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Die Bewandtnis mit Atlantis: 2. Die historische Quellenlage - Kritias (kommentiert)

Die Bewandtnis mit Atlantis2. Die historische Quellenlage
Ein kommentierter Auszug aus dem Kritias- Dialog:
Jede  Legende braucht eine Fortsetzung

(106a) TIMAIOS: Wie froh bin ich, mein Sokrates, daß ich nun, gleich als ob ich von einem langen Marsche ausruhte, den Weg meiner Erörterung glücklich zurückgelegt habe!

 

Zu dem Gotte aber, der in der Tat schon lange vorher, in meiner Beschreibung aber soeben, entstanden ist, flehe ich, er möge von derselben alles das, was das Richtige trifft, (106b) uns zum Heile gedeihen lassen, wenn wir aber wider unsern Willen etwas Irriges über den betreffenden Gegenstand vorgebracht haben, uns dafür die gebührende Strafe auferlegen. Die rechte Strafe aber besteht darin, daß er aus Irrenden uns zu Kundigen mache. Damit wir also in Zukunft über die Entstehung der Götter die Wahrheit reden, so flehen wir ihn an, er möge uns als Heilmittel, und zwar als das vollkommenste und beste aller Heilmittel, die Erkenntnis verleihen, und nach dem wir also den Gott angerufen, überlassen wir unser Übereinkunft gemäß dem Kritias die Fortsetzung.

Und so möchte sie Plato auch verstanden wissen: als Fortsetzung.

KRITIAS: Wohl mein Timaios, ich übernehme sie. Doch was auch du zu Anfang getan hast, (106c) daß du nämlich wegen der Schwierigkeit des zu behandelnden Gegenstandes dir Nachsicht erbatest, eben das erbitte auch ich mir (tun zu dürfen) (107a) und wünsche deshalb in noch weit höherem Grade in Bezug auf meine folgende Auseinandersetzung teilhaftig zu werden. Ja, obgleich es mir nicht so ganz entgeht, daß ich damit eine sehr anmaßende und mehr als billig unziemliche Bitte tun werde, so muß ich sie dennoch aussprechen. Denn daß Deine Darlegung nicht vortrefflich gewesen wäre, welcher Verständige dürfte das zu behaupten wagen! Um so mehr aber muß ich es irgendwie dartun, daß die Erfüllung der von mir übernommenen Aufgabe größere Schwierigkeiten darbietet und daher auch größerer Nachsicht bedarf. Nämlich, lieber Timaios, es ist leichter zu genügen, wenn man über die Götter vor den Menschen, (107b) als wenn man über die Sterblichen vor uns spricht. Denn wenn man über Dasjenige reden soll, worin die Zuhörer unerfahren, ja gänzlich unwissend sind, so gewährt eben dieser ihr Zustand hierfür eine große Erleichterung. Wie wir uns nun (in dieser Beziehung) in Betreff der Götter verhalten, wißt ihr (selbst); damit ich euch aber noch deutlicher machen kann, wie ich es meine, so bitte ich euch meiner Erörterung hierüber zu folgen.
Als eine Nachahmung und Abbildung muß man nämlich doch wohl die einem Jeden von uns aufgetragene Auseinandersetzung bezeichnen. Betrachten wir nun aber einmal, mit welcher Leichtigkeit oder Schwierigkeit die Maler bei ihren Nachbildungen von Götter- und (andererseits) von Menschenkörpern es erreichen, (107c) daß sie den Beschauern dieselben hinlänglich ähnlich dargestellt zu haben scheinen, und wir werden sehen, daß, wenn Einer die Erde und (ihre) Berge, Flüsse und Wälder und das ganze Weltgebände, mit Allem, was sich innerhalb seines Umkreises befindet und bewegt, auch nur einigermaßen der Ähnlichkeit entsprechend darzustellen im Stande ist, wir zunächst hiermit schon zufrieden sind, und daß wir überdies noch, da wir doch über jene Dinge selbst keine genauen Kenntnisse haben, auch die Zeichnungen nicht näher untersuchen und prüfen, (107d) vielmehr uns bei ihnen eine ungenaue und auf Täuschung berechnete Perspektivmalerei gefallen lassen, daß dagegen, wenn jemand unsere Körper abzumalen versucht, wir in Folge unserer natürlichen oft wiederholten Beobachtung derselben genau darauf merken, ob irgend Etwas mangelt, und strenge Richter sind, wenn wir nicht alle Ähnlichkeiten in allen Stücken wiedergegeben sehen.
Eben dasselbe wird sich daher auch bei der mündlichen Darstellung wahrnehmen lassen, daß wir nämlich hinsichtlich der himmlischen und göttlichen Dinge mit einer auch nur annähernden Wahrscheinlichkeit derselben zufrieden sind, hinsichtlich des Sterblichen und Menschlichen aber eine genaue Prüfung mit ihr anstellen. Deshalb müßt Ihr rücksichtlich dessen, was ich nunmehr ohne weitere Vorbereitung schildern werde, (107e) Nachsicht mit mir haben, wenn ich nicht ganz das Geziemende wiederzugeben im Stande sein werde; denn ihr müßt erwägen, daß es nicht leicht, sondern schwierig ist, menschliche Verhältnisse so abzuschildern, daß man der Erwartung entspricht. Um Euch nun hierauf aufmerksam zu machen (108a) und mir nicht weniger, sondern mehr Nachsicht für das von mir zu Erörternde zu erbitten, habe ich dies Alles angeführt, mein Sokrates. Wenn ich euch also mit Recht diese Gabe zu erbitten scheine, so gewährt sie mir aus freiem Antriebe.

Lange Rede, kurzer Sinn: Kritias meint, es wäre leichter, über die Vergangenheit der Götter zu reden, da hier die menschliche Vorstellungskraft ohnehin überschritten sei, als über die Geschichte der Menschen, von der die Zuhörer ein plastischeres Bild im Kopf hätten.
Außerdem mag er die „Perspektivmalerei“ nicht besonders.
Vielleicht stellen diese Absätze eine erste Reaktion auf die Kritik dar, die Plato auf seine Schilderungen im Timaios- Dialog erhalten haben mag. Er bezeichnet es nämlich generell als „schwierig“, Begebenheiten von Einst so darzustellen, „daß man der Erwartung entspricht“. Dies mag eine halbherzige Entschuldigung sein, der „Erwartung“ der Jünger des Herodot oder Thukydides nicht entsprochen, oder die ägyptische Überlieferung falsch wiedergegeben zu haben. Vielleicht möchte er solchen Vorwürfen aber auch vorbeugen, wenn er sich mit dem nun Folgenden tiefer in eine Materie begibt, von der er als Philosoph nur marginal Ahnung hat, nämlich die Geschichtsschreibung.
Freilich lassen sich seine Worte auch gegen diejenigen richten, die seine Ausführungen in Zweifel ziehen. Dementsprechend wären seine Fakten gar nicht falsch, sondern nur nicht die, die seine kritischen Zuhörer „erwartet“ hätten. Also könnten auch sie sich in ihrem Glauben bzw. vermeintlichen Wissen irren…


SOKRATES: Warum sollten wir sie dir nicht gewähren, mein Kritias! Und eben so mag das Gleiche auch (sofort) dem Hermokrates als dem Dritten von uns gewährt werden. Denn es lässt sich voraussehen, daß er gleich hernach, wenn er sprechen soll, (108b) sich dieselbe Gunst, wie ihr, erbitten wird. Damit er also einen anderen Anfang ausfindig mache und nicht sich gezwungen sehe, eben denselben vorzubringen, so mag er reden wie Einer, der dieser Nachsicht bereits zuvor versichert ist. Ich eröffne dir jedoch, lieber Kritias, im Voraus die Ansicht deiner Zuhörerschaft, daß die Dichtung deines Vorgängers einen so außerordentlichen Ruhm bei ihr eingelegt hat, daß die Nachsicht dir (in der Tat) in vollem Maße nötig sein wird, damit du die Fortsetzung derselben zu übernehmen im Stande seiest.

Ganz nebenbei bemerkt: Im Kontext der aufeinander folgenden Erzählungen ist von „Dichtung“ die Rede.

HERMOKRATES: Damit kündigst du denn auch mir das Gleiche an, mein Sokrates, wie dem Kritias. (108c) Indessen mutlose Männer haben noch nie ein Siegeszeichen errichtet, lieber Kritias, und so ziemt es dir denn, mutig zur Sache zu schreiten und nach Anrufung des Päan und der Musen die Vortrefflichkeit der alten Staatsbürger darzutun und zu verherrlichen.
KRITIAS: Mein lieber Hermokrates, du bist noch guten Mutes, weil erst hinterher die Reihe an dich kommt und du noch einen Andern zum Vordermann hast. Wie es daher (in Wahrheit) mit diesem deinem Mut bestellt ist, wird schon die Sache selber dich lehren; wie dem aber auch sein mag, so ziemt es sich doch deinem Zuspruch und deiner Ermutigung Folge zu leisten (108d) und neben den genannten Göttern auch alle anderen anzurufen, vor allem aber die Mnemosyne. Ruht doch der Haupterfolg meiner Rede ganz in der Macht dieser Göttin; denn wenn ich nur hinlänglich mich dessen zu erinnern und es hiernach zu berichten weiß, was einst von den Priestern dem Solon mitgeteilt und von ihm hierher mitgebracht wurde, so glaube ich zu wissen, daß ich meiner Zuhörerschaft hier meine Aufgabe so ziemlich werde gelöst zu haben scheinen. So mag es denn nun geschehen, und ich will nicht länger mehr zaudern.


Soweit die Einleitung.

(108e) Vor Allem nun wollen wir uns zunächst das ins Gedächtnis zurückrufen, daß es im Ganzen neuntausend Jahre her sind, seitdem, wie angegeben worden, der Krieg zwischen denen, welche jenseits der Säulen des Herakles und allen denen, welche innerhalb derselben wohnten, entstand, welchen ich jetzt vollständig zu erzählen habe. Nun wurde schon angeführt, daß an der Spitze der Letzteren unsere Stadt stand und den ganzen Krieg zu Ende führte, während über die Ersteren die Könige der Insel Atlantis herrschten, welche, wie ich bemerkt habe, einst größer war als Libyen und Asien (zusammen), jetzt aber durch Erderschütterungen untergegangen ist und dabei einen undurchdringlichen Schlamm zurückgelassen hat, (109a) welcher sich Denen, die in das jenseitige Meer hinausschiffen wollen, als Hindernis ihres weiteren Vordringens entgegenstellt.

Hier ist noch einmal in groben Zügen zusammenfaßt worden, was in der Timaios über Atlas‘ Insel zu lesen gewesen ist.
Die berühmten „Säulen des Herakles“ haben übrigens mit dem Göttersohn dieses Namens nur indirekt zu tun. Entgegen der landläufigen Meinung bezeichnen sie auch nicht den Felsen von Gibraltar und sein nordafrikanisches Gegenstück. Deren Form entspricht selbst mit viel Phantasie nicht der einer Kolumne.
Tatsächlich hat es die Säulen des Herakles vor der Zeit um 1100 v. Chr. noch gar nicht gegeben. Damals nämlich gründeten Phönizier auf einer Insel im Südwesten Spaniens, also schon im Atlantik, die Stadt Gades (heute Cadiz). Sie kamen aus Tyros, und so hatte Gades den selben Schutzgott wie die Mutterstadt: Baal Melkart. Sein Tempel stand in Küstennähe, und dessen Säulen waren bei Sonnenschein weit über das Meer zu sehen. Herodot zufolge sollte die eine aus Smaragd, und die andere aus purem Gold gewesen sein, und auch nach Einbruch der Dunkelheit noch funkeln. Wer sie also zu Gesicht bekam, konnte sich sicher sein, daß Mittelmeer inzwischen verlassen zu haben.
Die Griechen hatten von ihren Göttern eine recht universalistische Auffassung. Als umtriebige Händler und Kolonisten hatten sie viele Völker kennengelernt, die alle ihren eigenen Pantheon hatten. Da es aber nicht sein konnte, daß mehrere Götter die Erde geschaffen hatten, Alleinherrscher des Meeres waren, oder als Sonne erschienen, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder waren alle anderen Völker Ketzer und beteten Popanze an, oder aber deren Weltenlenker waren die eigenen, nur mit anderen Namen und abweichenden Agendas. Die alten Hellenen wählten den letztgenannten Weg, und ordneten nach der interpretatio graeca den Götzen der Fremden die eigenen zu. Das hatte den Vorteil, daß man auch weit weg von daheim den eigenen Göttern opfern konnte, wenn man nur einen Tempel fand, der einem ihm gleichgesetzten Götzen gewidmet war.
So verhielt es sich auch mit Baal Melkart und Herakles, obwohl deren Gemeinsamkeiten nicht gerade sehr groß sind. Wo Herakles als Halbgott seine zwölf Heldentaten vollbracht hat, da hat Baal Melkart die zwölf Tierkreiszeichen bekämpft. Auch eint sie, daß sie wohl beide nicht besonders alt sind: Letzterer soll um das Jahr 1000 v. Chr. herum aus der Verschmelzung zweier älterer Götzen entstanden sein, während die Taten des Herakles etwa eine Generation vor dem Trojanischen Krieg angesetzt werden (also vermutlich Mitte des 13. Jahrhunderts vor Christus). Beide haben also von der Herkunft her nichts miteinander gemein. Ansonsten war Herakles auch mehr ein Weihe- und Orakelgott, dem der Schutz der Sportstätten und Paläste oblag. Baal Melkart dagegen wachte über die Schiffe, die Seefahrer und die Gründer von Kolonien. Nichtsdestotrotz verschwammen die beiden Götter in den Kulten hier und da. Beispielsweise opferten die Kaufleute zur See im Tempel des Hercules (lateinischer Name des Herakles) auf dem Forum Boarum in Rom ein Zehntel ihrer Ware.
Wenn Griechen also auf dem Altar des Baal Melkart Gaben darbrachten, ehrten sie in Wirklichkeit ihren Herakles.


