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Leseprobe: Der Todestagverkäufer (Froebius! Im Bannkreis des Unheimlichen Band 3)

LeseprobeDer Todestagverkäufer
Froebius! Im Bannkreis des Unheimlichen Band 3

I
Verblüfft starrte Heinrich Persell den kleinwüchsigen Mann an, der soeben flink wie ein Wiesel aus der spaltbreit geöffneten Tür geschlüpft war und ihm mit einer tiefen Verbeugung den Weg in das Konsultationszimmer des großen Magus wies. Der Liliputaner war nur etwas über einen Meter groß, fiel aber noch mehr durch seine papageienbunte Kleidung auf.

Der TotentagsverkäuferKnallrote, mit goldenen Sternen bestickte Pluderhosen, jadegrüne Schnabelpantoffeln, eine dunkelblaue Samtweste sowie ein riesiger knallrot-dunkelblau gestreifter Turban mit Goldbrosche und rosafarbener Flamingofeder nährten werbewirksam die Vermutung, dass der Träger dieser exotischen Tracht offenbar aus einer sehr weit entfernten Weltgegend stammen musste.

Die alles entscheidende Antwort auf die wichtigste Frage seines Lebens?

Hier sollte er sie finden?

Von einer Sekunde auf die andere kam sich Persell zutiefst lächerlich vor. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Er, der reiche Weinhändler, einer der angesehensten Bürger der kleinen Stadt am Main, war gerade im Begriff, sich im Hinterzimmer des Gasthofs »Zum Goldenen Anker« von einem zwielichtigen Quacksalber nichts Geringeres vorhersagen zu lassen als Tag und Stunde seines eigenen Todes!

Das kann doch nur betrügerischer Humbug sein!

Dem Mittfünfziger mit dem voluminösen Backenbart wurde plötzlich siedend heiß. Hat ihn wirklich nur die reine Neugier dazu getrieben, sich auf einen solchen abergläubischen Unsinn einzulassen?

Oder war er vielleicht nicht mehr ganz bei Verstand?

Der Weinhändler schämte sich in Grund und Boden. Er fasste seinen Gehstock fester, wollte gerade auf dem Absatz umdrehen und das Wirtshaus fluchtartig verlassen, da schwang die knorrige alte Eichentür zur Gänze auf und gab den Blick frei auf den mysteriösen Todespropheten, von dem zur Zeit die ganze Stadt sprach.

Die rechte Hand nonchalant in der Hosentasche, lehnte Magus Mortemer, wie er sich selbst nannte, lässig im Türrahmen. Gut zwanzig Jahre jünger als Persell, strahlte seine ganze Erscheinung eine höchst extravagante Mixtur aus weltmännischer Noblesse und ungezähmter raubtierhafter Wildheit aus. Schulterlanges, rabenschwarz schimmerndes Haar fiel auf eine offen getragene honigfarbene Seidenweste mit Arabeskenmustern, unter der ein blütenweißes Hemd ohne Kragen und Schleife hervorleuchtete. Die gertenschlanke Gestalt wurde von einer hauteng geschnittenen anthrazitfarbenen Hose betont, die in geschmeidigen schwarzen Stiefeln mit hellgrauen Stulpen mündete. Solche edlen Stücke aus kostbarstem Juchtenleder konnte man nur gegen teure Goldgulden im fernen russischen Zarenreich bekommen.

»Kein Zweifel, ein Mann von Geschmack und Vermögen«, dachte Persell mit widerwilliger Bewunderung. Dass es aber doch ein Detail gab, das absolut nicht in das elegante Bild des perfekten Kavaliers passen wollte, bemerkte er erst, als Magus Mortemer die rechte Hand aus der Hosentasche zog.

Statt menschlicher Finger lugte eine stählerne Hakenkralle aus dem weißen Hemdsärmel!

