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Das rosa Einhorn

SF StoryDas rosa Einhorn
- In Erinnerung an das Elektrische Schaf -

Paulus Fuß stieß an einen Körper. Mitten in der Nacht. Auf dem Dach eines Hochhauses. Eines wirklich hohen Hochhauses.

Er stubste noch einmal dagegen.

"Lebst du noch?"

"Hast du Kippen?" Paulus schüttelte den Kopf. Erinnerte sich dann an die Dunkelheit und verneinte.

"Dann nicht."

Paulus lachte und hielt ihm eine Hand hin. "Nenn mich Paul."


***

Paul saß in der Kabine des Militärlabors und starrte aus dem Fenster in den Regen. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee, die vor sich hin dampfte, ohne dass er sie angerührt hatte. Er war in Gedanken versunken. Er verstand Menschen manchmal mehr, manchmal weniger. Nicht, das er kein Mensch war, aber in solchen Momenten distanzierte er sich gerne von den anderen und nahm sich selbst als Außen stehend wahr.

Er nahm mit einem Seufzen den kleinen Löffel in die Hand und rührte mit gleichmäßigen Bewegungen in der Tasse hin und her. Sein Blick glitt vom Fenster auf die anderen Menschen in der Cafeteria. Sie alle trugen weiße Kittel und stachen nicht so hervor wie er mit seinem schwarzen Hemd. Alle schienen es irgendwie eilig zu haben, hatten keinen Blick für die Schönheit eines Sommerregens übrig, der träge gegen die Scheiben klopfte. Paul ließ vom Rühren ab und legte beide Hände flach auf den Tisch. Er wusste noch nicht so recht, wie er seine neuerliche Aufgabe anfangen sollte. Doc würde ihn wahrscheinlich auslachen, wenn er ihm davon erzählen sollte.

Es stimmte schon, die Wissenschaftler mussten aufgehalten werden, zulange hatte man sie aus den Augen verloren, konnten so ungestört ihrer Arbeit nachgehen, doch nun waren sie zu weit gekommen. Manchmal fragte sich Paul, warum man ihnen das logische eigenständige Denken gegeben hatte, aber vielleicht war es am Ende doch so das Beste. Er tippte mit dem Finger kurz gegen die Kaffeetasse und beobachtete wie die entstandenen Wellen gegeneinander schlugen. Aus den Augenwinkeln verfolgte er weiterhin die Menschen um sich herum. Er musste einen Plan fassen.

Eine Person am Ende des Raumes weckte sein Aufmerksamkeit. Rote lange Haare leuchteten im grellen Licht der Neon-Röhren. Grünliche Augen funkelten die Menschen um sich herum an. Eine Frau, die sich nichts sagen ließ. Sie rauschte durch die Stuhlreihen. Paul konnte gerade noch einen Blick auf ihren Sicherheitsausweis erhaschen, ehe sie auch schon an ihm vorbei war. Dr. Marissa Maberre, Space Science Dep., Human Genetic Research Project.
Paul hatte einen Anfang für seinen Auftrag gefunden.

***

Es machte Ping, ein dumpfer Knall, und zwei, dann drei, vier Lampen begannen im wilden Takt zu leuchten. Marissa hämmerte wütend auf den Schalter vor ihr, drückte ihn noch weiter, als bereits die ganze Anlage schwieg und die Bildschirme vor ihr erloschen waren. Die einzigen Geräusche im Labor waren ihr heftiger Atem und das Knacken, der sich abkühlenden Röhren. Sie hätte Heulen können. Die Arbeit von zwei endlosen Jahren in drei winzigen Sekunden dahin. Sie ließ vom Schalter ab und lehnte sich im Bürostuhl zurück, den Kopf im Nacken betrachtete sie das Gitternetz der Decke. Sie begann zu zählen. Ein Rechteck. Zwei. Drei. Sie brauchte bis zum 127ten um sich soweit zu beruhigen, dass sie aufstehen und den Raum verlassen konnte. Sie ging zum nahen Schreibtisch und raffte die notwendigen Unterlagen zusammen, die sie garantiert brauchen würde. Sie klemmte sich ebenfalls den beiseite gelegten Sicherheitsausweis wieder an die Brusttasche ihre Laborkittels. Einen Moment blieb Marissa unschlüssig stehen, ihr Blick streifte die Apparatur an dem sie 'Sklavendienst' verrichtet hatte. Alles hatte so viel versprechend ausgesehen. Und nun- Sie schüttelte den Kopf. Es half nichts, sie musste Meldung machen und dann auf Fehlersuche gehen. Auch Fehler konnten am Ende dienlich sein. Mit energischen Schritten begab sie sich zur Tür und löste die Sperre. Geräuschlos glitt das Metall zur Seite. Marissa straffte ihre Schultern und reihte sich in den Strom der anderen Weißkittel ein.

***

"Warum hast du mir damals eigentlichen geholfen? Und sag mir jetzt nicht, Er hat es dir befohlen." Paul lachte nur als Antwort.
"Paul!"
"Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, du hast wie ein verlorener Köter ausgesehen, der nicht wusste was geschehen war und wohin er sollte?" Doc zog die Augenbrauen zusammen.
"Nicht wirklich, außer dass ich mal wieder deine soziale Ader berührt habe, was ich irgendwie ständig tue." Paul lachte wieder.
"So bin ich eben, damit musst du endlich klar kommen." Doc schnaubte nur und zündet sich eine neue Zigarette an. Er blies den Rauch in die Luft, die grauen Rauchschwaden setzen sich vor dem sonst schwarzen Himmel ab.
"Was wirst du jetzt machen?" Paul seufzte leise.
"Warten."

***

Marissa starrte ihren Vorgesetzten an. Fassungslos. Sie musste einen Moment nachdenken um zu überlegen ob sie ihn auch wirklich richtig verstanden hatte. Er hatte sie nicht in Grund und Boden gestampft, obwohl sie gerade geschätzte 5 Milliarden an Forschungsgeldern in der Luft pulverisiert hatte und das ohne wirkliches Ergebnis. Nein, er tätschelte ihr den Kopf und schickte sie auf Fehlersuche. Unfähig irgendetwas in ihrem Kopf zu verarbeiten öffnete sie ein paar Mal erfolglos den Mund und schloss ihn wieder. Ihr Vorgesetzter lächelte nur. Marissa spürte wie ihre Hände zu zittern begannen, ein Zeichen dafür, dass sie dabei war die Kontrolle zu verlieren. Sie ballte die Hand, die sie in der Kitteltasche hatte zu einer Faust. Die kurz geschnittenen Fingernägel gruben sich dabei in den Handballen. Der Schmerz war eine willkommene Ablenkung. Sie nickte einmal scharf, dann drehte sich Marissa auf dem Absatz herum und verließ den Raum. Die Tür glitt geräuschlos hinter ihr zu. Sie hielt nicht an, bis sie wieder in den sicheren Gefilden ihres Labors war. Sie schmiss die Unterlagen auf den Schreibtisch und ließ sich schwer atmend in den Stuhl fallen. Ihr Herz raste, die Hände zitterten und ihre Gedanken wirbelten unkoordiniert durcheinander. Sie musste sich fassen. Sie konnte doch froh sein, das sie nicht rausgeworfen worden war. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass sie ihre Arbeit ohne Probleme fortsetzen konnte. Man bekam in diesem Bereich sonst nie eine zweite Chance; und doch, die Art wie sie behandelt worden war, kratzte etwas an ihr. Wie ein kleines Kind, das mit Förmchen spielte, hatte er sie behandelt, abgehandelt. Aber, sie würden schon sehen. Sie würde den Nachweis über die rätselhafte Weltraumkrankheit liefern. Sie würde eine Heilung finden. Marissa schlug mit der Faust auf die Stuhllehne und erhob sich. Ihre Finger huschten über die Tastatur des riesigen Gerätes, fuhren es erneut hoch. Sie brauchte die log-Dateien, dann konnte sie mit der Fehlersuche beginnen.

