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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit den Mormonen?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit den Mormonen?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler werden wir diese Beiträge im Zauberspiegel übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Am 6. April vor 188 Jahren trafen sich auf der Blockhaus-Farm von Peter Whitmer im Fayette Township im Staat New York etwa 50 Menschen, die vom starken Glauben an eine neue christliche Erweckung beseelt waren. Geleitet wurde dieses Treffen von dem gerade 15jährigen Joseph Smith, einem Farmersohn aus Vermont.

Die Versammelten waren überzeugt, daß der junge Mann von Gott persönlich gesandt war. An diesem Tag gründete Joseph Smith offiziell die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, allgemein „Mormonen“ genannt.

In unserer säkularisierten Zeit kaum noch nachvollziehbar, war die Überzeugung, daß Gott auserwählte Menschen als persönliche Boten auf die Erde schickte, in jenen Tagen weit verbreitet. (Dieser Glaube ist auch in unserer Zeit noch nicht vergangen, aber hat nie wieder derartige Wirkungen entfaltet wie noch im frühen 19. Jahrhundert.)

Jene Zeit war in Nordamerika durch schwere Wirtschaftskrisen gekennzeichnet. Es gab vielfach Hunger, Not, wirtschaftliche Unsicherheit, Existenzängste, Furcht vor der Zukunft und kein Vertrauen in irdische Lösungen.

Derartige Phasen existenzieller Veränderungen und Unsicherheiten stellen immer einen fruchtbaren Boden für vorgebliche Heilsbringer dar. Diese können politisch aber auch spirituell motiviert sein. In jedem Fall sind sie für ihre Anhänger die Vertretung einer höheren Macht, die Rettung vor dem Übel auf Erden verspricht. In den 1820er und 1830er Jahren gab es eine Reihe von derartigen Erscheinungen in Nordamerika – keine dieser Bewegungen war besonders langlebig.

Joseph Smith sollte sich als Ausnahme erweisen.

Schon als Achtjähriger hatte er im engsten Familienkreis und bei Freunden erzählt, daß er Engelserscheinungen gehabt habe. Ein Engel namens Moroni sei ihm im Wald begegnet und habe ihm in einer Höhle seit 1.500 Jahren verschollene goldene Platten gezeigt, auf denen in hebräischer Schrift das vergessene Evangelium des Propheten Mormon eingraviert war. Mormon erzählte die Geschichte der verlorenen Stämme Israels, die auf der Flucht aus Ägypten in die Neue Welt gelangt waren.

Die These, wonach die amerikanischen Indianerstämme auf die verlorenen Stämme Israels zurückgingen, war nicht neu. Der Glaube daran war im 19. Jh. weithin anerkannt. Die Art, wie Joseph Smith seine Erkenntnisse verbreitete, entwickelte jedoch eine unglaubliche Attraktivität. Moroni befähigte Smith, die hebräischen Schriftzeichen zu lesen. Innerhalb von 6 Jahren diktierte er den Inhalt einem Freund, der ihn niederschrieb, und er begann, seine Lehre zu verkünden. Die Entwicklung im Einzelnen darzulegen, würde hier zu weit führen. Bald glaubten nicht nur Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn, daß Gott selbst aus dem Mund des Jungen sprach. Seine Gemeinde wuchs beständig. Im März 1830 finanzierte Peter Whitmer den Druck des „Buches Mormon“, das die Texte enthielt, die Smith den goldenen Tafeln entnommen hatte. Es fand für 1.25 Dollar reißenden Absatz und ist bis heute neben der Bibel die geistige Grundlage der Mormonen. Auch ein junger Zimmermann namens Brigham Young las diese Schrift und schloß sich sofort der neuen Bewegung an.

Auf der Gründungsversammlung am 6. April 1830 wurde Joseph Smith zum „Propheten“ gewählt. Ein Vorstand aus „Ältesten“ wurde installiert. Die ersten Missionare schwärmten aus. Die Dynamik, die die Mormonen-Lehre entfaltete, ist mit wenigen Sätzen kaum zu umreißen.

Smith wurde in vielen Orten als „Unruhestifter“ verhaftet. Er wurde aus einigen Gemeinden gewaltsam verjagt. Aber er ließ sich nicht beirren und war nicht aufzuhalten. Die Mormonen-Bewegung wuchs atemberaubend schnell. Sie breitete sich zunehmend Richtung Westen aus. Ohio, Missouri, Illinois wurden zu Gebieten, in denen die Smith-Missionare mit besonderem Erfolg tätig waren. Frühzeitig reisten Smith-Jünger auch nach Europa und warben um weitere Anhänger, organisierten deren Auswanderung in die USA.

Mit der wachsenden Anhängerschaft, wuchsen auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten der neuen Religionsgemeinschaft. Trotz seiner Jugend erwies Smith sich als brillanter Organisator, der es verstand, die entstehende Kirche auf eine feste Grundlage zu stellen.

