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Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 25: Karl May - Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde (1882-84)

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 25:
Karl May - Das Waldröschen ...
... oder die Rächerjagd rund um die Erde
(1882-84)

Karl May kennt man heute vor allem noch wegen seiner Winnetou-Romane. Doch sein größter Erfolg war wohl sein erster Kolportageroman »Das Waldröschen«: atemberaubend, rasant, erotisch, brutal. May distanzierte sich später von dem Werk. Schade, denn es ist vielleicht sein bestes!


Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die ErdeI
Der Beginn des 20. Jahrhunderts brachte eine dramatische Kehrtwende in der May-Begeisterung der Deutschen. Es schien, als hätte die Moderne den Bann gebrochen, und die Leser erwachten aus einem zwanzigjährigen Märchenschlaf, rieben sich die Augen und fragten sich erstmals, wie sie auf einen der größten Trickbetrüger der Literaturgeschichte überhaupt reinfallen konnten. Allmählich sickerte durch, dass May seine Abenteuer im Orient und Amerika durchaus nicht selbst erlebt hatte. Die Situation war für den Romancier schon düster genug, als 1902 eine weitere Bombe platzte: Der Münchmeyer-Verlag brachte den großen Roman „Das Waldröschen“ neu heraus. Der war ursprünglich im selben Verlag zwischen 1882 und 84 erschienen, allerdings unter einem hochtrabenden Pseudonym: Ramon Diaz de la Escosura.  Dieser mehrbändige Abenteuerroman (über 2500 engbedruckte Seiten) war, was den Massenerfolg anging, für Deutschland der Harry Potter des  19. Jahrhunderts. Schätzungen gehen von knapp einer Million (!) Exemplaren aus, die allein vom Münchmeyer-Verlag im 19. Jahrhundert verkauft wurden – und da sind die Raubdrucke noch nicht mitgezählt, geschweige denn die skandalträchtige Neuausgabe von 1902. Unvorstellbare Zahlen in jener Zeit...

Die Neuausgabe war eine Sensation, weil der Verlag entgegen der Abmachung den wahren Namen des Autors preisgab.  May ging vor Gericht – nicht nur wegen der Preisgabe des Namens. Sondern auch wegen der vielen Eingriffe in den Text.

Vergleicht man heute die Erstausgabe mit der von 1902, muß man May zunächst recht geben. Vieles wurde verändert. Allerdings nicht nur zum Nachteil. Zahllose stilistische Entgleisungen des jungen May wurden geglättet und berichtigt. Aber – es fehlen viele deftige Stellen!

Ironischerweise behauptete May aber vor Gericht genau das Gegenteil – angeblich hätte die Neufassung viel verfängliches Material enthalten, das er so gar nicht geschrieben hätte.

Klar, dass solche Debatten den Verkauf seines Buches noch mehr anheizten.

Doch sonderbar ist das schon – warum war es einem berühmten Schriftsteller peinlich, einen Mega-Bestseller geschrieben zu haben?

Die Antwort ist einfach. Das „Waldröschen“ war ein Kolportageroman. Und der diskreditierte damals jeden seriösen Autor.

Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die ErdeII
Um zu verstehen, warum das so war, muss man wissen, wie Kolportageromane erschienen und vertrieben wurden. Kolportageromane waren Heftromane. Genauer gesagt, Heftserien. Sie funktionierten im Grunde ähnlich wie heute Perry Rhodan.

Allerdings gab es einige markante Unterschiede. Das Pilotheft wurde potentiellen Kunden von Agenten der Verlage (den Kolporteuren) angeboten – meist umsonst. Gefiel den Lesern der Einstieg, konnten sie ein Abo abschließen. Dann wurde jede Woche ein neues Heft geliefert. (Deswegen nannte man die Hefte Lieferungen und die Serie Lieferungsromane.) Nicht per Post – sondern mit einem internen Vertriebssystem. In den Anfangsjahren, um 1860, waren solche Serien noch recht überschaubar und liefen ein halbes bis Dreivierteljahr, also 20-30 Hefte lang. Um 1880 setzten sich allmählich größere Heftserien durch, die oft die 100er Nummer überschritten. Auch „Das Waldröschen“ brachte es auf beeindruckende 109 Hefte.