***

Sie brauchte drei Tage um die Dateien auszuwerten, und am Ende fragte sie sich ob es überhaupt stimmen konnte. Nicht wies daraufhin, dass das, was geschehen war, auch hätte geschehen sollen. Überhaupt nichts. Alles ist seinen gewohnten Gang gegangen. Das Implodieren der drei Nano-Röhren, die das Gen-Material beinhaltet hatten, hätte gar nicht geschehen dürfen. Physikalisch gesehen war es unmöglich. Besonders, weil bei einer eventuellen Störung das System von sich aus hätte reagieren müssen, es war so angelegt worden,  von ihr selbst. Marissa schob die Brille hoch und rieb sich einmal über die Nasenwurzel. Das konnte doch nicht wahr sein.

Ihr Blick fiel auf die Maschine vor ihr. Sie musste wohl das Gerät auseinander nehmen, wenn die Sensoren nichts Außergewöhnliches erfasst hatten. Doch was sollte sie finden? Sie seufzte, erhob sich wieder und begann in den hintersten Winkeln des Labors nach dem passenden Werkzeug zu suchen. Schließlich hatte sie den Großteil selbst erbaut, da würde sie es auch wieder auseinander nehmen können. Auch wenn sie es nicht wirklich wollte, denn die ganze Apparatur war ihr ganzer Stolz, es sollte ihr Lebenswerk werden. Der dünne Schraubenzieher wog schwer in ihrer Hand. Sie seufzte erneut. Es half nichts. Gekonnt setzte sie das Werkzeug an.

***

"Willst du eigentlich jemals mit dem Rauchen aufhören?" Doc schaute überrascht auf.
"Warum sollte ich?" Paul zuckte nur mit den Schulter.
"Warum nicht." Doc lächelte nur.
"Außerdem immer auf den Häuserdächern der Hochhäusern und immer Mitten in der Nacht, vor allem wenn der Himmel Sternlos ist."
"Es erinnert mich."
"Woran?"
Doch Doc lächelte nur.
Es war lange Zeit später. "An Erinnerungen."

***

Wie lange sie gebraucht hatte, vermochte Marissa am Ende nicht zu sagen. Sie verlor sowieso immer den Sinn für die Zeit, wenn sie sich mit ihrer Wissenschaft beschäftigte. Alles andere war auch nicht wichtig. Es war ihrer nicht würdig. Sie hatte sich inzwischen zu den Teströhren mit dem Material vorgekämpft und starrte diese an. Sie hatte es bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt, das die Röhren aus dem speziellen Nano-Material wirklich implodiert waren; und doch - jede der drei Röhren wurde von feinen Haarrissen durchzogen. Sie war sich sicher, wenn sie mit dem Finger dagegen stoßen würde, würden sie in sich zusammenfallen. Marissa hielt in ihren Bewegungen einen Moment inne und rieb sich erneut mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand über die Nasenwurzel. Was sollte sie machen? Sie musste die Röhren halbwegs intakt herausbekommen und unter dem Hochleistungsscanner der 2. Sektion untersuchen. Die 2. Sektion, Hauptabteilung der Luft- und Raumtechnik des Militärs. Marissa rieb sich noch etwas mehr über die Nasenwurzel. Wenn sie den Scanner benutzen wollte, musste sie den Leiter um Erlaubnis bitten, doch dieser Leiter war ihr Vater. Und dieser war nicht der Mann, der KEINE Fragen stellte. Er würde wissen wollen, was geschehen war und wo ihre Fehler in den Berechnungen gelegen  hatten, sie würde vor ihm ihren Fehler ausbreiten müssen, so wie sie es schon immer getan hatte. Immer schon seit - Marissa brach den Gedanken ab. Es ging um die Wissenschaft. Ihr Va-, der Leiter musste das einfach verstehen. Sie setze sich auf und legte die Werkzeuge zur Seite. Sie ging zurück zum Schreibtisch und schaltete ihr portables Netbook ein. Mit wenigen Fingertippen hatte sie spezielle Kisten für die Röhren angefordert, damit diese nicht kontaminiert wurden, wenn sie sie barg. Ebenso hinterließ sie im verlinkten Notizbuch des Leiter der 2. Sektion eine Notiz, in der sie ihn um einen Gesprächstermin bat. Sie wusste, er würde auf seine Antwort warten lassen. Umso besser, dann konnte sie noch einmal Ruhe ihr Datenmaterial durchgehen um ihren Argumenten Stichhaltigkeit zu verleihen.

***

Am Ende brauchte er Stunden um zu Antworten. Inzwischen hatte sie die Röhren sicher verpacken können. Sie hatte nicht wirklich etwas Neues in ihren Daten gefunden, nicht, dass sie dies am Ende erwartet hatte, dennoch, vielleicht. Immerhin konnte sie dann in der sich anschließenden stundenlangen Diskussion mit dem Leiter, ihren Standpunkt verteidigen; auch hatte er erst nachgegeben nachdem sie ihm die Daten vorgelegt hatte und er nach einem ausführlichen Studium zu keinem anderen Ergebnis gekommen war. Nun hatte sie einen Pass für den Scanner und konnte ihn solange benutzen, wie sie ihn brauchte. Sie hatte Neugierde geweckt, denn nichts stachelte einen Wissenschaftler mehr an, als ein ungelöstes wissenschaftliches Problem. Sie fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte als sie den abgeschotteten Scannerraum betrat. Diese Gerät, diese Maschine war alles was ihr Herz brauchte. Sie war ihre Seele, ihr alles. Jedes Mal wenn Marissa sie bediente, fühlte sie sich als würde sie Sex haben. Sie kam nicht oft dazu, der Leiter der 2. Sektion hielt sie unter Verschluss, bewachte sie mit Argus-Augen. Als wäre er eifersüchtig auf jeden, der ihr auch nur zu nahe kam. Vielleicht war er das ja sogar. Marissa zuckte im Geiste mit den Schultern, in diesem Moment war es egal. Sie saß an dem Apparat und durfte ihn bedienen, mit seiner Hilfe würde sie das Rätsel lösen können.

Der Scanner summte leise, als würde er mit Freude erwarten was geschehen würde. Als würde er wissen, dass er einmal mehr im Begriff war, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, daran teil haben, am großartigen Gefühl etwas Neues zu entdecken und es der Öffentlichkeit zu präsentieren, dieses unglaubliche Glücksgefühl, das den Körper erbeben ließ, wenn man herausfand, wie die Dinge am Ende zusammen gehörten und sich vor allem auch zusammenfügten. Wenn die Puzzle-Teile zu einem Ganzen endlich zusammenfielen und alles einfach Sinn machte.

Mit geübten Fingern spannte sie die Kiste mit den Röhren in den Aufsatz für den Scanner, sie brauchte sie nicht auszupacken, die Maschine würde durch alles hindurch dringen. Nur noch ein paar Knopfdrücke und alles befand sich in der richtigen Position. Marissa rückte sich den Stuhl vor dem Tisch mit dem verbundenen Computer zurecht und erweckte die Maschine zum endgültigen Leben. Es war wie ein Seufzen, das aus der Tiefe zu flüstern begann, ehe es anschwoll zu einem feinem Brummen. Ein beruhigendes Geräusch. Marissas Finger flogen über die Tastatur. Sie stellte Licht und Länge ein, Scanntiefe und Scannart. Die Details, die erfasst werden sollten, die Graphen, die ausgegeben werden sollten, all die wichtigen kleinen Dingen. Sie reihte Zahlenkolonne an Zahlenkolonne. Nach wenigen Minuten atmete sie einmal tief durch und gab das Kommando zum Start. Es würde ein halbe Stunde dauern und dann würde sie wissen was mit ihren Röhren geschehen war. Dann würde sie auch endlich weiter arbeiten können und ihrem Vorgesetzten beweisen, dass die Gelder an sie nicht verschwendet worden waren. Sie musste sich beeilen, die Zeit arbeitete immer schneller gegen sie, der nächste Raumflug war schon angesetzt und bis dahin musste sie eine Möglichkeit gefunden haben die Raumkrankheit bei interstellaren Sprüngen zu überwinden. Sie musste einfach. Es war eine Krankheit, die bisher jeden der Raumpiloten erfasst hatte, einige von ihnen hatten sogar ihr Leben lassen müssen. Die Lösung zum Problem musste im genetischen Code der Menschen selbst liegen. Warum genau konnte sie sich nicht erklären, dennoch es gab keine andere Möglichkeit mehr, man hatte alle anderen Faktoren bereits eliminiert, bevor die Leiter des Projekts an sie heran getreten waren.