Die ebenfalls wachsende Feindseligkeit seitens anderer Religionsgemeinschaften trug zum festen Zusammenhalt der „Latter Day Saints“ bei. Der fast sprichwörtliche Fleiß der Mormonengemeinden führte zu beachtlichem wirtschaftlichem Erfolg, was den Neid ihrer Nachbarn auslöste. Der wachsende Zulauf an Mitgliedern machte die Mormonen auch zu einer gesellschaftlichen Größe. 1838 kam es zu gewaltsamen Übergriffen gegen die „Heiligen“ in Missouri. Mormonen wurden erschlagen und von ihren Farmen vertrieben. Diese Ereignisse werden heute historisch als der „erste Mormonenkrieg“ bezeichnet. Er gipfelte darin, daß das Missouri-Staatsparlament die Mormonen aus Missouri verbannte und faktisch enteignete. Juristisch ein unglaublicher Akt gegen die Religionsfreiheit der amerikanischen Verfassung. Es sollten mehr als 150 Jahre vergehen, bis das Parlament von Missouri sich offiziell bei den „Latter Day Saints“ entschuldigte und die alte Parlamentsorder aufhob.

Die Mormonen flüchteten nach Illinois, wo sie erneut eine florierende Kolonie gründeten. 1839/40 entstand die Gemeinde Nauvoo, die schnell zu einer der prosperierendsten und größten Siedlungen des Staates heranwuchs. Eingedenk der ständigen Bedrohungen durch Gegner seiner Bewegung, schuf Smith eine eigene Miliztruppe.

Die Gegnerschaft wuchs, als Smith aufgrund einer „göttlichen Eingebung“ verkündete, daß den Mormonen die Polygamie, die Vielehe, erlaubt sei – ein Tabubruch im puritanischen Nordamerika. (1857 führte das Beharren auf der Polygamie zum zweiten Mormonenkrieg, der allerdings ohne Gewalttätigkeiten beendet wurde. Die Mormonen gaben aber erst 1890 dem Druck der US-Regierung nach und verboten die Vielehe.)

Als Smith 1844 eine Kandidatur für die amerikanische Präsidentschaft ankündigte, kam es zu erneuten gewaltsamen Ausschreitungen gegen seine Kirche. Am 27. Juni 1844, als er und sein Bruder unter einem Vorwand verhaftet worden waren, stürmte ein Mob das Gefängnis in der Kleinstadt Carthage in Illinois und ermordete die Brüder.

In dieser Situation, als die Kirche scheinbar vor dem Zusammenbruch stand, wurde der charismatische Redner Brigham Young als neuer „Prophet“ an die Spitze der Mormonen gewählt. Er wurde zu ihrem „Moses“, der 1847 den „Exodus“ ins „neue Zion“ anführte. Mit Handkarren zogen Zehntausende durch die großen Ebenen und Rocky Mountains nach Westen und gründeten am Großen Salzsee im heutigen Staat Utah ihre neue Kolonie. Salt Lake City ist bis heute das Zentrum der Mormonenkirche, die durch den Tod ihres Gründers nicht am Ende war, sondern im Gegenteil einen neuen Aufschwung erlebte.

Es ist in einer kurzen historischen Skizze unmöglich, die komplexe Geschichte der Mormonen zu behandeln, in der es atemberaubende Erfolge, aber auch grauenvolle Fehlentscheidungen, Verfolgung, aber auch fanatische religiöse Auswüchse seitens der Kirche gab. Einige Fakten jedoch sind unabweisbar:

  • Die Mormonen sind die einzige originäre amerikanische Kirchengründung (alle anderen Religionsgemeinschaften sind aus Europa beeinflußt gewesen).
  • Der Zug der Mormonen nach Westen gehört zu den bedeutendsten Unternehmen der Besiedelung Nordamerikas und zu den größten Pionierleistungen.
  • Die von dem 15jährigen Joseph Smith vor 188 Jahren ins Leben gerufene Bewegung hat heute mehr als 15 Millionen Anhänger in aller Welt – hinzu kommen noch einmal 1 Million Anhänger einer abgespaltenen Mormonenbewegung. Sie wächst beständig, vor allem in Asien und Afrika. In den USA gibt es ca. 6 Millionen Mormonen, so daß die Anhängerschaft inzwischen weltweit die amerikanische Kirche übertrifft.

Trotz ihrer enormen Aufbauleistung in Utah werden die Mormonen in der heutigen amerikanischen Gesellschaft mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet.

Meine Bilder zeigen Joseph Smith und sein Haus in Nauvoo (Illinois), ferner Szenen aus Salt Lake City, u. a. den Tempel, an dem rd. 50 Jahre gebaut wurde und der heute das spirituelle Zentrum der Mormonen weltweit darstellt, den Tabernakel, dessen Chor weltweit berühmt ist und der wöchentlich eine der ältesten Radio- und Fernsehsendungen der Welt produziert, und das gewaltige Verwaltungszentrum der Kirche, sowie Brigham Young und sein „Löwenhaus“ in Salt Lake City. Ferner ein Denkmal für den Handkarrentreck, der zu den Pionierlegenden Amerikas gehört.

Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, März 2018Die aktuelle Ausgabe

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