Ein wichtiger Unterschied zum späteren Heftroman war, dass die Hefte keine in sich geschlossenen Episoden brachten. So sehr sie äußerlich den späteren Groschenheften glichen – innen liefen sie einfach weiter, das nächste Heft knüpfte sofort am vorigen an. Ein Abo war also essentiell, ein Kioskverkauf unmöglich, denn wer ein Heft verpasst hatte, konnte sich den Rest eigentlich schenken. Die Forschung verweist oft auf diese Achillesverse der Gattung, um den späteren Siegeszug des Heftromans zu erklären: Die Erfindung eines Serienhelden, der in jedem Heft ein neues Abenteuer erlebt, brachte die Möglichkeit, den Einzelheftverkauf zu starten, der dem alten Lieferungsroman bald das Wasser abgrub.

Doch übersehen werden oft die Vorteile dieser einzigartigen Literatur. Lieferungsromane waren in Deutschland um 1880 längst zur Subkultur geworden, die auf Kritiken, offizielle Reklame und – die Zensur pfeifen konnte. Niemand redete den Autoren in irgendwas herein, denn der Vertrieb lief fernab des offiziellen Buchhandels, die Hefte galten nicht als Literatur im eigentlichen Sinne. Von der konservativen Literaturgilde verspottet und als „Schund und Schmutz“ geschmäht, waren sie dennoch hochbegehrt, weil hier die Autoren unbelästigt von Moralaposteln frei Schnauze ihre Geschichte erzählen konnten. Wegen des eigenen Vertriebs- und Marketingsystems konnten die Verlage nur schwer von außen sabotiert, gemaßregelt oder gegängelt werden.

Sex, Mord und rohe Gewalt war kein Problem, aber auch ungewöhnliche Romankonstruktionen, sonderbare SF- oder Fantasyelemente und packende, modern anmutende Erzählstrukturen gab es hier. Verleger und Autoren fanden ein dankbares Publikum. Die Hefte wurden buchstäblich von Millionen gelesen. Man geht davon aus, dass die von Dienstboten gekauften Exemplare sehr oft durchs Haus wanderten – und auch beim gehobenen Bürgertum landeten, die zwar offiziell darauf schimpften, aber das Zeug heimlich genauso genossen wie ihre Angestellten. Die spöttische Bezeichnung „Hintertreppenliteratur“ ist also doppelsinnig: Zum einen bezeichnet sie die Abo-Abwicklung am Dienstboteneingang, aber auch den dunklen Umweg, den die Serien in die Haushalte der Besserverdienenden nahmen.

Karl MayIII
Hohe Literatur und Heftserien wurden auch damals nicht vermengt und streng getrennt. Karl May hatte sich bis 1900 längst zum astreinen Vorzeige-Abenteuer-Schriftsteller hochgeschrieben, bei dessen Lektüre kein zartbesaitetes katholisches Mädchen zu erröten brauchte. Hehre Männerbünde dominierten seine Werke,  Sexualität wurde aus ihnen komplett verbannt, und es gibt immer Figuren, die edel und weise agieren. Natürlich – oft weht uns  auch in Winnetou noch ein Hauch von Sensationsroman(tik) an, wenn wir uns vergnügt von dem ewigen Reigen der Gefangennahme- und Befreiungsaktionen treiben lassen. Doch ist das alles eine wohlgeordnete, schön und überlegt formulierte Angelegenheit und nicht zu vergleichen mit dem Furor des „Waldröschens“ dem fiebrigen Sturm- und Drang-Stil des jungen May, wo man die Feder regelrecht rauchen sieht. Fast scheint es, dass er den Figuren eilig hinterher schreibt, so schnell bewegen sie sich, so heftig krachen die Gegner aufeinander, so schnell fliegen Pfeile vom Bogen, Gewehr- und Kanonenkugeln aus den Rohren.

Von Schonung zarter Gemüter ist hier nichts zu spüren. Bedrängte Frauen in leichter Bekleidung, splattermäßige Folterszenen, deftige Angriffe auf Obrigkeit, Beamtentum und deutsches Millitär – das alles wird so offen wie genüsslich ausgebreitet.  Gottseidank gibt es (auch) dieses Buch in Zeiten der anämischen Figuren von Storm und Raabe, sonst müsste man sich fragen, ob die durchgeistigten Deutschen damals ohne Abenteuerlust und Schmökersucht auf die Welt kamen – während Franzosen ihren Verne und oder die Briten ihren Haggard verschlangen!

