das magere Gehalt seines Jobs in der Bekleidungskammer der Strafanstalt durch die Arbeit des Henkers auf ein Niveau brachte, dass er davon einigermaßen leben konnte. "Das Ende auf dem Stuhl ist sicher. Todsicher!"

Als sich die Tür zum Hinrichtungsraum öffnete, bäumte sich Jack Cortellos Körper noch einmal auf und warf sich zurück. Doch schon hatte man ihn in den kleinen Raum hineingezerrt. Die Zigarette, die zwischen seinen Lippen gezittert hatte, fiel herab und verglomm am Boden.

Die beiden Gehilfen des Henkers verstanden ihr Handwerk. Sie hielten den mit Handschellen gesicherten Körper Cortellos aufrecht, während der anwesende Staatsanwalt noch einmal das Urteil verlas. In den Augen der Zeugen, die bei der Hinrichtung anwesend sein mussten, lag eine Mischung von Abscheu und mit Neugier gepaarter gespielter Gleichgültigkeit.

"Henker, walte deines Amtes!", waren die für Cortello grässlich klingenden Worte, mit denen der Staatsanwalt seine schier endlosen Ausführungen beschloss.

Aus dem Mund des Delinquenten kam ein angstvolles Krächzen, als ihn die beiden Gehilfen des Henkers zu dem im Zentrum des Raumes stehenden Stuhl schleiften und ihn geschickt mit den Gurten festzurrten. Über den Körper des Schwerverbrechers lief ein Schauer der Angst, als man die Metallklammern um seine Körperteile legte, durch die gleich der Starkstrom fließen sollte.

Mit einem Schwamm, den er aus einem Eimer Wasser immer wieder nass machte, behandelte der Henker besonders die Kontaktstellen an Armen und Beinen und den Kopf. Denn durch das Wasser würden die Energieströme besser durch den Körper geleitet und der Tod trat schneller ein. Kein Henker lässt die Menschen, die er durch Richterspruch töten muss, länger den Tod fühlen, als es unbedingt notwendig ist.

Obwohl sich Jonathan Smith und seine Gehilfen beeilten, schien es Jack Cortello wie eine Ewigkeit, bis die Strompole an seinem Körper verteilt und angeschlossen waren.

Totenbleich saß der Priester auf dem Stuhl, den man für ihn bei den Zuschauern reserviert hatte. Nur seine Lippen bewegten sich im stummen Gebet.

Als der Henker den Hebel ergriff und nach unten legte, durch den die Gewalt des Starkstroms frei wurde, um durch Cortellos Körper zu rasen, brach die letzte Selbstbeherrschung des Verbrechers zusammen. Wimmernd schrie er nach seiner Mutter. Und dann warfen die gewaltigen Stromstöße den Körper des Verurteilten hin und her.

Doch der anwesende Arzt schüttelte nach einer kurzen Untersuchung des Körpers auf dem Todesstuhl den Kopf. Jack Cortello lebte noch. Und wie der Arzt verwundert feststellte und den Anwesenden erklärte, hatte sein Körper durch den Strom keinen wesentlichen Schaden genommen.

"Bringen Sie den Fall zu Ende, Smith!", knurrte der Staatsanwalt unwirsch. "Ich habe heute noch andere Dinge zu tun, als mich mit so einer Routineangelegenheit aufzuhalten."

Wortlos drehte Jonathan Smith die Schaltung auf höchste Leistung. Die Dosis würde einen ausgewachsenen Grizzlybären umwerfen. Der Körper des kleinwüchsigen Italo-Amerikaners konnte diese Stromkapazität unter keinen Umständen ertragen.

Wieder wurde der Todeshebel des elektrischen Stuhls umgelegt.

Doch wieder war der Erfolg negativ. Wie der Arzt bei seiner raschen Untersuchung feststellen konnte, lebte Jack Cortello noch und erfreute sich bester Gesundheit. 

"Das ist die Hand Gottes!", stieß der Priester hervor und sprang von seinem Stuhl, als habe ihn der Hieb einer Bullpeitsche getroffen. "Der Allmächtige selbst hat hier eingegriffen und das Urteil des weltlichen Richters vernichtet. Dieser Mann muss begnadigt werden und ..."

