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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit »Onkel Tom's Hütte«?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit »Onkel Tom's Hütte«?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: An 20. März 1852 erschien einer der bedeutendsten und einflussreichsten Romane der Welt: ONKEL TOM’s HÜTTE (Uncle Tom’s Cabin).

Gleich an diesem ersten Tag wurden 3.000 Exemplare des Buches verkauft. Am Ende des Jahres 1852 waren es 300.000. Das Buch wurde im 19. Jh. in den USA zum zweitgrößten Bestseller nach der Bibel. Vom weltweiten Erfolg nicht zu reden.

HARRIET BEECHER STOWE, die Autorin, eine Lehrerin aus Connecticut, über die ich an anderer Stelle ausführlicher berichten werde, war eine Anti-Sklaverei-Aktivistin in den Jahren vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Ihr Roman um den Sklaven „Onkel Tom“ und die Lebensverhältnisse der schwarzen Zwangsarbeiter auf den Plantagen im Süden rüttelte den amerikanischen Norden auf. Die starke und ständig wachsende Bewegung der politisch und christlich motivierten Vereinigungen zur Abschaffung von Sklaverei und Menschenhandel erhielt durch dieses Buch gewaltigen Zulauf. Politiker jener Tage bezeichneten das Werk als eine der geistigen Grundlagen für den Sezessionskrieg. Darauf beruht auch eine Anekdote, wonach Präsident Abraham Lincoln bei einem Treffen mit Harriet Beecher Stowe gesagt haben soll: „Sie sind also die kleine Lady, die den großen Krieg ausgelöst hat.“

Diese Geschichte ist wahrscheinlich frei erfunden; sie ist durch keinerlei Zeugen verbürgt und tauchte erst 1896 in der Öffentlichkeit auf. Auch wenn Lincoln diesen Satz vermutlich nie gesagt hatte – ganz an den Haaren herbeigezogen ist die Aussage als solche nicht: In jener Zeit hatte Literatur – elektronische Medien gab es ja nicht – einen immensen Einfluss auf soziale Verhältnisse und die öffentliche Meinung.

Die Charakterisierung von „Onkel Tom“, dem unterwürfigen und pflichtgetreuen Sklaven, sowie der anderen Gestalten in dem Roman, von den schwarzen Kindermädchen über die Baumwollpflücker, bis zu den Hausdienern kreierte Stereotypen, die bis heute ihren Einfluss haben – obwohl sie in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts Kritik auslösten. Aber Harriet Beecher Stowe war ein Kind ihrer Zeit, des 19. Jahrhunderts, und sie traf mit ihren Beschreibungen den Nerv der öffentlichen Diskussion.

Der Erfolg des Buches kam nicht ganz unerwartet. 1851/52 war die Geschichte 40 Wochen lang als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift „The National Era“ abgedruckt worden, einem Presseorgan der Anti-Sklavereibewegung. Die Nachfrage wuchs mit jeder Folge, so dass Stowe gezwungen war, ihre Geschichte immer wieder zu verlängern. Der Verleger, John P. Jewett, schlug Stowe daher die Veröffentlichung als Buch vor. Stowe war skeptisch. Sie glaubte nicht an den Erfolg. Jewett setzte sich durch und beauftragte den bekannten Illustrator Hammatt Billings, sechs Bilder für das Werk anzufertigen – das war ein beträchtliches finanzielles Risiko, dass sich aber schnell mehr als auszahlte. Die Druckereien konnten die vielen Auflagen kaum bewältigen. 1853 erschien eine Luxus-Ausgabe mit 117 Stahlstichen.

Der Roman wurde in fast alle bedeutenden Sprachen der Welt übersetzt. 1857 gab es bereits über 20 fremdsprachige Ausgaben. 1901 war „Onkel Tom’s Hütte“ der erste amerikanische Roman, der in China übersetzt wurde. Der Erfolg wurde global. Allein in England wurden binnen weniger Jahre mehr als 1,5 Millionen Exemplare verkauft.

