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Ukraine (und der Krieg von 2022) in Open Culture - Teil 1

Open CultureUkraine (und der Krieg von 2022) in Open Culture Teil 1

Ein Tipp vorneweg: Auch wenn sicher keiner unserer Freunde auf dem Zauberspiegel kriegerische Auseinandersetzungen mag, kann man durchaus unterschiedlicher Ansicht über einzelne Konflikte sein. Auch wenn ich kein Putin- und/oder Russlandbashing vorhabe, darf, wer ein Problem damit hat, dass ich die Rolle Russlands in diesem Krieg verurteile, hier gerne aufhören zu lesen. In Deutschland gehören wir glücklicherweise zu den Ländern, in denen wir seit Generationen Kriege nur aus Geschichte, Schule, TV etc kennen.

UkraineEinige von uns haben Eltern, die direkt betroffen waren. Ich möchte mir gar nicht vorstellen was es bedeutet, Angst um einen geliebten Menschen zu haben, der sich in einem Kriegsgebiet als Zivilist aufhält - ganz zu schweigen davon, selbst Opfer zu werden.

Eines der großartigsten Elemente des Internets ist, dass es dazu dienen kann, Daten aller Art in elektronischer Form in Sicherheit zu bringen und vor der Vernichtung zu retten - anders, leider, als zum Beispiel Denkmäler wie jene in Afghanistan, Syrien und eben auch der Ukraine. Die Bilder der zerstörten Städte sind schwer zu ertragen und erinnern nicht ohne Grund an den 2. Weltkrieg. Durch Open Culture können zumindest teilweise die kulturellen Reichtümer bewahrt bleiben und stehen dann uns allen zur Verfügung. Dabei bleibt die alte Frage, wie man Wissen bewahren kann, wenn Bücher zerfallen, Bilder verblassen, Datenträger immer mehr Fehler produzieren, bestehen.

Was Putin und seine russischen Kriegsfreunde in diesem Land Ukraine anrichten, geht weit über die Auseinandersetzung um Land und Bodenschtze hinaus - die Verwendung bestimmter Waffen und Berichte über einzelne Vorkommnisse weisen auf Kriegsverbrechen hin, eigentlich zu erwarten, denn in allen Kriegen war es immer die Zivilbevölkerung, die am meisten litt. Menschen leiden und sterben, s...egal ob Zivilisten oder Soldaten. Über Jahrzehnte hinaus wird ihr Leben nicht mehr dasselbe sein, bis zu ihrem Tod wird die Erinnerung an das, was geschehen ist, sie begleiten. Und mit großer Wahrscheinlichkeit auch ihre Kinder, vielleicht auch Enkel - wen das Thema Vererbung von Traumata interessiert, sollte sich mit dem Begriff "Transgenerationale Weitergabe" (in Google und/oder YouTube) beschäftigen - dies kann unter Umständen ein Augenöffner sein, aber auch je nach Bewußtsein der eigenen (Familien-)Geschichte persönlich belastend.

Die Ukraine (bzw. die Fläche des Gebietes, das heute Ukraine heißt), hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich, wie die meisten europäischen und besonders die osteuropäischen Staaten, über die durch die Jahrhunderte Kriege hinweg fegten, immer wieder ihre Zugehörigkeit bzw Herrschaft wechselten, und damit auch oft ihre Bekenntnisse.

Auf dem Gelände der heutigen Ukraine liegen historisch interessante, "uralte" Siedlungsgebiete, nicht nur aufgrund der schieren Größe des Landes. Wahrscheinlich gab es dort bereits Menschen bevor sie in Süddeutschland nachweisbar sind. Keine Sorge, ich werde jetzt nicht die gesamte Geschichte der Ukraine berichten, das kann man anderso mindestens genauso gut nachlesen. Besonders gute Voraussetzungen für eine frühe kulturelle Entwicklung der Region boten die vielen fruchtbaren Gegenden, gemischt mit vielfältigen anderen Landschaften (z.B. Steppe), und die Tatsache, dass es inmitten eines großen, an den unterschiedlichsten Ecken besiedelten Kontinents lag und von den unterschiedlichsten Seiten her Impulse erhielt. Es gab eine Vielzahl unterschiedlichster Kulturen, die über die Jahrtausende das Land prägten. Nicht zuletzt die Nähe zur Kulturregion Griechenland, das bis an das ukrainische Ufer des Schwarzen Meeres Handelsposten besaß, später auch siedelten, und über die sich eine Vielzahl von Handelsrouten durch heutige Gebiete der Ukraine mit Zielen in allen Himmelsrichtungen nachweisen lassen.

