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Bd. 9 - Das Haus der Geisterfrau

                                                          Das Haus der Geisterfrau                                                   You’ve been misled

                                                          By the thoughts in your head

                                                          Entangled with your dark endeavor

                                                          Your angels tread

                                                          With your own malady

                                                          For as long as you know

                                                          And forever in god you depend

                                                          When it comes to the end

                                                          Such a long way to go

(Glenn Hughes “The Valiant Denial”)

1. Kapitel:

Ein verwirrter alter Mann


 


14. März 1994…

Manche Leute waren wirklich zu dumm. Henrik Anschildt musste unwillkürlich grinsen. Ach, wenn es doch immer so einfach wäre.

Wer immer hier auch wohnte, diese Personen waren sehr nachlässig. Ein Fenster im Erdgeschoss auf Kipp zu stellen war wirklich ein Fehler, der nach einer Strafe schrie. Und er, Henrik, war der geeignete Mann dafür, diesen Leuten ein gerechtes Urteil zu sprechen.

Es war für den geübten Mann ein Leichtes, das Fenster zu öffnen. Er musste es nicht einmal aushebeln noch irgendwie Gewalt anwenden. Schon nach wenigen Augenblicken konnte er das Fenster langsam und leise nach innen drücken. Das war ja wirklich zu leicht.

Er blickte sich noch einmal um. Das Haus befand sich etwas abseits der Strasse, ein einfaches Fachwerkhaus mit zwei Stockwerken. Nun, in das obere Stockwerk würde er nicht eindringen. Möglicherweise konnte er sich dadurch auch in eine etwas prekäre Situation bringen, sollten die Hausbesitzer überraschend wach werden. Er war erfahren genug, so etwas nicht zu tun. Im Erdgeschoss würde er genügend finden, was sich zu Stehlen lohnte.

Diese einsamen Häuser waren wirklich immer eine lohnende Sache. Henrik hielt sich nicht oft in dieser Gegend auf. Überhaupt wechselte er oft das Gebiet, in dem er tätig war. Ortswechsel waren eine Sicherheit. So etwas durfte man nicht unterschätzen. Er hatte all die Jahre auch deshalb überlebt, weil die Polizei ihn nicht ausfindig konnte. Und wenn es zu heiß wurde, dann setzte er sich für eine Zeit ganz ab. Er verdiente mit seinen kleinen Beutezügen genug, um sich auch einige Zeit ohne Tätigkeit über Wasser halten zu können.

Der Fenstersims war nicht sonderlich hoch. Henrik war schlank und drahtig. Sein Körper war gut trainiert. Mit einem Satz sprang er auf das Fensterbrett. Durch die Tunschuhe mit den weichen Sohlen verursachte er fast kein Geräusch.

In dem schwachen Mondlicht konnte er erkennen, dass hinter der Fensteröffnung nichts war, gegen das er stoßen konnte. Also stieg er langsam herunter. So leise wie möglich lehnte er das Fenster wieder an. Er fummelte in seiner dicken, aber leichten Jacke herum und holte eine kleine Taschenlampe hervor. Er konnte den Durchmesser des Lichtkegels variieren. So etwas reichte im Regelfall.

Er befand sich in einem schmalen Wohnraum, der nur eine spartanische Einrichtung besaß. Offenbar legten die Besitzer wenig Wert auf eine warme, wohnliche Atmosphäre. Sehr schnell hatte er mit seinem Licht den klobigen Wandschrank ausgemacht. Dort würde seine Suche beginnen.

Es wurde ihm wirklich leicht gemacht. Obwohl der Raum nicht sonderlich breit war, standen die Sessel und der Tisch so, dass viel Freiraum dazwischen war. Er brauchte kaum zu fürchten, dass er mit einem Gegenstand in Kontakt kam.

Die erste Schublade, die er öffnete, enthielt nur Nähzeug. Das war nicht wirklich lohnend. Auch die weiteren Schubladen enthielten nichts, was sich in irgendeiner Form gewinnbringend absetzen ließ. Überall befanden sich nur nützliche Dinge für den Haushalt, nichts von Wert. Auf dem Schrank standen einige verzierte, leere Vasen, sowie ein bisschen Kitsch. Auch die von ihm geöffneten Klappen enthielten nichts für ihn Sinnvolles. Na toll! Ein Wohnzimmerschrank, in dem keine wertvollen Gegenstände aufbewahrt wurden.

Es war vermutlich nutzlos, diesen Raum noch weiter durchsuchen zu wollen. Hier verplemperte er nur seine kostbare Zeit. So wandte Henrik sich um und durchschritt leise das Zimmer, erreichte schon nach wenigen Augenblicken die Tür. Er löschte das Licht der Taschenlampe, als er die Klinke drückte. Das war sicherer, denn man konnte nie wissen, wer oder was sich hinter einer Tür verbarg. Das Risiko musste so klein wie möglich gehalten werden.

Es war dunkel hinter der Tür, die er langsam aufzog. Er trat zwei Schritte vor, dann knipste er die Taschenlampe wieder an. Er befand sich in einem recht grossen Vorraum, in den man auch nach dem Eintritt durch die Haustür gelangte. Das war wenig einladend für ihn, auch wenn es hier mehrere kleine Schränke gab. Nun, er würde natürlich kurz ihr Innenleben betrachten, aber grosse Hoffnungen hatte er nicht. Verdammt, musste er wirklich nach oben? Im Regelfall hatten die Leute dort ihre Schlafzimmer.