Das „Waldröschen“ ist der klassische Abenteuerroman im Exzess, das Spannungsmillieu in der Apotheose. Grade seine Ungehobeltheit, sein drastischer Götz-von-Berlichingen-Ton in der Urfassung macht seinen ewigen Reiz aus. Das Ungeschliffene wird zur Kunstform erhoben.

Insofern kann man May verstehen, wenn ihm dieser Wurf peinlich war – ebenso verständlich ist die Faszination, die von dem Werk immer ausging und bis heute ausgeht.

Schön und gut – dennoch wird sich der Leser der Reihe fragen, was das alles mit phantastischer Literatur zu tun hat. Gehört ein Abenteuerroman, so spannend er auch immer ist, in dieses Genre?

Dieser schon. Denn in seiner grotesken Überhöhung kippt er in eine neue Qualität – er wird zum Superhero-Roman. Tatsächlich ist dieser populäre Zweig der Fantastik bisher in seinen Wurzeln wenig erforscht, grade in Deutschland. Wir haben keine so ausgeprägte Superhero-Popkultur wie in Amerika, wo das Genre vor allem durch Comics seinen Siegeszug antrat und so auch zu uns schwappte.

Superheros sind ganz besondere Figuren in der Geschichte der Phantastik. Sie umweht etwas Virtuelles, Unwirkliches. Die drei Musketiere sind deftige Helden, aber keine Heros. Der Graf von Monte Christo und Kapitän Nemo sind welche.

Superheros sind nicht einfach Helden, denen Fortuna besonders hold ist. Der Superhero hat oft eine dunkle Vergangenheit oder führt ein Doppelleben, bedient sich aufregender Erfindungen und dubioser Werkzeuge und macht keine Fehler. Er weiß immer einen Weg aus der Bedrängnis und ist ohne moralische Schwächen. Aus allen Gefahren befreit er sich mit fast göttlicher Kraft. Oft verfolgen ihn ebenso überhöhte teufelsgleiche Super-Schurken.

(Nicht alle Eigenschaften müssen zutreffen, mitunter tuts auch eine Auswahl davon.)

Eine der ersten großen Super-Hero-Heftserien in Deutschland war „Lord Lister, genant Raffles der große Unbekannte“ (1908ff.) Auch im Kolportagebereich gab es Serien, die Super-Heros einführten. (Ralph Sydow-Ehrig verdanke ich den Hinweis auf „Jack, der geheimnisvolle Mädchenmörder“, eine 140teilige Lieferungs-Serie von 1897 über einen Superhero mit Maske, U-Boot und andren Wunderdingen) Mays „Waldröschen“ hat diesen Mythos in Deutschland auf den Weg gebracht.

Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die ErdeIV
Waldröschen - Keine Frage, der Titel ist bescheuert. Er klingt eher nach einer schnulzigen Liebesgeschichte. May selbst fand ihn unsäglich und wehrte sich dagegen, doch der Verlag setzte sich durch. Umso erstaunlicher, dass der Roman sich trotzdem so gut verkaufte. Mundpropaganda halt... Vielleicht riß auch der schöne Untertitel „Die Rächerjagd rund um die Erde“ alles wieder heraus.

Als Waldröschen wird hier ein Mädchen beschrieben, dem zwar eine zentrale, aber durchaus nicht handlungsträchtige Rolle zukommt – sie ist die Tochter des Heros Karl Sternau, einer Art Vorläufer von Old Shatterhand. Genaugenommen gibt es zwei Heros, denn die Romanhandlung erstreckt sich über eine lange Zeit von Jahren, später springt dann der Leutnant Kurt Helmers in zweiter Generation in die Bresche. (Aber Sternau stirbt natürlich nicht, er kämpft als Senior weiter tapfer gegen Ungerechtigkeit und das Böse.)  Es gibt sogar eine Art Winnetou-Vorläufer, den Indianer Bärenherz. (Obwohl, sehr sonderbar, Winnetou im Roman tatsächlich schon erwähnt wird, als legendärer Krieger, viele Jahre vor Erscheinen der Winnetou-Bände.)