Das Dreieinige russische Volk
Einer der entscheidenden Gründe, die Putin nutzt, um seinen Krieg gegen die Ukraine zu "rechtfertigen", sind die sogenannten "Großen, Kleinen und Bela-(Weiß) Russen", zu denen auch die Ukraine als die Kleinen Russen zählt. Dabei bedient sich Putin einer Ideologie, die bereits im Russischen Kaiserreich staatstragend war - dem Volk der Kiewer Rus, das aus den oben genannten Teilgruppen bestand und sich über die drei heutigen Staatengebiete erstreckte.

Im 17. Jahrhundert kam diese Vorstellung eines gesamtrussischen Volkes auf, als die damalige Ukraine sich nicht mehr länger mit der Unterdrückung ihres orthodoxen christlichen Glaubens abfinden wollten.

Zwar war die Rzeczpospolita Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego (deutsch wörtlich Gemeinwesen der Polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen) eine parlamentarisch-konstitutionellen Monarchie. Faktisch jedoch erlebten die russisch-othodoxen und/oder ukrainisch-weißrussischen Bewohner der überwiegend ländlich geprägten Gebiete der Ukraine und Weißrusslands die Herrschaft der adeligen Landbesitzer, die überwiegend polnische Adelige waren, unterdrückt, ausgebeutet und ihrer Rechte beraubt.

Es kam zu Unruhen, die ihre stärkste Ausprägung im Chmelnyzkyj-Aufstand fanden. Namensgebend hierfür war ein ruthenischer Adeliger namens Bohdan Chmelnyzkyj, der sich nach seiner Enteignung einem "Kosakenstaat" auf dem heutigen ukrainischen Staatsgebiet anschloss, nach kurzer Zeit Anführer des Kosakenheeres wurde. Die nichtpolnische Landbevölkerung unterstützte die Kosaken 1648–1657 in hohem Maß, versorgten sie wenn nötig mit Nahrungsmitteln, Unterkunft etc.

UkraineRussland wurde um Unterstützung in der Auseinandersetzung mit dem Polnisch-Litauischen Reich gebeten, da man das mächtige Russland als einen "verwandten" Helfer in der Not sah. Da Russland jedoch eine Auseinandersetzung mit dem Staatsgebiet Polen-Litauen im Westen scheute, wurde das Ansinnen abgeleht. Um sich einen Eindruck von der eindrucksvollen Größe des Reiches Polen-Litauen zu verschaffen dient die Karte, wo man sieht, wie sich das Reich von Posen und Krakau im Westen, im Südosten weit über Kiew hinaus den Dnepr entlang hinunter Richtung Schwarzes Meer zog, und im Osten seine weiteste Ausdehnung in der großen Woiwodschaft um Smolensk hatte. So kamen insgesamt 729.900 km² zusammen (zum Vergleich: Deutschland hat eine Fläche von 357.588 km²).

Mangels anderer Verbündeter taten sich die Kosaken mit dem Khan der Krim zusammen, zu dessen Khanat damals neben der Krim noch andere Teile (Steppengebiete) der heutigen Ukraine gehörten. Das Khanat
hatte sich als Überbleibsel der sogenannten Goldenen Horde etabliert und bis nach 1780 Bestand. 

UkraineMit deren Unterstützung gelang es den Kosaken, die Polnischen Armeen von 1684 bis 1653 in 19 Schlachten bis an den Rand einer dramatischen Niederlage zu führen. Die erste Schlacht fand in Zolte Wody statt und dauerte vom 29. April bis zum 16. Mai 1648.