Henrik zuckte die Achseln und machte sich an sein Werk. Der erste kleine Schrank, der ihm gerade bis zur Hüfte reichte, enthielt Schuhe, männliche wie weibliche. Einige davon sahen recht teuer aus. Sollte er so rein gar nichts finden können, würde er eben diese nehmen. Vorläufig wollte er sich aber damit nicht belasten. Vielleicht gab es ja doch noch etwas Besseres zu holen.

Also auf zum nächsten Schrank. Der war immerhin so gross wie er. Im oberen Teil hatte er ein Sichtfenster, in dem einige Tassen und Teller standen. Der Einbrecher zog die Mundwinkel herunter. Das war ja wirklich nicht berauschend. Aber trotzdem öffnete einen Flügel der Schranktür. Geschirr diente gerade bei älteren Leuten häufig dazu, irgend welche wertvolleren Sachen zu deponieren. Vielleicht kam er ja doch noch an sein Ziel.

Er beugte sich etwas herab und leuchtete hinein. Es gab hier tatsächlich nur Geschirr zu bewundern. Hatten diese Leute denn wirklich Nichts zu bieten?

Er befand sich in dieser unglücklichen, gebeugten Stellung, als er plötzlich hinter sich ein Knacken vernahm. Da war jemand in seinem Rücken. Henrik riss entsetzt die Augen auf. Verdammt, er hatte Niemanden kommen gehört. Sein Oberkörper schoss regelrecht hoch und dann wirbelte er herum. In diesem Moment flammte das Deckenlicht auf.

Geblendet wankte er zurück und stiess gegen den Schrank. Das Geschirr schepperte leicht, fiel aber nicht. Verzweifelt kniff er die Augen zusammen. Er war von der Entwicklung völlig überrascht worden. Vage konnte er Jemanden recht nah vor sich sehen. Es war eine ältere Frau. Sie war gross und korpulent. Aus ihrem breiten Gesicht stachen hasserfüllte Augen.

„Was tun Sie hier?“ Die Stimme der Frau war schneidend und voller Wut. Henrik antwortete nicht, sondern versuchte sich zur Seite zu werfen, der drohenden Gefahr zu entkommen. Es gelang ihm jedoch nicht. Die Frau hatte etwas in der Hand, was wie ein metallener Kerzenständer aussah. Er kam nicht mehr zu einer kontrollierten Reaktion. Die Frau hatte immer noch den Überraschungseffekt auf ihrer Seite. Sie holte kurz aus und schlug wuchtig zu. Der Einbrecher wurde direkt an der Schläfe getroffen. Hart wurde er gegen den Schrank geworfen. Diesmal fielen diverse Teller und Tassen heraus und rasten scheppernd und klirrend zu Boden. Henrik machte einen Schritt, dann fiel er einfach nach vorn. Ungebremst knallte er auf den Boden, der nur mit einem dünnen Teppich ausgelegt war. Zu dem heftigen Schmerz in seiner Schläfe kam nun noch jener aus der Nase und von der Stirn.

Er stöhnte schwer, als er sich auf den Rücken quälte. Er war nahe daran, sein Bewusstsein zu verlieren. Verschwommen konnte er die Frau sehen, die sich über ihm aufbaute und erneut den Kerzenhalter schwang. Kurz nahm er auf dem unteren Treppenabsatz zum ersten Stock direkt neben dem Geschirrschrank eine weitere Gestalt wahr. Ein Mann, der mit hängenden Schultern regungslos zusah.

„Das wirst Du büssen!“ schrie die Frau und schlug zu. Verdammt, er starb für einen Einbruch, der nicht einmal etwas gebracht hätte. Dann sauste der schwere Kerzenhalter nieder direkt auf seinen Schädel. Alles Leben in ihm erlosch sofort.

 

***

 

Gegenwart…

Die Gestalt am Straßenrand tauchte plötzlich im Licht der Scheinwerfer auf. Der Mann stellte keine Gefahr dar, aber Mark Larsen trat unwillkürlich auf die Bremse. Der Wagen reagierte sofort, auch als er einen leichten Bogen fuhr, um erst gar nicht die Möglichkeit eines Unglücks entstehen zu lassen. Nur etwa fünfzehn Meter hinter dem Mann kam der BMW zum Stehen.

Mark atmete tief durch und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Unbekannte am Straßenrand regte sich kaum. Eine leichte Bewegung der Kleidung im Wind des späten Abends, ein langer Mantel, der sich ein wenig aufblähte. Das war alles was er erkennen konnte, in dem vagen Schein, der durch seine Rücklichter erzeugt wurde. Wer immer das auch war, er befand sich hier an einem Ort, der fernab jeglicher Besiedlung war. Eigentlich konnte es ihm egal sein, doch Mark war nicht der Typ, der einen solchen Menschen seinem Schicksal überlassen würde. Zumal der Mann älter zu sein schien. Vielleicht konnte er wirklich Hilfe gebrauchen.

Also setzte er sein Gefährt wieder in Gang und wendete. Es gab praktisch keinen Verkehr mehr um diese Zeit, immerhin war es nur noch eine Stunde bis Mitternacht. Er wäre selbst ja nicht mehr unterwegs, wenn er sich nicht so in seine Arbeit vertieft hätte. Ihm war dabei jegliches Zeitgefühl verloren gegangen. Langsam fuhr er auf den Mann zu, der nur da stand und auch jetzt, da die Lichter sich direkt auf ihn zu bewegten, kaum Regung zeigte. Etwa einen Meter vor ihm brachte Mark den Wagen zum Stehen.