Doch trafen die Worte des Priesters nicht so ganz die Wahrheit. Eine Wahrheit, die auch mit dem logischen, mathematisch denkenden Verstand eines Menschen nicht zu begreifen ist.

Niemand der Anwesenden, auch der Geistliche nicht, konnte ahnen, was hier wirklich geschehen war. Denn der "Fall Cortello" wurde zum Kräftemessen zwischen dieser und jener Welt - zwischen oben und unten - zwischen Himmel und Hölle. Auch wenn Jack Cortello es dem Staatsanwalt, dem Henker, dem Priester und auch den anderen Anwesenden zu erklären versuchte, was sich dort in jener Welt jenseits des menschlichen Verstandes abgespielt hatte.

Wenden wir uns also diesen überirdischen Ereignissen zu und belassen es dabei, dass für Jack Cortello die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt wurde.

Für den Bruchteil einer Sekunde war Cortello tatsächlich tot gewesen. Und zwar sofort beim ersten Stromschlag.

Doch das goldene Tor über den Wolken war, wie schon anzunehmen, für ihn geschlossen.

"Sie haben sich wohl verlaufen, junger Mann!", wurde Cortello von einem älteren Herren mit langem, weißem Bart angebrüllt, der einen mächtigen Schlüssel zum Schlag hob. "Sie sind doch Jack Cortello, oder?"

"Ja ... ja, sicher", stammelte der Angesprochene. "Aber ich dachte, weil ich mal einer alten Dame über die Straße geholfen habe ... und das war doch sicher eine gute Tat ... oder?"

"Ich räume ein, das hätte als 'gute Tat' auch genügt für die Amnestie, die der Junior-Chef damals beim Boss rausgeschlagen hat", grollte Petrus. "Nur hast du der alten Dame dabei auch die Handtasche geklaut, und somit hast du eben nicht eine einzige gute Tat der Barmherzigkeit vorzuweisen.

Die Regelungen und Paragraphen des Neuen Testaments kommen somit für dich nicht in Betracht. Aber die älteren Gesetze des Moses hat der Junior, wie er damals sagte, ja nicht aufgehoben. Und die müssen eben zwingend auf deinen Fall angewandt werden.

Also kommt für dich jetzt die letzte Annehmlichkeit für den Rest der Ewigkeit, die das Schicksal für dich bereit hält. Die Treppe, die du jetzt gehen musst, führt abwärts ..."

Bevor Jack Cortello noch etwas sagen oder gar protestieren konnte, kamen zwei Typen in langen, persil-weißen Gewändern mit aufglühenden Laserschwertern. Es sirrte einige Male in der Luft, dann rannte Jack Cortello verängstigt die Treppe hinunter. Sie war lang. Sehr lang. Aber irgendwann war sie zu Ende.

Jack Cortello stand vor dem schwarzen Tor. Dem Eingang nach Dis, der Höllenstadt. Das Tor, hinter dem sich die ewige Verdammnis verbarg. Zaghaft klopfte Cortello an.

Ein kleines Sichtfenster in der Tür klappte herunter und eine rot gebrannte Visage mit Hakennase und kurzen Hörnern vorn auf der Stirn wurde sichtbar.

"Schwirr ab, mein Junge!", krächzte es aus dem hässlichen Mund mit dem gelblich bleckenden Raubtiergebiss und der züngelnden Schlangenzunge. "Hier wird ab jetzt gestreikt! Und so lange der Streik dauert, kommt niemand mehr in die Hölle!"

"Ja, aber was soll ich denn jetzt tun?", fragte Cortello verwirrt.

"Mir doch egal. Mach dich einfach wieder in deinen Körper und leb' weiter!", knurrte der Unter-Teufel. "Und du bleibst gefälligst so lange am Leben, bis die da oben auf unsere gerechtfertigten Forderungen eingehen. Und wenn das eine Ewigkeit dauern sollte. Wenn die da oben einlenken, kannst du wieder kommen - wenn du dann noch mal stirbst. Wenn nicht ... na ja, mir wär's da oben in der Welt zu langweilig. Hier unten ist mehr los."

"Streik? Die Hölle geschlossen? Was soll das bloß bedeuten?", stieß Cortello hervor.