Ein Bild nun der vielen (übrigen) ungriechischen Völker und sämtlicher Hellenenstämme, welche es damals gab, wird der Verfolg unserer Erzählung im Einzelnen, wie es gerade die Gelegenheit mit sich bringt, entrollen; die Verhältnisse der alten Athener und ihrer Gegner, mit denen sie Krieg führten, das heißt die Macht und Staateinrichtungen von Beiden, dagegen ist es nötig sogleich voraufzuschicken. Unter ihnen selber aber verdient die Schilderung der hiesigen Zustände den Vorrang.
(109b) Die Götter nämlich verteilten einst die ganze Erde nach ihren einzelnen Gegenden unter sich, und zwar ohne Streit, denn es würde keinen vernünftigen Sinn haben anzunehmen, daß die Götter nicht gewußt haben sollten, was einem jeden von ihnen zukäme, oder aber, daß einige von ihnen das, was sie vielmehr als anderen zustehend erkannt, dennoch diesen abzustreiten und in ihren eigenen Besitz zu bringen versucht hätten. Durch rechtlich bestimmte Verteilung also erhielten sie was ihnen lieb war, und wählten hiernach ihre Wohnsitze, und nachdem dies geschehen war, so zogen sie uns als ihre Besitztümer und Pfleglinge auf wie die Hirten ihre Herden, nicht so jedoch, daß sie mit körperlicher Gewalt unsere Körper lenkten, (109c) wie die Hirten ihr Vieh mit Schlägen, sondern sie führten und leiteten das ganze Menschengeschlecht, als das lenksamste aller lebendigen Wesen, gleichsam nur wie mit einem Steuerruder vom Schiffshinterteile aus, indem sie sich vermöge ihrer (höheren) Einsicht durch Überredung der Seelen bemächtigten.
So nahmen denn nun, was andere Gegenden anlangt, andere Götter dieselben in Besitz und statteten sie aus, Hephästos aber und Athene hatten, so wie sie von Natur zusammengehören, teils als Geschwister von väterlicher Seite her, teils wegen ihrer gleichen Liebe zur Wissenschaft und Kunst, so auch beide unser Land zum gemeinsamen Eigentume empfangen, weil dasselbe von Natur eine ihnen verwandte und angemessene Tüchtigkeit und Einsicht hervorzubringen geeignet war, (109d) und sie pflanzten daher wohlgeartete Männer als Eingeborene auf diesen Boden und legten darauf in ihren Geist die Anordnung der Staatsverfassung.


Es fällt auf, daß Plato hier eine Art Genesis schildert, in der er die Götter preist. Welch ein Kontrast zur Timaios, wo er noch behauptet hat, die religiösen Legenden (wie die von ihm angeführte Wagenfahrt Phaetons) wären lediglich Naturphänomene, interpretiert vom unverständigen Geist der Menschen!

Von diesen sind die Namen erhalten, ihre Taten aber wegen des Unterganges Derer, die sie von ihnen überkamen, und der Länge der Zeit in Vergessenheit geraten. Denn das jedesmal übrig bleibende Geschlecht pflegt, wie schon früher bemerkt wurde, das auf den Bergen lebende und der Schrift unkundige zu sein, welches bloß die Namen der Herrscher im Lande gehört hat und dazu etwas Weniges von ihren Taten. Sie mußten sich daher damit begnügen, ihren Nachkommen diese Namen zu überliefern; (109e) die Tugenden und die Staatseinrichtungen ihrer Vorfahren aber kannten sie nicht, es sei denn einige dunkle Gerüchte über Einzelnes, und da sie überdies zusamt ihren Abkömmlingen viele Geschlechter hindurch an dem Notwendigen Mangel litten (110a) und daher vielmehr auf die Ausfüllung dieses Mangels ihren Sinn richten mußten, so sprachen sie auch vielmehr hierüber mit einander und vernachlässigten das einst bei ihren Vorfahren und vor Alters Geschehene. Denn die Erzählung alter Sagen und die Erforschung der Vorzeit tritt erst mit der Muße in den Staaten ein, wenn sie die Sorge um die Notduft des Lebens bei Manchen als eine schon überwundene vorfindet, und nicht früher. Darum also sind uns die Namen der Alten ohne ihre Taten erhalten geblieben.

Plato legt dar, daß die große Vergangenheit Athens größtenteils in Vergessenheit geraten sei, weil die Überlebenden der Katastrophen zuviel damit zu tun gehabt hätten, ihre eigene Existenz zu sichern. Sagen- und Geschichtskunde aber könne sich nur derjenige widmen, der auch die Freizeit dazu hat.
Das entspricht nun nicht ganz den Tatsachen. Auch der hungrigste Nomade wird manchen Abend am Lagerfeuer gehabt haben, wo er beim Flechten eines Korbes, beim Säubern einer Geweih- Hacke oder beim Flicken eines Netzes gewußt hat, von vergangenen Tagen zu berichten.
Doch vermutlich meint Plato ohnehin etwas anderes. Denn wo der Alltag so hart ist, daß es stets am Nötigsten mangelt, da werden keine Überschüsse erwirtschaftet. Überschüsse aber braucht es, damit sich Berufsstände ausbilden können, die nicht direkt von der Hand in den Mund leben können. Eine Gesellschaft, die nur aus Bauern, Hirten, Fischern und Jägern besteht, kennt keine Berufe: Was auch immer gerade gebraucht wird, stellt man sich selbst her. Es mochte vielleicht einen Medizinmann, einen Schamanen oder ein Kräuterweib geben, aber auch die fristeten abseits ihrer besonderen Funktion das selbe Dasein wie der Rest ihrer Sippe. Priester oder Gelehrte, die das Wissen ihres Stammes „hauptamtlich“ oder gar mit Hilfe einer Schrift bewahrten, konnte man einfach nicht ernähren.


Dies aber nehme ich daraus ab, weil Solon erzählte, die Priester hätten über den damaligen Krieg dergestalt berichtet, daß sie jene alten Athener meistens mit allen denjenigen Namen benannten, – nämlich mit dem des Kekrops, Erechtheus, Erichthonios, Erysichthon und den meisten anderen – (110b) wie ein jeder auch wirklich von den Vorgängern des Theseus im Umlauf ist, und eben so sei es mit denen der Frauen gewesen. Und eben so ist auch die Gestalt und das Bild der Göttin – denn wie damals die Geschäfte des Krieges Frauen und Männern gemeinsam waren, so sollen diesem Brauche entsprechend die damaligen Athener die gewappnete Göttin als Tempelbild geweiht haben – ein Beweis dafür, daß alle lebendigen Wesen, welche sich paarweise finden, weiblich und männlich, (110c) von Natur im Stande dazu sind, die beiden Geschlechtern zukommende Tüchtigkeit auch beiderseits gemeinschaftlich in Ausübung zu bringen.
Es wohnten nun damals in diesem Lande (mit einander) die übrigen Klassen der Bürger, welche sich mit den Gewerben und mit dem Gewinne von den Früchten der Erde beschäftigten; das Geschlecht der Krieger aber, welches durch gottbegeisterte Männer gleich im Anfang von ihnen ausgesondert war, wohnte getrennt von ihnen, ausgerüstet mit Allem, was zur Erziehung und Bildung erforderlich ist, und keiner von ihnen hatte ein ausschließliches Eigentum, sondern alle sahen das Aller als ihnen gemeinsam an, (110d) so wie sie denn auch über den erforderlichen Unterhalt hinaus irgend Etwas von den übrigen Bürgern anzunehmen verschmähten, und überhaupt alle diejenigen Bestrebungen (wirklich) verfolgten, welche gestern den (bloß) vorausgesetzten Wächtern zugeschrieben wurden.


Hier reißt Plato noch einmal das in seiner Politeia beschriebene Kastensystem an, in dem er die Krieger – beiderlei Geschlechts! – von den „übrigen Klassen“ der Bürger trennt. In gewisser Hinsicht gibt es Anklänge an die Lakedaimonier, wo die männlichen Einwohner der Städte Sparta und Amyklai die Kriegerschicht stellten, aus deren Reihen die Könige und Doppelkönige entstammten. Ja, keiner von Platos Streitern hat ein „ausschließliches Eigentum“ und sie „verschmähen“ Gaben, die ihnen andere zukommen lassen wollen. Auch das erinnert an Sparta, wo Reichtum so gering geachtet wurde, daß die Stadt selbst mehr wie ein Dorf anmutete. Und wo der Verhaltenskodex jeden Gedanken an Korruption verbat.
Freilich waren die alten Lakedaimonier keine frühen Kommunisten. Und auch sonst hinkt der Vergleich, denn bei Plato herrschen die Kämpen nicht, sie sind lediglich abgesondert und „ausgerüstet mit allem, was zur Erziehung und Bildung erforderlich ist“.


Aber auch was sodann in Betreff unseres Landes erzählt wurde, ist glaubwürdig und wahr, zuerst, daß sich damals seine Grenzen bis an den Isthmos und gegen das übrige Festland bis zu den Höhen des Kitäron und Parnes ausgedehnt, (110e) und daß sich diese Grenzen dergestalt abwärts gezogen hätten, daß sie das Gebiet von Oropos zur Rechten hatten, zur Linken aber den Asopos vom Meere abgrenzten; sodann aber, daß an Fruchtbarkeit die ganze Erde von unserem Lande übertroffen wurde, weshalb denn dasselbe auch im Stande gewesen wäre, ein großes Heer von Einwohnern zu ernähren.
Ein bedeutender Beweis aber für diese Güte des Bodens ist der Umstand, daß auch der gegenwärtige Überrest desselben in Ergiebigkeit an jeglicher Frucht und an Nahrung für jede Art (lebender) Wesen es noch mit allen anderen Ländern aufnimmt; (111a) damals aber gar trug er dies Alles in Schönheit und reichlicher Fülle. Wie nun aber möchte dies (noch näher) als glaubwürdig erscheinen, nämlich in wie fern dies gegenwärtige Land mit Recht ein Überrest des damaligen heißen? Das Ganze, so wie es vom übrigen Festlande ab sich langhin in das Meer erstreckt, liegt da, wie ein Vorgebirge, denn das Meeresbecken, welches dasselbe umgibt, ist hart an feinen Gestaden überall von großer Tiefe; und da nun viele bedeutende Überschwemmungen während der neuntausend Jahre Statt gefunden haben – denn so viele sind ja deren seit jener Zeit bis auf die gegenwärtige verstrichen – (111b) so hat die Erde, welche während dieser Zeit und unter diesen Einwirkungen von den Höhen herabgeflossen ist, nicht, wie in anderen Gegenden, einen Damm, welcher der Rede wert wäre, aufgeworfen, sondern ist jedes Mal im Kreise herumgeflossen und so in der Tiefe verschwunden. So sind denn, wie es auch bei kleinen Inseln zu geschehen pflegt, im Vergleich zu dem damaligen Lande in dem gegenwärtigen gleichsam wie von einem durch Krankheit dahingeschwundenen Körper nur noch die Knochen übrig geblieben, indem die Erde, so weit sie fett und weich war, rings herum abgeflossen und nur das magere Gerippe des Landes zurückgelassen ist.
Damals aber, als es noch unversehrt war, (111c) waren seine Berge hoch und mit Erde bedeckt, und eben so waren seine Ebenen, welche jetzt als Steinboden bezeichnet werden, voll fetter Erde; auch trug es vieles Gehölz auf den Bergen, von welchem es auch jetzt noch deutliche Spuren gibt. Denn von den Bergen bieten zwar einige jetzt nur noch den Bienen Nahrung dar, es ist aber noch nicht gar lange Zeit her, als noch Dächer, welche aus den Bäumen verfertigt waren, die man dort als Sparrenholz für die größten Gebäude fällte, unversehrt dastanden. Es gab aber auch noch viel andere hohe Bäume, und zwar Fruchtbäume, und für die Herden brachte das Land unglaublich reiche Weide hervor. Ferner genoß es einer jährlichen Bewässerung vom Zeus, (111d) und verlor dieselbe auch nicht wieder, wie jetzt, wo sie von dem dünnen Fruchtboden ins Meer abfließt, sondern wie es damals denselben reichlich besaß, so sog es auch den Regen in ihn ein und bewahrte denselben in einer Umschließung von Tonerde auf, indem es das eingesogene Wasser von den Höhen in die Tiefen hinabfließen ließ, und bereitete so an allen Orten reichhaltige Quellen und Flüsse, von denen auch noch jetzt da, wo einst ihre Ursprünge waren, heilige Merkzeichen für die Wahrheit meiner gegenwärtigen Erzählung über unser Land geblieben sind.
(111e) Also war nun das übrige Land von Natur beschaffen und ward auch in gehöriger Weise angebaut von Ackerleuten, die in Wahrheit diesen Namen verdienten und sich eben nur hiermit beschäftigten und dabei pflichteifrig und von tüchtigem Schlage waren, so wie ihnen denn auch der schönste Boden und Wasser in reicher Fülle und in der Luft die trefflichste Mischung der Jahreszeiten zu Teil geworden war.