Er konnte jetzt einen alten Mann erkennen, vielleicht so um die 70 Jahre. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und die wenigen Reste bildeten einen dünnen Kranz an den Seiten und am Hinterkopf. Das Bemerkenswerte an ihm war, dass er einen Bademantel trug. Seine immerhin mit Strümpfen überzogenen Füße steckten in einfachen Latschen. Er wirkte so, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen und auf dem Weg ins Bad. Wenn nicht diese Umgebung wäre...

Kurz entschlossen löste Mark den Gurt, öffnete die Tür und stieg aus dem Auto. Der Mann hatte auf die Scheinwerfer immer noch nicht reagiert, blickte stur nach vorn.

„Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?“ rief Mark ihm zu, doch der zeigte auch jetzt keine Regung, schien die Frage gar nicht gehört zu haben. An eine Antwort war überhaupt nicht zu denken.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu dem Mann hin zu gehen. Der späte Abend war lau, die Luft vielleicht ein bisschen zu schwül. In jedem Fall war eine Jacke nicht von Nöten. Mark ging die paar Schritte zu ihm hin und baute sich direkt vor dem Unbekannten auf. Der Mann war beinahe einen ganzen Kopf kleiner als er, zeigte aber immerhin eine Regung. Trübe Augen musterten ihn und wanderten langsam nach oben, bis sie direkt in die Seinen blickten. Dennoch schienen diese Augen nicht wirklich etwas zu sehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frage erübrigte sich eigentlich, denn es war klar, dass er diesen alten Mann nicht einfach so hier stehen lassen konnte.

„Ich muss nur kurz ausruhen, dann gehe ich weiter.“

Die Stimme war schwach, leise und brüchig. Mark war nicht sicher, ob er das, was er eben zur Antwort bekommen hatte, ernst nehmen konnte.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Ich muss noch Milch holen. Maria hat gesagt, dass keine Milch mehr im Haus ist.“

„Jetzt?!“

Im selben Moment, da er diese verblüffte Frage aus stieß, wurde er sich der Unsinnigkeit dieser Äußerung bewusst. Der Mann schien nicht wirklich Herr seiner Gedanken zu sein. Die Motivation dieses nächtlichen Spazierganges war geradezu absurd.

„Die Geschäfte haben doch jetzt geschlossen. Sie werden nirgendwo etwas kaufen können.“

„Ich gehe immer die Sachen holen, die wir brauchen. Und Maria braucht die Milch.“

Mark zog die Stirn in Falten. Es war offenbar sinnlos, diesem Mann etwas Vernünftiges mitzuteilen. Er hatte sich etwas in den Kopf gesetzt, von dem er nicht abzubringen war. Die ganze Situation war grotesk. Es war sicherlich das Beste, wenn er den Alten zur nächsten Ortschaft fuhr und ihn auf der Polizeiwache ablieferte. Möglich, dass sie ihn dort sogar kannten. Vielleicht wurde er auch längst vermisst. Auf keinen Fall konnte er ihn hier so zurück lassen.

Er streckte seine Hand vor und ergriff den Fremden am Arm. Wider Erwarten erfolgte keine Gegenreaktion. Also ging er noch einen Schritt weiter und zog den Mann sanft etwas näher zu sich heran. Wieder passierte Nichts.

„Ich werde Sie jetzt ein Stück mit mir nehmen. Sie können mir dann ja zeigen, wo Sie hin wollen.“

„Ja“, kam die tonlose Antwort. Immerhin, er schien verstanden zu haben, was Mark gesagt hatte. Das vereinfachte die Sache natürlich. Langsam führte er den Mann auf seinen Wagen zu. Der Alte liess es zu, ohne Murren, ohne sich zu wehren. Er war nicht schnell auf seinen Latschen, schien körperlich auch nicht zu mehr in der Lage zu sein. Mark führte ihn Schritt für Schritt zur Beifahrertür und öffnete diese mit der freien Hand.

„Bitte steigen Sie ein“, sagte er und erntete dafür einen verständnislosen Blick. Um seine Bitte zu unterstreichen, übte er leichten Druck auf den Mann in Richtung Türöffnung aus. Plötzlich schien dieser zu begreifen, was er tun sollte und leistete der Bitte Folge. Mark stützte ihn so lange, bis der Alte sicher im Sitz war. Dann schnallte er ihn an, schloss die Tür und umrundete dann den Wagen. Die Fahrertür hatte er offen gelassen. Eigentlich leichtsinnig, aber um diese Zeit und an diesem Ort war die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passierte, äusserst gering. So stieg auch er ein und schloss dann die Tür.

„In welche Richtung müssen wir denn fahren?“ fragte er, während auch er sich anschnallte. Er versuchte seine Stimme so sanft wie möglich zu halten, um den Mann nicht unter Druck zu setzen oder gar zu verängstigen. Aber irgendwie schien das nicht zu fruchten, denn der Alte zeigte keine Reaktion. Sein Blick war nach vorn gerichtet. Seine Lippen bewegten sich zwar leicht, aber es war kein Ton zu vernehmen.

„Wie ist eigentlich Ihr Name? Meiner ist Mark, Mark Larsen.“

„Theo“, kam es schwach aus dem Mund des alten Mannes. „Mein Name ist Theodor.“ Der Kopf drehte sich langsam, beinahe wie in Zeitlupe und der Blick heftete sich auf den Fahrer. Mark glaubte für einen Moment so etwas wie Leben in den stumpfen Augen erkennen zu können. Aber es war nur ein Eindruck, der im nächsten Moment wieder verschwand.

