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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit dem letzten wilden Indianer?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit dem »letzten wilden Indianer«?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Am 25. März 1916 starb in Kalifornien ein Mann, den es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Schon zu seinen Lebzeiten war er als „letzter wilder Indianer“ Amerikas, als „letzter amerikanischer Steinzeitmensch“, u. ä, beschrieben worden. Um in diesem Bild zu bleiben: Er war nicht „der letzte Mohikaner“, aber tatsächlich wohl einer der letzten Überlebenden eines kleinen Indianervolkes in Kalifornien, den Yahi, die zur Stammesfamilie der Yana gehörten und die im 19. Jahrhundert in den brutalen Massakern durch Goldsucher ausgerottet wurden.

Sein Name war ISHI – so wurde er von dem Völkerkundler Alfred Kroeber genannt. Das Wort bedeutet in der Yana-Sprache „Mann“. Ob er je einen anderen Namen gehabt hatte, ist unsicher; denn auf Fragen antwortete er: „Ich habe keinen Namen, weil es keine Menschen gab, die mir einen gegeben haben.“ Entsprechend der Kultur, aus der er kam, gehörte einem Menschen ein Name nur, wenn er von einem anderen Menschen seines Volkes vorgestellt wurde – und es gab keine anderen Yahi-Indianer mehr, die das hätten tun können.

Wie Ishi die brutalen Massaker überlebt hatte, weiß niemand genau. Als sein Geburtsjahr wurde 1861 vermutet. 1911 erschien er quasi aus dem Nichts in den Ausläufern des Lassen Peak in Nord-Kalifornien.

Ishi wurde zum Museum der Berkeley-Universität gebracht, wo Professor Kroeber ihn formal als „Hausmeister“ anstellte, um seinen Lebensunterhalt zu sichern.

Tatsächlich wurde Ishi zu einem der bedeutendsten Informanten über die Kultur kalifornischer Indianer, die die Wissenschaft je hatte. Im Laufe der Jahre wurde das Verhältnis zwischen ihm und Kroeber immer enger, und es gab letztlich auch Verständigungsmöglichkeiten. So fand Kroeber heraus, dass Ishi und seine Familie 1865 zu den Betroffenen des sogenannten „Three Knolls Massaker“ gehört hatten, bei dem 40 Indianer erschlagen wurden. Nachdem 33 Yahi-Indianer flüchten konnten, wurde mehr als die Hälfte der Überlebenden von Cowboys ermordet. Andere vermischten sich mit benachbarten Indianervölkern wie den Wintu, Nomlaki und Pit River-Indianern. Ishi und seine Familie waren die letzten Yahi, die sich für 44 Jahre versteckten.

Vor dem kalifornischen Goldrausch hatte es über 400 Yahi-Indianer gegeben; die Zahl der Yana, zu denen sie gehörten, hatte fast 3.000 betragen. Davon war fast niemand mehr übrig.

Obwohl schon in den 1970er Jahren Wissenschaftler von einem veritablen Völkermord in Kalifornien sprachen, wurde diese Tatsache erst in den letzten Jahren von offizieller Seite eingeräumt; der gegenwärtige Gouverneur sprach sogar eine offizielle Entschuldigung des Staates aus.

Seit der Zeit der Spanier, auch der spanischen Missionen, seit der Machtübernahme Mexikos bis zur Ankunft der anglo-europäisch-amerikanischen Goldgräber und ersten weißen Siedler, gab es in Kalifornien einen Genozid, der die ursprüngliche Vielfalt an Stämmen, die unterschiedliche Kulturen und Sprachen repräsentierten, dramatisch reduzierte.

Die Stämme, die den Einfall der Goldsucher nicht überlebten, starben nicht alle in Kämpfen; die europäischen und amerikanischen Zuwanderer brachten Pocken und Masern mit, denen viele Indianer erlagen. Andere verhungerten, weil die vielen Menschen durch extensive Jagd und Fischerei den Eingeborenen die Lebensgrundlagen entzogen. Und dann gab es Auseinandersetzungen mit Siedlern. Es wurden Prämien auf Skalps ausgeschrieben, die bei 50 Cents lagen und bei 5 Dollar für einen ganzen Kopf. Der Angriff auf Ishis Gruppe erfolgte, als die Indianer schliefen. Die Mörder kamen, um sich für einen Indianerüberfall auf eine Siedlerstelle und die Entführung von zwei Frauen zu rächen – nur hatte Ishis Gruppe gar nichts damit zu tun gehabt.