Dem Weinhändler fiel sofort auf, dass sich selbst diese makabre Prothese durch eine besonders erlesene Qualität auszeichnete. Ein wahrer Künstler aus Hephaistos` Zunft musste es gewesen sein, der mehr als dreihundert Lagen harten und weichen Stahl in einen akribisch fein strukturierten Rosendamast verwandelt und daraus den Haken geschmiedet hatte.

»Monsieur Persell, wie ich vermute. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Kommen Sie doch bitte herein...« Mit einer schwungvollen Geste deutete Magus Mortemer in den Raum hinter sich.

Die Bewegung ließ die Stahlklaue aufblitzen.

Irritiert zwinkerte der Weinhändler mit den Augen. Er konnte plötzlich den Blick nicht mehr von dem Haken abwenden und stellte mit Erschrecken fest, dass sich das silbrige Gleißen des Rosendamasts immer greller in seine Netzhaut brannte. Nach wenigen Sekunden war der wie erstarrt dastehende Geschäftsmann geblendet. Durch feurige Zackenkreise glaubte er noch erkennen zu können, wie sich die Augen des Wahrsagers zu schmalen Schlitzen verengten, in denen eine rötliche Glut waberte. Heraus schossen seltsam stechende Blicke, die sich ins Bewusstsein seines Gegenübers fraßen und dort jeglichen Widerstand brachen.

Aber das hat Persell schon nicht mehr wahrgenommen.

Dafür kam ihm der Gedanke, den »Goldenen Anker« zu verlassen ohne Magus Mortemer konsultiert zu haben, jetzt einfach absurd vor.

*

Mit einem planlos zusammengewürfelten Sammelsurium vom Zahn der Zeit angenagter Salonmöbel hatte Ankerwirt Bruno Feldschmied versucht, sein Hinterzimmer in so etwas wie ein repräsentatives Separée für vertrauliche geschäftliche Gespräche zu verwandeln. Das Vorhaben war jedoch kläglich misslungen, denn der altväterlich enge Raum unter der niedrigen durchgebogenen Balkendecke erweckte mit dieser schäbigen Ausstattung erst recht den Eindruck einer längst vergessenen Abstellkammer.

Wie er auf das zerschlissene Gobelinsofa gelangt war, wusste Persell nicht mehr. Als ob er aus einer tiefen Trance erwachte, reckte der Weinhändler den Kopf hoch, sah sich vorsichtig um und registrierte dankbar, dass seine Sehstörungen verschwunden waren. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des verkratzten chinesischen Lacktischchens, saß Magus Mortemer in einem von Weinflecken und Brandlöchern verunstalteten dunkelbraunen Ledersessel und beobachtete amüsiert Persells Reaktionen. Keine rotglühenden Augen diabolisierten den Blick des Todespropheten, keine dämonische Grimasse verzerrte seine Gesichtszüge. Selbst der Rosendamast der Hakenkralle schimmerte friedlich in harmlosem Silberglanz.

»Verzeihen Sie diese jämmerliche Umgebung, verehrter Monsieur Persell«, begann der Magus mit der selbstsicheren Noblesse eines Mannes von Stand. »Ich habe die ganze Welt bereist und meine Kunst an vielen Orten ausgeübt, selbst jenseits der großen Ozeane. Aber nirgendwo musste ich in einem so indiskutablen Loch wie diesem hier praktizieren. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung dafür an, dass ich in Ihrer schönen Stadt keine angemessenen Räumlichkeiten für meine Konsultationen finden konnte«.

Persell nickte heftig. Er war noch nicht in der Lage, einen sinnvollen Satz über die Lippen zu bringen.

Einem Nebelgespenst aus dem Nichts gleich tauchte der Liliputaner hinter dem traumatisierten Geschäftsmann auf. Vorsichtig stellte er ein Silbertablett mit Weinkaraffe und zwei Kristallgläsern auf der schwarz lackierten Platte des chinesischen Tischchens ab. Nach einer stummen, aber tiefen Verbeugung trippelte der kleine Mann mit dem großen Turban zur Tür und bezog dort mit gekreuzten Armen reglos Position, den Blick starr geradeaus auf einen imaginären Punkt gerichtet.