Der eigentliche Kernkonflikt ist nur schwer zu erklären, kein Wunder bei 2500  (in normalem
Druckbild 3000) Seiten. Sternau, eine Art Übermensch, Arzt, Krieger, Waldläufer und Weiser in einem, mischt sich in Spanien in eine Familienintrige ein und rettet ein Grafengeschlecht aus den Fängen des finsteren Superschurken Gasparino Cortejo. Dafür darf er dann zwar die Tochter des spanischen Grafen heiraten (mit ihr zeugt er Waldröschen), zieht sich aber den Zorn eines der grausamsten und schlausten Bösewichter aller Zeiten zu. Beide verfolgen sich quasi gegenseitig in gefährliche Weltgegenden. Cortejo verfügt auch noch über ein weitverzweigtes Netz von ebenso widerlichen Typen, die allen Helden gehörig zusetzen: eine böse Zigeunerin, ein garstiger Seeräuber und nicht zuletzt eine fiese Tochter, gegen die sich Lady Macbeth ausnimmt wie Mutter Theresa.    

Der phantastische Grundton des Romans entsteht nicht durch seine unheimlichen oder horriblem Elemente, die es durchaus gibt, sondern durch das schier Comichafte des Geschehens, durch das surrealistische Treiben der überlebensgroßen Gegner. Der Spaß liegt grade darin, das May sich nicht bemüht, dem Werk auch nur einen Hauch von Realismus zu verleihen, sondern Gefahren auf Gefahren türmt, ohne abzuwägen, wie viel man den Figuren überhaupt zumuten kann.

May gießt dauernd Öl ins Feuer, indem er die Scharmützel in damalige Krisenherde der Welt verlegt, die auch so schon anstrengend und gefährlich genug sind, auch ohne den privaten Blutrache-Zoff der Protagonisten, die sich mit allen Mitteln bekämpfen und auch vor ekligen Giften, Terroranschlägen und Entführungen nicht zurückschrecken.

So spielt die Handlung im spanischen, von Räubern und Banditen bevölkerten Gebirge, in den (damals schon gefährlichen) Vororten von Paris und vor allem im Mexiko während des Bürgerkrieges der der 1860er Jahre. Und dort läßt sich May nicht lumpen und holt alles an Klischees raus, was Mexiko hergibt: Düstere Burgen und Klöster mit unterirdischen Gängen, große Schlachtfelder, uralte Pyramiden, Lager der mexikanischen Indianer und das Getümmel in Großstädten wie Mexiko-Stadt und Vera Cruz.

May rührt bedenkenlos alles zusammen, was er an Spannungsliteratur in seiner Jugend verschlungen hat, die Gothic Novel findet man hier ebenso wie die Indianerbücher Coopers, den deutschen  Räuberroman um 1800 und die damals so beliebte Abenteuerliteratur über den Mexiko-Krieg. (Der Stoff war für die Deutschen wohl deswegen so attraktiv, weil sich die Franzosen in den Krieg einmischten, Truppen aussandten und das mächtige französische Kaiserreich dort eine ähnliche Schlappe erlitt wie 100 Jahre später die Amerikaner in Vietnam.)

Aber grade diese distanzlose, ganz unintellektuelle Mischung aus allem, was May liebte und kannte, macht den exotischen Reiz dieses Werkes aus – und wohl auch seinen beispiellosen Erfolg.

Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die ErdeV
Die Ausnahmestellung des "Waldröschens" wird übrigens nicht dadurch geschmälert, dass May noch vier weitere große Serien verfaßte, drei wieder in Heftform, eine als Fortsetzung in einer Zeitschrift. Ich habe mein Glück mit allen vieren versucht – keines der Werke hat mich so gepackt wie der Erstling. Zwei fallen in ein andres Metier: eins ist ein Krimi, der in Deutschland spielt, das andre ein ebenfalls in Deutschland angesiedelter Heimatroman.

Und auch wenn die andern beiden, „Die Liebe des Ulanen“ und vor allem „Deutsche Herzen, deutsche Helden“  viele amüsante Passagen enthalten, so nimmt doch der nationalistisch-diffamierende Ton in ihnen überhand. Schon im Waldröschen kommen die Franzosen nicht gut weg, aber in der „Liebe des Ulanen“ steigert sich der Franzosenhaß ins Pathologische; viele Teile sind schier ungenießbar.

