Ein Schiffsjunge geht von Bord - Eine Geschichte über Auswanderung
Ein Schiffsjunge geht von Bord
Eine Geschichte über Auswanderung
In der kleinen mittelhessischen Stadt Homberg/Efze war seit vielen Jahren eine Familie beheimatet, die als Schuhmacher ihr Geld verdienten. Zumindest ging man davon aus, dass es sich um eine "alteingesessene Familie" handelte. Schließlich stellte sich heraus, dass erst zur Wende des 17. zum 18. Jahrhundert ein Hauff nach Homberg gezogen war.
Was das mit dem Auswanderer zu tun hat? Viel, denn dieser Hauff war der Vater des Mannes, um den es in der folgenden Geschichte gehen soll.
, Sohn des Schuhmachermeisters Ägidius Hauff, war 1816 in Cassel geboren worden. Dieses Cassel, natürlich handelt es sich dabei um das nordhessische Kassel, stand damals unter französischer Verwaltung. In dieser Zeit war Kurhessen in den Französisch-preußischen Krieg hineingezogen worden. Der damalige hessische Kurfürst Wilhelm I. hatte - offiziell neutral - Preußen ein Durchmarschrecht gen Westen eingeräumt. Darüber nicht erfreut, hatte Napoleon im Oktober 1806 Kurhessen mit seiner Hauptstadt Cassel durch französische Truppen besetzen lassen. Erst 1813 konnte Wilhelm I. in sein Kurfürstentum zurückkehren.
Vermutlich war es die Gesellenwanderschaft gewesen, die den "alten" Hauff von Saarmund aus nach Zerbst, und seinen Sohn Ägidius dann weiter ins Hessische geführt hatte. Warum gerade hierher? Dies ist unbekannt.Conroe 3. August 1910.
H. Hauff. Werther Herr!
(...) Für die letzten 20 Jahre versuchte ich etwas bestimmtes erforschen über meines Fathers Verwandten, Brüder oder Schwestern, finde es jedoch schwiegerich, da mein Father nie mit uns von seinen Verwandten sprach, dem gemäß erfuhr ich nie seinen Father vollen Name.
Ihr werthes Schreiben klärte die Sache etwas auf, indem ich mich erinnere, daß er mir einst sagte, daß seine Verwandten in Zerbst lebten, aber daß er in Cassel geboren war und er schrieb in unser Familien-Register: J. Friedrich Hauff geb. in Cassel 1816 (ich kann den Monat nicht angeben, da ich das Familien-Register nicht zur Hand habe), er bemerkte, daß Cassel damals unter französischer Regierung war.
Hier ist was er mir mitteilte, ich war damals 12 Jahre alt, er sagte, daß er der jüngste Sohn war, wenn seine Mutter starb und ungefähr 7 Jahre alt war, und daß als sein Father wiederheiratete, sein Onkel (aber er sagte nicht welcher) nahm ihn dann auf ein Kauffartei Schiff, auf welchem er 7 Jahre war und danach in New York landete.
Demgemäß war er dann 14 Jahre alt, auch sagte er mir, daß er einen Bruder namens Johann Heinrich Hauff hier in Amerika hätte, hätte jedoch für lange Zeit nichts von Ihm gehört. (...)
In der Hoffnung auf baldige Antwort grüßt freundlich
I.F. Hauff, Conroe, Montgomery Crantz, Texas
Die Geschichte, die sich aus diesen wenigen Worten ergibt, lässt zwischen den Zeilen mehr erahnen als wissen, welches Schicksal dieser hinter sich hatte.
Als Halbwaise, die Mutter war zu einem unbekannten Datum gestorben, war er bei einer erneuten Heirat des Vaters 1811 offenbar im Weg gewesen. Das Geburtsdatum 1816 kann - da sein Vater Ägidius 1811 zum zweiten Mal heiratete und 1815 bereits starb, nicht ganz stimmen, außerden war Kurhessen 1816 schon seit drei Jahren nicht mehr von Frankreich aus regiert. Am 10. Dezember 1807 war Napoleons jüngster Bruder Jerôme Bonaparte als König von Westphalen in Kassel eingezogen. Statt "Schloss Wilhelmshöhe" hieß es bis 1813 "Napoleonshöhe".