Ihre Augen fixierten den Bildschirm, folgten jeder vorwärts kriechenden Linie auf den vielen Graphen. Noch konnte sie kein Muster erkennen, das ihr eine Erklärung geben würde. Aber der Scanner hatte gerade erst begonnen, nicht  mehr lange und alles würde zusammenfallen, alle Teile würden endlich ein Bild ergeben.  Marissa zwang sich, sich zu entspannen, sie musste ruhig werden und sich gedulden, dann würde auch alles gut werden, es wurde immer alles gut. Sie streckte die Arme von sich und stand auf. Es half nichts, vor sich hinzustarren. Sie ging einmal kurz im Raum auf und ab und wandte sich dann zur Tür. Nach einem kurzen Blick zurück, ging sie nach draußen. Sie verschloss den Eingang mit ihrem persönlichen Sicherheitscode und machte sich dann auf die Suche nach Kaffee. Sie würde ihn in Ruhe genießen können, niemand würde den Raum betreten können, während sie nicht da war. Ihre Schritte waren schon fast als vergnügt zu deuten, wenn es einen Menschen gegeben hätte, der sie hätte deuten können. So erschien sie allen nur so wie sie bisher auch immer war. Ein Mensch, der in einer schnurgeraden Linie durchs Leben ging.

Sie wusste welche Meinung man um sie herum über sie hatte. Die Menschen hatten immer Meinungen, sie bestanden regelrecht aus Meinungen, schon lange hatte sie aufgegeben sich darum einen Kopf zu machen.

Marissa bestellte sich in dem Stahlbau, der die Cafeteria bildete, einen Kaffee und setze sich an einen weit entfernten Platz am Fenster. Während sie mit langsamen und gleichmäßigen Bewegungen im Kaffee rührte, schweifte ihr Blick nach draußen. Ihr Blick zeichnete die sich auftürmenden grauen Wolken nach. Es würde bald regnen, wenn nicht gar ein Unwetter geben. Ihr Blick haschte von Punkt zu Punkt, während sie in ihrem Kopf über belanglose Dinge nachdachte, die in sich keinen Zusammenhang hatten. Sie müsste ihrer Pflanze mal wieder Wasser geben. Sollte sie hier oder zu Hause zu Abendessen. Was sie morgen anziehen sollte. Ihr Blick schweifte die Straße, die ersten Regentropfen klatschten gegen das Fenster, hinterließen gleichzeitig schwarze Punkte auf den grauen Gehwegen. Die Menschen begannen zu rennen. Nur eine Person nicht. Sie stand im Regen, den Kopf in den Nacken gelegt und schaute nach oben. Für einen Moment war es Marissa als würde die Gestalt sie direkt ansehen, was aber absolut absurd war, sie befand sich im vierten Stock, sie war von soweit unten gar nicht zu sehen. Sie wandte den Blick ab und folgte einem Moment einem unsichtbaren Muster auf dem glatten weißen Tisch vor sich. Einen Augenblick später schielte sie aus den Augenwinkeln wieder auf die Straße. Die Person war verschwunden. Vielleicht hatte sie sich alles auch nur eingebildet. Fest stand, es war am Ende unwichtig, warum sollte sie sich darüber auch nur Gedanken machen, sie hatte Wichtigeres zu tun.
Ihr Blick schweifte zur riesigen Digitalanzeige. Es wurde Zeit aufzubrechen. Der Scanner würde jeden Moment fertig werden. Sie ließ die Tasse stehen wo sie war, sie hatte keinen Schluck getrunken, und ging. Ihr Laborkittel raschelte leise, als sie durch die hellerleuchteten Gänge eilte. Sie war erregt, sie konnte das Ergebnis kaum erwarten. Jeder andere hätte auch jetzt wieder nichts besonderes an ihr ausgemacht. Es war wirklich unwichtig. Ihr Finger zitterten leicht als sie den Code erneut eingab und die Tür wieder einmal zur Seite glitt. Der Scanner summte noch, sie schaute den Bildschirm. Verschiedene Textfelder blinkten.  Es war vollbracht.

Sie zwang sich zu ruhigen Schritten, als sie näher kam. Sie schob den Stuhl nach hinten und setzte sich langsam hinein. Sie rückte alles so zu recht wie sie es brauchte und wandte dann erst den Blick auf den Bildschirm und erstarrte. Der Scanner war wirklich fertig geworden, doch das was sie sah konnte sie nicht so recht begreifen. Sie schloss kurz die Augen und wünschte sich das alles nur ein böser Traum wäre. Sie rieb sich mit den Fingern rechten Hand kurz über die Nasenwurzel, eine nervöse Geste, die sie in letzter Zeit viel zu oft machte, atmete einmal durch, legte ihre Hände in die richtige Position auf der Tastatur und begann noch einmal neu. Vielleicht hatte sich die Wahrheit nur ein bisschen mehr verborgen und nun galt es sie sie zu finden, ein bisschen Sucharbeit hatte noch niemandem geschadet.

Doch je mehr sie sich in die Materie vertiefte musste Marissa erkennen, das die Teile doch nicht einfach so zusammenfielen, wie sie es erwartet und auch gehofft hatte. Hoffnung war zwar etwas für Schwächlinge, jedoch musste sie in diesem Moment an etwas festhalten um nicht den Faden zu verlieren. Ihre Finger schlugen die Tasten noch immer im Sekundentakt. Bald stand das Ergebnis endgültig fest. Die Materie war aus sich heraus implodiert. Anscheinend einfach implodiert. Aber wie konnte DNS-Material implodieren? Marissa fuhr sich einmal durch die Haare. Es gab eine gewissen Wahrscheinlichkeit, dass das was eingetreten war auch eintreten konnte, doch nur unter anderen Umständen. Sie fuhr mit dem Zeigefinger abwechselnd über zwei Zahlenreihen und tippte leicht mit der Spitze gegen die Ergebnisse. Diese Zahlen stimmten nicht, sie hätten höher sein müssen, erst dann wäre das Umfeld gegeben in dem genetisches Material in sich selbst implodierte. Auch die Größe des Unfalls, hätte nicht sein dürfen. Sie tippte ein paar Befehle ein und ließ sich die Daten und die Graphen ausdrucken. Sie würde sich mit ihrem Vorgesetzten über ein weiteres Vorgehen beratschlagen müssen. Sie raffte die Unterlagen wieder einmal zusammen.

Sie schob sich zwischen den anderen Weißkitteln durch die hell erleuchteten Gänge. Niemand schien sie weiter zu beachten. Sie bog gerade in den Gang zum Chef-Büro ein, als sie das Gefühl hatte eine andere Welt zu betreten. Jeder Schritt, den sie näher an die Tür machte, schien unnatürlich in ihren Ohren zu hallen, was aber nicht möglich sein konnte. Nichts in dieser Einrichtung sorgte dafür, das der Schall sich veränderte und akustische Signale auf einmal anders wieder gegeben wurden. Sie fixierte ihren Blick auf die Tür ihres Chefs. Diese öffnete sich einen Spalt und dann ein wenig mehr. Eine Gestalt trat heraus und kam mit schnellen Schritten auf sie zu, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Es war wie in Zeitlupe, daran würde sich Marissa später immer erinnern. Ihr Blick glitt über den Mann, es war nur im Vorbeigehen. Er lächelte. Ihre Augen trafen sich, in seinen lag ein sonderbarer Ausdruck. Es waren die Bruchteile von Sekunden und schon waren sie aneinander vorüber. Und doch war ihr, als hätte sie einen Augenblick in eine andere Welt geblickt; sie war verwirrt.

Sie blieb einen Moment stehen und versuchte sich wieder zu fangen. Sie schaffte es nicht der Versuchung zu widerstehen und sich noch einmal nach ihm um zu drehen, doch der Gang hinter ihr war leer. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, wandte sich wieder zur Tür um und klopfte dagegen.

