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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit dem US Electoral College?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit dem US Electoral College?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Am 07. Januar, wurde der neue Präsident der USA durch den US Congress bestätigt und am heutigen 20. Januar vereidigt. Damit wurde ein über 240 Jahre altes Zeremoniell vollzogen, das auch nicht durch die schändliche Unterbrechung durch einen terroristischen Mob, eine Handvoll krimineller Gewalttäter aufgehalten werden konnte. Die Vorgänge am 6. Januar in Washington waren dramatisch, aber sie waren im Kontext der amerikanischen Geschichte einzigartig – und werden es hoffentlich bleiben.

Ich zitiere den Vier-Sterne-General und ehemaligen Verteidigungsminister JAMES MATTIS, der am 17. Oktober 2019 in New York sagte:

"Amerika stellt weder ein vollendetes Projekt dar, noch ist es ein gescheiterter Versuch. Es ist ein sich ständig weiterentwickelndes Experiment, für das alle Bürger die Verantwortung tragen. Dazu gehört auch die Verantwortung, Fehler wieder in Ordnung zu bringen."

Das Wahlsystem der Vereinigten Staaten ist für viele Europäer noch immer ein Buch mit sieben Siegeln – es ist auch für viele Amerikaner manchmal schwer zu durchschauen. Hier eine knappe historische Skizze:

Dieses System, das die Stimmen des amerikanischen Volkes faktisch auf Wahlmänner und -frauen „delegiert", stammt aus der Gründungsphase der USA im 18. Jahrhundert.

Als sich die jungen USA 1776 etablierten, wurden sie von regelrechten Albträumen verfolgt, dass es wieder einmal einen König oder einen Diktator geben könnte, der die ganze Macht an sich reißt. Daraufhin schufen sie ein System, das heute als „Checks and Ballances" bezeichnet wird – und das sich bis heute recht gut bewährt hat. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass es keine amtliche Institution geben soll, die nicht von einer anderen kontrolliert und gegebenenfalls gebremst wird. Auf diese Weise sollten staatliche Entscheidungen „ausbalanciert" werden. Keine Behörde, kein Regierungsamt soll allein über Sachverhalte bestimmen. So sind weder der Präsident noch irgendein Kabinettsmitglied allmächtig. Jede Entscheidung kann hinterfragt und parlamentarisch oder gerichtlich angefochten und zu Fall gebracht werden. Für jeden Amtsträger gibt es strikte Grenzen, die verhindern, dass er dem Land seinen Willen aufzwingt.

Ferner haben die einzelnen Staaten bis heute eine große Souveränität. Bundesgerichte schränken die Entscheidungen der Regierung und des Parlaments ein.

Die Gründerväter wollten verhindern, dass bevölkerungsreiche Staaten die ländlichen Regionen dominieren. Daher wurde ein indirektes Wahlsystem etabliert, dass kleinen oder schwach besiedelten Staaten ein größeres Gewicht verleiht als es ihnen angesichts ihrer Bevölkerungszahl eigentlich zukommt. Es wurde befürchtet, dass ansonsten die dicht besiedelten, urbanen Staaten immer allein über die Regierungsmehrheit bestimmen würden.

Artikel II Absatz 1 Satz 2 der Verfassung weist jeden Staat an, eine Anzahl von Delegierten zu ernennen, die der Zahl ihrer Repräsentanten im Congress und Senat entspricht. Dieselbe Klausel ermächtigt jedes Staatsparlament, die Art und Weise zu bestimmen, in der Wahlen durchgeführt und die Wahlmänner des Staates ausgesucht werden. Bundesbeamten wird verboten, Wahlmänner zu werden.

1787 war zunächst ein anderes Verfahren festgelegt worden. Es hieß „Virginia Plan". Danach sollte allein der Congress entsprechend der populären Mehrheit den Präsidenten bestimmen. Diese Regelung wurde sehr schnell umstritten, weil die Abgeordneten befürchteten, dass damit die Rechte der einzelnen Staaten eingeschränkt und der Präsident zu abhängig von der Congress-Mehrheit werden würde.

Man einigte sich daher auf „Elektorale". Abgeordnete wie etwa der einflußreiche Alexander Hamilton, argumentierten zudem, dass die Wahlmänner das letzte Wort haben sollten, da sie „besser politisch gebildet seien als die Bürger". Keine sehr freundliche Meinung...

Damit stellten sich nach der Volksabstimmung alle Kandidaten der Elektoralversammlung. Die Regel damals war, dass der Kandidat, der die zweitmeisten Stimmen erhalten hatte, Vize-Präsident wurde – ob er zur Partei des Präsidenten gehörte oder nicht.

So war es als George Washington 1788 Präsident wurde. Der ihm unterlegene Kandidat John Adams wurde zum Vize-Präsidenten bestimmt. 1796 erhielt Adams die meisten Elektoralstimmen, wurde Präsident, und sein politischer Rivale, Thomas Jefferson, ging als Vize-Präsident aus der Abstimmung hervor. Er machte Adams das Leben ziemlich schwer. 1800 gewann Jefferson dann die Mehrheit der Elektoralen für sich.