Daß dem pazifistisch orientierten alten May diese Werke peinlich waren, ist durchaus nachzuvollziehen. Aber auch davon abgesehen, fehlt den andern Kolportage-Reihen der frische naive Schwung des Waldröschens und das hier spürbare Gesamtkonzept. Es scheint, als hätte May die Grundidee lange in sich getragen und dann mit wilder Begeisterung hastig aufs Papier geworfen, während er die restlichen 4 Kolportageromane mühsam improvisierend erfinden musste, ohne bei der Abfassung genau zu wissen, wohin das alles hinauslaufen sollte.

So schön der Roman auch ist – seine Verbreitung war auch nach Mays Tod nicht erwünscht. Für den Gralshüter der May-Schriften, den Karl-May-Verlag, der ohnehin fast alle Texte des Autors extrem bearbeitete und sogar in Winnetou unzählige Änderungen vornahm, kam eine Wiederveröffentlichung zunächst nicht in Frage. Erst 1924/25 entschied er sich, eine stark bearbeitete fünfbändige Ausgabe herauszubringen, die noch viel stärker von Original abwich als die des Münchmeyer-Verlags von 1902. Die Handlungsstränge wurden vereinfacht, und „sortiert“ - kein fröhliches Springen mehr zwischen Deutschland, Spanien und Mexiko – sondern alle Schauplätze wurden jetzt brav einzeln abgehandelt, um den Leser ja nicht zu überfordern.

Furore machte der authentische Nachdruck des Olms-Verlages 1969 in sechs Bänden. Die Wiederauflage wurde von der Presse z.T. enthusiastisch besprochen, wobei man allerdings hier nicht selten Form und Inhalt verwechselte – 1969 war das Genre Kolportageroman völlig vergessen, und bestimmte Mechanismen, die jeder dieser Serien eigen war, wurden für originelle Eigenheiten Mays gehalten. (Etwa der genrebedingte hohe Dialoganteil.)  

Seit den 1980er Jahren nach Freiwerden des Urheberrechts wurden immer wieder Neuauflagen ediert Die letzte neunbändige Taschenbuchausgabe stammt vom kleinen Benu-Verlag und ist erst 3 Jahre alt. Ein Kuriosum stellt die in den 1990er Jahren vom Verlag Neues Leben Berlin herausgegebene Version dar – vermutlich ohne es zu wissen, druckte man hier nicht das Original, sondern die veränderte Skandal-Fassung von 1902 ab!

Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die ErdeSpäter schwärzte der Verlag in Neuauflagen das (falsche) Impressum, um diesen Schnitzer zu verbergen – hier hat der May-Fan also die Möglichkeit, relativ preiswert die rare unautorisierte Zweitversion zu erwerben und sie mit der echten zu vergleichen (wenn er nichts besseres zu tun und viel, viel Zeit hat.)

Viel wichtiger als die Nachdrucke sind wohl die im Netz inzwischen verfügbaren sehr guten digitalen Ausgaben. In den gängigen ebook-Stores bekommt man die Bände umsonst oder für ganz wenig Geld.  Die meisten Ausgaben fußen auf der kritischen Edition der Karl-May-Gesellschaft, die digital abrufbar ist.  

Und tatsächlich sollte man das monströse Werk so nahe wie möglich am Original lesen, um den bizarren Zauber eines der sonderbarsten Werke der Spannungsliteratur zu genießen, die je geschrieben wurden. Es lohnt sich. Versprochen!

Nächste Folgen:
Pierre Boulle - Planet der Affen (1963) (28. Dezember)
William Wymark Jacobs: Die Affenpfote (1902)
(11. Januar)
Stanislav Lem - Solaris (1961)
(25. Januar)
Arthur Conan Doyle: Der Hund von Baskerville (1902)
(8. Februar)
Friedrich Gotthelf Baumgärtner (Hg.) - Museum des Wundervollen (1803-12) (22. Februar)
Ann Radcliffe - Die nächtliche Erscheinung im Schlosse Mazzini (1790) (7. März)
Robert Kraft - Loke Klingsor, der Mann mit den Teufelsaugen (1914-16) (21. März)

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Kommentare  

#1 Andreas Decker 2015-12-14 10:21
Ein sehr schöner, informativer Artikel.