***

"Träumst du?" Doc zog überrascht die Augenbrauen hoch.
"Wovon sollte ich träumen?"
"Von dort."  Doc schwieg.
"Ich träume schon lange nicht mehr."
Schweigen. "Träumst du?"
"Wovon sollte ich noch träumen."
"Vielleicht Schafen?"
Paul lachte.

***

Paul schaute sich in dem Zimmer um, nur wenige Dinge zeugten davon, dass der Raum auch wirklich dauerhaft genutzt wurde. Im Grunde waren es nur die Sachen im Schrank, sowie die Zahnbürste und die Zahnpasta im Bad. Die Pflanze auf dem Fensterbrett schien schon länger tot zu sein, nur die vielen Stacheln wiesen sie noch als einen Kaktus aus. Der Kühlschrank war leer, genauso wie die Wände und der Schreibtisch. Paul stieß mit einem Schnauben die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte. Marissa schien wirklich im Labor zu leben, so wie es ihm gesagt worden war. Er hatte es nicht wirklich glauben wollen. Und doch, alles in dieser Wohnung schrie danach, dass in ihr nicht gewohnt wurde. Paul schüttelte sich einmal, er musste aus der Wohnung, sie war ihm einfach zu kalt. Er warf noch einen letzten Blick auf den armen Kaktus, ehe er durch die noch offene Wohnungstür nach draußen trat und diese sie hinter sich schloss. Er rückte die Kappe auf seinem Kopf so zurecht, dass die Kameras ihn nicht erfassen konnten, zumindest nicht soweit, dass sein Gesicht sichtbar wäre. Der gefälschte Ausweis, der an seiner Hemdtasche baumelte und aus ihm einen Elektro-Fachmann machte, ließ ihn genauso ohne Probleme raus, wie er ihn hineingelassen hatte. Ein eisiger Wind empfing ihn, als er nach draußen trat, der Sommer neigte sich endgültig dem Ende. Paul klappte den Kragen seiner Jacke hoch und schritt die kurze Straße zum Parkplatz hinab.

***

Marissa hatte keinen guten Tag gehabt. Freunde, wenn sie welche gehabt hätte, hätten wahrscheinlich gesagt, dass sie nie einen guten Tag hatte, aber das stimmte nicht. Gute Tage waren die Tage, an denen sie ihre Aufgaben schaffte, d.h. Tage an denen sie Lösungen zu den Problemen fand, die sie auf ihrem Schreibtisch am Morgen vorgefunden hatte. Dieses unglaubliche Glücksgefühl, das sie durchströmte, wenn sie auf dem richtigen Weg war und sie wusste, gleich würde sie am Ziel sein. Es war ein Kribbeln, das in ihren Fingerspitzen begann und sich durch die Hände und die Arme nach oben kämpfte und überall einen wohligen Schauer hinterließ. Das machte einen Tag zu einem guten Tag. Doch heute war es nicht dazu gekommen, ihr Vorgesetzter hatte sie sogar zum zweiten Mal in dieser Woche mit lapidaren und unbedeutenden Worten abgespeist. Sie hätte schreien können, doch sie schrie niemals. Eigentlich hatte sie auch nur kurz nach Hause kommen wollen um ihre Sachen zu wechseln, doch kaum war sie durch Tür getreten, wusste sie,  dass etwas anders war. Sie konnte nicht den Finger drauf legen, aber etwas hatte sich in ihrer Wohnung verändert. Alles wirkte so unberührt, wie sie es vor einiger Zeit verlassen hatte, und doch, auf einer fast molekularen Ebene war etwas anders. Ihre Hände ballten sich einen Moment zur Fäusten. Sie hasste Dinge, die ihren Zeitplan unerwartet durcheinander brachten. Nicht nur hatte sich nun ihre Zeit in der Wohnung verzögert, nein, nun würde sie auch noch den Portier fragen müssen, ob etwas vorgefallen war. Sie sah auf die Uhr, noch hatte sie Zeit. Sie hatte sich mit dem Leiter der 2. Abteilung ein weiteres Mal verabredet, das alleine brachte sie schon zum Zähneknirschen. Sie löste die Fäuste wieder und atmete einmal durch. Sie warf ein paar Sachen aus dem Schrank in eine mitgebrachte Tasche und drehte sich dann auf dem Absatz herum. Sie hasste den Portier, mit seinen öligen Haaren und den kleinen Schweinsäuglein. Sie schauderte jedes Mal. Mit energischen Schritten trat sie aus dem Fahrstuhl, der sie nach unten gebracht hatte und trat auf den Tresen zu, auf dem sich Monitor an Monitor reihte. Der Portier schien sie nicht zu bemerken. Marissa räusperte sich. Nichts. Sie räusperte sich erneut. Immer noch nichts. Es gab so viele Dinge, die sie hasste, doch an oberster Stelle rangierte ignoriert zu werden.

"Herr." Sie musste die Augen zusammenkneifen um die Schrift auf dem kleinen Schild an seiner Uniform zu lesen. "Bratzech?"

Endlich, seine Schweinsäuglein richteten sich auf sie. Sie schauderte.

"Ja, gnädige Frau?" Seine Stimme war zu hoch und nasal, noch mehr Dinge, die sie an ihm verabscheuen konnte. Marissa musste sich anstrengen um den Ekel nicht in ihrer Stimme mitklingen zu lassen, jedenfalls nicht allzu deutlich.

"Haben sie jemanden in meine Wohnung gelassen?"

"Nummer?"

"2074."

Seine Finger begannen gemächlich auf die Tasten der vor ihm liegenden Tastatur herabzustoßen. Marissa vergrub fasst ihre Fingernägel im Holz des Tresens. Es schien Ewigkeiten zu dauern, ehe das Klackern wieder erstarb.

"Ja. Einen Elektrofachmann für eine Routineuntersuchung."

"Warum?"

"Uh?" Sie musste kurz durchatmen, dann presste sie zwischen den Zähnen hervor.

"Wer. Hat. Ihn. Geschickt?"

"Die Hausverwaltung."

Diesmal musste sie sich wirklich beherrschen nicht laut los zu schreien. Eine fremde Person in ihrer Wohnung. Sie würde den Putzdienst rufen müssen. Zum Glück hatte sie keine wichtigen Unte- Ihr kam ein panischer Gedanke.

"Sie haben sich den Ausweis zeigen lassen?"

"'Türlich, 'türlich, gnädige Frau."

"Ich will ein Bild sehen."

Wieder wollten seine Finger anfangen über der Tastatur zu kreisen, auf der Jagd nach der richtigen Buchstabenkombination, da wurde es ihr zu bunt. Sie trat um den Tresen herum, schubste den anderen zur Seite, der mit einem überraschten Quieken fast vom Stuhl fiel, und attackierte das Programm mit ihren Befehlen. Es war ein ähnliches Überwachungssystem wie in ihrem Labor. Fünf Minuten später hatte sie ein vage verschwommenes Gesicht und einen Namen, beides vom Ausweis des Unbekannten, mehr hatte die Kamera nicht einfangen können. Nichts schien auf den ersten Blick anstößig und doch war etwas seltsam an der Sache. Wie schon in ihrer Wohnung konnte Marissa nicht wirklich den Finger drauf tun. Sie starrte das Bild an, bevor sie in Gedanken versunken zur Uhr an der Wand gegenüber sah. Sie fluchte. Sie löschte schnell die erfassten Daten, ignorierte die Parodie neben ihr und verschwand schnellen Schrittes im einsetzenden Regen. Sie war zu spät, sie war niemals zu spät.

***

"Wieviel braucht ein Mensch zum überleben?"
"Warum fragst du mich, du bist doch auch einer."
"Meine Zeit ist zu lange her."
"Wie lange?"
"Woher kommst du?" Pauls obligatorische Gegenfrage.
"Touché." Doc zog ein letztes Mal an seiner Zigarette.
"Meinst du, was ein Mensch an Essen braucht?"
"Nein, was braucht seine Seele um zu Überleben?" Doc schnippte den Stummel über die Brüstung.
"Gib mir Bescheid, wenn du die Antwort gefunden hast."
Paul starrte in die Dunkelheit.