Der Schlüssel, nachdem die Zahl der Elektoren festgelegt werden, wurde über die letzten 245 Jahre behutsam angepasst. Ein dünn besiedelter Staat wie Wyoming hat 3 Elektorale, ein stark besiedelter Staat wie Kalifornien 55. Aber immer ist die Ballance zwischen den schwächeren und stärkeren Staaten beibehalten worden.

Seit 1964 gibt es 538 Elektorale. Sie werden in jedem Staat nach ihrer Parteipräferenz bestimmt, je nachdem, welcher Kandidat die Stimmenmehrheit gewonnen hat. Dabei gilt die Prämisse, „Der Sieger erhält alle Wahlleute". Dies entspricht der Zahl der Senatoren und der Kongressabgeordneten in jedem Staat. Das wären genaugenommen nur 535 – der District of Columbia mit der Hauptstadt Washington hat weder Senatoren noch Abgeordnete im Kongress. Für die Präsidentenwahl aber werden ihm 3 Wahlleute zugestanden, so dass die derzeit gültige Stimmenzahl erreicht wird.

In der Geschichte der USA bis heute haben 5 Präsidenten die Mehrheit der Elektoralen erhalten, obwohl sie nicht die Mehrheit der Wählerstimmen hatten – das ist der Bevorzugung der kleineren Staaten geschuldet. Das geschah 1824, 1876, 1888, 2000 und 2016.

Im 19. Jahrhundert war theoretisch ein Patt der Wahlmänner möglich, so wie bei John Quincy Adams 1824. In so einem Fall entscheidet der Congress über den Präsidenten. Auch das ist in der Verfassung festgelegt.

Obwohl dieser umständliche Entscheidungsprozess Verfassungsrang hat, wird man den Begriff „Electoral College" nirgends in der Verfassung finden. Im 12. Verfassungszusatz und im Artikel 2 der Verfassung ist lediglich von „Elektoralen" die Rede.

Seit Schaffung dieser Institution und des damit verbundenen Wahlsystems, gibt es ständige Diskussionen über eine Veränderung oder gar Abschaffung. Tatsächlich ist es dazu nie gekommen. Eine Verfassungsänderung kann nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Kongress und Senat und sogar einer Dreiviertelmehrheit der Staaten – die ebenfalls zustimmen müssen – durchgeführt werden; das ist in der Praxis kaum zu erreichen.

In den letzten 200 Jahren sind tatsächlich über 700 Anträge gestellt worden, das Wahlsystem zu ändern. Die amerikanische Vereinigung der Rechtsanwälte hat das Electoral College als „archaisch" bezeichnet. 1987 hatten fast 70% aller Anwälte gefordert, dieses System abzuschaffen. Sogar 75% der amerikanischen Bürger haben sich 1981 gegen das Electoral College ausgesprochen – aber es fand sich nie die notwendige parlamentarische Mehrheit. Das System stärkt nicht nur die kleineren Staaten, es begünstigt auch beide großen Parteien, Republikaner und Demokraten. Es schließt faktisch den Sieg eines unabhängigen Kandidaten aus, weil der Gewinn der populären Mehrheit nicht heißt, dass damit ausreichend Elektorale gewonnen werden. Beispiel: Um die 29 Wahlmänner im Staat New York zu gewinnen, benötigt ein Kandidat eine einfache Mehrheit. Sollte er 80 oder gar 100% aller Stimmen erhalten, bleibt es trotzdem bei 29 Wahlmännern, er bekommt nicht einen mehr, obwohl er so viele Stimmen bekommen hat.

Der Außenseiterkandidat George Wallace gewann 1968 zwar erdrutschartig in den Südstaaten, aber dafür gab es nur wenige Wahlmänner. Diese reichten nicht im Entferntesten aus, um gegen die Kandidaten der großen Parteien zu bestehen, die die starken Staaten im Norden, Osten und Westen gewannen. Die einzige dritte Partei, die auf nationaler Ebene eine Chance hatte, waren die „Progressiven" (oder auch „Bull Moose Party") von Theodore Roosevelt, der sich 1912 von den Republikanern losgesagt hatte. Roosevelt gewann fast 28% der Stimmen erhielt aber lediglich 88 Elektorale. 1992 konnte der Kandidat Ross Perot fast 20% der Wählerstimmen auf sich vereinigen – und erhielt nicht einen einzigen Elektoralen.

Die noch heute gültige Prozedur wurde 1804 durch den 12. Verfassungszusatz eingeführt. Damit werden seither der Präsident und der von ihm bestimmte Vize-Präsident in einem Wahlgang bestätigt. Noch immer ist daher die nationale Stimmenmehrheit für den Gewinn des Electoral College nicht ausschlaggebend, sondern die Mehrheit in den einzelnen Staaten, um die notwendigen Wahlleute zu erhalten.

Das System ist äußerst komplex; darüber gibt es umfangreiche juristische Abhandlungen. Meine kurze Skizze kann nur die Grundzüge umreißen.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2020Die aktuelle Ausgabe

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