Plato beschreibt eine Art Ur- Attika, das sich weit über die Grenzen seiner Zeit ausgedehnt haben soll, so daß sich später gegründete Städte wie Megara, Theben und sogar Delphi innerhalb des angegebenen Gebietes befunden haben. Dies hätte das fruchtbarste Land auf Erden gehabt, was in der Zwischenzeit aber größtenteils der Erosion zum Opfer gefallen sei. Eine „unglaublich reiche Weide“ ernährte das Vieh, und auch „ein großes Heer von Einwohnern“ ließ sich verköstigen.
Geschildert wird also definitiv eine Ära, in der man allgemein zur Landwirtschaft übergegangen war. Nach der Einteilung der Vor- und Frühgeschichte ist dies mit dem Einsetzen der Jungsteinzeit (des Neolithikums) der Fall, wobei es oft genug noch ein langes Nebeneinander mit mittelsteinzeitlichen (mesolithischen) Jägern und Sammlern gegeben hat.


Die Stadt aber war in der damaligen Zeit auf folgende Weise angelegt. Die Burg zuvörderst befand sich damals in anderen Umgebungen als jetzt. (112a) Denn jetzt hat eine besonders regnerische Nacht die Erde rings herum aufgelockert und von ihr weggespült, indem zugleich Erdbeben und eine gewaltige Wasserflut, die dritte vor der Zerstörung zu Deukalions Zeit, entstanden waren. Sodann zog sich ihre Ausdehnung in früherer Zeit bis zum Eridanos und Ilissos hinab, faßte die Pnyx in sich und hatte der Pnyx gegenüber den Berg Lykabettos zur Grenze; auch war die ganze Höhe mit Erde bedeckt und mit wenigen Ausnahmen eben auf ihrer Oberfläche. (112b) Es wurde aber die Gegend außerhalb derselben, unmittelbar unter ihren Abhängen, von den Handwerkern und denjenigen Landleuten, welche den nahe gelegenen Acker bebauten, bewohnt; die Höhe selbst aber war um das Heiligtum der Athene und des Hephästos herum von dem Geschlecht der Krieger gesondert für sich in Besitz genommen, indem sie dasselbe wie den Garten eines gemeinsamen Hauses mit einer einzigen Mauer umgeben hatten.

Damit Städte entstehen können, müssen die Bewohner seßhaft sein. Auch kann nicht jeder Bürger in der Nähe seiner Felder wohnen, so daß man mutmaßen kann, es habe hier Berufsstände gegeben, die sich nicht unmittelbar selbst versorgt haben. Wo viele Menschen leben, ist auch viel zu verdienen, also dürfte das Wachstum der Orte auch das Entstehen von Marktplätzen, Häfen und Handelswegen, ja, allgemein einer verbesserten Infrastruktur nach sich gezogen haben.
Manche Kulturen im Nahen Osten haben schon auf mesolithischem Niveau begonnen, in größeren Siedlungen zu wohnen, andere lehnen diese Lebensweise bis auf den heutigen Tag ab. Allgemein läßt sich jedoch sagen, daß erst fortgeschrittenere Bauernkulturen dazu übergegangen sind, urbanere Strukturen zu entwickeln. Dies gilt auch für Griechenland, und da Plato sein Ur- Athen nicht als unbedeutenden Weiler erscheinen läßt, sondern als größeres Gemeinwesen mit Burg und Berufsständen (Krieger, Handwerker), sind wir bei einem Niveau angelangt, das hierzulande erst nach Einbruch der Bronzezeit erreicht wird.


Sie bewohnten nämlich den nördlichen Teil der Burg, wo sie mit gemeinschaftlichen Häusern und Speisesälen für den Winter und überhaupt mit Allem, was in ihrem Gemeinwesen zur Einrichtung von Gebäuden (112c) für sie selbst und die Priester erforderlich war, ausgerüstet waren, jedoch nicht mit Gold und Silber, denn dessen bedienten sie sich niemals in irgend welcher Art; und wie sie vielmehr überhaupt zwischen Übermut und unfreiem Sinne die Mittelstraße verfolgten, so waren auch ihre Wohnungen von mäßig guter Einrichtung, in denen sie selbst und noch ihre Kindeskinder alt wurden, und wie das eine Geschlecht stets dem anderen ähnlich war, so übergab es ihm dieselben auch immer in dem gleichen Zustande. Was aber den südlichen Teil (der Burg) anlangt, so gebrauchten sie denselben zu dem gleichen Zwecke, wenn sie, wie dies im Sommer zu geschehen pflegte, ihre (besonders dazu eingerichteten) Gärten, Übungsplätze und Speisesäle verließen.

Die Handwerker und Bauern (und zum Teil auch die Priester) werden beschrieben wie zuvor die Krieger. Sie verfügen über alles, was für eine gesicherte Existenz „erforderlich“ ist, aber über keinen Luxus. Auch hier regelt ein Verhaltenskodex den Alltag, daß sie „zwischen Übermut und unfreiem Sinne die Mittelstraße“ beschreiten.
Im Gegensatz zu den Kriegern gibt es jedoch keine strikte Trennung der Kasten: Handwerker leben zusammen mit Bauern und Priestern.


Es gab ferner damals nur einen einzigen Born an dem Punkte, wo jetzt die Burg steht, nach dessen Versiegen in Folge von Erdbeben (112d) noch die kleinen Wässerchen von ihm übrig geblieben sind, welche sich rings um sie herumziehen, er gewährte aber eine völlig zureichende Wassermenge für Alle, die damals lebten, und besaß im Winter wie im Sommer das richtige Wärmeverhältnis. In dieser Weise also wohnten sie dort, als Beschützer ihrer eignen Mitbürger, so wie frei gewählte Führer aller andern Hellenen, und wachten nach Möglichkeit dafür, daß die Zahl ihrer eigenen kriegstüchtigen Mitglieder – an Männern und Weibern – für ewige Zeiten dieselbe bleibe, (112e) welche auch damals bereits sich auf ungefähr zwanzigtausend belief.

Die Ur- Athener hatten also eine Hegemonie errichtet, „als Beschützer ihrer eigenen Mitbürger, so wie frei gewählte Führer aller anderen Hellenen“. Was wir in diesem Kontext unter „frei gewählt“ zu verstehen haben, brauchen wir nicht näher zu erörtern; schließlich ist Plato ja ein subjektiver, und kein objektiver Berichterstatter.
Ein Heer von zwanzigtausend Leuten (Männern und Frauen im Falle von Ur- Atlantis) haben übrigens auch in der späteren Bronzezeit nur die damaligen Großmächte auf die Beine stellen können. Mächte, die genügend Spuren hinterlassen haben, daß auch die Archäologie noch von ihnen zu berichten weiß. Ja, so manches Imperium, wie etwa das der Hethiter, ist erst durch die Bodenfunde wieder den Nebeln der Vergessenheit entstiegen.
Und da sollen wir annehmen, das Ur- Athen hätte bei aller Imposanz keine solchen Spuren hinterlassen?
Freilich, auch die Spartaner hielten sich an einen Kodex der Bescheidenheit und Pflichterfüllung, und die Ruinen ihrer einst so mächtigen Stadt muten mehr wie die eines gewöhnlichen Dorfes dieser Ära an.


Da sie nun also von solcher Beschaffenheit waren und etwa in der beschriebenen Weise ihren eigenen Staat, so wie ganz Griechenland, mit Gerechtigkeit lenkten, so waren sie in ganz Europa und Asien sowohl wegen ihrer Körperschönheit als auch ihrer mannigfachen geistigen Vorzüge angesehen, ja die namhaftesten unter allen damals lebenden Völkern.

Jeder Leser mag sich selbst vorstellen, welch böse Polemik ich mir an dieser Stelle verkniffen habe.

Doch nun will ich auch die Verhältnisse ans Licht stellen, wie sei bei ihren Gegner bestanden und wie sie sich von Anfang an bei denselben entwickelten – wenn anders mich mein Gedächtnis nicht bei dem, was ich bereits als Knabe gehört habe, im Stiche läßt – um auch euch, meinen Freunden, die Kunde hiervon mitzuteilen.
(113a) Indessen muß ich meinen Berichte noch die Bemerkung unmittelbar voraufschicken, daß ihr euch nicht etwa wundern möget, wenn ihr ungriechischen Männern griechische Namen geben hört, denn ihr sollt den Grund davon erfahren. Da nämlich Solon ja diese Erzählung zu einem Gedichte zu verwenden bezweckte, so forschte er nach der Bedeutung der Namen, und da fand er nun, daß jene (alten) Ägypter, welche sie zuerst aufgezeichnet, sie in ihre eigene Sprache übersetzt hatten, und so nahm er seinerseits (gleichfalls) wieder den Sinn jedes Namens vor und schrieb ihn so nieder, wie er, in unsere Sprache übertragen, lautete. (113b) Und diese Aufzeichnungen befanden sich denn auch bei meinem Großvater, und ich besitze sie noch, und sie sind von mir in meinen Knabenjahren sorgfältig durchgelesen worden. Wenn ihr daher eben solche Namen hört, wie hier zu Lande, so laßt euch das nicht Wunder nehmen, denn ihr wisst jetzt die Ursache davon. Von der langen Erzählung lautete der Anfang nun damals ungefähr folgendermaßen.


Hier ist Plato ein grober Schnitzer unterlaufen, der seine Glaubwürdigkeit ein wenig in Zweifel zieht. Denn was in der Timaios noch die mündliche Erzählung des Dropidas „bei irgend einer Gelegenheit“ gewesen ist, wird hier zu Solons Entwurf eines Gedichtes, das der damals zehnjährige Kritias nun gelesen haben will.
Ansonsten zieht sich der Philosoph ein wenig aus der Affäre, wenn man ihn auf die fehlende Historizität der Namen ansprechen sollte, die er verwendet. Er erklärt es damit, daß er sein Wissen ja aus den Quellen der Ägypter hat, die alle Bezeichnungen in die Sprache ihres Landes übertragen haben. Er dann hat die Begriffe wieder ins Ionische (zurück) übersetzt.
Dies steht etwas im Gegensatz zu der Tradition, die Athener hätten das Griechische erst während der Dorischen Wanderung übernommen. Aber dann wiederum gibt es einige Stellen bei Plato, die den landläufigen Vorstellungen seiner Zeit widersprechen.
Die interpretatio aegyptica und die interpretatio graeca werden uns übrigens auch weiterhin beschäftigen, denn wir müssen davon ausgehen, daß es sich bei nahezu allen Namen, die im Zusammenhang mit der fernen Vergangenheit genannt werden, nicht um Originalbezeichnungen handelt. So weiß auch Plato nicht zu sagen, wie die Insel im Atlantik nun gehießen haben mag, soll doch „Atlantis“ nur die (Rück-?) Übersetzung einer Übersetzung sein.


Wie (schon) im Obigen erzählt wurde, daß die Götter die ganze Erde unter sich teils in größere, teils in kleinere Teile verteilt (113c) und sich selber ihre Heiligtümer und Opferstätten gegründet hätten, so fiel auch dem Poseidon die Insel Atlantis zu, und er verpflanzte seine Sprößlinge, die er mit einem sterblichen Weibe erzeugt hatte, auf einen Ort der Insel von ungefähr folgender Beschaffenheit.
Ziemlich in der Mitte der ganzen Insel, jedoch so, daß sie an das Meer stieß, lag eine Ebene, welche von allen Ebenen die schönste und von ganz vorzüglicher Güte (des Bodens) gewesen sein soll. Am Rande dieser Ebene aber lag wiederum, und zwar etwa sechzig Stadien vom Meer entfernt, ein nach allen Seiten niedriger Berg. Auf demselben nun wohnte einer von den daselbst im Anfange aus der Erde entsprossenen Männern, (113d) Namens Euenor, zusamt seiner Gattin Leukippe, und sie hatten eine einzige Tochter, Kleito, erzeugt. Als nun dies Mädchen in das Alter der Mannbarkeit gekommen war, starben ihr Mutter und Vater, Poseidon aber ward von Liebe zu ihr ergriffen und verband sich mit ihr.