***

Marissa hatte das Gefühl, dass der Tag einfach nicht besser wurde. Sie hatte es gerade noch zu dem Treffen geschafft, jedoch nicht ohne die Augenbraue zu erleben und die leicht zusammengezogene Stirn. Weitere Dinge, die sie verabscheute. Das Treffen an sich war ergebnislos geblieben. Er hatte eine Kopie der Daten bei sich behalten und gemeint er würde sich melden, sobald er etwas fand. Marissa würde nicht darauf wetten, sie beide waren Wissenschaftler im Herzen. Man versuchte immer den anderen irgendwie auszustechen. Warum sie ihm dennoch eine Kopie gegeben hatte? Sie hoffte, es würde ihn in den Wahnsinn treiben, dass er nichts finden konnte, so wie sie nichts fand. Und wenn doch, war sie eben zu unfähig gewesen und sie hatte dann in dem Beruf nichts zu suchen, nicht dass das alles einfacher machen würde. Ihr Stolz würde verletzt werden, ihr Stolz als Wissenschaftlerin. Sie blieb einen Moment in dem Gang stehen, durch den sie bereits seit fünf Minuten lief, jedoch nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass niemand sie sah. Sie atmete ein paar Mal stoßweise, ehe sie sich zwang, sich wieder zu beruhigen und zu sich zu finden, sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Einen Moment war ihr als würde sie ein Klingeln in den Ohren hören. Sie konzentrierte sich, nein, kein Klingel, es waren Klaviertöne. Klaviertöne?

Sie rieb sich einmal mit der freien Hand über die Nasenwurzel und zwang sich von dem Ort wieder weg zu kommen, an dem sie sich gedanklich gerade befinden musste. Und doch, die sanften Töne blieben. Ihr Herz machte einen Aussetzer als sie die Töne erkannte. Es war lange her, dass sie sie vernommen hatte. Sehr lange her. Damals, in einer anderen Zeit, einem anderen Leben, so erschien es ihr in den wenigen Augenblicken, die sie zuließ, bevor sie sich zwang erneut zu vergessen. Ein Lied ihrer Mutter. Selbst komponiert. Wenige Monate bevor sie starb und sich alles veränderte.

Wie in Trance begann sich Marissa vorwärts zu bewegen. Ihre Füße folgten von selbst den Tönen. Am Ende des Ganges, der ihr auf einmal schwarz vor kam, stand eine Tür einen Spalt offen, ein dünner Lichtschimmer fiel nach außen. Vorsichtig stupste sie mit den Fingern gegen die dunkle Fläche. Die Tür schwang nach innen auf. Seit wann hatte das Labor auch solche Türen? Die Töne wurden lauter, sie spähte in den Raum. Eine Person saß tatsächlich an einem Flügel, die Finger schienen über die Tastatur zu tanzen. Wiederholten die kurze sanfte Melodie immer wieder. Marissa spürte wie sich die Töne in sie hinein fraßen, eine Seite in ihr anstießen, die sie schon lange getötet hatte, zumindest dachte sie das. Sie sackte in die Knie, ihre Materialen fielen mit einem dumpfen Laut auf den Boden. Sie presste die Hände an die Ohren, doch konnte sie die Melodie nicht ausschließen. Sie war in ihr, tanzte durch sie hindurch. Dann erstarben die Töne. Marissa blickte auf. Die Person am Klavier atmete ruhig und drehte sich dann um. Sie kannte das Gesicht. Ein Mann. Doch woher? Er erhob sich. Kam auf sie zu. Sie konnte sich nicht rühren. Sie noch immer auf den Knien hatte Schwierigkeiten die Miene in dem dämmrigen Licht auszumachen. Sie hatte Angst. Sie hatte noch nie Angst gehabt. Eine Hand schob sich ihr entgegen. Sie wollte zurückweichen, doch sie konnte nicht. Wann wurde sie das letzte Mal berührt? Die Fingerkuppen stießen gegen ihre Haut. Etwas wisperte durch ihre Gedanken. Sie schrie. Dann Dunkelheit.

***

Sie erwachte an ihrem Schreibtisch. Sie rieb sich über die Augen und warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Sie hatte eine Stunde geschlafen. Sie war vom Treffen mit dem Leiter gekommen und hatte sich noch einmal etwas anschauen wollen, dabei musste sie eingeschlafen sein. Ihre Hand wanderte an die Stelle, wo der andere sie im Traum berührt hatte; noch immer hatte sie das Gefühl als würde sie die Musik hören, doch das konnte nicht möglich sein. Sie richtete sich im Stuhl auf und starrte einen Moment an die Decke. Sie brauchte Kaffee.

***

Marissa erlebte ein Dejavu, als sie zurückkehrte. Ein langer Gang, eine leicht offen stehende Tür am Ende. Ihre Tür! Eine Tür, die sie immer verschloss, mit ihrem eigenen Sicherheitscode. Sie stellte die Kaffeetasse, die sie diesmal mitgenommen hatte zur Seite auf den Boden und schlich sich dann nach vorne. Sie konnte nicht wie im Traum mit den Fingern gegen die Tür stupsen, da sie nicht nach innen auf schwenken konnte. Stattdessen schob sie ihr Gesichtsfeld in den Lichtkegel und versuchte zu erkennen, was in dem Raum vor sich ging. Einen Moment lang konnte sie nichts sehen, dennoch vernahm sie feine Tipp-Geräusche. Sie rollte den Kopf leicht nach links. Da saß jemand an ihrem Schreibtisch und klickte sich wild durch ihre Daten. Was genau die Person tat konnte sie nicht erkennen. Was sollte sie tun? Den Sicherheitsdienst holen? Den anderen zur Rede stellen? Sie war  nicht sehr sportlich und konnte sich im Notfall nicht verteidigen. Sie wollte sich gerade abwenden um die erste Möglichkeit umzusetzen, als eine Stimme aus dem Raum erklang.

"Kommen Sie ruhig rein Dr. Maberre, oder darf ich sie Marissa nennen?" Die Person drehte sich im Stuhl um und lächelte. Es war der Mann, der ihr im Flur vor dem Büro ihres Vorgesetzen begegnet war. Der Mann auf dem Foto, von ihrem Apartmentkomplex. Der Mann aus dem Traum. Marissa drückte die Tür zur Seite und ging hinein. Der andere lächelte noch immer.

"Wer sind Sie und vor allem was tun Sie hier. Dieser Bereich ist Verboten!" Sie lehnte sich gegen die Wand neben der Tür, damit es nicht auffiel, dass ihr Körper leicht zitterte. Der Fremde schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Er trug ein schwarzes Hemd.

"Mein Name ist Paulus." Er schwieg, sein Blick hing an ihr, als würde er überlegen, was er sagen konnte und was nicht. Sie wartete, ihr Blick huschte zwischen seinem Gesicht und dem Raum hin und her. Sie hatte das Gefühl, dass sie beide nicht alleine in dem Raum waren.

"Ich schaue mir ihre Forschung an und lösche sie." Marissa war sprachlos. Sie konnte nicht wirklich verarbeiten, was der andere gerade gesagt hatte. Ihre Forschung, wie bitte, löschen? Sie öffnete und schloss den Mund ein paar Mal ohne einen Laut von sich zu geben. Der andere lächelte sie noch immer freundlich an, sie konnte sehen, dass er es ernst meinte.

"Sie würden damit nicht davon kommen."