So stark die positive öffentliche Reaktion in den Nordstaaten der USA auf das Werk war, so groß war die Erregung in den Südstaaten. Wut und blanker Hass schlugen der Veröffentlichung durch Befürworter der Sklavenwirtschaft entgegen, taten dem Erfolg aber keinen Abbruch. Man warf Stowe vor, nie auf einer Plantage gewesen zu sein. Das stimmte, aber sie hatte Dutzende von entlaufenen Sklaven interviewed und war Zeugin von Sklavenverkäufen gewesen, bei denen Ehepaare getrennt verkauft und Kinder ihren Eltern weggenommen worden waren. Buchhändler in den Südstaaten, die es wagten, Stowes Werk zu verkaufen, wurden mit dem Tode bedroht und aus Städten vertrieben.

1853 brachte Stowe das Buch DER SCHLÜSSEL ZU ONKEL TOM’S HÜTTE (A Key to Uncle Tom’s Cabin) heraus, in dem sie die sachlichen Grundlagen für ihren Roman darlegte und ihre Recherchen dokumentierte. In diesem Buch, das ebenfalls zum Bestseller wurde, beschrieb sie die realen Vorbilder für ihre Romanfiguren.

Was bei den teilweise hysterischen öffentlichen Diskussionen unterging, war Stowes eigentliche Absicht, nicht nur die moralische und ethische Verwerflichkeit der Versklavung von Menschen und den Handel mit ihnen anzuprangern, sondern gegen die entsprechenden Gesetze in den USA und einzelnen Staaten Stellung zu beziehen, die diese Praxis erlaubten. Ein Historiker schrieb: „Stowe kritisierte das Rechtssystem. Sie klagte nicht nur die Sklaverei an, sie klagte die Justiz an. Sie räumte durchaus ein, dass es Pflanzer gab, die ihre Sklaven menschlich behandelten, die aber vom Gesetz daran gehindert wurden, ihnen die Freiheit zu geben.“

Stowe wurde zu ihrem Roman durch Gerichtsurteile motiviert, die die Sklaverei nicht nur rechtfertigten, sondern die Rückführung von schwarzen Sklaven, denen die Flucht in „freie Staaten“ gelungen war, anordneten.

Der Einfluss von „Onkel Tom’s Hütte“ auf die öffentliche Meinung bzgl. der Verwerflichkeit von Sklavenhaltung durchdrang alle gesellschaftlichen Schichten. So erklärte beispielsweise der Abgeordnete und zeitweilige Präsidentschaftskandidat James Baird Weaver, der im Bürgerkrieg zum General aufstieg, dass das Buch ihn überzeugt habe, sich der Anti-Sklavereibewegung anzuschließen. Der amerikanische Botschafter in England, Charles Francis Adams, sagte, dass „kein anderes Buch, das je gedruckt wurde, einen stärkeren und dramatischeren Einfluss auf die öffentliche Meinung der ganzen Welt hatte als dieses Werk.“

Über die Jahrzehnte haben sowohl Historiker als auch Literaturwissenschaftler Spekulationen über das Buch angestellt. Niemand zweifelt den Erfolg und die öffentliche Wirkung an, aber es wurde sowohl Motivforschung wie inhaltliche und stilistische Kritik betrieben. Der bedeutende schwarze amerikanische Literat James Baldwin nannte das Werk „ein sehr schlechtes Buch“ wegen vieler klischeehafter Verallgemeinerungen. Ihm wurde entgegengehalten, dass er den Zeitgeist in den 1850er Jahren nicht verstanden habe – und das ist richtig. Entstehen, Inhalt und Wirkung dieses Buches waren abhängig von den Umständen des 19. Jh. Erstaunlich ist, dass es noch bis ins frühe 20. Jh. Einfluss entfaltete, aber das ist nicht durch abgehobene, elitäre intellektuelle Analysen zu erklären, sondern vermutlich einfach durch den unbefangenen, naiven, schlichten Stil der Autorin. Harriet Beecher Stowe war keine Literatin, sie war durch die Stimmungen, Gefühle und Tendenzen ihrer Umwelt beeinflusst. Sie setzte sich über die damaligen spitzfindigen juristischen und politischen Debatten hinweg, die – ähnlich Diskussionen unserer Zeit – von vielen Menschen nicht verstanden wurden und nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hatten. Sie traf mit einfachen Worten und Bildern den Ton und die Gedankenwelt ihrer Zeitgenossen und dachte nicht darüber nach, was in 100 Jahren die Literaturgeschichte über sie sagen würde. Insofern laufen alle späteren theoretischen Erklärungsversuche des Phänomens „Onkel Tom’s Hütte“ ins Leere. Das Verständnis liegt in der Zeit.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2020Die aktuelle Ausgabe

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