Christoph Wagenseil übersetzt uns die griechischen Namen, die über das Ägyptische aus einer heute unbekannten Sprache stammen sollen:
  • Euenor: Der Mannhafte (euenos = mannhaft)
  • Leukippe: Das weiße Pferd (leukos = weiß + (h)ippos = Pferd)
  • Kleito: Die Berühmte (kleitos = berühmt)
Die Maßeinheit „Stadion“ hat tatsächlich mit der gleichnamigen Wettkampfstätte zu tun. Sie beschreibt eine (z. B. von Sportlern zu laufende) Strecke von 178 Metern. Diese unterteilen sich in sechs Plethren, wobei sich ein Plethron aus 100 Fuß zusammensetzt. Dementsprechend muß sich die Ebene vom Meer bis zum flachen Berg über etwa 11 Kilometer erstreckt haben. Noch ist nicht zu erkennen, daß dieses Eiland „größer als Libyen und Asien zusammen“ gewesen sein soll.
Im Hinterkopf behalten sollte man, daß von einem „nach allen Seiten niedriger Berg“ die Rede ist, denn so manch eine Theorie beruft sich ausgerechnet auf das Vorhandensein eines hohen, isolierten Berges.


Er trennte (deshalb) auch den Hügel, auf welchem sie wohnte, rings herum durch eine starke Umhegung ab, indem er mehrere kleinere und größere Ringe abwechselnd von Wasser und von Erde um einander fügte, und zwar ihrer zwei von Erde und drei von Wasser, und mitten aus der Insel gleichsam herauszirkelte, so daß ein jeder in allen seinen Teilen gleichmäßig von den anderen entfernt war; (113e) wodurch denn der Hügel für Menschen unzugänglich ward, denn Schiffe und Schiffahrt gab es damals noch nicht. Für seine Zwecke aber stattete er die in der Mitte liegende Insel, wie es ihm als einem Gotte nicht schwer ward, mit allem Nötigen aus, indem er zwei Wassersprudel, den einen warm und den anderen kalt, dergestalt, daß sie aus einer gemeinsamen Quelle flossen, aus der Erde emporsteigen und mannigfache und reichliche Frucht aus ihr hervorgehen ließ.

„… Denn Schiffe und Schiffahrt gab es damals noch nicht.“ – Auch wenn sich dieses Zitat auf die unmittelbare Schöpfungsperiode der Insel bezieht, so sollten wir doch daran zurückdenken, wenn uns jemand aufgrund dieses Textes eine Seehandelsmacht mit einer Jahrtausende zurückreichenden Entwicklung weismachen möchte.
Eine besondere Beachtung jedoch verdient der Grundriß der Hauptstadt, denn der ist es, mit dem man auch auf dem Wege der Archäologie noch nachweisen kann, ob es sich bei einer Fund- oder Ruinenstätte um die einstige Metropole von Atlantis gehandelt haben könnte. Diese ist nämlich dermaßen eigenartig angelegt, daß man sich fragen muß, woher Plato seine Vorbilder bezogen haben könnte. Wir haben es mit einem Burgberg zu tun, der von gleich drei konzentrischen Kanälen umflossen wird. Das Wasser entstammt zwei Quellen von unterschiedlicher Temperatur, die beide im Zentrum entspringen. Die Wärme der einen deutet auf einen vulkanisch aktiven Bereich hin.

An männlicher Nachkommenschaft aber erzeugte er fünf Zwillingspaare und zog sie auf, zerlegte sodann die ganze Insel Atlantis in zehn Landgebiete und teilte von ihnen dem Erstgeborenen des ältesten Paares (114a) den Wohnsitz seiner Mutter und das umliegende Gebiet, als das größte und beste, zu und bestellte ihn auch zum König über die anderen (Söhne); aber auch diese machte er zu Herrschern, indem er einem jeden die Herrschaft über viele Menschen und vieles Land verlieh. Auch legte er allen Namen bei, und zwar dem ältesten und Könige den, von welchen auch die ganze Insel und das Meer, welches ja das atlantische heißt, ihre Benennungen empfingen; nämlich Atlas ward dieser erste damals herrschende König geheißen.


Dass der Wohnsitz der Mutter als Hausmacht des Großkönigs gilt, also eine einstige Vererbung in weiblicher Linie andeutet, könnte auf eine matriarchalische bzw. matrifokale Tradition zurückgehen. Diese wird für weite Teile des neolithischen Europa vor Einsetzen der Kurgan- bzw. schnurkeramischen Wanderungen angenommen. Bei manchen Völkern, die auch der gebildete Grieche kennen konnte, gab es vergleichbare Sitten auch noch zu Platos Zeiten (so z. B. bei den Lykern und den Sarmaten). Um freilich anzunehmen, es habe pauschal eine Frauen- oder Mütterherrschaft gegeben, und alle nicht kriegerischen Erfindungen wären dem Schönen Geschlecht zu verdanken, braucht es Beweise. Daß die in der weitgehend schriftlosen Steinzeit schwer zu finden sind, leuchtet ein. Aber deswegen auf sie zu verzichten, und die eigenen Behauptungen dreist als unbestreitbare Tatsachen hinzustellen, führt nur zu ideologischem Blödsinn (Der Artikel von Frau zum Felde ist mir in dieser Hinsicht unangenehm aufgefallen). Auf den erkennbaren Darstellungen jener Ära scheinen es zumindest immer Männer zu sein, die den Pflug halten.
Die Unterteilung Atlantis‘ in zehn Teilkönigreiche deutet auf eine föderalistische oder Bundes- Struktur hin, bei welcher der oberster Herrscher mehr „Erster unter Gleichen“ ist, und nicht etwa ein unumschränkter Diktator.
Thorwald C. Franke beruft sich auf diesen Text, wenn er die These aufstellt, Platos Atlas wäre mit dem der griechischen Sage nicht identisch. Ich werde später im Zusammenhang mit Nordafrika und dem Atlas- Gebirge näher auf seine Argumente eingehen.


(114b) Dem nach ihm geborenen Zwillingsbruder ferner, welcher den äußersten Teil der Insel, von den Säulen des Herakles bis zu der Gegend welche jetzt die gadeirische heißt und von der damals so genannten diese Bezeichnung empfangen hat, als seinen Anteil erhielt, gab er in der Landessprache den Namen Gadeiros, welcher auf griechisch Eumelos lauten würde und auch jene Benennung des Landes hervorrufen sollte.

Die „gadeirische Gegend“, das ist das Umland von „Gadeira“ bzw. „Gades“, einer Stadt, die es unter dem Namen „Cadiz“ auch heute noch gibt. Ihre Erwähnung ist gleich in dreierlei Hinsicht von großer Bedeutung.
Zum Ersten wird hier ein geographischer Bezug genannt: Gades lag auf einem atlantischen Eiland unmittelbar vor der Südwest- Küste Spaniens. Es lag nicht bei Thera/ Santorin, nicht bei Troja, nicht vor Malta oder Helgoland, und auch nicht in der Nähe von so manch anderer Lokalität, auf der man Atlantis gefunden haben wollte.
Zum Zweiten werden auch die berühmten „Säulen des Herakles“ mit der Lage der Insel verknüpft. Es scheint aber nicht ganz klar, ob Plato gewußt hat, daß sie in Gades/ Gadeira gestanden haben, und nicht bloß irgendwo in der Nachbarschaft des Ortes.
Und Drittens werden die Phönizier ins Spiel gebracht, denn sie sind es gewesen, die um 1100 v. Chr. herum die Stadt gegründet und besiedelt haben. Wenn deren Name einheimischen Ursprungs gewesen sein soll, muß er sich von ungefähr 9600 v. Chr. bis 1100 v. Chr. nahezu unverändert erhalten haben. Man stelle sich vor, unsere Bundesländer hätten Namen, die sich seit 6500 v. Chr. nicht mehr verändert hätten!
„Eumelos“ führt er als griechische Übersetzung von Gadeiros an. Es läßt sich übersetzen mit: „reich an Schafen“. Die wörtliche Übersetzung „gutes/ wohl geratenes Glied/ Gelenk“ mag eher mit der heute etwas bekannteren Vokabel „Eumel“ zu tun haben.

Aber dieser Satz ist nicht allein durch die Erwähnung Gadeiras/ Gades‘ für die Lokalisierung von Atlantis von großer Bedeutung. Denn er enthält einen Widerspruch zur bisherigen Schilderung von Atlantis, auf den ich in dem Kapitel über Tarschisch/ Tartessos näher eingehen werde.

Von dem zweiten Paare sodann nannte er den Einen Ampheres und den Andern Euämon, von dem dritten Erstgebornen Mnaseas und den folgenden Autochthon, (114c) von dem vierten den Ersten Elasippos und den Zweiten Mestor, von dem fünften endlich empfing der Frühergeborene den Namen Azaёs und der Letztgeborne den Namen Diaprepes. Diese Alle nun samt ihren Abkömmlingen wohnten hier viele Geschlechter hindurch und beherrschten auch noch viele andere Inseln des Meeres, überdies aber, wie schon vorhin bemerkt wurde, auch noch die hier innerhalb Wohnenden bis nach Ägypten und Tyrrenien hin.

Damit sind sie nun aufgelistet, die Kolonien am Mittelmeer, vom Atlas- Gebirge bis zum Nil, und von Gibraltar bis Norditalien. Auch von „vielen anderen Inseln des Meeres“ ist die Rede. Interessanterweise soll schon die allererste Generation ein Imperium „bis nach Ägypten und Tyrrhenien“ beherrscht haben, obwohl es Plato späteren Generationen anlastet, „übermütig gegen ganz Europa und Asien zugleich“ zu Felde gezogen zu sein.
Auch gibt es an dieser Stelle keine Anzeichen dafür, die Atlanter hätten ein Weltreich beherrscht, das sich nach Ignatius Loyola Donnelly und den in seiner Tradition stehenden Atlantis- Forschern bis zur Pazifikküste Südamerikas und nach Zentral- Asien hinein erstreckt hätte.
Die Pärchenbildung bei den Insel- Monarchen erinnert an eine rund ums Mittelmeer (u. a. in Athen, Sparta, Rom und Karthago) verbreitete Sitte, die höchste Macht im Staate an eine Doppelspitze zu vergeben.
Christoph Wagenseil übersetzt uns die Namen wie folgt:
  • Ampheres: Der Zusammentragende(?) (am = zusammen; phero = tragen)
  • Euämon: Der Heitere (euämeros = heiter)
  • Mnaseas: Der Reiche"(?) (Mna war eine Art Münze)
  • Autochthon: Der Eingeborene (autochthon = eingeboren)
  • Elasippos: Das kriegerische Pferd (elasis = (Reiter-)Angriff + (h)ippos = Pferd)
  • Mestor: Der Satte (mestos = satt)
  • Azaes: (unbekannt)
Diaprepes: Der Hervorragende (diaprepes = hervorragend)
Es mag gewiß interessant sein, die bekannten Königslisten des Altertums nach Namen mit gleichen oder ähnlichen Bedeutungen zu durchforsten. Selbst wenn es nur hier und da Übereinstimmungen geben sollte, könnte man doch anhand der Sitte, bestimmte Wünsche und Segnungen für die Benennung des Nachwuchses auszuwählen, auf ursprüngliche kulturelle Beziehungen zwischen dem bekannten und dem atlantischen Volk schließen.


(114d) Vom Atlas nun stammte ein zahlreiches Geschlecht, welches auch in seinen übrigen Gliedern hochgeehrt war, namentlich aber dadurch, daß der jedesmalige König die königliche Gewalt immer den ältesten seiner Söhne überlieferte, viele Geschlechter hindurch sich den Besitz dieser Gewalt und damit eines Reichtums von solcher Fülle bewahrte, wie er wohl weder zuvor in irgend einem Königreiche bestanden hat, noch so leicht künftig wieder bestehen wird, und war mit Allem versehen, was in der Stadt und im übrigen Lande herbeizuschaffen nötig war.

Atlantis wurde nicht nur von Königen regiert, es gab auch eine Erbfolge. Dies mag für eine etwas fortgeschrittenere gesellschaftliche Schichtung sprechen, doch andererseits kennt die Völkerkunde mehrere Kulturen aus Gegenwart oder jüngster Vergangenheit, die sich auf steinzeitlichem Niveau befinden (bzw. befunden haben), und das Amt des Häuptlings trotzdem dem jeweils ältesten Sohn vermacht wird (bzw. worden ist).

Denn Vieles ward diesen Königen von auswärtigen Ländern her in Folge ihrer Herrschaft (über dieselben) zugeführt,

Wir müssen nun davon ausgehen, daß man inzwischen gelernt hat, zur See zu fahren. Ansonsten wäre weder die Anlage von Kolonien denkbar, noch das „Zuführen“ von Waren aus den „auswärtigen Ländern“.

das Meiste aber bot die Insel selbst für die Bedürfnisse des Lebens dar, (114e) zunächst Alles, was durch den Bergbau gediegen oder in schmelzbaren Erzen hervorgegraben wird, darunter auch die Gattung, welche jetzt nur noch ein Name ist, damals aber mehr als dies war, nämlich die des Goldkupfererzes, welches an vielen Stellen der Insel aus der Erde gefördert und unter den damals lebenden Menschen nächst dem Golde am höchsten geschätzt ward.