Als die amerikanische Regierung begann, ab 1879 indianische Internate in Kalifornien einzurichten, flüchteten viele Indianer in die Wildnis. Viele von ihnen wurden auch in Nord-Kalifornien von Siedlern verfolgt.

1908 wurde Ishis Familie von Landvermessern entdeckt. Seine Angehörigen flohen daraufhin in die Wälder und Berge und wurden nie wieder gesehen. In den folgenden drei Jahren irrte Ishi allein durch die Wildnis und versuchte, zu überleben. Wegen eines Wildfeuers musste er die Wälder verlassen und wurde bei dem Versuch, Fleisch zu stehlen, am 29. August 1911 bei Oroville verhaftet.

Der Sheriff war umsichtig genug, den „wilden Mann“ nach Berkeley zu bringen, wo die Professoren Kroeber und Waterman ihn unter ihre Fittiche nahmen. Sie gewannen mit der Zeit das Vertrauen von Ishi. Mit seiner Hilfe gelang es ihnen, die Kultur der Yahi zu rekonstruieren. Er brachte ihnen die Grundlagen der Sprache seines Volkes bei, erklärte die Familien- und Stammesstruktur, half bei der Identifizierung von Museumsobjekten, die den Wissenschaftlern bis dahin unbekannt waren, und führte sie in die Techniken des Lebens der Yahi ein – von der Fertigung von Steinwerkzeugen über die Herstellung von Pfeil und Bogen, bis zum Bauen von Behausungen und dem Feuermachen.

Eine besonders enge Freundschaft entstand zwischen ihm und dem Mediziner Saxton Pope, der Ishi häufig behandelte, weil dieser anfällig für europäische Krankheiten war. Pope schrieb später ein fundamentales Buch über den indianischen Bogenbau, in dem er die Unterweisungen durch Ishi zusammenfaßte. Beide gingen oft auf Jagd zusammen.

Theodore Kroeber, die Frau von Professor Kroeber, schrieb das biographische Buch „Ishi in Two Worlds“, das ein Bestseller wurde.

Am 25. März 1916 starb Ishi an Tuberkulose. Seine letzten Worte zu Saxton Pope sind überliefert: „Du bleibst, ich gehe.“

Kroeber und Waterman wollten ihm eine traditionelle Feuerbestattung nach Yahi-Sitte geben – das geschah letztlich auch, aber erst nachdem die University of California den Leichnam autopsiert hatte. Genau das hatten Ishis Freunde verhindern wollen. Der Asche von Ishi wurden von ihm gefertigte Pfeile und Bogen, ein Korb mit Mehl und ein Kasten mit Muschelperlen beigegeben, sowie Tabak, Ringe und Obsidian-Splitter.

Im Rahmen des Gesetzes zur Rückführung von menschlichen Körperteilen an die Herkunftsvölker, gab das „Museum of Natural History“ in Washington 1989 die Knochen und das konservierte Gehirn von Ishi – die bei der Autopsie entnommen worden waren – heraus. Inzwischen hatte man festgestellt, dass es noch immer Indianer in Kalifornien gab, die ihren Ursprung auf die Yahi und Yana zurückführten. Sie bestatteten Ishis sterbliche Überreste an einem geheimen Ort in der Wildnis.

Neuere Untersuchungen von Anthropologen belegen, dass bereits Ishis Familie vermutlich durch intertribale Heirat nicht mehr allein auf die Yahi zurückging, sondern auch Wintu-Einflüsse hatte. Dafür sprechen auch viele der Gegenstände, die Ishi für das Museum herstellte, etwa Pfeilspitzen und steinerne Messerklingen. Auch die Technik, die er dabei benutzte und die von Kroeber genau beschrieben wurde, weist auf verschiedene Stämme hin. Man nimmt heute an, dass er und seine Familie in enger Nachbarschaft mit anderen Völkern lebten und er seine handwerklichen Fähigkeiten von Männern dieser Stämme erlernte.

Fraglos war Ishi einer der allerletzten „Flintknappers“ – traditionelle indianische Hersteller von Steinwerkzeugen – in Nordamerika. Bis heute wird seine Technik kopiert.

Zu den größten völkerkundlichen Schätzen gehören 148 Wachszylinder, auf denen Kroeber und Waterman Ishis Stimme aufgenommen haben, seine Sprache, traditionelle Gesänge und Stammesüberlieferungen der Yahi.

Zu seinen Ehren wurde in Nordost-Kalifornien ein Waldgebiet, in dem die Yahi zuhause waren, in „Ishi Wilderness“ benannt.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2019Die aktuelle Ausgabe

 

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