„Also, Theo, wo soll es hin gehen.“ Er versuchte es etwas lockerer, nachdem der Mann endlich reagiert hatte.

„Ich muss für Maria Milch holen“, sagte der Alte nur, während er den Kopf langsam wieder so drehte, dass er nach vorn sehen konnte.

`Na grossartig´, dachte Mark, `damit ist mir viel geholfen´. Es machte wohl keinen Sinn, jetzt diese Sache mit ihm zu diskutieren. Also startete er den Motor und fuhr einfach los. Der Weg zur Ortschaft, die er schon passiert hatte, war kürzer als jener zur Nächsten. Was sollte es auch noch. Er war eh’ schon zu spät dran, da kam es jetzt auf eine Stunde mehr oder weniger auch nicht mehr an.

An eine Konversation während der Fahrt war wohl nicht zu denken. Der alte Mann schien zwar hin und wieder einen Moment zu haben, in dem sich seine Wahrnehmung klärte, aber das war zu wenig. Und mit endlosen Fragen wollte Mark ihn auch nicht löchern. Er hoffte inständig, dass irgend jemand im Ort wusste, wer er war und was man mit ihm anfangen sollte. Noch war Mark zwar nicht müde, aber er wusste, dass dieser Zustand ihn irgendwann in den nächsten zwei Stunden erreichen würde. Also musste er die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Er ging davon aus, dass Theo aus irgend einem Altersheim stammte, aus welchen Gründen auch immer den Weg ins Freie gesucht und gefunden hatte. So etwas kam immer wieder vor. Wenn man die regionalen Nachrichten im Autoradio verfolgte, dann hörte man häufiger Suchmeldungen, die eben solche Personen betrafen. Er hatte ein wenig Mitleid mit Theo, der durch irgend einen Schicksalsschlag den Bezug zur Realität verloren hatte und jetzt vor sich hin vegetierte, umsorgt und gepflegt von Menschen, die er nicht kannte und die selbst kein Verhältnis zu ihm aufbauen konnten und wollten. Er lebte in seiner kleinen Welt, von der er glücklicherweise nicht wusste, dass sie irreal war.

Mark holte sein Handy hervor. Zwar wusste man zu Hause, dass er später kommen würde, aber er sah sich veranlasst, auch diese neuerliche Verzögerung bekannt zu geben. Eigentlich hätte er dafür anhalten müssen. Mehr als ein Mal hatte er selbst die Erfahrung gemacht, dass das Telefonieren während der Fahrt ablenkend wirkte. Aber auf der Strasse war wirklich Nichts los und er hatte keine Lust, noch mehr Zeit als nötig in den Sand zu setzen.

Ein Druck auf den Knopf, und die Nummer seiner Festnetzanlage im Haus wurde angewählt. Er hatte das Handy noch nicht einmal an sein Ohr gehoben, als James sich schon meldete. Das war immer so. Schleppte er dieses verdammte Telefon ständig mit sich durch das Haus?

„Hallo, James, wie geht es so zu Hause?“

„Nun, Sir, ich habe mir erlaubt, da ihre Ankunft sich immer mehr verzögert, die beiden Ladies in ihre Gemächer zu geleiten, trotz aller Proteste. Ich hoffe doch, dass ich in Ihrem Sinne handelte. Ansonsten habe ich über keine Vorkommnisse zu berichten.“

Gestelzt wie immer. Manchmal wünschte Mark, James würde seine Zunge etwas lockern. Aber da konnte er wohl ewig warten. Der Butler ging in seiner Aufgabe auf.

„Das ist sehr gut, James.“

Mark berichtete kurz, was sich zugetragen hatte, wo er sich jetzt befand und was er zu tun gedachte. Während er dies tat, behielt er neben der Strasse auch ein wenig Theodor im Auge, der aber das Telefonat überhaupt nicht zu registrieren schien.

„Dann wird es also noch ein wenig später werden. Ich werde auf Sie warten. Ist es Ihnen genehm, wenn ich für Sie noch einen kleinen Imbiss bereit halte?“

„Ja, James, das wäre sehr nett. Aber bitte keine grossen Umstände. Zwei oder drei belegte Stullen würden reichen.“

„Sehr wohl, der Herr.“

Mark wusste, dass diese sprachliche Umgangsform für Brot dem Butler Schmerzen in den Ohren bereitet hatte, aber so etwas konnte er sich hin und wieder einfach nicht verkneifen.

„Ich zähle auf Sie, James. Ich werde mich auch beeilen. Ich... – Ich muss das Gespräch beenden. Eventuell melde ich mich noch Mal.“

Mark nahm das Handy herunter und beendete die Verbindung. Ganz plötzlich hatte Theo seinen Kopf bewegt und starrte durch die Seitenscheibe. Ein Stück weiter vorn konnte er ein schwaches Licht zwischen den Bäumen ausmachen. Es war gut möglich, dass dort ein Haus stand. Der Alte zitterte ein wenig. Irgend etwas schien diese Entdeckung in ihm auszulösen.

„Wohnen Sie dort, Theodor?“

Er antwortete nicht. Der Alte murmelte etwas, das Mark aber nicht verstehen konnte. Vorsorglich verringerte er die Geschwindigkeit seiner Fahrt. Vielleicht erübrigte sich ja der Besuch auf dem Polizeirevier.

