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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Northfield und dem Labor Day?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit Northfield und dem Labor Day?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Der LABOR DAY  ist in den Vereinigten Staaten, Der „Tag der Arbeit“. Das ist seit 1894 einer der höchsten Feiertage der USA und markiert faktisch das offizielle Ende der Sommerferien.

1876 fand in dieser Woche in der kleinen Stadt Northfield (Minnesotag) ein Ereignis statt, dass die Stadtgeschichte bis heute geprägt hat.

Ich habe das an dieser Stelle schon einige Male erwähnt, weil meine eigene Biografie mit diesem Vorfall eng verknüpft ist.

Am 7. September 1876 ritten 8 Männer mit großen Hüten und langen Staubmänteln in die Division Street, die Hauptstraße, von Northfield. Man hielt sie in der kleinen Stadt für Viehaufkäufer aus den Südstaaten. Tatsächlich handelte es sich um die Räuberbande des Jesse James, die die „First National Bank“ der Stadt überfallen wollte.

Die Strategie der Bande war stets fast militärisch: Zunächst wurde die Lokalität sorgfältig erkundet. Dann schlug sie überraschend, blitzschnell und mit äußerster Härte zu, um Widerstand im Keim zu ersticken. Eine „Nachhut“ sicherte die Flucht. Das funktionierte jahrelang.

Die „First National Bank“ der wohlhabenden Kleinstadt Northfield in Minnesota befand sich im Besitz von zwei ehemaligen Nordstaatengenerälen, Adelbert Ames und Benjamin Butler. Ein klassisches James-Younger-Ziel. An jenem 7. September 1876 aber erlebte die James-Younger-Bande ein Desaster. Die Bürger von Northfield versteckten sich nicht. Sie gingen nicht in Deckung, sondern leisteten von der ersten Minute an erbitterten Widerstand. Heute spricht man von der „letzten Schlacht des Bürgerkrieges“. Die gefürchteten Banditen wurden auf der Hauptstraße regelrecht in Stücke geschossen.

In der Bank weigerte sich der Kassierer, Joseph Lee Heywood, standhaft den Safe zu öffnen. Er wurde kaltblütig ermordet. Heute ist man sicher, dass Frank James die tödlichen Schüsse abgab.
Zwei der Banditen, Clell Miller und William Chadwell, starben auf der Straße. Die anderen Banditen entkamen ohne Beute, aber alle waren verletzt. Als Jesse James nach seiner Ermordung obduziert wurde, fand man eine Kugel aus einem Northfielder Gewehr in seinem Bein.

Ein Aufgebot von fast 1.000 Mann durchkämmte ganz Minnesota. Frank und Jesse James setzten sich rechtzeitig ab, tauchten in Tennessee unter und lebten eine Weile versteckt in Nashville. Die Youngers und Charlie Pitts wurden in einem Waldstück bei Madelia gestellt und niedergekämpft. Pitts wurde getötet.

Cole, Bob und Jim Younger wurden vor Gericht gestellt. Sie entgingen dem Galgen, weil sie sich schuldig bekannten. Sie erhielten eine lebenslange Strafe. Mehrfach wurde Cole Younger aufgefordert, den Mörder des Kassierers Heywood in Northfield zu nennen, um eher begnadigt zu werden. Er schwieg und schrieb: „I’m faithful unto death.“ (Ich bin treu bis in den Tod) Auch das war ein Indiz dafür, das Frank James der Mörder war; denn beide Männer waren eng befreundet. Cole Younger trug auf diese Weise dazu bei, dass Frank James nach der Ermordung von Jesse vollständig begnadigt wurde und ein Leben in Freiheit führen konnte.

Bob Younger starb nach 15 Jahren im Zuchthaus an Tuberkulose. Jim und Cole wurden am 10. Juli 1901 begnadigt. Im Oktober 1902 beging Jim Younger in einem Hotelzimmer in St. Paul Selbstmord, weil die Behörden ihm die Heirat verweigerten.

Cole Younger schrieb seine Memoiren und stellte sich als letzter konföderierter Kämpfer dar, nicht als Bandit. Er schrieb, nur, dass der Northfield-Überfall ein Fehler gewesen sei. 1903 gründete er zusammen mit Frank James eine Wild-West-Show. Sie tourten durch die Südstaaten. In öffentlichen Vorträgen predigte er ein gesetzestreues, gottgefälliges Leben.

Am 21. März 1916 starb Cole Younger in Lee’s Summit (Missouri). Anderthalb Jahre vor ihm, 1915, war Frank James gestorben.