Mit der zweiten Schlacht, die stattdessen nur einen Tag dauerte und von Kosaken und Krimtartaren erneut problemlos gewonnen wurde, wandelte sich der bisherige Aufstand zu einem Krieg, der bis 1653 andauern sollte.

Die Schlachten der folgenden Jahren verschlangen Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten, der Kriegsgott war wankelmütig, und nach vielen Einzelkämpfen kam 1651 mit der Schlacht bei Berestetschko (Ukraine) der Aufstand der Ukrainer/Tartaren vorerst zu einem Ende. Heute wird diese Schlacht als eine der größten des 17. Jahrhunderts betrachtet, in ihr fielen auf Seiten der Kosaken und Tartaren 40.-80.000 Mann.

Nicht nur das Kriegsglück schwankte, auch die Koalitionen beziehungsweise Kriegspartner veränderten sich im Lauf der Zeit. Kosaken, die bisher in Polen und Litauen unter Befehl standen, wandten sich von ihren Heeren ab und schlugen sich auf die Seite der ukrainischen Kosaken. Die Kriegsgewinne der Kosaken gegenüber den Polen waren so substanzuell, dass Polen am Rand einer Niederlage war. Dem Khan (inzwischen war der ursprüngliche "Vertragspartner" verstorben) an der Seite der Kosaken waren spätestens 1653 die Kriegsgewinne und erstaunlichen Erfolge seiner Partner nicht mehr ganz so recht. Er fürchtete eine zu starke Schwächung des Polnisch-Litauischen Reiches - und fiel Chmelnyzkyj, der selbst an der Schlacht als Befehlshaber teilnahm, zumindest politisch in den Rücken, indem er sich nicht im Kampf gegen ihn wendete, jedoch im Dezember des Jahres einen Separatfrieden mit Polen abschloß - und sich "verdünnisierte".

Chmelnyzkyj überlebte, konnte durch einen erneuerten Friedensvertrag den polnischen Truppe entkommen und schloss 1654 einen Vertrag mit dem Zarenreich. Der Heerführer der Kosaken hatte schon 1648 einen Brief an den russischen Zaren verfasst, in dem er  um ein Protektorat für die „Kleinrussen“ (die orthodoxen Glaubensbrüder) bat.

Der Begriff der "Kleinen Rus" (Μικρὰ Ῥωσία) wie der "Großen Rus" (Μεγάλη Ῥωσία) war im Byzanz des frühen Mittelalters entstanden und beschrieb das Gebiet (der orthodoxen Kirchen) im Westen mit den Fürstentümern Galizien-Wolhynien und Turow-Pinsk. Alle anderen Gemeindegebiete, darunter auch Kiew, Smolensk und Nowgorod als großen Rus. Die Begriffe verfestigten sich - bis heute.

Dieses dreifache Russland wird heute von eingen Historikern und politischen Analysten als einer der Gründe für Putins Entscheidung eines Angriffskrieges gesehen.

In diesem Interview von Ende Februar 2022 spricht Fiona Hill von Putins Sicht eines "ein-z-igen Russlands" und meint damit genau diese zaristisch-russische "dreifache Russland".

Neben den Problemen zwischen Polen-Litauen und den Kosaken führte der Verlauf des Krieges zu einer nicht unerheblichen Verschlechterung der ohnehin schwankenden Beziehung zwischen der polnischen Republik und dem Zarenreich, als der Vertrag Russlands mit den Kosaken 1654 zustande kam. Chmelnyzkyj und seiner Bewegung gelang es sogar mit dem Zarenreich einen Vertrag zu unterzeichnen - mit fatalen Folgen. Die Russen werteten diesen Vetrag als den Beitritt/Angliederung/Aufnahme des kosakischen Staates zum Staatsgebiet des Zarenreiches, Chmelnyzkyj verstand ihn als einen Vertrag zweier unabhängiger Staaten zum gegenseitigen Schutz.