Als sie auf Höhe des Lichtes waren, wurde der Mann sichtlich unruhig. Mark konnte vage zwischen den Bäumen die Konturen eines kleinen Hauses ausmachen. In zwei Fenstern war Licht zu sehen, das aber nicht von elektrischen Quellen erzeugt wurde.

„Maria.“

Das war das einzige Wort, das zu verstehen war. Mark verlangsamte noch mehr. Vor sich konnte er eine Zufahrt erkennen, ein schmaler Sandweg, der zu dem Haus führte, das etwa dreissig Meter von der Strasse entfernt stand. Er brachte den Wagen vor der Einfahrt zum Stehen.

„Theo, wohnen sie hier?“

Es war nicht einfach, mit solchen Menschen umzugehen. Man konnte nie sagen, welche Reaktionen ausgelöst wurden. Er hoffte im Stillen, dass es keine Komplikationen gab.

„Ja, sie wartet auf mich. Aber ich habe die Milch noch nicht geholt.“

Mark verdrehte kurz die Augen. Er wusste zwar, dass die Situation des Mannes ernst war, aber so langsam ging ihm dieser Spruch an die Nerven.

„Wir werden Ihr das schon erklären“, sagte er dann und setzte seinen BMW wieder in Bewegung. Langsam bog er in den schmalen Weg ein. „Maria wird das verstehen, glauben Sie mir.“ Der Alte reagierte nicht.

Es gab einen kleinen ungepflasterten Vorplatz vor dem Eingang, den Mark zum parken nutzen konnte. Es mochte gut sein, dass dies auch der Sinn des Platzes war. Er liess den Wagen zum Stillstand kommen, schaltete den Motor aus und blickte auf das Haus, das direkt vor ihm war. Nichts rührte sich dort.

Das Haus schien alt, nicht sehr gross, war rechteckig mit einer Längsseite zur Strasse und hatte zwei Stockwerke. Ein Fachwerkhaus in für diese Gegend typischer Bauweise. Mehr konnte man jetzt nicht ausmachen. Durch zwei nebeneinander liegende Fenster kam das Licht, das leicht flackerte, als würde es durch das Feuer eines Kamins erzeugt.

„Kommen Sie, wir werden hinein gehen.“ Keine Reaktion. Also musste Mark ihn wieder führen. Er liess den Gurt zurück fahren, was er gleich auch mit jenem seines Beifahrers tat, öffnete die Wagentür und stieg aus. Ein wenig wunderte er sich darüber, dass sich Niemand zeigte. Wenn Maria in dem Haus war, dann hätte sie doch auf das ankommende Auto reagieren müssen. Und wenn dies das Haus völlig fremder Leute war, hätte erst Recht etwas passieren müssen.

Aber es blieb ruhig. Dennoch wollte Mark es jetzt darauf ankommen lassen. Wenn er falsch lag, konnte er den Alten immer noch bei der Polizei abliefern. Also ging er wieder um seinen Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Er griff nach dem Arm des Mannes und zog sachte daran. Theo folgte der Aufforderung und quälte sich aus dem Wagen. Als es vollbracht war, führte Mark ihn langsam zur Tür, vor der sie Beide stehen blieben. Die Klingel fand sich schnell und kurz darauf schellte es durch das Haus. Jetzt musste doch Jemand reagieren, der sich in dem Haus befand!

Es geschah wieder Nichts. Kein Geräusch drang an sein Ohr. Niemand schien sich die Mühe machen zu wollen, ihm die Tür zu öffnen. Mark zog die Mundwinkel nach unten.

Plötzlich streckte Theo die Hand vor, drückte die Klinke und dann die Tür nach innen. Verblüfft sah Mark ihn an.

„Na, wenn das so ist.“

Mark öffnete die Tür ganz und trat dann mit dem alten Mann ein. Der Vorraum, von dem aus man wohl alle Zimmer erreichen konnte, war dunkel. Er suchte tastend nach einem Lichtschalter, konnte aber keinen finden. Also wandte er sich nach Links, wo der Zugang zu jenem Raum sein musste, in dem das Feuer brannte. Jene Tür fand er recht schnell und öffnete sie. Immerhin konnte er jetzt auch etwas von dem Vorraum sehen.

Er hatte Theo los gelassen, da es ihm jetzt nicht mehr nötig erschien. Der Alte trat ein paar Schritte von ihm weg.

„Ja, Maria, ich bin wieder da.“

Irritiert wandte Mark sich um.

„Nein.“

Mit wem redete er da? Niemand war zu sehen. Oder doch? Aus den Augenwinkeln nahm er etwas wahr. Die Haustür bewegte sich. Mit ungeheurer Wucht und einem gewaltigen Knall wurde sie in das Schloss geschlagen. Mark wirbelte herum und starrte auf die Tür. Was war denn jetzt los? Er spürte plötzlich, dass noch jemand hier war, aber er konnte die Person nicht sehen. Seine Sinne, die ihn instinktiv eine Gefahr erkennen liessen, waren aktiv. Er wusste, dass da Etwas war. Etwas, das er nicht beschreiben konnte, für das er keine Erklärung hatte.

„Nein, Maria, nein!“ Die brüchige Stimme des alten Mannes liess kaum wirklich Lautstärke zu. Aber Mark glaubte deutlich Angst darin hören zu können.

Er spürte mit einem Mal so etwas wie Panik in sich aufsteigen, ein Gefühl, dass sich nur sehr selten bei ihm einstellte. Jemand war hier, er konnte es deutlich spüren. Wohin sollte er sich jetzt wenden? Was sollte er tun? Es machte ihn irgendwie verrückt, plötzlich nicht mehr Herr der Situation zu sein. Gehetzte Blicke, sein Oberkörper ruckte hin und her. Es war verdammt noch einmal Niemand zu sehen. Aber es war doch jemand da!?