Das mit May und dem Erfolg seiner frühen Sachen war mir neu. Allerdings konnte ich noch nie was mit ihm anfangen, nicht mal in der Jugend.
#2 Thomas Mühlbauer 2015-12-14 10:50
Reicht es, wenn ich Andreas' Beitrag einfach unterschreibe? :-)
#3 Toni 2015-12-14 18:50
Sehr interessant, was der alte bzw. junge May so alles geschrieben hat.
Bei uns standen auch so ein paar May Bücher im Schrank (hat mein Bruder wohl mal zu Weihnachten bekommen), aber damals (70er) wurde man ja förmlich mit seinen verfilmten Werken zugeschüttet, da habe ich mir die Klopper gespart.

Der Titel "Das Waldröschen" täuscht wirklich, wenn man sich deinen tollen Artikel so durchliest.
#4 Mainstream 2015-12-14 21:05
-
Auch wenn wir als Kinder Sonntag-Nachmittag nach
einem Winnetou-Film hinaus gingen und die Szenarien
nachspielten, war Karl May als solcher nie wirklich
ein Thema.
Dieser Artikel hat sehr viel mehr bewirkt, als nur
mein Interesse zu wecken. Ich bin sehr schwer
beeindruckt von seinen Aussagen, beziehungsweise
von seinen Informationsgehalt. Mein Kompliment.
#5 Matzekaether 2015-12-14 22:57
Danke, wie immer, fürs freundliche Feedback der Stammleser... :-)
#6 Heinz Mohlberg 2015-12-15 19:58
Endlich mal ein Kommentar zu einer Serie/Reihe (mit für den "Normalleser" sehr guten HIntergrundlnformationen.
Die Frage ist ja, wer liest denn heute noch solch eine "endlos" lange Story?
Ich freue mich, dass es immer noch einige Sammler und Leser gibt, die solch ein Engagement wie das von Dieter von Reeken zu würdigen wissen.
#7 J. 2015-12-16 07:16
Guter Artikel, der einen schönen Gesamtüberblick bietet!
Eines möchte ich aber korrigieren: Zwar hat May die Winnetou-Trilogie erst später geschrieben, einige Geschichten mit dem Apachen entstanden aber durchaus parallel zum "Waldröschen". Überhaupt kann man nicht nur vom "jungen" May bei den Kolportageromanen sprechen, teilweise schrieb er sie zugleich wie ungleich bekannteres, zb den Orientzyklus.