"Das denken Sie." Ja, das dachte sie wirklich. Aber er war immerhin mit einem Sicherheitscode, der nur zwei Personen, sie eingeschlossen bekannt war, in ihr Labor gekommen. Die andere Person, war... Sie stockte. Sie zwang sich den Gedanken zu Ende zu führen: Ihr Vorgesetzter. Sie hatte ihn getroffen, nach dem sie, wie war das, Paulus?, im Flur begegnet war. Da erschien er ihr normal. Das konnte nur heißen, das dieser den Code freiwillig raus gegeben hatte und was das hieß, darüber wollte sie gar nicht nachdenken. Sie fühlte wie ihr schlecht wurde. Sein Blick ruhte weiterhin auf ihr, als würde er wissen, was gerade in ihr vorging. Sie presste die Finger gegen die Wand hinter sich. Der leichte Schmerz holte sie zurück. In diesem Moment begannen Marissas Gedanken zu rasen. Warum sollte man sie sabotieren, sie verstand nicht. War sie deswegen nur so gleichgültig behandelt worden? Immerhin, wenn das Experiment fehlschlagen sollte , dann war es logisch, dass es keine Konsequenzen gegeben hatte. Dann war alles im Lot. Nur nicht für sie.

Paulus löste die Arme und legte die Hände flach auf seine Knie. Sein Lächeln wich einem anderen Ausdruck in seinen Augen. Sein Blick wurde weniger stechend, als würde er wissen, welche Verwirrung in ihr herrschte.

"Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass die Dinge nicht so sind wie sie zu sein scheinen?"
"Das sind sie niemals, die Dinge sind immer anders als man am Anfang annehmen könnte." Er lachte.

"Das ist wahrscheinlich auch in der Wissenschaft so." Sein Blick glitt nun an ihr vorbei und fixierte einen unbestimmten Punkt neben ihrem Kopf.

"Doch nicht nur in der Wissenschaft sind die Dinge anders. Die ganze Welt ist anders."

"Inwiefern?" Ihr Herzschlag beruhigte sich langsam, das Zittern hörte auf. Sie spürte wie ihre Muskeln sich begannen zu entspannen.

"Was ist Ihre Meinung zu Gott?" Nun lachte sie.

"Gott? Es gibt keinen Gott. Religion ist etwas für Schwache. Für jene, die keinen anderen Weg wissen sich in ihrer Umgebung zurecht zu finden. Menschen, die ihr Leben lieber einem unwirklichen Wesen anvertrauen, als sich wirklich um den eigenen Lebensweg zu kümmern. Ich habe nichts übrig für Gott." Das letzte Wort spuckte sie fast aus. Sein Blick wurde traurig.

"Diese Antwort habe ich fast erwartet. Erhofft hatte ich eine andere." Er drehte sich so schnell um, das sie gar nicht reagieren konnte. Wie in Trance musste sie zuschauen, wie seine Finger über die Tastatur tanzten und die Daten löschten. Sie stieß sich von der Wand ab und kam auf ihn zu. Sie hatte das Gefühl, sie würde sich selbst durch eine Kamera sehen, die in Zeitlupe abgespielt wurde. Doch in Wirklichkeit müssen es nur wenige Sekunden sein. Als sie den Stuhl erreichte, war dieser leer und die Datenanzeige auf dem Bildschirm zeigte 'Null' an.

***

"Ob du zu drastisch gewesen bist? Woher soll ich das wissen? Du hast die Ahnung von solchen Dingen. Ich nicht." Doc zog an seiner Zigarette. Paulus seufzte nur.

"Du wirst weiter machen müssen. Sie hat eine harte Schale, du musst sie knacken, du musst sie brechen. Anders wird es nicht gehen."

"Ich weiß!" Paulus raufte sich die Haare. "Das weiß ich doch alles." Sein Blick glitt über die Lichter der Stadt. "Und doch wünschte ich, dass es anders wäre."

"Das wünschten wir alle."

***

Marissa konnte sich vielem Rühmen. Sie war ein schlauer Geist und konnte Sachverhalte überdurchschnittlich schnell erkennen und durchschauen. Sie wusste Dinge einfach, so schnell war sie nicht hinters Licht zu führen. Nun musste sie aber fassungslos auf den Sicherheitsbildschirm vor sich schauen. Darauf war sie zu sehen und sonst nichts. Sie konnte sehen wie ihr selbst sich in einer Endlosschleife an die Wand presste, sie konnte sogar erkennen, das sie die Lippen bewegte. Aber ansonsten nichts. Der Stuhl vor ihrem Schreibtisch war leer und bewegte sich kein bisschen. Ihr Bildschirm war dunkel. Dennoch waren alle Daten von ihrem Computer verschwunden. Der Techniker hatte sie ausgelacht, als sie wollte, dass er die Daten wiederherstellte. Er wollte ihr nicht glauben, dass sie die Daten nicht selbst gelöscht hatte. Und nun musste sie sogar sehen, das sie rein gar nichts in der Hand hatte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und musste sich erneut vom Schreien abhalten. Sie ließ sich in ihren Schreibtischstuhl fallen fixierte das erstarrte Bild vor sich. Für einen Moment konnte sie nichts denken, in ihrem Kopf herrschte absolute Leere. Ihre Finger malten unbestimmte Muster auf die Stuhllehnen. Was sollte sie tun? Alles verdrängen, als wäre nichts geschehen? Das Projekt abgeben, weil sie keine Daten mehr hatte? Er/Es oder was auch immer, hatte auch die Back-Up-Dateien erwischt. Der Serverteil des Labors war wie leer gefegt. War sie am durchdrehen? Genie und Wahnsinn? Verfiel sie dem Wahnsinn allmählich?

"Alles ist normal in ihrem Kopf." Marissa zuckte zusammen. Neben ihr am Schreibtisch lehnte die Gestalt. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, der Blick ruhte erneut auf ihr. Marissa presste ihre Lider aufeinander.

"Nicht real, nicht real, nicht real, nicht real." Einem Mantra gleich murmelte sie die Worte immer wieder vor sich her. Ein Lachen unterbrach sie. Ein freundliches und offenes Lachen.

"Ich bin durchaus real, auch wenn nicht auf dem kleinen Maschinchen da auftauche. Sie können die Augen ruhig öffnen."

"Wer sind Sie? Was für eine Technologie nutzen Sie?" Wieder dieses Lachen und ein Kopfschütteln.
"Keine Technologie. Doch für mich gelten inzwischen andere Regeln, die die Welt betreffen." Marissa starrte ihn ungläubig an.

"Sie meinen aber nicht 'Gott' hätte Ihnen die Möglichkeit gegeben anders zu sein? Hätte für Sie die physikalischen Regeln dieser Welt verändert." Sein Blick bekam wieder diese Spur Traurigkeit, die sie wahnsinnig machte.

"Bis zu einem gewissen Grad, will ich genau das sagen." Marissa schnaubte.

"Beweisen Sie es."

"Ist mein Nichterscheinen auf ihrem Computer und mein plötzliches Verschwinden nicht Nachweis genug?" Sie schüttelte  energisch den Kopf.

"Das alles haben meine Sinne nicht wirklich wahrgenommen, und was ich nicht wahrnehme erkenne ich nicht an." Paulus seufzte und stieß sich vom Schreibtisch ab. Er trat noch ein Stück an Marissa heran und legte ihr eine Hand auf den Arm, sie zuckt ob des plötzlichen Kontakts leicht zusammen, dennoch, sie musste jetzt ruhig bleiben. Denn immerhin würde er einen Beweis erbringen müssen, etwas Handfestes, das sich nicht anzweifeln ließ. Sie spürte, wie die Stelle an der Haut auf Haut langsam warm wurde, fast schon heiß. Als sie nach oben schielte, sah sie das Paulus die Augen geschlossen hatte und sich seine Lippen lautlos bewegten als würde er zu jemanden in Gedanken sprechen. Seinem 'Gott' vielleicht. Sie schnaubte erneut. Es gab keinen Gott und damit aus. Die Hand presste sich fester, die Finger umschlangen ihren Unterarm und drückten zu, als sie sich schon aus dem schmerzhaften Griff versuchen wollte zu befreien, öffnete Paulus wieder die Augen, er lächelte und sagte nur: "Halt dich fest.", dann wurde es schwarz um sie herum.