Magus Mortemer deutete mit seiner Hakenkralle auf den bunt kostümierten Kleinwüchsigen.

»Das ist Poco«, erläuterte der Schwarzhaarige im lockeren Konversationston, während er beide Kristallkelche mit dem Wein aus der Karaffe füllte. »Bitte lassen Sie sich durch sein schlechtes Deutsch nicht inkommodieren. Er versteht Ihre Sprache perfekt, kann sich aber nur auf Arabisch einigermaßen ausdrücken. Armer Kerl - bis heute weiß er nicht, welches Vaterland wirklich das seinige ist«.

Der Magus nippte nur am Glas, Persell leerte seines auf einen Zug. Der Riesling schmeckte köstlich.

»Ich habe Poco vor sechs Jahren in Ägypten gekauft«, fuhr der geheimnisvolle Reisende in Sachen Tod fort. »Auf dem Sklavenmarkt in Alexandria. Seitdem ist er natürlich ein freier Mann, der aus Dankbarkeit - und wohl auch, weil er sich allein in der Welt nicht zurecht finden würde - gern in meine Dienste getreten ist«. Magus Mortemer nippte erneut an seinem Weinkelch. »Und ich muss zugeben, dass ich nie einen besseren Diener gehabt habe«.

»Eine bemerkenswerte Geschichte«, krächzte der Weinhändler. Er war offenbar dabei, seine Sprache wiederzufinden.

Verlegen räuspernd zog der Schwarzhaarige eine massiv goldene Uhr aus seiner Westentasche und warf einen kurzen Blick auf das Ziffernblatt. »In einer halben Stunde«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln, »erwarte ich meinen nächsten Klienten. Wir sollten langsam zum Geschäft kommen, Monsieur Persell«.

»Einverstanden. Bringen wir es hinter uns, Mortemer«.

Entschlossen schob der Mann mit dem buschigen Backenbart einen prall gefüllten Lederbeutel über den Tisch.

Das vereinbarte Honorar.

»Ich nehme an, dass ich nicht nachzählen brauche«, bemerkte Magus Mortemer zufrieden. »Der guten Ordnung halber darf ich aber unseren Vertrag noch einmal zusammenfassen: Ich erhalte von Ihnen fünfzig süddeutsche Gulden. Dafür nenne ich Ihnen den präzisen Zeitpunkt, an dem Sie bedauerlicherweise diese Welt verlassen müssen«.

Persell nickte zustimmend.

»Willkommen im Kundenkreis des Todestagverkäufers«, schmunzelte sein Vertragspartner. Mit einer flinken Bewegung der gesunden Hand ließ er den Geldbeutel irgendwo im Nirgendwo verschwinden.

»Bitte erwarten Sie jetzt keinen marktschreierischen Hokuspokus. Ich arbeite schnell, absolut schmerzlos und ohne jegliche Roßtäuscherei!«

Magus Mortemer schnippte mit seinen gesunden Fingern.

Vollkommen lautlos setzte sich Poco wieder in Bewegung.

»Jetzt brauche ich noch etwas Persönliches von Ihnen, Monsieur Persell«, verlangte der Todestagverkäufer. »Am besten ein paar Haare!«

 Der Liliputaner legte eine zierliche Silberschere in die ausgestreckte linke Hand seines Herrn, der daraufhin dicht an den unbeweglich dastehenden Weinhändler herantrat. Ein schneller Schnitt an einer unauffälligen Stelle, und Poco fing das kleine Büschel Nackenhaare geschickt in einer blütenweißen Schale aus feinstem Meißner Porzellan auf.

Was weiter damit passierte, konnte Persell nicht erkennen.

Magus Mortemer trat einen Schritt zurück, hob den rechten Arm und hielt seinem Klienten die Stahlklaue direkt vor die Augen. Dann bewegte er den blitzenden Rosendamast drei mal langsam hin und her, wobei er einige unverständliche Worte murmelte.