Irgend etwas knallte mit Wucht gegen seinen Hinterkopf. Er hatte keine Chance zur Reaktion. Grelle Lichtblitze vor den Augen, rasender Schmerz im Kopf. Dann versagten Geist und Körper ihren Dienst. Mark Larsen sackte ohne weitere Regung einfach zu Boden.

 

***

 

Als seine Sinne langsam zurückkehrten, hatte er das Gefühl, sein Schädel müsste platzen. Keine Visionen, keine Geräusche, nur pochende Schmerzen, die von seinem Hinterkopf wie über ein Netz sich in seinem ganzen Hirn breit machten. Seine Gedanken waren zwar schon wieder da, aber er konnte sie nicht ordnen, nicht zu Ende bringen. Der Schmerz musste erst verschwinden. Das dauerte länger, als es ihm lieb sein konnte.

Mark hielt die Augen geschlossen. In der Dunkelheit konnten die Qualen, die sein Hirn empfand, besser verdrängt werden, als wenn er schon neue Eindrücke über seine Augen eindringen liess. Puh, das musste ein richtiger Dampfhammer gewesen sein, der ihn erwischt hatte. Er spürte, dass er ausgestreckt auf dem Rücken lag. Noch hatte er kein richtiges Gefühl für seine Gliedmassen, kontrollierte Bewegungen waren erst nach und nach möglich. Aber immerhin, sein Geist normalisierte sich. Da würde das Andere sicherlich auch bald folgen.

Vorsichtig hob er einen Spalt breit die Lider. Der erwartete Lichtschock blieb aus. Um ihn herum gab es nur einen diffusen Schein. Also öffnete er die Augen weiter. Es ging recht einfach, sich an die Sichtverhältnisse zu gewöhnen. Er nahm nur einen eher schwachen Feuerschein wahr.

Der Schmerz reduzierte sich auf ein geringeres Mass, so dass er keine Behinderung mehr darstellte. Lediglich die Aufschlagstelle am Hinterkopf sendete nach wie vor unangenehme Signale aus.

Er lag auf dem Boden. Seiner Vermutung nach lag er genau dort, wo er auch dem Verlust des Bewusstseins zu Boden gesunken war. Was immer auch vorgefallen sein mochte, es war keineswegs geplant gewesen und deshalb hatte sich auch Niemand weiter um ihn gekümmert, nachdem er weg getreten war.

Stille umgab ihn. Leise hörte er nur das Knacken und Knistern des Feuers. Langsam rollte Mark sich herum, seine Glieder gehorchten ihm wieder. Na, immerhin. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Er vermutete, dass er trotz des wuchtigen Schlages nicht sehr lang Bewusstlos gewesen war. Er hatte eine starke Konstitution. Seine Widerstandskraft hatte sich auch in der Vergangenheit schon als sehr kräftig erwiesen und ihm so manchen Vorteil gegenüber seinen Gegnern eingebracht.

Als er auf dem Bauch zu Liegen kam, richtete er seinen Oberkörper ein wenig auf und stützte sich dabei mit den Ellenbogen ab. Er war froh, den gesamten Vorgang ruhig hinter sich bringen zu können, denn so schnell kam man ja nun doch nicht wieder auf den Damm. Eine Gefahr schien es zumindest im Augenblick nicht zu geben. Jedenfalls konnte er nichts spüren, seine Sinne nichts erfassen.

Wieso hatte er vorhin Nichts bemerkt? Erst viel zu spät hatte er die Gefahr wahr genommen. Das hatte ein Gefühl in ihm verursacht, dass ihm eigentlich fremd war, nämlich Panik. Er hatte nichts gesehen, nichts gefühlt. Die Bedrohung war ganz plötzlich entstanden. Mark zwang sich zur Ruhe, es hatte keinen Sinn, darüber sich den Kopf zu zerbrechen. Eine Lösung würde er auf diese Weise erst einmal nicht finden. Er musste nach ihr suchen, einen anderen Weg gab es nicht.

Er lag so, dass er direkt in den seitlichen Raum sehen konnte, aus dem der Feuerschein kam. Ein eher schmales, längliches Zimmer mit einem kleinen Kamin in der Mitte einer Längswand. Es gab drei Sessel, eine Couch, einen klobigen Tisch und einen Wandschrank. Ein bisschen Kitsch und Trödel zur Ausstattung, nichts Besonderes. Ein Raum halt, wie er spiessiger kaum sein konnte, mit einer matten Tapete ohne Muster.

In einem der Sessel sass Theodor. Der alte Mann regte sich nicht. Er sass seitlich, verschwendete keinen Blick auf Mark. Ob er nicht konnte oder nicht wollte, war so nicht festzustellen. Ächzend versuchte er auf die Beine zu kommen. Das war doch nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Mühsam stand er auf und schleppte sich dann mit leicht gebeugtem Oberkörper in den Raum vor ihm. Mit einem Stöhnen liess er sich in den Sessel fallen, der Theodor schräg gegenüber stand. Na, die Regeneration seines Körpers würde wohl doch noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Aber immerhin konnte er schon mal wieder aufrecht sitzen, ohne dass er Schmerzen spürte.