Unwillkürlich schloss nun sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete befand sie sich noch in absoluter Schwärze, doch sie konnte langsam hellere Linien und Muster aus machen, sie vereinigten sich zu Schemen, die sie nicht wirklich deuten konnte. Lichtpunkte begannen an ihr vorbei zu wabern, sie tanzten für einen Moment in schrägen Linien um sie herum, ehe auch sie wieder in der Dunkelheit verschwanden. Sie spürte auf einmal eine Hand in der ihren. Als sie zur Seite blickte, sah sie Paulus, der sie festhielt und in eine andere Richtung starrte. Als sie es ihm gleich tat, sah sie, dass sich am Horizont ein heller Streifen bildete, der immer schneller anwuchs, bis er mehr als Zweidrittel der gesamten Fläche eingenommen hatte. Dann erstarb er. Marissa vernahm noch ein Grollen, dann wurde sie von der Helligkeit verschluckt. Diesmal musste sie die Augen schließen, weil sie sonst das Gefühl hatte erblinden zu müssen. Als sie diesmal ihre Lider wieder hob, sah sie zu erst nur blau, gelb und grün. Nur langsam wurde ihr Sehen wieder scharf. Sie roch Salz. Als sie sich stärker konzentrierte, konnte sie das Meer sehen und einen schier endlosen blauen Himmel. Sie richtete sich langsam auf, ihre Hände versanken dabei fast in weichem Ufersand. Das grün waren Palmen und andere Vegetationsformen.

Sie schaute sich um, konnte aber den anderen nirgendwo entdecken. Das Grün um sie herum wiegte sich in einem sanften Wind, der vom Meer her herüber wehte und den Geruch von Fisch und Salz mit sich trug. Ihr Herz raste. Wo war sie und wo war der andere? Ein Rascheln in ihrem Rücken ließ sie herum fahren. Sie machte sich kampfbereit, nicht das sie glaubte auch nur im geringsten eine Chance zu haben, aber was sollte sie auch sonst tun. Die Pflanzen teilten sich und aus dem Schatten tauchte Paulus' Gestalt auf, wie immer ein Grinsen auf den Lippen. Marissa entspannte sich einen Moment wieder, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und funkelte ihren gegenüber an.

"Sagen Sie der Projektionsabteilung ihr Holo-Programm funktioniert und dass der Witz nun lange genug ging und ich noch arbeite habe und wirklich gerne zurück möchte." Doch Paulus lachte nur erneut, trat näher auf sie zu, legte ihr wieder die Hand auf den Arm. Sie hörte noch die Worte 'Sie glaubt mir immer noch nicht' ehe wieder Schwärze um sie herum herrschte. Wieder fand sie sich in dieser sonderbaren Zwischenebene wieder, die voller Schemen und Muster. Hier und da glaubte sie in den wabernden Strukturen etwas zu erkennen, ein vertrautes Gesicht, das nur durch Schatten verborgen war, ein Muster, das sie an eine wissenschaftliche Struktur erinnerte. Sie kniff einen Moment die Augen zusammen um wieder klar denken zu können, dieses ganze Hin und Her vor ihren Augen machte sie nur unruhiger als sie sich eh schon fühlte. 'Und was, wenn es doch kein Holo-Programm war?' Doch mit einer energischen gedanklichen Wischbewegung fegte sie den Gedanken innerlich beiseite. Es konnte nichts anderes sein, es konnte einfach nicht. Die einzige wirkliche Macht dieser Welt war die Natur und die Wissenschaft, die die Natur endlich auch beherrschte. Sie hatten es geschafft, die Welt um sich herum zu zähmen und endgültig in Besitz zu nehmen, Dinge von denen ihre Vorfahren nur zu träumen und zu hoffen gewagt hatten. Religion, Glaube, gar ein Gott hatten darin nichts mehr zu suchen. Er war nicht Nicht-existent, er war tot.

Ihr Blick folgte den tanzenden Schatten um sie herum. Sie spürte wieder die Hand des Anderen in der ihrigen. Etwas in ihr, wahrscheinlich eine Art von Urangst, die jedem Menschen zu Teil war und die sich nie wirklich ablegen ließ, beruhigte sich dabei, auch wenn sie sich noch so sehr dagegen zu wehren versuchte. Dann erneut Schwärze. Als ihre Augen sich an das wenige Licht gewöhnt hatten nahm sie Lichtpunkte um sich herum war. Sterne. Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache. Es war ihr Sonnensystem, den Teil der endlosen Welt, den die Menschen im Augenblick noch ihr eignen nannten.

"Wenn wir das Universum mit unseren eigenen Augen sehen könnten, würde es niemals so aussehen." Die Stimme, die ihr antwortete war direkt neben ihrem Ohr.

"Das ist es, was ihr glaubt und auch glauben sollt." Marissa schnaubte. „Es ist die Grenze eurer sichtbaren Welt. Er wird alles dafür geben, dass ihr über diese Grenze niemals hinauskommt.“

"Das überzeugt mich noch weniger als die Karibikinsel." Paulus lachte nur.

"Dann muss ich doch zu drastischeren Mitteln greifen." Marissa drehte sich um, ihre Augen wurden schmal, als sie in das strahlende Gesicht schaute, das ihr viel zu nahe war.

"Was soll das heißen?" Doch kaum hatte sie die letzte Silbe ausgesprochen, wurde sie schon wieder in die Schemenwelt gezogen. Diesmal war es nur ein Blick, dann befand sie sich an einem Ort, den sie nur zu gut kannte und den sie eigentlich schon lange aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. Niemand konnte wissen wie dieser Ort ausgesehen hat. Nur sie und ihr Vater. Denn dieser Ort existierte nicht mehr, alles war verbrannt, in einem großen Feuer. Zusammen mit ihrer Mutter. Danach war nichts mehr so gewesen früher. Alles wurde zu jetzt. Sie sank auf die Knie und starrte die Szenerie vor sich einfach an. Es war das Wohnzimmer. Sie hätte nur die Finger ausstrecken müssen und den Couchtisch berühren können. Alles war genauso, wie sie es in ihrem Kopf hatte. Schritte erklangen auf dem Teppich. Sie sah zwei Beine in der Peripherie ihres Gesichtsfeldes.

"Wie?" Zu mehr war sie nicht in der Lage, denn in diesem Augenblick öffnete sich eine Tür am linken Ende des Raumes, die Gestalt ihrer Mutter trat herein. Marissas Augen blieben sofort an ihr hängen. Sie war ein bisschen anders, als sie Marissa nun in Erinnerung hatte und doch war es unumstößlich ihre Mutter. Sie konnte regelrecht fühlen wie ihr Herzschlag immer schneller wurde und ihre Denken langsam aussetze, so richtig konnte sie die Situation nicht begreifen. Sie fühlte sich als würde bei dem Versuch diesem allen einen Sinn zu geben ihre sämtlichen Verbindungen in ihrem Kopf zerbersten. Sie presste die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen, sie hatte das Gefühl ersticken zu müssen. Ihr Herz wurde immer schneller, die Luft knapper. Plötzlich, eine kühle Hand in ihrem Nacken, ein gemurmeltes Wort und wohltuende Schwärze umfing ihre Sinne.

***
"Wir alle hätten gerne die Antworten auf die Fragen, die uns immerzu beschäftigen. Wir sind von Hause aus neugierig aber auch bequem. Warum einen langen Weg gehen, wenn wir alles Wissen auf einmal parat hätten?" Doc blies den Rauch durch die Nase aus.
Paulus schwieg.

***

Als sie wieder erwachte fühlte sie zu erst nur harten Untergrund unter sich. Sie tastete blind darauf herum und erfuhr nur Kälte. Ihr Kopf schmerzte und sie stöhnte leise als sie versuchte sich aufzusetzen, ihre Glieder waren steif, sie musste schon eine Weile so da liegen. Benommen hielt sie sich den Kopf und versuchte sich, an das zu erinnern was geschehen sein musste, denn einfach so würde sie nie auf dem Laborfussboden rum liegen.

