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Schicksal, Leben und Entertainment - Wenn die Realität auf die Unterhaltung trifft

Zauberwort - Der Leit(d)artikelSchicksal, Leben und Entertainment
Wenn die Realität auf die Unterhaltung trifft

Uwe Weihers Artikel »Ender's Game - Hintergründe zum Boykott« und die Kommentare David Gerrolds zum Thema (hier und hier) zeigen, dass das normale Leben immer wieder in die heile Welt belletristischer Unterhaltung einbricht, die wir zu unserem Thema im Rahmen des Zauberspiegels erkoren haben. Die Unterhaltung liefert ja nur einen Abglanz der Realität, ein verzerrtes Spiegelbild von dem was wir so Leben nennen. Und das ist ja auch die Basisaufgabe von Entertainment. Aber …


… Unterhaltung erscheint im Rahmen der Realität (die wir durchaus unterschiedlich erleben und gewichten mögen und daher kommen Individuen auch zu unterschiedlichen Auffassungen was denn die Realität nun genau ist).

Eben weil Unterhaltung nicht in einer Luftblase stattfindet mag es auch immer wieder Überschneidungen mit dem ›wahren Leben‹ geben. Der Auslöser dieser Überschneidungen ist dann oft nicht die Unterhaltung an sich, sondern äußere Umstände wie die Äußerungen Orson Scott Cards über die Schwulen und Lesben, die in aller Welt gegen mehr oder weniger heftige Widerstände um ihre Bürgerrechte kämpfen. Oder die sogenannte Scientology Church und ihr Gebaren. Oder … was auch immer.

Diese Umstände werden uns manchmal zwingen uns mit dem ›wahren Leben‹ jenseits von Cowboys, Kommissaren, Piraten, Dämonen und Hobbits zu befassen. Dadurch werden wir nun nicht zu einem Magazin, das sich permanent mit der Realität jenseits der Belletristik befasst. Dafür gibt es unter anderem den ›Spiegel‹ ohne Zauber. Aber es ist ja nicht so, dass Belletristik (wie oft und gern unterstellt wird) wirklich eskapistisch, sondern vielmehr ›touristisch‹ ist. Sprich Unterhaltung ist für viele keine permanente Fluchtwelt, sondern eher ein Urlaubsort der Phantasie und des Geistes an dem der Konsument wieder Kraft sammeln kann, ums ich mit der Realität (sprich seinem Alltag) auseinandersetzen kann.

Was ich dabei oft erlebe, dass der persönliche Alltag dann gern überhöht dargestellt wird. Aus Krankheiten (eigenen oder die von Angehörigen), der Verlust von Freunden und Familienangehörigen, Unfälle werden dabei oft zu ›Horror‹ erklärt. Nein, schießt es mir dann durch den Kopf. Das ist das, was wir ›Leben‹ nennen. Und das ist nun mal keine Aneinanderreihung höchster Glücksmomente, sondern all das Negative gehört dazu. Dadurch wird es nicht zum Horror, sondern nur zum Teil des Lebens. Damit müssen wir fertig werden und unser Leben fortsetzen.

Ich möchte an dieser Stelle persönlich werden und von meiner Mutter erzählen. Ihr ältester Sohn verstarb an den Folgen von Verbrennungen 3. Grades. Ihre Mutter starb als sie drei Jahre alt war. Sie war unehelich (in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts nicht unbedingt einfach), ihre Großeltern zogen sie auf. Sie musste erleben wie ihre Oma ohne ausreichende Schmerzmittelversorgung an Brustkrebs starb. Ihr Mann (mein Vater) ertrank im Hamburger Hafen, ihrem zweitältesten Sohn platzte ein Aneurysma im Hirn und er blieb in der Folge teilweise linkseitig gelähmt und sie selbst litt dreißig Jahre an Asthma, das von Jahr zu Jahr schlimmer wurde. Und doch betrachtete sie das nicht als ›Horror‹, sondern als das was man gemeinhin Leben nennt und versuchte ihr Leben weiter zu leben. Sie war nicht vergrämt, sondern konnte auch die glücklichen Momente genießen.

Gerd MeyerEs war auch kein quälendes Schicksal für sie, es war ganz normales Leben voller Höhen und Tiefen. Schicksal geht anders. Das erlebte ich auf der Frankfurter Buchmesse. Da kam ich durch ein paar Flyer mit Gerd Meyer ins Gespräch. Gerd hat ein hartes Leben hinters ich, dass ich einmal so beschreiben möchte. Würde ich seine Erlebnisse zu einem Roman, Spielfilm oder Fernsehserie verarbeiten wollen, könnte es passieren, dass der Redakteur mir sagt, das wäre doch etwas dick aufgetragen. Sowas gäbe es doch wohl nicht.

Gerd ist in den Sechzigern in Heimerziehung gewesen und im berüchtigten Heim in Glückstadt gelandet. Obwohl das Dritte Reich nun schon zwei Jahrzehnte der Vergangenheit angehörte, schliefen die Kinder und Jugendlichen dort auf Matratzen, die noch das Hakenkreuz zierte. Das war noch eine der Dinge, die noch fast zum Schmunzeln waren. Der Rest war das was ich Schicksal nenne und das hätte wohl auch meine Mutter getan.

Gerd MeyerEr hat die Erlebnisse seiner Jugend in einem Buch zusammengefasst, dass er »unGLÜCKSTADT« genannt hat. Alles was er darin niedergeschrieben hat, kann Gerd aus Akten und durch Gerichtsurteile belegen. Das Heim war eine Hölle auf Erden.

Sein Buch ist im Verlag Underdog aus Hamburg erschienen. Dort gibt es so manches Schicksal, das dem ›normalen‹ Menschen lehren könnte, dass sein Leben ein Leben und kein Schicksal ist. Es könnte demjenigen, der sich mit diesen Ereignissen befasst sagen, man solle nicht alles ›hoch sterilisieren‹ was einem so widerfährt. Es könnte uns lehren, dass Unterhaltung wirklich nur ein Abglanz von Realität ist.

Ich werde mit Gerd, einigen anderen und dem Verleger, Interviews führen, denn das zeigt dann, dass Realität Fiktion übertrifft und gleichzeitig das Unterhaltung als Urlaub vom Leben nötig ist. Die Diskussion um Card hat mich gelehrt, immer mal wieder ein Blick über den Tellerrand des Entertainments hinauszuwerfen.

Mal sehen was herauskommt …

 


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