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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit John Henry Selman?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit John Henry Selman?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: In der Pionierzeit des amerikanischen Westens war die Grenze zwischen Gesetz und Gesetzloslosigkeit zerbrechlich und dünn. Es gab Männer, die auf beiden Seiten dieser Linie lebten und wirkten Zu jener Sorte Männer, die mal den Stern des Gesetzes trugen, mal steckbrieflich gesucht wurden, gehörte JOHN SELMAN, dessen bekannteste Tat wohl die Ermordung des gefährlichen Revolvermannes JOHN WESLEY HARDIN war.

John Henry Selman starb am 6. April 1896. Als Sohn eines Farmers war Selman am 16. November 1839 in Arkansas zur Welt gekommen.1858 zog die Familie mit Sack und Pack nach Texas. Hier wuchs John Henry auf. Sein Vater starb 1861. Selman meldete sich im selben Jahr zur 22. Texas Kavallerie. Er diente während des gesamten Bürgerkrieges in der Konföderierten Armee. Nach dem Krieg kehrte er auf die elterliche Farm zurück und heiratete eine Frau namens Edna Defraffenreid – der Name spricht dafür, dass sie deutscher Herkunft war. Das war nicht ungewöhnlich; Texas hatte einen starken deutschen Bevölkerungsanteil.

Aus der Ehe gingen 4 Kinder hervor. Das Leben auf einer texanischen Farm war in den Jahren nach dem Bürgerkrieg alles andere als profitabel, so hielt Selman nach Nebeneinkünften Ausschau und wurde 1877 von einer Viehzüchtervereinigung eingestellt, um den Handel mit Rinderhäuten zu überwachen. Zu seiner Aufgabe gehörte die Kontrolle von Brandzeichen; da häufig die Häute von gestohlenen Rindern in den Handel gelangten. Sein Vorgesetzter war ein ehemaliger Sheriff namens John Larn.

Die beiden verfolgten nicht nur Viehdiebe, sondern versuchten auch, die Vigilanzjustiz im Rinderland von Nordwest-Texas einzudämmen. Schießereien mit beiden Gruppen waren häufig, und am 24. Juni 1878 wurde John Larn in Albany von der Bürgerwehr irrtümlich erschossen. Kurz vorher hatten er und Selman gestohlene Rinderhäute sichergestellt. Da beide keine offiziellen Gesetzesbeamten waren, sondern im Auftrag der Viehzüchter arbeiteten, waren sie wegen dieser Häute unter den Verdacht geraten, zu den Dieben zu gehören. Sie waren verhaftet worden. Larn wurde in seiner Gefängniszelle ermordet.

Er hatte keine Chance erhalten, zu belegen, dass er die Häute nicht gestohlen hatte. Es war auch durchaus möglich, dass Larn und Selman in illegale Geschäfte verwickelt waren. Auch die Weidedetektive nutzten gelegentlich die Möglichkeit, beschlagnahmtes Diebesgut unter der Hand zu verkaufen. Selman, der zum Zeitpunkt des Todes von Larn nicht in Albany war, wurde ebenfalls verdächtigt, an solchen Geschäften beteiligt gewesen zu sein. Er wurde damit selbst zum gejagten Mann.

Er flüchtete über die Grenze nach Mexiko, bis sich die Aufregung gelegt hatte. Aber 1879 starb seine Frau bei der Geburt eines weiteren Kindes, das ebenfalls tot zur Welt kam. Die vier lebenden Kinder wurden einer Schwägerin von Selman zur Pflege übergeben, während er sich in New Mexico aufhielt. Hier war er mit einer Gruppe von Viehdieben, die als „Selmans Scouts“ bekannt waren, zeitweise in die Lincoln-County-Fehde verwickelt. Diese Männer gehörten offenbar weder dem Santa-Fe-Ring, noch den „Regulatoren“ um Billy the Kid an. Sie nutzten einfach die gesetzlose Situation im Lincoln County. Ihnen wurden nicht nur Viehdiebstähle, sondern auch Morde und Vergewaltigungen zur Last gelegt.

Um 1880 wurde Selmans Männern der Boden in New Mexico zu heiß. Sie zogen nach Texas, wo Selman von einem Texas Ranger gestellt wurde. Noch vor einer Gerichtsverhandlung, gelang ihm erneut die Flucht nach Mexiko. Hier hielt er sich bis 1888 auf, bis die Akten der Anklagen gegen ihn in Texas geschlossen wurden.

Selman kehrte nach Texas zurück, heiratete 1893 Romula Granadine und ließ sich mit ihr in El Paso nieder. Trotz seines dubiosen Rufs wurde er zum Constable ernannt und kontrollierte die Spieltische in den Saloons der Stadt.

Im Rahmen dieser Tätigkeit erschoss er am 5. April 1894 den ehemaligen Texas Ranger Bass Outlaw, der wegen der Bedrohung eines Richters und schwerer Alkoholprobleme aus der Ranger-Truppe entlassen worden war. Als Selman den betrunkenen Outlaw aus einem Bordell werfen wollte, zog dieser seine Waffe. Er verwundete Selman leicht, der imstande war, seinen Revolver zu ziehen und zurückzuschießen. Er traf Outlaw tödlich.

Der „Höhepunkt“ von Selmans Karriere kam, als einer seiner Söhne – John Selman Junior, der ebenfalls als Polizist in El Paso arbeitete – die Geliebte des berüchtigten Revolvermannes John Wesley Hardin verhaftete, weil sie in der Öffentlichkeit mit einer Waffe um sich geschossen hatte. Danach kam es zu einem Streit zwischen Hardin und dem jungen Selman. Gerüchten zufolge schlug Hardin Selmans Sohn mit einem Revolver zu Boden.