„Goldkupfererz“ ist eine sehr eigenwillige Übersetzung Franz Susemihls von Oreichalkos. Wörtlich übertragen bedeutet es: „Bergkupfer“. Die Vokabel Chalkos ist älter als das von der Insel Zypern mit ihren Lagerstätten entlehnte Kypros. Der Begriff entstammt dem vor- indogermanischen Kulturkreis, und kann auch „Erz“ im Allgemeinen bedeuten, sowie im übertragenen Sinne „Bronze“ und sogar „Eisen“ (Kypros dagegen meint speziell Kupfer). Es ist mit Chalke (bzw. Kalche) verwandt, der griechischen Bezeichnung für die Purpurschnecke. Chalkos hat also ursprünglich die Farbe Rot bezeichnet (Kupfer hat bekanntermaßen eine rötliche Farbe).
„Bergkupfer“ bzw. „Bergerz“ wird also im Gebirge gewonnen, vermutlich in Bergwerken. Damit scheiden Deutungen von Oreichalkos als Bernstein oder ähnliches Mineral aus.
Ja, als Oreichalkos ist sogar die gar nicht so spektakuläre Legierung Messing bezeichnet worden. Die alten Römer machten es zu Aurichalkum, womit sie Gold bezeichneten. Messing kannte man im Nahen Osten ab dem dritten Jahrtausend vor Christus, doch um 1000 v. Chr. geriet es in Vergessenheit, und wurde nach drei Jahrhunderten von den Griechen selbst neu entdeckt.
Außerdem erfahren wir, daß wir es mit einer Metall fördernden und verarbeitenden Kultur vor uns haben. Das heißt, wir befinden uns allerfrühestens im Endneolithikum, das in der Literatur auch als „Chalkolithikum“ oder „Kupferzeit“ bekannt ist. Also in jener Epoche, in der die Steinzeit so langsam in die Bronzezeit übergeht.
Die Formulierung „Alles, was durch den Bergbau gediegen oder in schmelzbaren Erzen hervorgegraben wird“ stellt eine klare Pauschalisierung dar. Man kann ihr nicht entnehmen, ob den Atlantern bereits die Bronze oder gar das Eisen bekannt gewesen ist.


Ferner brachte sie Alles, was der Wald zu den Arbeiten der Handwerker darbietet, in reichen Maße hervor und nährte reichlich wilde und zahme Tiere. Sogar die Gattung der Elephanten war auf ihr sehr zahlreich, denn nicht bloß für die übrigen Tiere insgesamt, welche in Sümpfen, Teichen und Flüssen, (115a) so wie die, welche auf den Bergen und welche in den Ebenen leben, war reichliches Futter vorhanden, sondern in gleichen Maße (auch selbst) für diese Tiergattung, welche die größte und gefräßigste von allen ist.

Die Erwähnung, daß auf Atlantis Elefanten heimisch gewesen sind, ist ein Kriterium, das in eine sehr frühe Epoche der kulturellen Entwicklung verweist, von der Platos Zeitgenossen so gut wie keine Ahnung gehabt haben. In der klassischen Antike gab es wilde Elefanten mit ein oder zwei Ausnahmen nur dort, wo wir sie (in freilich weit geringerer Stückzahl) auch heute noch finden.
Um 9600 v. Chr. sah die Sache aber noch ganz anders aus. Zwar wird das Ende der letzten Eiszeit (Würm- bzw. Weichsel- Glazial) bei etwa 10.000 v. Chr. angesetzt, aber man darf es sich nicht als plötzliches Ereignis vorstellen, sondern mehr als ganz allmählichen Klimawandel. Dementsprechend gilt zwar, daß das Wollmammut (Mammuthus primigenius) mit dem Ende der Kaltzeit ausgestorben ist, und die spätesten Exemplare in Sibirien nachgewiesen sind, aber es läßt sich nicht ausschließen, daß sich ein paar von ihnen in den Rückzugsgebieten der Gletscher noch bis ins Mesolithikum gehalten haben. Skandinavien auf jeden Fall war um 9600 v. Chr. noch nicht eisfrei.
Ähnliches ließe sich übrigens auch für Nordamerika behaupten, wo es zudem noch das „amerikanische Mammut“ gegeben hat, das in Wirklichkeit zur ausgestorbenen Familie der Mastodonten gehört.
Aber mit dem Pleistozän verschwanden auch die Waldelefanten (Palaeoloxodon), und hier deutet Vieles darauf hin, daß sich gerade auf den Mittelmeerinseln noch einige Zwergformen (Palaeoloxodon falconeri) bis in die Jungsteinzeit hinüber gerettet haben.
Solche kleinwüchsigen Formen sind auch von anderen Gattungen und Regionen bekannt (z. B. Stegodon und Elephas auf den Archipeln Südostasiens). Ihre normal gewachsenen Vorfahren gelangten über Landbrücken dorthin, die beim Anstieg des Meeresspiegels nach der Gletscherschmelze überflutet wurden. Angesichts des verringerten Territoriums und Nahrungsangebots hatten kleinere Artgenossen einen Überlebensvorteil.
Zwar sind die Rüsseltiere in der Regel auch recht passable Schwimmer, aber daß sie je ein Gebiet auf dem Seeweg erreicht hätten, ist nicht bekannt. Und selbst, wenn dieses irgendwo einmal geschehen sein sollte, so besäße ein isoliertes Eiland nicht die Ressourcen, eine zur Sicherung des Bestandes notwendige Population zu erhalten. Um sich an die neuen Bedingungen anzupassen, braucht es aber Generationen, und diese Zeit wäre den Tieren bei dem Mangel an Nahrung einfach nicht geblieben.
Noch später, nämlich bis in historische Zeit, ist ein naher Verwandter des Indischen Elefanten, Elephas maximus, in Vorderasien nachgewiesen.
Den afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) hat erst die Austrocknung der Sahara um 3000 v. Chr. aus Nordafrika vertrieben.
Sogar Südamerika hat seine einheimischen Rüsselträger gehabt: Die Mastodonten- Gattung Cuvierionius mit ihren langen, gerade gezwirbelten Stoßzähnen wanderte im Plio-/ Pleistozän von Norden her ein und behauptete sich hier bis ungefähr 400 n. Chr.. Eventuell war es der Mensch, der es ausrottete, lassen Felsenmalereien doch darauf schließen, daß es ein begehrtes Beutetier gewesen sein muß.
Doch selbst das Aussterben mußte nicht bedeuten, daß die Menschen nicht doch von ihnen Kenntnis erlangen mochten. Auch Funde von Knochen und Fossilien können dem Kundigen verraten, welche Tiere hier einmal gelebt haben. Die Schädel von Palaeoloxodon falconeri, die man auf Sizilien gefunden hat, sind beispielsweise in neuerer Zeit mit Homers Schilderung der Zyklopen in Verbindung gebracht worden, da daß große Nasenloch in der Form an eine einzige, riesige Augenhöhle erinnert.
So mag die Erkenntnis, daß es vor Ewigkeiten mal solche Tiere jenseits des Festlands gegeben hat, mit dazu beigetragen haben, sich ein Inselreich in grauer Vorzeit auszumalen, auf dem auch Rüsseltiere heimisch gewesen waren.
Wie auch Handelsreisen in den äußersten Westen der damals bekannten Welt, von denen man zumindest Elfenbein mitbrachte. Daß dieses eher von einer nordafrikanischen Zwischenstation stammen mochte, mag darüber in Vergessenheit geraten sein.


Was überdem die Erde jetzt nur irgend an Wohlgerüchen nährt, sei es von Wurzeln oder Gras oder Hölzern oder hervorquellenden Säften oder Blumen oder Früchten, das Alles trug und hegte die Insel vielfältig; nicht minder die „milde Frucht“ und die trockene, deren wir zur Nahrung bedürfen, und alle, deren wir uns sonst zur Speise bedienen und deren Arten wir mit dem (gemeinsamen) Namen der Gemüse bezeichnen; (115b) ferner die, welche baumartig wächst und Trank und Speise und Salböl (zugleich) liefert; ferner die schwer aufzubewahrende Frucht der Obstbäume, welche uns zur Freude und zur Erheiterung geschaffen ist, und was wir zum Nachtisch aufzutragen pflegen als erwünschte (neue) Reizmittel des angefüllten Magens für die Übersättigten – dies Alles brachte die Insel, die damals durchweg den Einwirkungen der Sonne zugänglich war, in vortrefflicher und bewundernswerter Gestalt und in der reichsten Fülle hervor.

Dieser Schilderung zufolge erfreute sich Atlantis eines mediterranen Klimas, war es doch „durchweg den Einwirkungen der Sonne zugänglich“. Dafür sprechen auch die Erwähnung von Pflanzen, deren Beschreibung an den Olivenbaum und mancher erst zur Römerzeit nordwärts vorgedrungener Obstbäume (Apfel?) erinnert.
Die Böden waren fruchtbar, wenn auch nicht so wie die Ur- Athens. Man war also von der Natur gesegnet, aber es finden sich keine Übertreibungen (wenn man mal von der Spitze mit dem „Reizmittel des angefüllten Magens für die Übersättigten“ absieht). Die Beschreibung eines Schlaraffenlandes oder Utopias wäre nicht ganz so sehr an die Realität angelehnt.


Indem nun Atlas und seine Nachkommen dies Alles aus der Erde empfingen, gründeten sie Tempel, Königshäuser, (115c) Häfen und Schiffswerften, und richteten auch das ganze übrige Land ein, wobei sie nach folgender Anordnung verfuhren.
 
Ja, man kennt die Schiffahrt inzwischen.

Zuerst schlugen sie Brücken über die Ringe von Wasser, welche ihre alte Mutterstadt umgaben, um sich so einen Weg von und zu der Königsburg zu schaffen. Dieselbe errichteten sie nämlich gleich im Anfange eben auf jenem Wohnsitze des Gottes und ihrer Vorfahren, und so empfing sie der Eine von dem Anderen, indem ein Jeder ihre Ausstattung erweiterte und nach Kräften seinen Vorgänger darin überbot, (115d) bis sie denn endlich diesen ihren Wohnsitz durch die Größe und Schönheit ihrer Werke zu einem staunenswerten Anblicke gemacht hatten:
(Zuerst) nämlich gruben sie einen Kanal von drei Plethren Breite, hundert Fuß Tiefe und fünfzig Stadien Länge vom Meer aus bis zu dem äußersten Ringe hin, und machten so eine Einfahrt vor der See in denselben wie in einen Hafen möglich, indem sie die Einmündung in ihn weit genug zum Einlaufen für die größten Schiffe brachen. Sodann durchbrachen sie aber auch die Kreiswälle von Erde, welche die Wasserringe von einander trennten, unterhalb der Brücken in einer solchen Breite, (115e) daß für einen einzelnen Dreiruderer die Durchfahrt von dem einen durch den anderen möglich ward, und überbrückten dann wieder den Durchstich, so daß die Schiffahrt hier eine unterirdische war; die Ränder der Erdwälle hatten nämlich eine Höhe, welche hinlänglich über das Meer emporragte.
Es war aber der weiteste von den Ringen, welche einst aus dem Meere gebildet waren, drei Stadien breit, und eben so der zunächst auf ihn folgende Wallring, von den beiden nächsten Ringen aber der aus Wasser bestehende zwei, und eben so war ihm wiederum der aus Erde aufgehäufte an Breite gleich, endlich der unmittelbar um die Insel herumlaufende ein Stadium, (116a) und die Insel selbst, auf welcher die Königsburg stand, hatte fünf Stadien im Durchmesser.
Diese selbst nun umgaben sie rings herum, und ebenso die Ringe und die Brücke, welche ein Plethron breit war, von beiden Seiten mit je einer steinernen Mauer, und errichteten bei den Brücken nach beiden Seiten hin Türme und Tore gegen die Durchfahrten vom Meere zu. Die Steine dazu aber, welche teils weiß, teils schwarz und teils rot waren, (116b) brachen sie unten an (den Abhängen) der in der Mitte gelegenen Insel rings herum, und ebenso unten an den Wallrändern nach außen und nach innen zu, und dadurch, daß sie sie dort herausschlugen, erlangten sie zugleich innerhalb derselben auf beiden Seiten Höhlungen zu Schiffsarsenalen, welche den Felsen selber zur Decke hatten. Auch (andere) Gebäude errichteten sie (aus jenen Steinen), und zwar teils einfarbige, teils auch bunte, indem sie sie aus verschiedenfarbigen Steinen zum Genuß (für das Auge) zusammensetzten und denselben dadurch ihren (vollen) natürlichen Reiz gaben. Die Mauer endlich, welche um den äußeren Wall herumlief, fassten sie ihrem ganzen Umfange nach mit Erz ein, indem sie dasselbe gleichsam wie ein Salböl anwandten, die um den innern aber umschmolzen sie mit Zinn, (116c) endlich die Burg selbst mit Goldkupfererz, welches einen feuerähnlichen Glanz hatte.