"Frag nicht, Junge. Akzeptiere es einfach!", lachte der Höllenpförtner. "Du bist nur der Erste, der hier unten ankommt, seit wir den Laden dichtgemacht haben. Aber es werden noch viele kommen. Sehr viele. Und es kann denen über den Wolken gar nicht recht sein, wenn die alle wieder zurückgeschickt werden.

Da gibt es nämlich gewisse ewige Gesetze, nach denen die da oben sich richten müssen."

Aus diesem Grund durfte Jack Cortello zurück in seinen Körper und weiterleben. Nur, dass eben nicht, wie der Priester annahm, die göttliche Gnade das bewirkte, sondern dass ein Generalstreik der Hölle dafür verantwortlich war ...

*    *    * 

"Was soll das heißen, Asmodis?", klang die Stimme des Petrus aus dem Hörer. "Warum lasst ihr keinen Sünder mehr in euer Reich?"

"Ja, weißt du, mein Bester", dehnte der Fürst der Finsternis seine Rede und lehnte sich auf seinem Knochenthron zurück, dem ein leichter Überzug aus rot flüssiger Lava mit Verzierungen aus goldgelbem Schwefel ein aristokratisches Äußeres gab, "wir haben es hier unten langsam satt, dass hier immer mehr Typen herkommen, die ihr da oben nicht haben wollt."

"Bei dieser sündigen Welt müssen wir im Himmel eben die gleichen Maßstäbe anlegen wie die Schweiz, wenn dort jemand hinein will", sagte Petrus vorsichtig. "Du weißt doch, wie penibel der Chef ist. Und ihr wart doch sonst gegen alle Sünder so offen und habt alles genommen, was so kam. Im Gegenteil, ihr habt durch eure Verführungskünste und Abschlüsse von Höllenpakten immer noch versucht, eure Kontingente zu vergrößern."

"Aber bei uns werden langsam die Unterbringungsmöglichkeiten knapp!", brachte Asmodis die Sache auf den Punkt. "Von den Arbeitsplätzen ganz zu schweigen ..."

"Aber ihr habt unter den Scharen der Hölle doch auch gewisse Abgänge!", klang die Stimme des Petrus durch den Hörer. "Ich erinnere mich da an gewisse Dämonenjäger auf der Erde ...!"

"Die dürfen aber wegen diverser Jugendschutz-Vorschriften unsere Scharen nicht mehr so hinwegfegen wie gewisse Politiker, Diplomaten und sonstige Honoratioren das Wild bei einer Diplomatenjagd", gab Asmodis zu bedenken. "Nun rechne doch einfach mal nach, Simon. Wenn John Sinclair pro Woche zwei Dämonen fertigmacht und Professor Zamorra samt Tony Ballard sogar nur alle zwei Wochen ein paar Höllendiener - glaubst du, das kann unsere Bestände hier so dezimieren, dass es mal richtig rucken würde und wir mal wieder etwas Platz hier bekämen?

Durch eure blöden Vorschriften habt ihr im Himmel fast Numerus Clausus für jedermann. Wer auf dem Planeten Erde soll denn im zwanzigsten Jahrhundert, nach den Regeln der Bergpredigt gemessen, den geeigneten Notendurchschnitt bekommen, um bei euch einzuziehen?"

"Na, hör mal, Assi!", brauste Petrus auf. "Ich habe hier auch so meine Probleme. Der Papst hat schon wieder eine ganze Reihe seltsamer Figuren heilig gesprochen. Und denen steht hier natürlich ein Sitz erster Klasse in der Nähe vom Direktorium zu. Wo soll ich denn die alle unterbringen? Alles bei den Heiligen drängt sich nach vorn und will mit aufs Bild, wenn irgendein Maler die Dreifaltigkeit darstellt."

"Ich denke, da sitzen so honorige Leute wie Abraham, Moses, Salomon oder die Propheten? Die werden doch wohl solche Jungfüchse nicht etwa in die Nähe vom Alten lassen!", keckerte Asmodis.

"Stimmt, mein Bester!", gab Petrus zurück. "Natürlich, meine Apostel-Kollegen und ich haben natürlich die besten Plätze. Nicht nur im Himmel, sondern auch auf den Bildern in den Kirchen. Und dazu natürlich diverse Heilige wie Georg, Nikolaus oder Martin, die überall bekannt und stets in Mode sind."