Aus Angst, wieder geblendet zu werden, war der Weinhändler im ersten Moment instinktiv zurückgezuckt. Doch nichts derartiges passierte. Der Schwarzhaarige ließ die Hakenkralle wieder sinken und blickte ihm kurz, aber tief in die Augen. Dann nickte er zufrieden.

»Der Zeitpunkt Ihres Ablebens ist Freitag, der 12. Juni 1818, präzis um zehn Minuten nach vier Uhr nachmittags«.

Persell brauchte etwas mehr als einen Atemzug, um zu begreifen, was der Magus ihm soeben eröffnet hatte. Er wurde leichenblass und begann am ganzen Körper zu zittern.

»Der 12. Juni?«, schrie der Geschäftsmann voller Verzweiflung auf. »Aber das ist ja schon übermorgen ... !«

II
Verschwenderisch goss die Silberscheibe des fast vollen Mondes ihren sanften Schimmer über die Dächer der kleinen Stadt am Main aus. Die Gassen aber lagen in völliger Dunkelheit, denn durch die enge Bebauung konnte kein Lichtstrahl das buckelige Kopfsteinpflaster erreichen.

In scharfem Stakkato hallten plötzlich schnelle Schritte von den Fronten der Fachwerkhäuser wider. Magus Mortemer, eingehüllt in einen edlen Kapuzenumhang aus blauschwarz glänzendem Maulwurfsfell, eilte über den Marktplatz Richtung Osten. Mit der gesunden linken Hand hielt er eine blakende Kerzenlaterne vor sich, deren spärlicher Schein wild im Rhythmus seiner Bewegungen hin- und herschaukelte. Keuchend und taumelnd folgte Poco seinem Herrn. Der kleine Mann unter dem großen Turban schleppte eine mit Leder beschlagene hölzerne Reisekassette und hatte Mühe, den sperrigen Behälter mit seinen kurzen Armen umklammert zu halten.

Außer dem Todestagverkäufer und seinem Diener war nirgendwo mehr ein Mensch unterwegs. Keine Kerze, keine Öllampe leuchtete hinter den Butzenscheiben links und rechts des Weges. Über der ganzen Stadt herrschte die Stille wohlbehüteten Friedens, einzig gestört durch das Getrappel des ungleichen Paares.

»Da entlang, Poco! Das Eisentor beim Westchor!« Der Mann im schwarzen Umhang bog auf einen kleinen, mit einigen verkümmerten Platanen bestandenen Platz und deutete mit der Laterne nach rechts. Aus der Dunkelheit traten schemenhaft die Umrisse von Sankt Justinus hervor. Ohne einen Blick für das Bauwerk hasteten beide Männer daran vorbei. Ihr Ziel war eine stark verrostete Gittertür, die direkt neben der alten Stadtkirche den Zugang zum Kirchhof versperren sollte. Aber schon lange hatte sich niemand mehr die Mühe gemacht, sie abzuschließen.

»Warte!«

Der TotentagsverkäuferMagus Mortemer drückte mit seiner Hakenkralle gegen die Eisenstäbe, was einen durch Mark und Bein gehenden Rasselton erzeugte. Laut quietschend sprang das Gittertor auf.

Die Miene des Todestagverkäufers wurde plötzlich weich, fast zärtlich.

»Suchen wir das Grab, Poco!«

***

Ende der Leseprobe

Der Todestagverkäufer
Froebius! Im Bannkreis des Unheimlichen Band 3:
von Norman Nekro
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Zum Autor:
Norman Nekro, von Hause aus Wirtschaftsjournalist, schreibt historische Romane, Krimis sowie Mystery- und Grusel-Thriller. Im Moment fokussiert er sich auf die in der Nach-Napoleon-Ära spielenden Gruselkrimis »Froebius! - Im Bannkreis des Unheimlichen«.

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