Damit ist der Grundriß der Metropole erweitert zu einem System aus konzentrischen Ringen und Wällen, daß sie aus der Vogelperspektive wie eine Zielscheibe ausgesehen haben dürfte. In Platos Epoche gab es nirgends Orte, die diesem Muster entsprachen.
Ein weiteres Merkmal dürften auch die weißen, roten und schwarzen Steine sein, aus denen man die Bollwerke errichtet hat. Gewiß, sie können importiert worden sein, so wie die Ägypter den Kalkstein für ihre Pyramiden auch über den Nil bezogen haben. Doch eine Gegend, in der Steine aller drei Farben natürlich vorkommen, mag trotzdem Hinweise auf die Lage des versunkenen Eilands liefern. Und ihr Nachweis in den Wallsystemen einer ergrabenen Stadtruine mag gleichfalls hilfreich sein.
Aber zurück zum Grundriß selbst! Auf den ersten Blick erweckt eine Stadt mit konzentrischen Festungsmauern samt schiffbarer Burggräben den Eindruck, uneinnehmbar zu sein. Doch was macht man, wenn der Feind den äußersten Ring durchbrochen hat? Wie bekommt man rechtzeitig alle Verteidiger auf die nächst- innere Mauer, wenn der Zugang durch einen breiten Kanal unterbrochen ist?
Brücken wären eine Option. Sie müßten stabil genug sein, ganze Truppenteile auf einmal zu tragen, aber doch schnell zu zerstören, damit sie der Gegner nicht auch zum Übersetzen nutzen kann. Auch muß man sie von der jeweils inneren Mauer aus beschießen können, um ihn im Fall der Fälle aufzuhalten.
So etwas soll es laut Herodot bei Ekbatana (heute Hamadan) gegeben haben, der Hauptstadt der Meder. Hier folgten die Wallringe allerdings dicht aufeinander, und der jeweils innere war höher als der äußere. Bei Atlantis jedoch sollen ganze Stadtteile dazwischen gelegen haben, so daß schon aufwendige Konstruktionen zur Überführung nötig gewesen wären. Die sind freilich erst seit den Aquädukte bauenden Römern bekannt.
Demnach wäre den Truppen nur der Weg durch die Gassen geblieben. Dort allerdings wären sie früher oder später auf die Eindringlinge gestoßen. Die Chance, die nächst- innere Mauer zu erreichen, wäre für beide Seiten nahezu gleich groß. Fast schon auszuschließen ist die Möglichkeit, daß die eigenen Leute samt und sonders ihr Ziel erreichen, bevor die ersten Gegner eintreffen.
Und das ganze Spiel soll sich dann bis zum innersten Ring stetig wiederholen!
Der Bau einer Stadtmauer war stets mit einem gewaltigen Aufwand verbunden, so daß es nur wenige Städte gab, die mehrere davon errichten ließen. Jerusalem etwa hatte drei konzentrisch verlaufende Wallringe, und das oben erwähnte Ekbatana angeblich sogar sieben. Doch keine von ihnen leistete sich den Luxus, sie außerdem noch mit Burggräben voneinander abzugrenzen. Auch waren sie Metropolen in besonders unruhigen Gegenden – Wie aber sieht der Kosten- Nutzen- Effekt auf einer geschützten Insel aus, wo man es sich leisten kann, seine Kriegsflotte in fernen Ländern Eroberungen machen zu lassen? Und da sich die Zinnen von Atlantis offenbar allesamt in der selben Höhe befanden, und bereits die Einnahme des äußersten Bollwerks den Zugang zum Meer blockierte, waren sie da überhaupt noch sinnvoll?
Plato auf jeden Fall ist zwar einigermaßen gut herumgekommen, aber Ekbatana und Jerusalem hat er nie gesehen. Bestenfalls aus Herodots Schriften mag er etwas über die erstgenannte Stadt gelesen haben, aber eine Kapitale mit sieben Mauern im medischen Zagros- Gebirge ist noch keine mit drei Wasser- und drei bis vier Wallrunden, die in einer Ebene auf einer Atlantikinsel liegt. Da stellt sich die Frage, ob es nicht noch andere Stätten mit ähnlichem Bauplan gibt, die dem Philosophen vielleicht eher bekannt gewesen sein mochten. Und ob ein solcher Grundriß wirklich derartig exotisch war, wie es den Anschein hat.
Nun, zu seiner Zeit vielleicht nicht. Aber auch damals schon gab es Ruinen, die Zeugnis ablegten von den architektonischen Leistungen der Altvorderen.


Die Königliche Wohnung innerhalb der Burg selbst aber war folgendermaßen eingerichtet. Inmitten der letzteren befand sich ein der Kleito und dem Poseidon geweihter Tempel, welcher nur von den Priestern betreten werden durfte und mit einer goldenen Mauer umgeben war, derselbe, in welchem sie einst das Geschlecht der zehn Fürsten erzeugt und hervorgebracht hatten. Dahin schickte man auch jedes Jahr aus allen zehn Landgebieten die Erstlinge als Opfer für einen jeden von diesen. Ferner stand dort ein besonderer Tempel des Poseidon, (116d) von einem Stadium Länge, drei Plethren an Breite und von einer Höhe, wie sie einen dem entsprechenden Anblick gewährte, hatte aber ein etwas barbarisches Ansehen. Den ganzen Tempel nun überzogen sie von außen mit Silber, mit Ausnahme der Zinnen, die Zinnen aber mit Gold. Was aber das Innere anbetrifft, so konnte man die elfenbeinerne Decke ganz mit Gold [und Silber] und Goldkupfererz verziert sehen, alles Andere an Mauern, Säulen und Estrichen überkleideten sie mit Goldkupfererz. Auch stellten sie goldene Bildsäulen darin auf, nämlich den Gott selber, wie er, auf seinem Wagen stehend, sechs geflügelte Rosse lenkt, (116e) und der seinerseits so groß gebildet war, daß er mit dem Haupte die Decke berührte, rings um ihn herum aber die hundert Nereiden auf Delphinen; denn so viel, glaubte man damals, daß ihrer seien; außerdem befanden sich aber auch noch viele andere Bildwerke als Weihgeschenke von Privatleuten im Tempel.
Außerhalb aber standen rings um denselben die Bildsäulen von Allen insgesamt, nämlich von den zehn Königen selbst und ihren Weibern und Allen, welche von ihnen entsprossen waren, und viele andere große Weihgeschenke von den Königen wie von Privatleuten teils aus der Stadt selbst, (117a) teils aus allen von ihnen beherrschten Gebieten außerhalb derselben. Auch der Altar entsprach an Größe so wie an Arbeit dieser Ausstattung, und eben so war auch die königliche Wohnung eben so sehr der Größe der Herrschaft, wie andererseits dem auf die Heiligtümer verwandten Schmuck angemessen.

Es blühte also auch die Kunst auf Atlantis, auch wenn sie bisweilen etwas „barbarisch“ herüberkam. Poseidon wird verehrt, wobei uns die Erwähnung von „Wellenrossen“ und einem gezogenen Wagen noch beschäftigen wird.

Von den beiden Quellen aber, sowohl der von kaltem als der von warmen Wasser, welche dessen eine reiche Fülle enthielten und beide dasselbe an Wohlgeschmack und Güte zum Gebrauche in ganz bewundernswerter Vortrefflichkeit darboten, zogen sie Nutzen, indem sie Gebäude und Baumpflanzungen, wie sie zu den Wassern sich schickten, rings umher anlegten (117b)

Nun sind es zwei Quellen an Stelle der einen, aus der „zwei Wassersprudel“ kommen sollen.


und ferner Wasserbehälter teils unter freiem Himmel, teils zu warmen Bädern für den Winter in bedeckten Räumen in der Umgebung einrichteten, und zwar deren besondere für die Könige und besondere für die Untertanen, ferner noch andere für die Weiber und wieder für die Pferde und die übrigen Zugtiere, und einem jeden von diesen allen die ihm angemessene Ausstattung gaben. Das abfließende Wasser aber leiteten sie in den Hain des Poseidon, welcher Bäume von mannigfacher Art und von ganz vorzüglicher Höhe und Schönheit in Folge der Güte des Bodens umfasste, teils aber auch durch Kanäle über die Brücken weg in die äußeren Ringe hinein.

In Atlantis gab es Lustgärten und öffentliche Bäder. Dabei gab es „besondere“ Becken jeweils für die Könige und männliche Untertanen, sowie „andere“ jeweils für die Damen und das Vieh. Auch von einer Kanalisation ist die Rede, die zum Teil in den Hain des Poseidon floß, aber auch in die Stadtgräben hinaus. Kanalisationen kennt man von der Indus- Kultur schon aus einer Zeit um 3000 v. Chr. her; sie lassen sich archäologisch einigermaßen gut nachweisen.

(117c) In der Nähe dieser Wasserleitungen wurden denn auch Heiligtümer vieler Götter, ferner viele Gärten und Übungsplätze angelegt, und zwar besondere für die auf den menschlichen Körper beschränkten Übungen und besondere für die mit dem Wagengespann aus jeder von beiden aus den Wällen bestehenden Inseln, und überdies besaßen sie auch in der Mitte der größeren Insel eine ausgesuchte Rennbahn, welche ein Stadium breit und deren Länge im ganzen Umkreis zum Wettkampfe für die Rosse eingerichtet war.

Elefanten waren für die Griechen zu Platos Zeit noch etwas Exotisches. Man kannte die Tiere von Ägypten, und eventuell auch von anderen Regionen Nordafrikas her. Zunächst schätzte man sie vor allem aufgrund des wertvollen Elfenbeins. Erst 326 v. Chr. machte Alexander der Große mit ihnen als Reittier Bekanntschaft, in der Schlacht am Fluß Hydaspes, gegen den indischen König Porus.
Pferde dagegen waren schon seit einer geraumen Weile domestiziert, und spätestens seit 700 v. Chr. kannte man im Heer auch die Kavallerie. Doch als Haustiere sind sie erst seit dem Neolithikum Südrußlands nachgewiesen, und erst um 3300 v. Chr. herum gibt es Hinweise darauf, daß man sie nicht nur gegessen, sondern auch geritten hat. Als Bewohner des weiten und offenen Graslandes dürften sie auch kaum wild auf irgendwelchen Inseln im Atlantik gelebt haben. Wenn doch, so können sie dort nur ausgesetzt worden sein, und wer immer das getan hat, wird es kaum mit Einbaum oder Floß bewerkstelligt haben können. Überhaupt setzt die Domestikation des Pferdes die Viehzucht voraus, und damit eine neolithische Kulturstufe. Zu der Zeit, für die Plato Atlantis ansetzt, ist davon aber weit und breit noch nichts zu spüren. Bestenfalls der Hund ist hier schon an der Seite des Menschen, aber von Hunderennbahnen in Atlantis schreibt Plato nichts.


Um dieselbe herum lagen auf beiden Seiten die Wohnungen (117d) für die Mehrzahl der Trabanten. Die zuverlässigeren unter ihnen aber hatten ihre Wache auf dem kleineren und näher an der Burg gelegenen Wallring, den vor allen anderen an Zuverlässigkeit Ausgezeichneten endlich waren ihre Wohnungen auf der Burg selber um den Königspalast herum gegeben. Die Schiffsarsenale aber waren voll von Dreiruderern und von Allem, was zu der Ausrüstung von Dreiruderern gehört, wovon Alles in reichem Maße in Bereitschaft gehalten wurde.

Die Atlanter haben nicht nur über eine beachtliche Flotte verfügt, sie war auch noch reich an Dreiruderern (Triremen). Ein derart spezialisierter Schiffstyp kann natürlich auch Pferde transportieren, gehört aber eher in Platos Gegenwart, als in eine halb vergessene Vorzeit. Seine Erwähnung zeugt von einem Geschichtsverständnis, das den technologischen Fortschritt nicht kennt, oder aber ihn zumindest unterschätzt.
Aber Plato hat uns ja schon in der Timaios klar gemacht, daß er in diesem Kontext von einer Historie ausgeht, die von zyklisch hereinbrechenden Katastrophen bestimmt wird. Und so wie die Schrift verloren gehen kann, und jedesmal neu erfunden werden muß, so können auch andere kulturelle Errungenschaften mehrmals unabhängig voneinander neu ersonnen worden sein.


Solches war nun also die Ausrüstung der königlichen Wohnung. Wenn man aber die drei außerhalb derselben befindlichen Häfen hinter sich hatte, (117e) so traf man auf eine Mauer, welche vom Meere begann und im Kreis herumlief, von dem größten Ringe und zugleich Hafen aber überall fünfzig Stadien entfernt war und an derselben Stelle bei der Mündung des Kanals in das Meer wieder abschloss. Dieses Ganze aber war mit vielen und dichtgedrängten Wohnungen umgeben, und die Ausfahrt so wie der größte Hafen wimmelten von Schiffen und Kaufleuten, welche aus allen Gegenden hierher kamen und bei Tage wie bei Nacht Geschrei, Getümmel und Getöse mannigfacher Art wegen ihrer Menge verursachten.

Eine Metropole braucht schließlich auch Einwohner. Sie werden freilich nur erwähnt; eine Schilderung von Sitten und Gebräuchen, auf die beispielsweise Herodot bei seinen Berichten sehr viel Wert gelegt hat, sucht man hier vergebens. Die Erwähnung der „Kaufleute“ läßt darauf schließen, daß es zur Zeit von Atlantis bereits ein überregionales Handelssystem gegeben haben muß.