"So viel ich weiß, hat der Papst (damals Paul VI.) unlängst einigen sehr prominenten Heiligen die Existenz abgesprochen, weil sie von den Historikern nicht zu beweisen ist", kicherte der Fürst der Finsternis. "Und zu den Heiligen, die es somit nie gegeben hat, gehören auch Georg und Nikolaus!"

"Ja, denkst du denn, die Engländer verzichten auf den Schutzpatron ihres Landes? Oder die katholischen Pfadfinder?", fuhr Petrus auf. "Und die Fantasy-Legende vom heiligen Georg und dem Drachen samt der geretteten Prinzessin verkauft sich immer noch gut.

Und selbst du als Teufel, mein lieber Asmodis, kannst nicht so roh sein, um den Kindern der Welt den Nikolaus wegnehmen zu wollen - samt der Geschenke, die er bringt. Also bleiben der Schorsche und der Nicki bei uns im Himmel. Auch wenn's der Papst anders sieht.

Der Junior schüttelt immer nur den Kopf, wenn er hört, welchen Unsinn sein angeblicher Stellvertreter in Rom manchmal so von sich gibt. Im Vertrauen hat er mir mal gesagt, dass er selbst schon aus der Kirche ausgetreten wäre. Denn zwischen der Macht, die Kaiphas zur Zeit seines Erden-Wandelns beansprucht hat, und dem, was der heutige Hohepriester des Vatikans für sich in Anspruch nehmen möchte, ist kein großer Unterschied. Damals wurde Jesus vom Sanhedrin, dem Hohen Rat, verurteilt - heute würde dies die Glaubenskongregation, die frühere Heilige Inquisition, erledigen."

Petrus hielt einen Moment inne, weil sich Asmodis am anderen Ende der Leitung vor Lachen ausschütteln wollte.

"Naja, ihr habt doch auch noch andere Abgänge da unten, Assi", sagte Petrus, nachdem sich die Heiterkeit des Höllenfürsten etwas gelegt hatte. "Denk mal an die unzähligen Seelen, die irgendwann mal wegen guter Führung aus dem Fegefeuer entlassen werden. Jedes Mal nach Allerseelen, wenn die fleißigen Beter die Ablässe runtergeleiert haben, ist hier oben ein Andrang wie beim Schlussverkauf. Fünfundzwanzig "Paternoster" mit fünfundzwanzig "Ave Maria" gebetet, das genügt schon, um eine arme Seele aus dem Fegefeuer zu erlösen. Das meinte jedenfalls mal ein Papst, und der Junior hat den Boss rumgekriegt, dass er das anerkannt hat.

Dieser Ablass gilt aber nur, so lange gebetet wird und nicht bezahlt werden muss, hat der Chef aber ausdrücklich gesagt. Aber, was glaubst du, wie schnell manche Leute diese Anzahl von Gebeten fertig haben, um dann sofort neu zu beginnen? Frag mich doch mal, wo ich die alle unterbringen soll, auf die wir hier im Himmel überhaupt nicht vorbereitet sind. Ja, Assi, das willst du jetzt nicht hören. Ihr habt wenigstens immer noch mal durch eure Dämonenjäger-Clique etwas Freiraum. Aber bei mir hier ist das anders.

Engel und Heilige sterben nicht!"

"Das wollen wir doch mal sehen - am Tag von Armageddon!" Sicherheitshalber hielt Asmodis bei diesen Worten die Sprachmuschel des Apparates zu. Doch dann kam er wieder zum Thema.

"Jeder hat seinen Job, Simon!", sagte er mit hart klingender Stimme. "Aber bei dem Streik, in den wir hier unten getreten sind, geht es um etwas anderes. Hast du mal davon gehört, was euer großer Boss damals verordnet hat, als er uns die Hölle einrichtete?"

"Ja, ich habe mal davon gehört", versuchte Petrus abzuwehren. "Aber er muss damals gute Laune gehabt haben ... was ja bei ihm selten ist ..."