Johann Friedrich war also mit knapp 7 Jahren als Halbwaise auf einem Handelsschiff in Dienst gegeben worden. Wie es scheint, wurde dies durch den Vater und einen Onkel veranlaßt. Dies lässt auf ein Geburtsdatum etwa 1805 schließen.
Das Leben als Schiffsjunge war alles andere als jenes "große Abenteuer", von dem viele Söhne bürgerlicher Familien träumten (z.B. war Ringelnatz so fasziniert von der Arbeit an Bord eines Schiffs, dass er sich von seinen Eltern die Erlaubnis holte, als Schiffsjunge arbeiten zu dürfen). Weiter unten ist die Abbildung eines der beliebten Abenteuerromane um einen Jungen als Schiffsjungen zu sehen.Schiffsjungen waren "Knaben von 913 Jahren, welche die geringfügigen Dienste am Bord verrichten u. dabei das Seewesen erlernen"2.
Die Berufskarriere der höheren Dienstränge an Bord von Kriegs- oder Handelsschiffen begann in der Regel mit dem Dienst als Schiffsjunge. Da Kinderarbeit in dieser Zeit völlig normal war, störte sich niemand an dieser Praxis. Wenn ein Junge im Alter von ca. 7-9 Jahren an Bord eines Seglers ging, hatte er vielleicht bereits eine "Arbeitskarriere" von mehreren Jahren hinter sich gehabt. Als Dienstboten oder Hilfskräfte wurden sie in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt - vor allem natürlich dort, wo es darauf ankam klein, flink und/oder schlank zu sein. Man denke nur an die Schicksale der Schornsteinfegerkinder oder der Kinder in Minen.
Brockhaus beschreibt die beruflichen Möglichkeiten und Wege eines Schiffsjungen (ca. 1890)3:
(...)Schiffsjunge, der Lehrling auf Schiffen, der Seemann werden will. Seine Lehrzeit dauert in der Handelsmarine je nach der körperlichen Entwicklung und fachmännischen Auffassung 23 Jahre. Er wird dann zum Leichtmatrosen oder Jungmann (s. d.) befördert und kann gewöhnlich nach vierjähriger Seefahrtzeit den Dienst eines Vollmatrosen versehen, um, wenn er die nötige Vorbildung besitzt, nach Besuch der Navigationsschule (s. d.) und Bestehen der vorgeschriebenen Prüfungen es zum Steuermann und Schiffer zu bringen. In der deutschen Kriegsmarine hat man Schiffsjungenabteilungen, denen die S. drei Jahre angehören, während sie auf besondern Schiffsjungenschulschiffen (s. Schulschiffe) praktisch wie theoretisch so weit ausgebildet werden, daß sie nach dreijähriger Matrosenzeit zu Unteroffizieren und später
Schiffsjungen bedienten die höheren Ränge, schrubbten, putzten, man schickte sie in der Regel hinauf in die Takelage und den Ausguck, da teilweise die Matrosen bereits zu schwer für die Körbe dort oben waren.Nachdem der Knabe mit entschlossener Hand die schwachen Bande, welche ihn an sein Geburtsland geknüpft hielten, zerrissen hatte, gehörte er dem erkorenen Berufe mit Leib und Leben an. Hierdurch gewöhnte er sich, immer Dasjenige, was er war, auch ganz zu sein, und erlangte auf solche Weise über die Alltagsmenschen, welche sich nie einer Sache völlig zu widmen pflegen, eine gewisse Ueberlegenheit. Zurück konnte und mochte er nicht. Daher mußte er suchen vorwärts zu kommen, um es wenigstens, gleich seinem Vater, zum Kapitän zu bringen. Zwar ging es auch jetzt nicht ganz ohne Schläge ab, denn ein Schiffsjunge wird nun einmal von seinen meist rauhen Vorgesetzten nicht mit Glaeehandschuhen angefaßt. Allein er erwarb sich bald durch unermüdliche Dienstfertigkeit die Gunst des Kapitäns und der Steuerleute, während seine Kameraden, die sein Eifer schnell überflügelte, ihn eben deshalb für einen Schmeichler und Duckmäuser hielten.