Das soll aber den schönen Text und dessen interessante Perspektive nicht mindern! :-)
#8 Helmut.A 2015-12-18 19:02
Den Artikel habe ich gerne gelesen.
Wer sich intensiv mit Karl May beschäftigen will, dem empfehle ich das Rowohlt TB: „Karl May“ von Hans Wollschläger, veröffentlich im April 1965. Leider nur noch über SUCHEN im Internet zu bekommen. Hier findet man fast alles, bekanntes und unbekanntes über Karl May.
Beispiele: Die Heftausgabe vom Waldröschen hieß, Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Welt,
Durch Wüste und Harem (später Durch die Wüste )
Winnetou, der rote Gentleman, (später Winnetou, 3 Bände)
Auszug aus der Zeittafel : 1861 May als Hilfslehrer, 1862 im Gefängnis, 1870 4 Jahre Zuchthaus, 1877 freier Schriftsteller, 1882-1887 schreibt für Münchmayer, 1908 Reise nach Amerika, 1901 Widerrechtlicher Neudruck der münchmayer-romane. im Spätsommer erscheint“ et in terra pax“, 1910-1911 Höhepunkte der Karl May Hetze, Winnetou IV und die Selbstbiographie erscheinen. usw.
In dem Buch sind sehr viele schwarz-weiß-Fotos. Man sieh u.a.: Mays Abgangszeugnis vom Seminar Plauen, May Geburtshaus, Lehrerseminar, Strafanstalt, Zeitschriften, als Kara Ben Nemsi, Old Shatterhand. May in Ägypten, in Amerika, bei Indianer.
Beeindruckend sind die Bilder der Manuskripte die per Hand geschrieben wurden wie: Gott, Mensch und Teufel, des silbernen Löwen, Gedichte,
Am Schluss des Buches kann man sich durch 19 Seiten QUELLEN UND NACHWEISE durcharbeiten.
Quelle: rowohlts monographien Band 104 Karl May, Hans Wollschläger
#9 Sarkana 2015-12-20 21:39
Die Auflage bei NL war keieswegs ein Versehen - NL hat sich damals sehr bewußt an die erste Buch-Fassung gehalten. Das war der Witz an der Karl-May-Edition bei NL. Grundsätzlich wurden nie irgendwelche Hefte, Nachauflagen oder was auch immer genommen - sondern grundsätzlich die erste je als Buch erschienene Fassung. Und wenn man mal Vergleich, sind die kleinen editorischen Eingriffe durchaus nicht zum Schaden des Werkes gewesen.
BTW: Die 10% die angeblich nicht von May stammten waren wohl wirklich gar nicht so ganz doll falsch gerechnet - kleine Teile des Waldröschens sind definitiv in Vertretung geschrieben (aber sicher nicht, wie im Vergleich beschlossen, nur die skandalösen ^^).
#10 Matzekaether 2015-12-21 03:27
@Sarkana - nochmal zur Klarstellung:
NL hat bei den Kolportageromanen NIE die Erstausgabe benutzt, sondern IMMER die verfälschte der Jahrhunderwende. Bei allen außer waldröschen ist das auch so angegeben.
Die Erstauflage der NL- Waldröschen-Ausgabe behauptet allerdings: Erstruck Münchmeyer 1882. In Wirklichkeit druckten sie aber versehentlich die Zweitfassung von 1902 - die "Fischer-Ausgabe". Das falsche Impressum wurde bei der Restauflage geschwärzt.
Die "falsche" Münchmeyerausgabe ist u.a. leicht zu erkennen an den kurzen Kapiteln. Sie werden feststellen, das NL im Waldröschen entgegen dem Original viel mehr kapitelüberschriften hat.
#11 Matzekaether 2015-12-21 03:32
Die andren Romane (Fehsenfeldt) basieren bei NL tasächlich auf den Ersten Romanversionen. allerdings hat auch NL unzählig viele Änderungen vorgenommen. Allerdings nicht so viele wie Bamberg.
Aber die Sprqchsyntax ist bei NL immer verfälscht und ans 20. Jh. "angepasst", die Dativ-e's z.B. sind gestrichen und so weiter. Mag vielen wurscht sein, aber man muß es halt registrieren beim Vergleich.
#12 Sarkana 2016-01-03 20:27
Ich sage mal so, die Änderungen sind (mal vom Winnetou, wo der einleitenden Vergleich mit den Türken fehlt, abgesehen) nicht inhaltlich/stilistischer Art - wäre mir zumindest neu. der KMV hat, der Karl-May-Rabe hat es es mal zum Vergleich gedruckt, ja teilweise die Romane praktisch neu geschrieben. Die Anpassungen der Orthographie waren dagegen vorsichtig und IMO absolut nötig. Die historisch-kritische Ausgabe mit ihren ständigen THs (z.B.: thun statt tun) ist eine Qual und vergällte einem den Lesegenuß erheblich.
Das da versehentlich in einem Fall die falsche Ausgebe verwendet wurde ist natürlich ärgerlich. Grundsätzlich hab ich aber nie beheuptet es wäre die Originalausgabe verwendet worden. Ob es wirklich so hilfreich ist einfach alle Kolportage-Romane zusammenzuklatschen würde ich abstreiten. Es sind ja auch tatsächlich einige davon nicht von May verfaßt worden, oder zumindest nur teilweise - trotz der deutlichen Unterscheide ist der Vergleich mit dem komplett unbearbeitetem Zusammenkopieren von Heftromanen, der ja eben so sinnfrei ist, nicht völlig falsch. Insofern ist die erste Ausgabe als Buch, mit den entsprechenden Überarbeitungen, IMO eine sehr gute Grundlage gewesen. Und zumindest der Plan bei NL war mal, eben immer jene erste Buchausgabe zu verwenden.

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