"Immerhin sollten einige recht honorige Dämonenfürsten wie Vassago nach einigen Hunderttausend Jahren in der Hölle wegen guter Führung wieder bei euch in der Ewigen Seligkeit einziehen können, um als Engel Dienst zu schieben."

"Ja, weißt du, Assi, das wird ein echtes Problem!", versuchte Petrus sich herauszureden. "Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil weiß hier oben keiner mehr so recht, was Sache ist. Was man noch glauben muss und was man die ganze Zeit vorher falsch geglaubt hat. Außerdem würden Vassago und die anderen begnadigten Teufel den Chor der Seligen durch ihr Dämonengekrächze stören und ..."

"Das bedeutet, du nimmst die Teufel, die nächstens zur Amnestie fällig werden, nicht auf! Du weigerst dich, die in den Himmel reinzulassen!", stellte Asmodis fest und seine Stimme klang wie brechendes Glas.

"Es geht nicht!", jammerte Petrus. "Vielleicht sollten wir im Vatikan eine Schlichtungskommission einberufen und so lange herrscht Friedenspflicht. Aber ich kann nicht gegen die Vorschriften und ..."

"Wir pfeifen auf den Vatikan und auf eine Friedenspflicht!", erklärte Asmodis hart. "Wenn ihr in euren Ansichten keine Bewegung zeigt, bleibt es bei unserem Streik. Die Höllentore bleiben geschlossen und wir schicken alles, was ab jetzt kommt, wieder zurück auf die Erde ...!"

 *    *    *

Dir, liebe Leserin und lieber Leser - und eurer Fantasie sei nun nahe gelegt, darüber nachzudenken, ob der Generalstreik in der Hölle inzwischen beendet ist oder nicht.

Wenn ich mir die Menge von Halunken, die sich auf der Erde herumtummeln, so betrachte, hege ich da meine Zweifel.

Und diese Halunken vermehren sich wie die Kaninchen.

Also bleibt dir nur eins übrig: Werde genau so ein Halunke, um dich in diesem Leben zu behaupten. Denn nur, wenn du in dieser Welt ein hinreichend großer Schurke bist, kommst du einigermaßen zurecht.

Werde es aber nur dann, wenn du der festen Überzeugung bist, dass es zwischen Himmel und Hölle nicht eine gewisse Übereinkunft gibt.

Vielleicht schreibe ich irgendwann mal einen satirischen Roman darüber, dass einer ganzen Reihe von Teufeln ihre Untaten vergeben werden und sie sich im Himmel benehmen wie diverse Fußballfans in der Südkurve.

Denn wenn das geschieht, dann endet der Generalstreik in der Hölle.

Mal sehen, wann mich der Teufel reitet, diese Story zu Papier zu bringen.

E N D E
Nun, knapp dreißig Jahre sind inzwischen vergangen, und er hat mich noch nicht geritten, diese Story zu schreiben. Aber dafür habe ich diese hier für euch ausgegraben.

Ich wünsche euch ein frohes und stimmungsvolles Ostara-Fest.

Wir haben unseren Tee wieder in einer Woche ... an Bord unserer geistigen »Titanic« ...

Kommentare  

#1 Kerstin 2012-04-04 15:41
Diese Story ist Gold wert! Die würde jeden Deutschlehrer in den Wahnsinn treiben, einfach, weil sie so gar nicht in die Schubladen passt, die die Damen und Herren Pädagogen immer so gern benutzen. Dabei macht es wirklich Spaß, die Story zu lesen.

Da kommen so viele unerwartete Schwenks und Richtungsänderungen, und alles ist trotzdem richtig und wahr. Viel geändert hat sich in den 30 Jahren auch nicht. Das ist heute noch so zutreffend wie damals.

Nur Johannes Paul II hat einen Versuch gestartet, die Sache beizulegen, indem er so viele Exorzisten wie keiner seiner Vorgänger von der Kette gelassen hat. Anscheinend war die Wirkung aber nicht so recht zufriedenstellend. Es gibt ja immer noch nicht genug Platz in der Hölle, um z. B. die kinderschändenden Priester mal alle dort unterzubringen, wo sie hingehören.
#2 Loxagon 2012-04-05 20:19
Genial :)

Eines ia aber klar: wenns wirklich ein Jenseits gibt, wird man 100pro genau so über die Kirche denken.

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