Schritte erklangen in ihrem Rücken, sie fuhr herum. Als sie in Paulus Gesicht blickte, rauschten die Erinnerungen in Bruchstücken durch ihren Kopf: die Insel, das Universum, ihre Mutter. Sie griff sich an den Kopf, als wollte sie die Gedanken aussperren. Ihre Mutter, ihre wunderschöne Mutter, verbrannt bei lebendigem Leibe in einem Feuer, das begonnen hatte als sie, noch so jung, eine Kerze umgestoßen hatte. Ihr Vater nach dem Tod, so anders, hatte sie nicht mehr wahrgenommen, hatte sich in seiner Arbeit vergraben und sie und sich irgendwann vergessen. Sie selbst, als einziger Ausweg, für sie als einzige Hoffnung, die Wissenschaft, wollte zu ihrem Vater zurückkehren, von ihm wieder angesehen werden. Sie hatte nie erfahren, ob er von der Kerze wusste und sie deswegen mied oder sie einfach nicht mehr ansehen konnte, weil sie wie ihre Mutter aussah, oder ob er wirklich alles um sich herum einfach vergessen hatte. Sie selbst, wie sie immer mehr zu Stein wurde, gleich ihrem Vater und der Welt, der sie diente. Kalt, berechnend, nur ihre eigenen Ziele im Kopf, alles andere existierte einfach nicht mehr. Ihre eigene Welt stoppte einfach.

Paulus kniete sich neben sie, zog die Hände von ihrem Kopf ab und hielt sie fest. Langsam hob Marissa die Augen und blickte Paulus direkt an. Krieg herrschte in ihr.

Alles was sie kannte, nein, alles was sie hatte waren beiseite gefegt worden und alles was blieb in ihr war Leere.

Nein, die Leere war schon immer da gewesen. Sie war nichts, und nichts würde sie hinterlassen, wenn sie einfach ging und nicht mehr zurückkehrte. Niemand würde nach ihr fragen, niemand würde sie vermissen. Nun ergriff sie seine Hände, ihre Fingernägel bohrten sich in das zarte Fleisch der Innenflächen, doch er verzog keine Miene und wartete, wartete auf den Ausgang der Schlacht. Was am Ende die genaue Zeit war, würde keiner von beiden später sagen können. Vielleicht waren es Minuten, Tage, Stunden oder auch nur Sekunden. Er konnte sehen wie sich ihre Gestalt auf einmal straffte, der Blick sich klärte und der Mund sich entspannte.

"Zeig es mir." Die Stimme nur ein Flüstern. Paulus löste die Hand sanft aus der ihren und legte sie wieder auf den Arm. Marissa schloss die Augen. Die Schemenwelt blieb diesmal aus, und als sie ihre Augen wieder dem Licht preis gab umfing sie das satte Grün einer endlosen Wiese. Sie drehte sich einmal um sich selbst, doch nichts anderes außer blauer Himmel, grüner Wiese und trägen Insekten. Und auf einmal war noch etwas anderes da.

Es war wie ein Wispern in ihrem Kopf, das langsam anschwoll, zu Hunderten flüsternden Stimmen, lauter und lauter und lauter, doch bevor die Unerträglichkeit einsetzte, bevor sie versucht war die Hände auf die Ohren zu pressen, im Versuch Stille herzustellen, war der Kopf leer und nur ein Gedanke wehte durch ihre Sinne, eine Stimme, die wie dir ihre klang und doch so unendlich anders war. Sie hörte die Worte, sie verstand die Worte, doch hätte sie diese nie wiedergeben können. Sie waren in ihr, erklangen aus ihr selbst heraus. Es waren wie Gedanken ihrer selbst.

Und doch nicht.

Es war als würden sie ihre Sinne streicheln, sie leicht kitzeln und gleichzeitig liebkosen, sie willkommen heißen, in ihrer eigenen Welt, die sie sich aufgebaut hatte und in der sie lebte. Sie öffnete die Augen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie sie geschlossen hatte und die Welt um sie herum war anders. Die Gräser wogen sich in einem ungewöhnlich satten Grün, das Blau des Himmels von weißen Schlierenwolken durch zogen, die Erde gesprenkelt mit Schatten und tanzenden Lichtern. Alles hell und freundlich und sanftmütig. Ein Paradies.

Marissa wusste, dass dies nicht natürlich war, ihr Verstand, der letzte Rest logischen Denkens schrie es ihr entgegen, sie nahm dies auch an, nahm es in sich auf und wusste damit auch, dass diese Welt, die sie sah, dieses Paradies, zwar nicht der Realität entsprach, die sie um sich herum hatte, aber dass sie diese Welt, diese Schönheit in sich trug, dass sie diesen Frieden, nach dem sie sich solange gesehnt hatte, in sich finden konnte, wenn sie es zuließ. Marissa breitete die Arme aus und schloss die Augen. Paul stand noch immer mit einem stillen Lächeln neben ihr, konnte nicht sehen was sie sah, doch wusste er was sie empfand. Die Erinnerung daran was er einst in sich selbst gesehen hatte bereitete ihm noch immer Ruhe und Frieden und würde dies auch bis in alle Ewigkeit tun. Denn das war Sein Geschenk.

In Marissas Gedanken tanzte in diesem Augenblick der Wind mit ihr, fuhr ihr durch die Haare und fuhr durch sie selbst und riss das letzte Stück Zweifel mit fort. Die Welt um sie herum wurde ruhiger, die Stimme leiser, bis sie verschwand. Marissa öffnete erneut die Augen und schaute sich um. In ihrem Herzen und in ihrer Seele war Frieden, wahrscheinlich würde sie immer wieder damit ringen müssen, denn das Denken konnte sie nicht einfach von heute auf morgen umstellen, aber sie hatte die Welt gesehen, die andere Welt, von der sie nie geglaubt hatte, dass sie jemals existieren könnte. Sie atmete einmal tief durch, kostete den letzten Moment aus und drehte sich dann mit einem Lächeln zu Paul, sie hatte noch nie gelächelt. In ihrem Kopf tanzten noch immer die Gedanken durcheinander. Noch immer liebte sie ihre Arbeit. Sie war ein Teil der Wissenschaft um sie herum, es war das was sie ausmachte. Auch wenn sie nun wusste, das sie diesen Teil nicht würde aufgeben müssen, empfand sie doch auch Trauer. Als würde sie dennoch etwas in sich zu Grabe tragen müssen, vielleicht den blinden und naiven Glauben an eine Sache, an einen Fanatismus. Doch nichts war in Stein gemeißelt. Sie blickte über die Wiese dem Horizont entgegen, sie würde einen Schritt nach dem anderen gehen müssen. Nur so würde sie auch den Weg für sich selbst finden.

"Paulus." Er nickte. "Lass uns gehen." Er lächelte und nahm sie bei der Hand. Sie hatte noch viel zu lernen, über die Welt, über sich selbst und auch über Ihn, über Doc und wie alles miteinander verbunden und verwoben war. Dass es nicht nur eines gab, sondern vieles. Dass alles in alle Richtungen ging und dann zueinander zurück kehrte. Aber sie war ein heller Kopf, sie würde es schnell verstehen, Paulus war zuversichtlich. Sehr zuversichtlich.

Doc trat aus den Schatten und trottete, eine neue Zigarette in der Hand, hinter ihnen her. Er lächelte, die Reise konnte weitergehen.

Kommentare  

#1 Laurin 2010-06-06 01:22
Nun bin ich auch mal dazu gekommen die Story zu lesen... ich weiß, ich bin faul :oops: .
Aber ich muß sagen, eine tolle Story, da darf es ruhig mehr von geben im Zauberspiegel!!! :-)
#2 Harantor 2010-06-06 10:54
Julia arbeitet gerade an der nächsten Geschichte. Und ich hoffe, wir können noch eine ganze Reihe von ihr veröffentlichen.
#3 Laurin 2010-06-06 13:19
Toll,
daß hoffe ich mal auch Harantor, ihre Geschichten haben echt was! ;-)
#4 Taurus 2010-06-06 14:23
Oh mein Gott, danke für das Kompliment und es freut mich wirklich sehr, das die dir Geschichte zu gut gefallen hat :D

Ich hoffe die späteren Sachen, an denen ich *hust* arbeite, werden dir auch gefallen.

Lg,
Julia
#5 Laurin 2010-06-06 16:11
Oh, da seh ich durchaus positiv in die Zukunft Julia ;-) und gespannt wie ein Flitzebogen bin ich ja auch schon :lol: .

...*fg
Konrad

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