Mark richtete seinen Blick auf den alten Mann, der sich auch jetzt nicht regte. Immerhin hatte dieser seine Augen auch auf ihn gerichtet. Mark erschrak. Es sah so aus, als wenn er nicht der Einzige war, der mit Mitleidenschaft gezogen war. Theo hatte blaue und rote Flecken im Gesicht, als wenn er geschlagen worden war. Seine Augen blickten traurig, was immerhin aber ein Seelenleben erkennen liess. Auf der Fahrt hierher waren sie die ganze Zeit stumpf gewesen.

„Was ist passiert?“ Das war eine rein rhetorische Frage, die man in solchen Situationen immer stellte. Er glaubte auch nicht, dass er eine Antwort darauf bekommen würde.

„Maria mag Sie nicht“, antwortete Theo überraschend mit seiner brüchigen Stimme. Mark glaubte auch Schmerz darin hören zu können. „Ich hätte Sie nicht hierher mitbringen dürfen.“

„Wieso, sie kennt mich doch gar nicht.“

„Sie mag keine Fremden. Erst recht nicht, wenn sie in unserem Haus sind.“

Weltfremde, abgeschottete alte Leute, so etwas gab es nun wirklich nicht selten. Das war es auch nicht, was Mark dabei beschäftigte. Auch wenn man Fremde nicht mochte. musste man ihnen denn gleich eins mit dem Nudelholz überziehen? Besonders dann, wenn ein Fremder auch noch so freundlich war und seine Hilfe anbot?

Das Sprechen tat ihm gut. Es lenkte von dem Schmerz und dem Dumpfheitsgefühl in seinem Körper und Geist ab. Er hatte jetzt für sich beschlossen, wieder auf den Damm zu kommen, damit er ungefährdet fahren konnte. Wenn er hier schon unerwünscht war, dann wollte er die Leute auch nicht länger belästigen als unbedingt nötig.

„Wo ist denn Maria jetzt?“

„Sie ist gegangen, um selbst die Milch zu holen. Maria war sehr böse.“

Mark zog wieder einmal die Stirn in Falten, obgleich das in der jetzigen Situation nicht ganz einfach war. Dieses Ding mit der Milch drohte ihn wahnsinnig zu machen. Mitten in der Nacht war es praktisch unmöglich, irgendwo etwas zu bekommen. Wenn man Glück hatte, gab es eine Tankstelle, die vielleicht noch besetzt war. Von hier aus war es zu Fuss jedoch unsinnig, so etwas erreichen zu wollen. Die beiden alten Leute schienen wirklich sonderbar zu sein.

Ob er Theo nach den blauen Flecken fragen sollte? Irgend etwas war mehr als Merkwürdig. Stand der Mann, der körperlich nicht sehr kräftig war, unter der Fuchtel eines Drachens, wie man herrschsüchtige Frauen gern nannte? Mark wollte zwar nicht glauben, dass Maria ihren Mann geschlagen hatte, aber von der Hand zu weisen war das nicht. Zudem sprachen die Spuren dessen doch Bände.

„Wo will sie denn jetzt die Milch her holen?“ Diese Frage stellte Mark auch eher aus rhetorischen Gründen, weil er nicht wusste, wie er das Gespräch in Gang halten sollte. Einen Augenblick würde er aber wohl noch brauchen, um seine Kräfte und Gedanken zu sammeln. Klar war für ihn auch, dass er in der Frühe diese Sache melden würde. Nicht, dass er nieder geschlagen worden war. Aber dass hier weltfremde Leute wohnten, die sich offenbar gegenseitig Gewalt antaten, war eine Sache, die man nicht so einfach ignorieren konnte. Da mussten sich dann doch die Behörden mit auseinander setzen.

„Sie wird sie kaufen.“

Gab es vielleicht einen Bauern in der Nähe, der den Beiden auch spät in der Nacht noch etwas gab? Das schien Mark die einzige vernünftige Möglichkeit zu sein. Jeder andere Gedanke gab auch überhaupt keinen Sinn.

Was ihm auffiel, war, dass Theodor hier zu Hause scheinbar klarer in seinen Gedanken und seinem Handeln war. Als er ihn am Strassenrand aufgelesen hatte, war er geistig irgendwie weit weg, beinahe apathisch gewesen. Jetzt schien der Mann jedes Wort zu verstehen und gab, soweit für den Gegenüber verständlich, schlüssige Antworten. Aber auch das war etwas, was wohl häufiger vor kam. Alte Leute brauchten eine vertraute Umgebung.

„Und, ist mit Ihnen alles in Ordnung?“

„Mir geht es gut. Ich kann nicht mehr so gut laufen, habe keine Kraft mehr, aber Maria sorgt für mich.“

Kein Wort über die blauen Flecken. Mark war absolut sicher, dass der Mann sie vorhin noch nicht hatte. Verschwieg er es, weil er Angst vor seiner Frau hatte?

„Sie ist wohl noch sehr stark.“

„Ja, Maria war immer die Stärkere. Sie sorgt für uns Beide. Sie ist meine Frau.“

Seine Worte wirkten so phrasenhaft, als habe er sie suchen müssen. Offenbar wollte er Mark eine Art Idylle verkaufen, vielleicht auch sich selbst einreden. Er hatte vermutlich keinen anderen Halt mehr. Maria war die Person, an die er sich klammerte, auch wenn sie herrisch und scheinbar sogar gewalttätig war. Er hatte sicherlich auch keine innere Kraft mehr, um sich gegen sie zu erheben.