1948 – vor 74 Jahren – entschieden die Bürger von Northfield, zum Gedenken an ihre tapferen Väter und Großväter dieses bedeutende, blutige Ereignis ihrer Stadtgeschichte am Original-Schauplatz wieder aufzuführen. Denn es gibt die Division Street und die „First National Bank“ bis heute. Damit verwandelt sich die kleine Universitätsstadt in der Woche nach Labor Day zu einem Hotspot in Minnesota. Mindestens 100.000 Menschen strömen Anfang September hier zusammen. Riesige Polizeiaufgebote sichern die überfüllten Straßen. Ein großes Rodeo und ein Jahrmarkt gehören zum Programm dieses Ereignisses. Den Höhepunkt aber bilden die Vorführungen des Bankraubs und der „Defeat of Jesse James“ – die „Niederlage des Jesse James“.

Es gibt eine Gedenkfeier auf dem Friedhof am Grab des Kassierers Joseph Lee Heywood. Dann wird Geschichte lebendig. 8 Männer in langen Staubmänteln reiten vom Cannon River kommend in die Division Street. Clell Miller und Cole Younger bilden die Vorhut. Sie binden ihre Pferde vor der Bank an. Drei weitere Banditen entern die Straße vom anderen Ende und schlendern zu Fuß, die Passanten freundlich grüßend, den Bürgersteig hinunter zur Bank und treten ein. Vor der Tür nimmt Clell Miller Aufstellung. Ein mißtrauischer Bürger, J. S. Allen, hat den Vorgang beobachtet und geht den Banditen nach. Er wird von Clell Miller aufgehalten. Der Mann dreht sich um und schreit die Worte: „Get your guns, boys, they are robbing the bank!“ (Zu den Waffen, Jungs, sie berauben die Bank!) Danach bricht auf der Hauptstraße die Hölle los.

Augenzeugen berichteten später, dass die Detonationen von Hunderten von Schüssen die Gebäude zum Zittern brachten. Pulverdampfschwaden trieben wie stinkender Nebel durch die Stadt. Das Reenactment läuft mit größter Präzision ab. Unkalkulierbar ist nur gelegentlich die Reaktion der Pferde. Der Realismus dieser Aufführung ist so groß, dass es immer wieder Verletzte gibt. Innerhalb 7 bis 9 Minuten ist alles vorbei. Genau wie es 1876 war.

2004 wurde ich auf Initiative eines alten Freundes – des weltberühmten Colt-Buch-Autors R. L. Wilson – nach Northfield eingeladen, um an dieser Aufführung teilzunehmen. Ich wurde vom damaligen Chef der Gang – Chip DeMann – zum einzigen nichtamerikanischen „Life-Member“ (Mitglied auf Lebenszeit) gemacht. Ich schlüpfte in die Rolle des Clell Miller, der den Kampf vor der Bank eröffnete, und habe bis 2012 insgesamt 25mal an dem Reenactment teilgenommen. 25mal bin ich mit den anderen Bandenmitgliedern in die Stadt geritten, habe die Tür der Bank bewacht, mich mit dem neugierigen J. S. Allen geprügelt, der dann den Alarm auslöste, und wurde letztlich aus dem Sattel geschossen. (Einmal durfte mein Freund Thomas Ostwald teilnehmen. Es war ein historischer Moment, dass 2 Deutsche in den Hauptrollen dabei waren.)

Diese Aufführungen gehören zu den besten Erinnerungen meines Lebens. Wir wurden in Rundfunkinterviews und im amerikanischen Fernsehen gefeiert.

Ich denke heute noch immer an die wunderbaren Freunde in dieser Gang, an den Enthusiasmus, der uns begleitete, wenn wir aus unserem Lager in einem Wäldchen am Rande der Stadt aufbrachen und über die Cannon-River-Brücke ritten, um vor Tausenden von Zuschauern Geschichte aufleben zu lassen.

Das große Magazin „TRUE WEST“ hat uns mehrfach mit dem Preis „Best of the West“ als bestes Reenactment der USA ausgezeichnet. Ich bin sehr stolz, dabei gewesen und mit Jesse James geritten zu sein. Ich poste hier ausschließlich Fotos des Reenactments, um die großartige Leistung der Männer von Northfield darzustellen.

Alles Gute, beste Wünsche und viel Glück nach Northfield. Hoffentlich wird niemand verletzt.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2020Die kommende Ausgabe

 

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