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Ein Herz für Wu Man Choi

StoryEin Herz für Wu Man Choi

Der Anblick des schmächtigen alten Chinesen im Zentrum der Batterie lebenserhaltender Maschinen stürzte Dr. Baumann jedes Mal von Neuem in Gewissensnöte. Der Arzt in ihm wollte den Mann auf der Stelle in den OP schaffen und ihm eines der Schweineherzen aus dem Bereitschaftspool einsetzen lassen. Der Klinikleiter in ihm erinnerte sich an den Tag, an dem Wu Man Chois Schweizer Anwalt Dr. Buehler die beglaubigte Vollmacht seines Mandanten präsentiert hatte.

 

Sie besagte, dass Herrn Wu nur ein ganz spezielles Herz eingesetzt werden dürfe, natürlich aus China, und dass Herr Wu buchstäblich lieber sterben würde, als das Herz eines Schweins in der Brust zu tragen. Der Anwalt hatte ebenfalls erklärt, welche juristischen Konsequenzen drohten, wenn Herrn Wus Wünsche einfach ignoriert wurden – und dass Herrn Wus loyale Mitarbeiter sich in der Vergangenheit manchmal zu persönlichen Repressalien hatten hinreißen lassen, auch wenn ihr Chef dies im Nachhinein nicht gutheißen mochte.

Nach dem letzten schweren Infarkt waren Dr. Baumanns Optionen erschöpft. Er hatte Herrn Wu in ein künstliches Koma versetzt, hielt den Körper kühl und ließ den Anwalt wissen, dass jenes spezielle Herz jetzt dringend gebraucht wurde, wenn sein Mandant sich überhaupt noch einmal in dieser Welt über irgendetwas ärgern können wollte.

Baumanns Pager meldete sich und kündigte die Landung von Prinz Omar aus dem Hause al Saud auf dem Flughafen an. Für einen Nachfahren des Propheten kam das Herz eines Schweins natürlich auch nicht als Transplantat in Frage; der Prinz brachte seinen erwählten Spender allerdings gleich mit, der in Zukunft mit einem Schweineherzen in relativem Wohlstand leben würde, während sein eigenes Organ dem Prinzen weitere Jahre voller Lebensfreude schenkte. Dr. Baumanns patentierte Immunfaktor-Anpassungsmethode machte es möglich, Organe von beliebigen Spendern zu verpflanzen, ohne dass der Empfänger danach ein Leben lang entweder Abstoßungsreaktionen durch sein Immunsystem zu fürchten hatte oder seine Körperabwehr mit Medikamenten niederknüppeln musste.

***
 
Der hagere Schweizer, der Herrn Wus geschäftliche Interessen in Westeuropa wahrnahm, war lautlos ins Krankenzimmer getreten und räusperte sich jetzt. „"Herr Doktor Baumann? Meister Sung bittet Sie um einen Moment Ihrer Zeit."“
Baumann stöhnte innerlich. Der Feng Shui-Hexendoktor hatte ihm gerade noch gefehlt. Aber er wusste auch, dass er um diese Unterhaltung nicht herumkommen würde – also lieber gleich jetzt, bevor Prinz Omar und sein Tross in der Klinik eintrafen. „"Dann bitten Sie den Meister doch in mein Büro, Herr Doktor Buehler. Ich erwarte Sie in … zehn Minuten?“"

***
 
Auf die Minute pünktlich traten Dr. Buehler und Meister Sung aus Baumanns Vorzimmer in sein Büro. Sung hatte seine eigene Kanne Tee mitgebracht und wartete, bis die beiden Europäer sich Kaffee eingeschenkt hatten. Dann begann er auf Chinesisch zu sprechen, und der Anwalt übersetzte.
„"Meister Sung versichert Sie seines Respekts und möchte unterstreichen, dass für ihn ebenso wie für Sie das Wohl des Patienten im Mittelpunkt seiner Bemühungen steht.“" Baumann quittierte diese Erklärung mit einem Lächeln und einem Nicken in Richtung des Chinesen, die beide ausschließlich professioneller Natur waren.

„"Meister Sung erklärt, dass Sie und Herr Wu, ich und er auf vielfältige Weise und oft ohne es wahrzunehmen von der Kultur geformt werden, in der wir aufgewachsen sind. Dabei ist es oft nicht möglich, Ursachen und Wirkungen voneinander zu trennen. Herr Wu zum Beispiel ist ein sehr willensstarker Mann mit hohem Durchsetzungsvermögen. Wurde ihm das in die Wiege gelegt, weil er in einem Jahr des Tigers geboren wurde? Oder hat ihn erst der Erwartungsdruck von Familie und Umgebung in diese Form hineingepresst? Hätte der gleiche Mann in einem anderen Umfeld ein ganz anderer Mensch werden können? Für einen Chinesen stellt sich diese Frage eigentlich gar nicht.“"
Baumann nickte.
"Meister Sung weist darauf hin, dass in der westlichen Kultur die Farbe Weiß für Reinheit und Unschuld steht und so für Krankenhauszimmer sicher eine gute Wahl ist. In China ist das anders; dort ist die Farbe Weiß mit dem Bedeutungsfeld Trauer und Tod verknüpft. Deshalb ist es Herrn Wus Genesung möglicherweise nicht förderlich, in einem weißen Raum wieder zu erwachen.“"
„"Ich verstehe Meister Sungs Argument",“ erwiderte Baumann. „"Herrn Wus Krankenzimmer neu zu streichen ist jedoch bei seinem augenblicklichen Zustand keine Option."“ Der Schweizer wollte gerade mit der Übersetzung beginnen, als Baumann eine Hand hob und weitersprach. "„Falls Meister Sung den gewünschten Effekt erzielen kann, indem er die Wände mit Stoff verhängt, will ich ihm gerne ein anderes freies Zimmer zur Verfügung stellen und Herrn Wu dorthin verlegen lassen, sobald er damit fertig ist."“
Meister Sung lauschte der Übersetzung, strich sich durch den Bart und deutete dann eine Verneigung an.