Nach dieser gewaltsamen Auseinandersetzung suchte John Selman Hardin am 19. August 1895 auf und bedrohte ihn. In der folgenden Nacht saß Hardin an einem Spieltisch des „Acme Saloon“, als Constable Selman den Schankraum betrat. Er zog seinen Revolver und schoss Hardin von hinten in den Kopf und den Rücken. Hardin starb auf der Stelle.

Selman schoss noch dreimal auf den bereits toten Hardin. Er wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Hier plädierte er auf „Selbstverteidigung“, da Hardin ihn zuvor mit dem Tod bedroht habe.

Hardin war als extrem gewalttätig bekannt, so dass die Geschworenen zu keinem Urteil gelangten und Selman gegen Kaution freiließen. Es wurde ein neues Gerichtsverfahren angestrengt. Dazu sollte es nicht kommen.

In der Nacht zum 5. April 1896 geriet John Selman in Streit mit dem US Marshal George Scarborough. Beide Männer hatten sich zu einem Pokerspiel getroffen. Über die Auseinandersetzung wurde später viel spekuliert. Vermutlich lagen dem Streit rein private Ursachen zugrunde. Selmans Sohn hatte eine Liebesaffäre mit der Tochter eines reichen mexikanischen Geschäftsmannes, der diese Verbindung verhindern wollte und ihn verhaften ließ. Selman wollte Scarborough überreden, ihm bei der Befreiung seines Sohnes aus dem Gefängnis zu helfen. Der US Marshal weigerte sich. In einer finsteren Seitengasse der Spielhalle kam es zur Schießerei. Selman feuerte auf Scarborough und verfehlte ihn. Der Marshal zog seinen Revolver und erschoss Selman. In der folgenden Gerichtsverhandlung wurde Scarborough wegen Notwehr freigesprochen, zumal Zeugen bestätigten, dass sie gehört hatten, wie Selman gedroht hatte, ihn umzubringen.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2020Die aktuelle Ausgabe

Kommentare  

#1 Marduk 2022-08-20 16:32
Mal eine allgemeinere Frage: Gab es im Wilden Westen eigentlich Gerichtverhandlungen wegen (schwerer) Körperverletzungen, wie es in einigen Romanen zu lesen ist? Oder wären derartige Prozesse damals "zu banal" gewesen und solche Plots entspringen der Fantasie der Autoren und dem Rechtsverständnis heutiger Zeit?
#2 Harantor 2022-08-21 16:18
Moin Marduk,
ich habe da eine Frage. In welchen Romanen gab es denn Prozesse wg. Körperverletzung?
#3 Marduk 2022-08-22 10:33
Konkrete Romane kann ich jetzt gar nicht nennen. Ich hatte halt nur mehrmals schon gelesen, dass ein Gesetzeshüter einen Kerl u.a. wegen schwerer Körperverletzung ins Jail steckt oder damit gedroht hat. Auch Anzeigen der Betroffenen (Verletzten) wegen Körperverletzung sind mir beim Lesen wiederholt untergekommen. Für mich hat sich halt die Frage gestellt, ob es dies tatsächlich so damals im amerikanischen Westen gab, oder die Autoren von unserem derzeitigen (deutschen) Rechtssystem ausgehen.
#4 Advok 2022-08-22 11:27
Die Frage finde ich sehr interessant: Wie weit geht der Handlungsspielraum eines Sheriffs, wann wird ein Richter hinzugezogen. Bei Kneipenschlägereien, Sachbeschädigung? Wie weit konnte der Sheriff selbst regeln?

Ein gutes Beispiel bietet "Lonesome Dove". Jake Spoon hat aus Versehen einen Zahnarzt erschossen - es geht hervor, dass alleine das "aus Versehen" ausreichen würde, um ihn nicht schuldig zu sprechen. Der Sheriff verfolgt ihn nur wegen der - hüstel - resoluten Witwe, die dies unbedingt einfordert.

Eine Antwort wird dennoch grundsätzlich schwierig sein - denn "den Wilden Westen" an sich gibts ja nicht. :-) Ich vermute, dass die Handhabung sehr territorial geprägt sein wird - und natürlich zeitlich: Wann hat sich das Gesetz wo durchgesetzt.
#5 Dietmar Kuegler 2022-08-23 19:54
Der Straftatbestand der „schweren Körperverletzung“ (criminal assault) stand natürlich auch im 19. Jahrhundert schon in den Strafgesetzbüchern der USA. In den frühen Pioniergebieten während der Westwanderung ist er aber meines Wissens nicht zum Tragen gekommen. In der Regel lösten die Pioniere ihre Probleme selbst, d. h. wenn es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kam, die zunächst mit Fäusten geregelt wurde, war die letzte Konsequenz der Revolver. Wegen einer Prügelei wurde kaum ein Gericht eingeschaltet.
Die Situation mag sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. geändert haben, aber in den Zeitungen der 1850er, 1860er, 1870er oder 1880er Jahre oder in Tagebüchern von Pionieren werden „Körperverletzungen“ nicht erwähnt. In einigen Tagebüchern von großen Trecks werden gelegentlich Schlägereien erwähnt, aber nur in sehr ernsten Fällen gab es eine Art „Gerichtsverhandlung“, die u. U. mit einer Geldstrafe endete oder dem auslösenden Streithammel eine Abreibung mittels Auspeitschung verabreichte, bzw. eine Verbannung aus der Treckgemeinschaft einbrachte. Aber das waren Seltenheiten.
#6 Marduk 2022-08-24 11:04
Vielen Dank Herr Kuegler, für die ausführliche Antwort!

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