Über die Stadt und jenen einstigen Wohnsitz (der Könige) habe ich nun so ziemlich das, was mir damals erzählt wurde, mitgeteilt; nun muß ich aber auch noch versuchen, (118a) über die natürliche Beschaffenheit des übrigen Landes und die Art seiner Verwaltung zu berichten.
Zunächst nun wurde mir das Land im Ganzen als sehr hochgelegen und steil aus dem Meere aufsteigend geschildert, die Gegend um die Stadt her dagegen durchweg als eine Ebene, welche dieselbe umschloß, ihrerseits aber wieder rings herum von Bergen eingeschlossen wurde, die sich bis zum Meere hinabzogen, und zwar als eine ganz glatte und gleichmäßige Fläche, die in ihrer Gesamtausdehnung eine längliche Gestalt hatte, indem dieselbe nach der Seite zu dreitausend Stadien, in der Mitte aber vom Meere aufwärts (nur) zweitausend betrug. (118b) Von der ganzen Insel nämlich lag dieser Teil nach der Südseite zu, indem er sich von Norden nach Süden erstreckte.


Einmal vorausgesetzt, Platos bzw. Solons Quellen haben das athenische Stadion benutzt, erstreckte sich die Ebene um Atlantis über 356 Kilometer in der einen, und rechtwinklig dazu über 534 Kilometer in der anderen Richtung. Da der nach allen Seiten flach abfallende Berg aber nur 11 Kilometer vom Meer entfernt gewesen sein soll, aber angeblich trotzdem am gegenüber liegenden Rande der Ebene lag, beißen sich diese Angaben gegenseitig.

Die Berge aber, welche ihn umgaben, wurden damals als solche gepriesen, welche an Menge, Größe und Schönheit alle jetzt vorhandenen übertrafen, indem sie viele Flecken mit einer reichen Zahl von Bewohnern, ferner Flüsse, Seen und Auen, welche allen möglichen zahmen und wilden Tieren hinreichendes Futter darboten, so wie endlich Waldungen in sich faßten, welche in bunter Menge und in der größten Mannigfaltigkeit aller Gattungen einen reichhaltigen Stoff zu den Arbeiten jeder Art, im Großen und Kleinen, lieferten.
(118c) Auf diese Weise war die Ebene von der Natur ausgestattet, und viele Könige hatten (nicht minder) an ihrer weiteren Ausstattung gearbeitet. Zum größten Teile bildete sie nämlich (wirklich) bereits ein vollständiges Rechteck; wo es aber noch an der vollen Regelmäßigkeit dieser Gestalt fehlte, war ihr dieselbe dadurch gegeben worden, daß sie auf allen Seiten einen Graben herumgezogen hatten. Was mir nun von dessen Tiefe, Breite und Länge erzählt ward, das könnte unglaublich erscheinen für ein von Menschenhänden gearbeitetes Werk; es könnte unglaublich erscheinen, daß sie zu ihren vielen anderen Arbeiten auch noch diese von so gewaltiger Ausdehnung unternommen hätten; dennoch muß ich darüber berichten, wie ich es gehört habe. Nämlich ein Plethron tief ward er gegraben (118d) und überall ein Stadion breit, und als er nun die ganze Ebene herumgezogen war, da ergab sich für ihn eine Länge von zehntausend Stadien. Er nahm auch die von den Bergen herabfließenden Wasser auf, und da er rings um die Ebene herumgeführt war und die Stadt auf beiden Seiten berührte, so ließ er dieselben auf folgende Weise ins Meer abfließen. Von seinem oberen Teile her wurden nämlich von ihm ungefähr hundert Fuß breite Kanäle in gerader Linie in die Ebene geleitet, welche wieder in den (großen) vom Meere aus gezogenen Kanal einmündeten und von einander hundert Stadien entfernt waren.


Das hohe Gebirge ist ein Kriterium, das man bei der Suche nach dem verschollenen Imperium nicht außer Acht lassen darf. So manch angebliches „Atlantis“ verfügt nur über wenige (Kanaren), einen (Thera/ Santorin) oder gar keine Berge (Malta und Helgoland haben gerade mal Felsen).
Desweiteren ist die Rede von der künstlichen Ausformung der Ebene und der Anlage eines sie umgebenden Kanals von insgesamt 1780 Kilometern Länge. Wir erfahren auch, daß es auf Atlantis „Flüsse, Seen und Auen“, sowie „Waldungen“ gegeben hat. Doch etwas mysteriös wird es mit den Leuten, die hier gewohnt haben müssen. Da gab es in den Bergen „viele Flecken mit einer reichen Zahl von Bewohnern“: Auf einem Inselkontinent, der angeblich größer als „Libyen und Asien zusammen“ gewesen ist, soll es nur eine einzige Stadt gegeben haben? Und alle Bürger, die dort nicht ansässig waren, wären auf „Flecken“ verteilt, die so unbedeutend waren, daß Plato nicht auch nur einen einzigen Namen zu nennen weiß?


(118e) Auf ihnen brachten sie denn auch das Holz von den Bergen in die Stadt, aber auch alle anderen Landeserzeugnisse holten sie zu Wasser heran, indem sie wieder Überfahrten aus den Kanälen in einander nach der Quere zu und eben so nach der Stadt hin gruben. Auch ernteten sie in Folge dessen zweimal des Jahres ein, indem ihnen im Winter der Regen des Zeus dazu verhalf, im Sommer aber die Bewässerung, welche das Land (selber) in sich trug, dadurch, daß sie sie aus den Kanälen herzu leiteten.

Die Atlanter hatten also mit Hilfe der künstlichen Bewässerung ihre Landwirtschaft soweit perfektioniert, daß sie Sommer- und Wintergetreide einfuhren, also zweimal im Jahr ernteten. Die Anlage von Kanälen stammt aus dem vorderen Orient: Die Samarra- und die Halaf- Kultur wendeten die Technik im sechsten Jahrtausend vor Christus erstmals an, und von dort fand sie über die Ubaid- Kultur zu den Sumerern. In Europa, dessen Klima damals meist humider war als heute, führte man sie erst sehr spät ein.
Platos Darstellung ist nicht zu entnehmen, ob die Atlanter den Boden pflügten und düngten, oder ob sie eine Ein-, Zwei- oder Dreifelderwirtschaft praktizierten.


Was aber die Zahl (der Bewohner) anbetrifft, so Bestand die Anordnung, daß in der Ebene (selbst) an kriegstüchtigen Männern (119a) jedes Grundstück einen Anführer zu stellen hatte; die Größe eines jeden Grundstückes aber betrug gegen hundert (Quadrat-) Stadien und die Zahl von ihnen allen sechzigtausend; auf den Gebirgen dagegen und im übrigen Lande zählte man eine unsägliche Menschenmasse, alle jedoch waren nach ihren Ortschaften und Flecken je einem dieser Grundstücke und Führer zugeteilt.

In militärischen Angelegenheiten hat auf der Insel also ein Feudalsystem mit „Anführern“ geherrscht. Außerdem gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den Einwohnern von Ebene und Bergland: Die Ersteren werden aufgrund von Parzellen eingeteilt, also dominieren hier Grundbesitz und Landwirtschaft. Die „unsägliche Menschenmasse“ aus dem Hochland aber wird nur anhand der Orte eingestuft, und den jeweiligen Oberhäuptern unterstellt. Das heißt zum einen, daß sie nicht anhand ihrer Felder katalogisiert wurden, also zum Großteil wohl auch keine Bauern waren. Zum anderen aber wurden sie „einem dieser Grundstücke und Führer (aus der Ebene) zugeteilt“, standen also in einem Untertanenverhältnis zu den Leuten des Flachlandes, just als hätte man sie von dort aus erobert.

Die Führer nun aber hatten die Verpflichtung zum Kriege ihrer sechs zusammen einen Kriegswagen zu stellen, so daß deren insgesamt zehntausend wurden, ferner ein jeder zwei Rosse und Reiter, (119b) dazu noch ein Zwiegespann ohne Sessel, welches mit einem Krieger bemannt war, der einen kleinen Schild trug und auch herabsteigend zu Fuße kämpfte; außer diesem Wagenkämpfer aber mit einem Lenker für die beiden Rosse,


Dieser Punkt ist ein entscheidender: Atlantis besaß eine Armee von Streitwagen. In der späten Bronzezeit (um das 13. Jahrhundert vor Christus herum) wurden wichtige Schlachten mit diesen Gefährten geschlagen; insbesondere die Ägypter und die Hethiter waren berühmt für ihre entsprechenden Kontingente. Doch zu Platos Ära war das ein ganzes Jahrtausend her, und niemand kam mehr auf die Idee, ganze Einheiten von diesen Gespannen ins Feld zu schicken. Ja, selbst bei Homer, dessen Epen ja höchstwahrscheinlich Stoff aus der Zeit der Streitwagen- Heere aufarbeiten, sind immer nur ein paar der Karren unterwegs, um den einen oder anderen Helden ins Getümmel zu transportieren.
Woher also hat Plato das Wissen um die vergessenen Kampftechniken der Bronzezeit, wenn nicht über die Ägypter?


ferner zwei Schwerbewaffnete und an Bogen- und Schleuderschützen je zwei, und eben so an Stein- und Speerwerfern ohne Rüstung je drei; endlich vier Seeleute zur Bemannung von zwölfhundert Schiffen. So war das Kriegswesen in dem königlichen Staate angeordnet, in den anderen neun Staaten aber auf verschiedene Weise, deren Erörterung (zu) lange Zeit in Anspruch nehmen würde.

Erneut weist Plato auf die föderale Struktur des Imperiums hin. Daß er die „anderen neun Staaten“ gerade mal in einem Nebensatz abhakt, mag auf die enorme Größe der Insel abzielen. Doch da sie ohnehin nicht einmal im Ansatz beschrieben werden, stellt sich die Frage, ob sie nicht ohnehin nur pure Erfindung sind, selbst wenn man von einer realen Existenz Atlantis‘ ausgeht.
So fällt es auf, daß Atlantis auf der einen Seite beschrieben wird als „größer als Libyen und Asien zusammen“, von all den angeblich so zahlreichen Orten und „Flecken“ aber nur die Metropole en détail beschrieben wird, bis hin zu den beiden Quellen und dem Baum auf dem Berggipfel. Das wäre so, als würde sich jemand bei der Beschreibung Griechenlands auf Athen konzentrieren, mitsamt seines legendären Ölbaums und der besonderen Bedeutung der Eulen als Vögel der Göttin Athene. Alle anderen Städte aber, bis hin zu Sparta, Theben und Korinth, würde er noch nicht einmal namentlich auflisten.
Tatsächlich verfährt Plato auch genau auf diese Weise mit der Gegenseite, denn da gibt es nur das „Ur- Athen“, und von den übrigen Vor- Griechen wird gerade mal erwähnt, daß sie ursprünglich Bündnispartner gewesen, dann aber abgefallen seien.
Nebenbei bemerkt, die Krieger von Atlantis waren „Schwerbewaffnete“, „Bogen- und Schleuderschützen“ und „Stein- und Speerwerfer ohne Rüstung“ – Von irgendwelchen Strahlen- oder Nuklearwaffen, wie sie in der einen oder anderen Atlantis- Hypothese auftauchen, ist noch nicht einmal als Umschreibung die Rede.


(119c) Die Verhältnisse der obrigkeitlichen Gewalt und der Staatswürden aber waren vom Anbeginn her folgendermaßen geordnet. Von den zehn Königen herrschte ein jeder in dem ihm überkommenen Gebiete von seiner Stadt aus über die Bewohner und stand über den meisten Gesetzen dergestalt, daß er strafte und hinrichten ließ wen immer es ihm gut dünkte. Die Herrschaft über sie selbst aber ward gegenseitig und gemeinschaftlich geführt nach den Anordnungen des Poseidon, wie sie ein Gesetz ihnen überlieferte, welches von ihren Vorfahren auf eine Säule von Goldkupfererz eingegraben war, (119d) die in der Mitte der Insel, nämlich im Heiligtum des Poseidon, stand. Hierher kamen sie denn auch abwechselnd bald jedes fünfte und bald jedes sechste Jahr zusammen, um der geraden und der ungeraden Zahl ein gleiches Recht angedeihen zu lassen, und berieten sich auf diesen Zusammenkünften teils über die gemeinsamen Angelegenheiten, teils hielten sie Nachforschung darnach, ob Einer (von ihnen) irgend eine Übertretung begangen, und saßen darüber zu Gericht.

Ein jeder der Könige hat also über tyrannische Vollmachten verfügt. Diese aber konnte er nicht maßlos mißbrauchen, mußte er sich doch alle sechs Jahre dem Urteil der anderen stellen. Und dieses richtete sich nach dem „Gesetz des Poseidon“, das in eine Säule eingraviert war.
Man fühlt sich unwillkürlich an die „Lex Talionis“ (auch „Codex Hammurabi“) erinnert, die König Hammurabi (1728 – 1686 v. Chr.) in Babylon hat ausstellen lassen. So verwundert es nicht, daß manch einer hier Atlantis vermutet hat. Doch viele Argumente, die gegen andere Lokalisierungen sprechen, treffen auch hier zu.
Die Säule des Poseidon enthüllt uns allerdings noch ein weiteres Detail: Die Atlanter verfügten über eine Schrift, und ihre Könige konnten lesen.


