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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie ist das mit den Geisterstädten?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie ist das mit den Geisterstädten?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler werden wir diese Beiträge im Zauberspiegel übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Amerikanische Geisterstädte mögen tot oder halbtot sein, für bestimmte Phasen der wilden Pionierzeit sind sie aber äußerst lebendige Zeugnisse. Das, was uns heute als Geisterstadt begegnet – wenn man sich in den abgeschiedenen Gegenden des amerikanischen Westens herumtreibt – waren irgendwann einmal Siedlungen, die von explosivem Leben erfüllt waren. Meist handelt es sich um ehemalige Gold- und Silberregionen, die über Nacht durch große Erzfunde geboren wurden. Nachdem die Reichtümer im Boden oder Flüssen erschöpft waren, wurden sie ebenso schnell wieder verlassen.

Bevor ich begann, Reisegruppen zu führen, bin ich häufig in die entlegensten Gegenden des Westens gefahren, über Feldwege, Rough Roads und Schotterstrecken. Daraus entstand irgendwann mein Buch GEISTERSTÄDTE IM AMERIKANISCHEN WESTEN (Ein Führer zu verlassenen Orten - Geisterstädte im amerikanischen Westen), in dem ich ca. 30 dieser Plätze beschrieben habe. Um die 100 habe ich wohl im Laufe der Jahre besucht.

Manche dieser Orte sind vollständig verlassen; hier gibt es allenfalls noch Fundamente von Hütten und heruntergekommene Friedhöfe. In anderen stehen noch ein paar windschiefe Bretterbuden oder Ruinen von Häusern, und wieder andere haben sogar noch eine Handvoll Bewohner – ein paar davon versuchen auch noch immer einige Krümmel Gold aus den Bächen zu holen oder aus dem Fels zu hacken.

Eines dieser seltsamen Nester, die ihre kurze wilde Boomzeit überlebt haben, ist Jarbidge in Nevada – Nevada dürfe der Staat mit den meisten verlassenen Siedlungsplätzen in ganz Nordamerika sein.

Der Weg nach Jarbidge führt 20 Meilen über eine unbefestigte Straße, auf die man sich bei schlechtem Wetter lieber nicht wagen sollte. Das Nest mit weniger als 100 Bewohnern – die Gott weiß wovon leben – wäre der Erwähnung nicht wert, wenn es hier nicht ein bemerkenswertes Ereignis der zu Ende gehenden Pionierzeit gegeben hätte.

Am 5. Dezember 1916, vor genau 102 Jahren, fand in der Nähe der letzte Postkutschenraub der USA statt.

Der Jarbidge Canyon ist wegen seiner rauhen Schönheit heute unter Naturschutz. Vor 102 Jahren führte hier die noch heute holprige Wagenstraße hindurch. Auf diesem Weg rollte einmal wöchentlich die kleine Kutsche, die die Lohngelder für die Minenarbeiter von der Bahnstation Rogerson im benachbarten Iowa nach Jarbidge transportierte.

Am Abend des 5. Dezember 1916 lag Schnee. Der Kutscher Fred Searcy lenkte sein Gespann in der Dunkelheit durch den Canyon, als plötzlich zwei finstere Gestalten aus dem seitlichen Buschwerk auf den rollenden Wagen sprangen. Einer schoß Searce eine Kugel in den Kopf.

Die Räuber erbeuteten rd. 4.000 Dollar Lohngelder (gut 50.000 Dollar nach heutiger Kaufkraft).

Als der Transport die Stadt nicht zur gewohnten Zeit erreichte, machte sich ein Suchtrup auf den Weg und entdeckte das Gespann und den toten Kutscher. Ferner wurde ein langer schwarzer Mantel gefunden.

Sehr schnell wurde festgestellt, daß nur ein Mann in der Umgebung einen solchen Mantel getragen hatte – Ben Kuhl, ein Landstreicher, der sich mit allen möglichen Hilfsarbeiten über Wasser hielt und eine lange Liste von Straftaten, auch einige Gefängnisaufenthalte, vorzuweisen hatte. Er wurde zusammen mit zwei Freunden – Ed Beck und William McGraw – verhaftet. Der Sheriff fand einen 44er Revolver bei ihm, wahrscheinlich die Mordwaffe.

Die drei Männer wurden in die nächstgrößere Stadt, Elko, transportiert, wo sich das Gericht befand.

Erst im September 1917 fand der Prozeß statt. Ben Kuhl behauptete, sich zur Zeit des Überfalls in einem Saloon in Jarbidge aufgehalten zu haben. Zeugen bewiesen aber, daß er den Saloon für eine Stunde verlassen hatte. Ferner fand man in der Kutsche einen Briefumschlag mit einem blutigen Fingerabdruck. Es war das erstemal, daß vor einem amerikanischen Gericht ein Fingerabdruck zum Beweismittel wurde. Er stimmte mit Kuhls Fingern überein.

Ed Beck gedachte, seine Haut zu retten und legte ein Geständnis ab. Er erklärte, dass Kuhl den Kutscher ermordet hatte.

McGraw wurde als Mitwisser und Helfer zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Ed Beck saß 6 Jahre hinter Gittern. Ben Kuhl wurde zum Tode verurteilt. Er erhielt die freie Wahl, sich aufhängen oder erschießen zu lassen; er wählte das Erschießungskommando.

Dazu kam es nicht. Sein Anwalt legte Berufung ein, und Kuhl wurde zu lebenslanger Haft begnadigt.

Kuhl wurde ins Staatszuchthaus von Carson City eingeliefert, wo er 28 Jahre verblieb – die längste Strafe, die je ein Häftling in Nevada verbüßte. Er wurde im Mai 1945 entlassen und starb wenige Monate später an Tuberkulose oder Lungenentzündung entweder in San Francisco oder Sacramento – der letzte Kutschenräuber der amerikanischen Geschichte.

Die Beute wurde niemals gefunden. Vermutlich hatte Kuhl sie im Jarbidge Canyon versteckt. Wo, das verriet er nie. Sie wird noch immer dort liegen…

Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, März 2019Die kommende Ausgabe

 

 

 

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