Für eine ganze Reihe von Jahren ist der Lebensweg von Johann Friedrich Hauff derzeit nicht nachzuverfolgen. Er ist offenbar nie "offiziell" in die USA eingewandert, es scheint keine Naturalization-Records für ihn zu geben. Zwar tauchen in den verschiedensten Listen Männer mit dem Namen Hauff oder Haff auf, so zum Beispiel in den Unterlagen der Soldaten, die im amerikanischen Bürgerkrieg auf beiden Seiten kämpften, aber keiner der Hinweise auf eine familiäre Beziehung zu Johann Friedrich Hauff ist deutlich genug, um anzunehmen, dass es sich um ihn handeln könnte.
Erst 1860 taucht Johann Friedrich nachgewiesen erstmals wieder auf - als Möbelschreiner in einer Stadt in Pennsylvania namens Quincy im County Franklin. Dieses Quincy gehört zu einer jener Regionen in Pennsylvania, in denen zahlreiche deutsche Auswanderer lebten - die Pennsylvanian Dutch (siehe hierzu auch den Artikel über die Pennsylvanian Dutch und Weihnachten in den USA). Er arbeitet bei einem Schreiner namens Daniel Foreman offensichtlich als Angestellter. Warum er gerade nach Quincy ging ist nicht klar.The first settlers were a hardy and industrious class of men, who came principally from Germany, or from other districts of this country settled by the Germans. They had no lofty affixes or suffixes to their names. There were no Generals, Colonels (...) amongst them; and as they were plain and economical in their style of living having few luxuries (...) They were peaceably, and strictly honest in their dealings with their neighbors and fellow men. (...) They went in for the substantials of life. Their clothing was plain and comfortable, both in summer and in winter. (...) This township is very rich in iron ores and other minerals, and has in it some of the most productive farm lands in our county. The old residents say it was called after John Quincy Adams, the sixth President of the United States
In den Volkszählungsunterlagen von 1870 und 1880 werden sie interessanterweise als "Haff" aufgeführt, die Familie selbst behielt jedoch ihren Namen Hauff bei. In dem Census 1880 tauchen drei weitere Kinder auf, Lewis (10 Jahre), Michael (8 Jahre) und Gina (5 Jahre) (Name der Tochter kann nicht eindeutig gelesen werden). Elisabeth scheint zu dem Zeitpunkt bereits nicht mehr bei der Familie zu leben.
Der Brief aus den USA traf bei einem Urenkel des Vaters von Ägidius Hauff ein, jenem Vater, der seinen Sohn als Schiffsjunge in Dienst gegeben hatte. Johann Heinrich Hauff, der Empfänger des Briefes, stammte von Konrad Hauff ab, einem Sohn aus der genannten 2. Ehe. Wie viele seiner Vorväter war er Schuhmachermeister. Er lebte in jenem mittelhessischen Homberg. Durch die Ahnenforschung einer Nachfahrin von Johann Heinrich aus Homberg wurde diese Geschichte erzählt.
1 Der Brief befand sich im Privatbesitz von A. Strube, geb. Wieland, einer Nachfahrin des Empfänger des Briefes und veröffentlichte den Text in einer Ahnenliste in ihren Veröffentlichungen.
2 Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 180
- Junge im Schwalbennest: Jules Verne: Ausgabe Leipzig 1875 von Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Julius Verne.
- Familienfotos: persönl. Besitz der Autorin
- Bark: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, Leipzig 1911
- Stadtansicht Kassel: Merian, Topographia Hassiae, 1655, Nachdruck 1966
- Census-Unterlage: frei verfügbare Einsicht, USA-Archive
- County Franklin: www.rootsweb.ancestry.com