Wenn sie aber zum Gerichte schritten, so gaben sie einander zuvor folgendes Unterpfand der Treue. Sie stellten unter den Stieren, die da frei in Heiligtume des Poseidon weideten, ganz allein ihrer zehn, nachdem sie zu dem Gotte gebetet, daß es ihnen gelingen möge, das Opfertier, welches ihm genehm sei, zu fangen, (119e) eine Jagd ohne Eisen bloß mit Knitteln und Stricken an, und denjenigen von den Stieren, welchen sie fingen, brachten sie oben auf die Säule hinauf und schlachteten ihn dort (unmittelbar) über jener Inschrift. Auf der Säule befand sich aber außer dem Gesetze noch eine Schwurformel, welche gewaltige Verwünschungen über Diejenigen aussprach, welche ihm nicht gehorchten.
(120a) Wenn sie nun so nach ihren Bräuchen beim Opfer dem Gotte alle Glieder des Stieres geweiht hatten, so richteten sie einen Mischkessel zu und warfen in denselben für jeden einen Tropfen geronnenen Blutes, alles Übrige aber warfen sie ins Feuer, nachdem sie die Säule rings herum gereinigt hatten. Hierauf schöpften sie mit goldenen Trinkschalen aus dem Mischbecher, und während sie dann aus denselben die Spenden ins Feuer gossen, schwuren sie dabei, nach den Gesetzen auf der Säule zu richten und es zu strafen, wenn Einer von ihnen zuvor einen Frevel begangen, und eben so wiederum in Zukunft keine von jenen Vorschriften absichtlich zu verletzen und weder (anders) zu herrschen, noch einem andern Herrscher zu gehorchen, (120b) als dem, welcher nach den Gesetzen des Vaters regierte. Nachdem ein Jeder von ihnen dies für sich selbst und für sein Geschlecht gelobt hatte, trank er und weihte sodann die Becher (als Geschenk) für das Heiligtum des Gottes, und sodann wandten sie sich zum Mahle, um auch den Anforderungen ihres Körpers Genüge zu tun.


Bullenkulte erfreuten sich in der Stein- und insbesondere der Bronzezeit einer außerordentlichen Beliebtheit. Das minoische Kreta ist geradezu bekannt für seine Fresken, auf denen Jünglinge abgebildet sind, die einen tollkühnen Salto über das Hornvieh schlagen. Aber auch z. B. die Hethiter stellten Rinder- Skulpturen her, und Italien hat seinen Namen von den Vituli, also den „Söhnen des Stieres“.
Auch die Könige von Atlantis kämpfen ohne Waffen mit den Tieren. Dabei ergötzen sie sich freilich nicht an waghalsigen Turnübungen, sondern nehmen „Knittel und Stricke“ zur Hilfe. Trotzdem scheint ihr Tun genauso auf ein Männlichkeits- Ritual zurückzugehen, wie das Treiben der halbwüchsigen Kreter.
Als Plato lebte, waren derlei Zeremonien im östlichen Mittelmeerraum längst in Vergessenheit geraten. Wieder stellt sich die Frage, woher er wissen konnte von dem, was seine Ahnen einmal in grauer Vorzeit praktiziert haben.


Sobald es aber dunkel ward, und das Opferfeuer verglomm, dann kleideten sich alle sofort in ein blaues Gewand von der allerhöchsten Schönheit und so, bei der Glut des Eidesopfer auf der Erde sitzend, (120c) indem sie gänzlich das Feuer im Heiligtume auslöschten, empfingen und sprachen sie Recht bei der Nacht, wenn etwa der eine von ihnen den andern irgend einer Übertretung anklagte. Nach vollzogenem Urteil aber schrieben sie die Richtersprüche, sobald es Tag ward, auf einer goldenen Tafel auf und weihten dieselbe samt jenen Gewändern zum Denkzeichen.

Die Könige von Atlantis konnten nicht nur lesen, sondern auch schreiben.
Die Rechtsprechung am Lagerfeuer dagegen deutet auf eine alte Tradition hin, an der die Vorfahren möglicherweise noch nicht seßhaft geworden waren. Die zentrale Kochstelle, an der man auch seine Nahrung zubereitete, diente als Treffpunkt des ganzen Stammes. Dies wurde erst anders, als man sich Häuser baute mit eigenen Herden und Backöfen.
Manch ein Volk praktizierte diese Sitte auch noch zu Platos Zeiten (Die alten Germanen etwa nannten diesen Brauch „Thing“, wobei bei ihnen allerdings nicht nur Anführer, sondern alle Freien teilnehmen durften). Es bedurfte also keines arkanen Wissens über ferne Vergangenheiten, um ein solches Ritual in die Erzählung einbauen zu können.


Es gab aber noch viele andere Gesetze, welche die Rechte der Könige für einen jeden im Besonderen bestimmten, über allen jedoch stand dies, daß sie niemals gegen einander die Waffen führen, vielmehr einander insgesamt Hülfe leisten, wenn etwa Einer von ihnen in irgend einer Stadt das königliche Geschlecht auszurotten versuchte, (120d) und nach gemeinsamer Beratung, gleich wie ihre Vorfahren, ihre Beschlüsse über den Krieg und alle anderen Angelegenheiten fassen und ausführen, den Vorsitz und Oberbefehl dabei aber dem Geschlechte des Atlas überlassen sollten. Die Vollmacht, einen seiner Verwandten hinrichten zu lassen, sollte ferner einem Könige nicht zu Gebote stehen, es sei denn, daß über die Hälfte von den Zehn es genehmigt hätte.

Ab und zu schreibt Plato, daß es noch weitere Städte im Reich von Atlantis gegeben hat (hier: „irgend einer Stadt“). Da er dies jedoch nicht weiter ausführt, oder gar Einzelheiten nennt, mag er sich darunter vielleicht nur einen der erwähnten „Flecken“ vorstellen.
Ansonsten bleibt anzumerken, daß die Herrscher einander mehr oder weniger gleichgestellt, und zum Zusammenhalt verpflichtet gewesen sind.


Diese Macht von solcher Art und Ausdehnung, wie sie damals in jenen Gegenden bestand, führte der Gott, indem er sie zusammentreten ließ, nun auch gegen unser Land, wozu, wie es heißt, ungefähr folgende Verhältnisse Anlaß gaben. (120e) Viele Geschlechter hindurch, so lange noch irgend die Natur des Gottes in ihnen wirksam war, waren sie den Gesetzen gehorsam und zeigten ein befreundetes Verhalten gegen das ihnen verwandte Göttliche. Denn sie besaßen wahrhafte und durchgehends große Gesinnungen, indem sie eine mit Klugheit gepaarte Sanftmut allen etwaigen Wechselfällen des Schicksals gegenüber, so wie gegen einander an den Tag legten, und da sie eben deshalb alles Andere außer der Tugend für wertlos ansahen, so achteten sie alle vorhandenen Glücksgüter geringe (121a) und betrachteten mit Gleichmut und mehr wie eine Last die Masse ihres Goldes und ihrer übrigen Besitztümer und nicht kamen sie, berauscht von den Schwelgen in ihrem Reichtum, so daß sie durch ihn die Herrschaft über sich selbst verloren hätten, zu Falle, sondern erkannten mit nüchternem Scharfblick, daß dies Alles nur durch die gemeinsame Freundschaft im Verein mit der Tugend sein Gedeihen empfängt, durch den Eifer und das Streben nach ihm dagegen nicht bloß selber entschwindet, sondern auch jene mit sich zu Grunde richtet. In Folge dieser Grundsätze und der fortdauernden Wirksamkeit der göttlichen Natur in ihnen gedieh ihnen denn das Alles, was ich euch vorhin mitgeteilt habe.
Als aber ihr Anteil am Wesen des Gottes durch die vielfache und häufige Beimischung des Sterblichen in ihnen zu schwinden begann, und die menschliche Art überwog, (121b) da erst waren sie dem vorhandenen Reichtum nicht mehr gewachsen und entarteten und erschienen dem, welcher es zu erkennen vermochte, niedrig, indem sie von Allem, was in Ehren zu stehen verdient, gerade das Schönste zu Grunde richteten; denen aber, die ein wahrhaft zur Glückseligkeit führendes Leben nicht zu erkennen im Stande waren, schienen sie damals erst recht in aller Herrlichkeit und Seligkeit dazustehen, als sie ungerechten Gewinn und ungerecht erworbene Macht im Überflusse besaßen.


Oder kurz gefaßt: Wer sich nicht mit Ur- Athen anlegt, ist gut (wann der Rest des Mittelmeeres erobert worden ist, steht hier nicht, aber Frevel war es wohl nicht), und wer es doch tut, ist böse. Damit erinnert Platos Vorläufer der ionischen Kapitale ein wenig an die Maus in US- amerikanischen Zeichentrickfilmen, die sich den gröbsten Unfug erlauben kann, und trotzdem „per definitionem“ auf der Gott gefälligen Seite ist.
Wie üblich, moralisiert die Geschichte, indem sie nahelegt, die Atlanter hätten den Untergang ihrer Insel durch ihre „Entartung“ selbst verschuldet. Solche Motive finden sich auch in anderen Epen aus der Frühzeit der Menschheit, sei es Noahs Sintflut (Ertränken der Sünder), sei es Homers Ilias (Frevel des Paris Alexander, aber auch Trojas Abkehr vom Göttlichen). Offenbar eignen sich Erzählungen, mit denen die Oma die Enkel ängstigen und zu moralischem Handeln erziehen kann, besonders gut dazu, die Jahrtausende zu überdauern.
Plato begründet das Schicksal des Eilands damit, daß das Erbe Poseidons in der Dynastie von Generation zu Generation immer schwächer geworden sei, so daß die menschlichen Laster zunehmend die Oberhand gewannen.
Warum dies bei den Ur- Athenern nicht genauso geschah, verschweigt er uns.


Der Gott der Götter aber, Zeus, welcher nach den Gesetzen herrscht und solches wohl zu erkennen vermag, beschloß, als er ein treffliches Geschlecht (so) schmählich herunterkommen sah, ihnen Strafe dafür aufzuerlegen, (121c) damit sie, durch dieselbe zur Besinnung gebracht, zu einer edleren Lebensweise zurückkehrten. Er berief daher alle Götter in ihren ehrwürdigsten Wohnsitz zusammen, welcher in der Mitte des Weltalls liegt und eine Überschau aller Dinge gewährt, welche je des Werdens teilhaftig wurden, und nachdem er sie zusammenberufen hatte, sprach er…

Hier bricht der uns erhalten gebliebene Text ab. Man kann noch erkennen, daß Zeus demnächst das Strafgericht verhängen wird. Die Rolle des Göttlichen bleibt also betont im Vergleich zu dem eher wissenschaftlich orientierten Ansatz in der Timaios. Damit mag sich Plato gegen manche Anfeindungen aus dem Lager der Frömmler gewappnet haben, doch stellt ihn das vor ein neues Problem: Wenn Zeus beschlossen hat, die frevelnden Atlanter vom Angesicht der Erde zu fegen, warum vernichtet er dann auch gleich noch die Ur- Athener mit? Sie, die sie doch „allen anderen an Mut und Kriegskünsten überlegen“ „alle anderen Menschen in jeglicher Tugend und Tüchtigkeit“ übertrafen, „wie es auch von Sprößlingen und Zöglingen der Götter nicht anders zu erwarten stand“? Und die schließlich nach einer „in allen Stücken ausgezeichnetste Verfassung“ lebten?
Vergleicht man die Atlantis- Passagen der beiden Dialoge Timaios und Kritias miteinander, so fällt vor allem ihre unterschiedliche Zielsetzung auf. Im erstgenannten stand die nach Ansicht des Philosophen ideale Verfassung im Vordergrund, und die beiden Kontrahenten dienten mehr als Beispiel für den Nutzen der praktischen Anwendung. Ur- Athen stand gegenüber von Atlantis im Vordergrund.
In der Kritias dagegen ist von der für Plato idealen Staatsform nurmehr im Kontext einer Kulturbeschreibung die Rede. Die Philosophie tritt gegenüber einer vermeintlichen oder tatsächlichen Historiographie zurück. Und auch wenn Ur- Athen hierbei den Anfang macht, so liegt das Schwergewicht doch nun klar auf Seiten von Atlantis.

 

Kommentare  

#1 Andreas Möhn 2010-01-29 18:25
Zeus kann nicht anstreben, "die frevelnden Atlanter vom Angesicht der Erde zu fegen". Im letzten Absatz des "Kritias" heißt es ja wörtlich, er wolle beschließen, "ihnen Strafe dafür aufzuerlegen, (121c) damit sie, durch dieselbe zur Besinnung gebracht, zu einer edleren Lebensweise zurückkehrten". Wer aber tot ist, kann sich nicht besinnen!

Das Ergebnis des Götterrates dürfte eher sein, dass Athen als Antagonist von Atlantis gefördert wurde. Schließlich sollten wir nun langsam erwarten, dass Kritias anfängt, den versprochenen Kriegsbericht zu geben, oder?

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