Ein schwaches Polen-Litauen wiederum kam den anderen Gegnern des Polnisch-Litauschen Reiches gar nicht ungelegen, denn Habsburg, Preußen und Russland waren nicht unerheblich daran interessiert, in den Polen-Litauen einen geschwächten Gegenüber zu haben.

Der Professor für Politische Wissenschaften, Hein Goemans der Universität Rochester erklärt in einem Interview:

"I read his goals as twofold: he wants to reestablish directly or indirectly, by annexation or by puppet-regimes, a Russian empire—be it the former USSR or Tsarist Russia."

Je nach Wahl der Begrifflichkeiten hat man hier genau diese Vorstellung eines Russlands - egal ob zaristisch oder der UdSSR - mit dem dreifachen Russland als Teile davon.

Für die Zivilisten in dieser Region war der Krieg mit seinen wechselnden Schlachten fatal. Ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung wurde in Progromen verfolgt, getötet und/oder flüchtete. Die vorgebliche Nähe der Juden als den "Geldknechten" der herrschenden polnischen Adelsriege machte sie zu Feinden - und praktischen Opfern. Auch katholische und evangelische Christen gehörten zu den Opfern, ebenso wie in der Region lebende Muslime. Natürlich machte das Sterben nicht vor den orthodoxen Christen halt.

Der Vertrag zwischen Chmelnyzkyj und Russland bot den Kosaken/ukrainischen Landesfläche nicht lange Schutz. Zwar kam es 1648 durch einen zusätzlichen Vertrag mit dem damaligen polnischen König Jan Kazimierz zu einem eigenständigen ukrainischen Kosakenstaat, nur wenige Jahre später allerdings kam es zu Bündnissen mit Russland und dem Osmanischen Reich, was den Hetmanat nicht lange unabhängig sein ließ. Kurz darauf war die Ukraine Verhandlungsmasse zwischen Polen und Russland, die die ukrainischen Gebiete rechts und links des Dniepr unter sich aufteilten.

Natürlich wäre es viel zu einfach, den heutigen bewaffneten Konflikt auf diese Gründe zu reduzieren, selbst wenn diese Gründe sicher hineinspielen. Es geht sehr wahrscheinlich um ein "Erbe", das Putin hinterlassen will, einer Einschätzung, der Westen sei durch seine Uneinigkeit und in Zusammenhang mit Corona geschwächt und damit beschäftigt, eine Finanzkrise zu verhindern, um ein Bedrohungsgefühl durch die Nato, die auf der einen Seite alles andere als einig wirkt, andererseits dem Russland Putins immer näher kommt. Dazu kommen jede Menge Gerüchte über eine Krankheit etc.

Ein Video, unter anderem über den Zusammenhang mit dem Handeln der Nato gegenüber Russland und der Ukraine, erläutert weitere Gründe.

Die Juden kehrten im Laufe der Zeit in die verschiedenen Gebiete zurück und bildeten bis zum zweiten Weltkrieg eine beachtliche Minderheit in der Landesfläche der Ukraine.

... Wie so oft, wenn ich einen (historischen) Artikel schreibe, "verlaufe" ich mich, denn die Faszination der Zusammenhänge geschichtlicher Fakten bis heute kann ich in der Regel nicht einfach kurz abscheren. Deshalb wird es eine Fortsetzung des Artikels geben - vielleicht mit einem Bericht über ein Ende des Krieges, was ich aber eher nicht erwarte.

Kommentare  

#1 Hermes 2022-06-10 23:50
Liebe Bettina,

ein überaus interessanter Beitrag zu einem komplexen Problem. Leider wird Geschichte nur allzu häufig als "Steinbruch" benutzt. Nicht die Wahrheit bzw. historische Wirklichkeit interessiert, sondern man zieht (nur) diejenigen Fakten heran, die das gegenwärtige Anliegen stützen.

Eine frustrierende Erfahrung für jeden passionierten Historiker!

Bin gespannt auf die Fortsetzung!

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