***
 
Am Morgen des nächsten Tages traf endlich der Transportcontainer mit dem neuen Herz für Herrn Wu ein, bedeckt von Aufklebern mit kyrillischer Schrift und mit chinesischen Schriftzeichen. Als das Transplantationsteam den Behälter für die Voruntersuchung öffnete, runzelte der Chirurg die Stirn und fragte: "„Was für ein Herz ist das denn?“"
Sein Anästhesist zuckte mit den Schultern. „"Kein Mensch, kein Schwein. Auch kein anderes Tier, das ich erkennen würde."“
„"Na schön. Herrn Wus Immunfaktoren haben wir schon lange und das Herzvolumen liegt im Toleranzfeld. Also ziehen wir jetzt die Anpassung durch und hoffen, dass unser Patient diese paar Stunden auch noch durchhält.“"

***
 
Die Operation fand am späten Nachmittag statt und verlief ohne Komplikationen. Man brachte den noch unter Narkose stehenden Herrn Wu in sein neues, in Rot und Gold dekoriertes Zimmer, eine Nachtschwester erhielt den Auftrag, über seinen Zustand zu wachen, und das restliche Personal ging nach Hause. Meister Sung hatte sich ein Zimmer in der Nähe seines Klienten erbeten, und Dr. Buehler nahm bei ihm Unterricht in chinesischem Volksglauben. Prinz Omar und sein Gefolge hatten das zweite Stockwerk der Klinik für sich allein; ein Leibwächter gegenüber des Aufzugs sorgte dafür, dass sie nicht gestört wurden.

Dr. Baumann beendete seine Unterhaltung mit dem Leibarzt des Prinzen und entschied sich aus einer Laune heraus für die Treppe ins Erdgeschoss; einer der Bodyguards begleitete ihn, um seinen Kollegen im Foyer abzulösen. Als die beiden Männer die erste Etage erreichten, hörten sie plötzlich den hohen Schrei einer Frau in Todesangst. Dr. Baumann riss die Tür auf und stürmte auf den Korridor; der Araber, hin und her gerissen zwischen der Pflicht, seinen Herrn zu beschützen, und der Neugier, wovor es ihn zu beschützen galt, folgte ihm schließlich.

Dann sahen sie Herrn Wu.

Der kleine alte Mann in seinem weiten Krankenhaushemd hockte über dem reglosen Körper der Nachtschwester, die es nicht mehr ganz bis auf den Flur geschafft hatte. Wus Mund, Kinn und Brust waren blutverschmiert, und er beugte sich gerade erneut über sein Opfer, senkte den Mund wie zu einem blutigen Kuss und riss einen frischen Streifen Haut und Fleisch aus ihrem Hals.
Der große, schweigsame Leibwächter des Prinzen erbleichte, zog mit den Worten „"Bismillahi rahmani rahim!“" seine Pistole und lud sie durch.

Das blutbesudelte Ding, das einmal Wu Man Choi gewesen war, zeigte blutige Goldzähne und fauchte sie an, dann spannte es sich zum Sprung, und der Araber schoss. Die Kugel traf es mitten in die Stirn und warf es zurück in den Korridor jenseits der toten Schwester. Die zu Klauen gekrümmten Finger zuckten noch, einmal, zweimal, dann entspannten sie sich und das Ding lag still.

Hinter Baumann und dem Leibwächter waren Meister Sung und Dr. Buehler auf den Gang getreten. Der Chinese schüttelte traurig den Kopf und murmelte etwas, und der Anwalt übersetzte reflexartig: „"Zu wenig Wu und zu viel Tiger."“

Kommentare  

#1 Mikail_the_Bard 2010-07-30 19:01
Der Schluss ist absulut gelungen
#2 Cartwing 2010-07-30 19:45
und gut geschrieben! :-)
#3 Birgit 2010-07-30 21:48
Toll, aber viel zu kurz - ich hätte dir noch Stunden zuhören, ok weiterlesen, können 8) ;-)
#4 Laurin 2010-07-31 02:03
Da werde ich mich doch hüten euch zu wiedersprechen 8) , wirklich gelungene Story :-) .
#5 GoMar 2011-02-20 16:55
Als ich heute ein wenig herumstöberte, stieß ich auf diese Story. Und ich kann mich den vorjährig abgegebenen Kommentaren nur anschließen: sehr gut geschriebene Story!
Da könnte so mancher was lernen ...

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