„Na gut, wann wird Maria denn zurück sein? Ich möchte Sie Beide nicht länger belästigen. Auch auf mich warten Menschen, die mich sicherlich schon vermissen.“

„Maria wird nicht lange brauchen.“

Mark warf erst jetzt einen Blick auf die Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht. Also war er wirklich nicht lange bewusstlos gewesen. Trotzdem dachte er daran, noch einmal bei James anzurufen. Er fühlte sich jetzt gut genug, um wieder in seinen BMW zu steigen und endlich nach Hause zu fahren.

Er begann, in seinen Taschen zu suchen, aber sein Handy war nicht auffindbar. Verdammt, er hatte es wohl im Auto gelassen. Na gut, dann würde er anrufen, bevor er sich auf den Heimweg machte.

„Ihnen geht es wirklich gut?“ fragte er noch einmal und nahm Theo fest in seinen Blick. Der hielt diesem überraschend stand.

„Ja, ich fühle mich gut. Ausserdem wird Maria bald wieder da sein.“

„Na gut.“

Mark erhob sich. Ja, jetzt ging es schon besser. Er war fit genug, um nicht noch länger in diesem deprimierenden Haus bleiben zu müssen. Er spürte noch einen dumpfen Druck am Hinterkopf, aber ansonsten war alles in Ordnung. Die Stelle, wo ihn der Schlag getroffen hatte, konnte James sich nachher einmal ansehen. Der Butler würde sicherlich etwas tun können, damit sowohl der letzte Schmerz als auch die Schwellung verschwand. Es schien irgendwie Nichts zu geben, von dem James nicht zumindest Grundkenntnisse hatte.

„Dann möchte ich mich jetzt von Ihnen verabschieden, Theodor. Sie sollten sich auch ins Bett begeben. Es ist schon spät.“

„Ja.“

Er hielt ihm die Hand hin, doch darauf reagierte der Alte nicht. Nun denn, was sollte es auch. Mark zuckte die Achseln und verliess dann langsam den Raum. Er verschwendete jetzt keinen weiteren Blick für das Innere des Hauses. Wozu auch, er würde sich bestimmt nie wieder hier aufhalten müssen.

Als er die Tür erreichte, drückte er die Klinke. Die Tür war nicht zu bewegen, fest verschlossen. Er liess kurz sein Kinn auf die Brust fallen und stiess hörbar die Luft aus. Natürlich, als wenn es so einfach hätte sein können. Also wandte er sich wieder um.

„Haben Sie einen Schlüssel, Theodor. Die Tür ist dicht. Wenn Sie mich bitte hinaus lassen würden.“

Zunächst einen Moment Stille.

„Es tut mir leid. Ich habe keinen Schlüssel. Nur Maria hat einen.“

Mark zog wieder einmal die Mundwinkel nach unten. Dieser ganze Abend war wohl verhext. Dass er über die Arbeit vergessen hatte, wie spät es geworden war, konnte er noch ertragen, war ja eh sozusagen seinen eigene Entscheidung. Dass er dem alten Mann helfen wollte, na gut. Aber jetzt schien er aus dieser Sache immer schwerer wieder heraus zu kommen. Er wusste zwar immer noch nicht, warum und von wem er wirklich nieder geschlagen worden war, aber das wollte er akzeptieren. Er schrieb es einer panischen Reaktion Marias zu. Aber jetzt wollte er endlich nach Hause. Bald würde Maria wieder hier erscheinen. Zu was für einer Reaktion sie dann fähig war, entzog sich seiner Vorstellungskraft. Er wollte es auch nicht wirklich wissen.

„Sie haben keinen eigenen Schlüssel?“

„Wir schliessen nur selten ab. Maria hat den einzigen Schlüssel für unser Haus. Sie kümmert sich um mich.“

Im Grunde konnte dieser Mann einem Leid tun. Er schien keinen eigenen Willen mehr zu besitzen, machte alles von seiner Frau abhängig. Es war sicherlich interessant, diese Frau kennen zu lernen, doch ein richtiges Verlangen danach hatte Mark nicht. Dennoch wandte er sich von der Tür ab und ging in den erhellten Raum zurück. Seufzend liess er sich wieder in den Sessel fallen, in dem er vorher schon gesessen hatte.

„Sie wird bald wieder da sein.“

Mark nickte nur. Sein Blick wanderte zum Fenster. Da er nicht durch die Tür konnte, was es vielleicht möglich, ein Fenster zu öffnen und hinaus zu steigen. Das war eine Sache, die er in Betracht ziehen konnte. Irgendwie kam er sich aber albern vor, einen solchen Gedanken zu fassen. Er war ja schliesslich nicht auf der Flucht, auch wenn der Empfang in diesem Haus nicht so freundlich gewesen war, wie man es normaler Weise erwarten konnte. Dieses Missverständnis galt es zudem eigentlich noch auszuräumen. Ein kurzer, klärender Wortwechsel mit Maria, dann konnte er sicherlich ohne Probleme das Haus verlassen und nach Hause fahren.

Am nächsten Tag würde er dann aber wohl trotzdem die Sache melden. Je länger er Theodor ansah und zuhörte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass der Mann ein unglückliches Leben unter der harten Herrschaft seiner Frau führte. Er musste inzwischen absolut willenlos und total abgestumpft sein. Immerhin hatte sie ihn allein mitten in der Nacht zum `Milch holen´ geschickt. Die Gefahr, dass er diese Chance zur Flucht nutzte, schien gleich Null zu sein.

„Wie lange wohnen Sie schon hier?“ fragte Mark nach einer Weile, nachdem seine Gedanken sich etwas beruhigt hatten. Natürlich entstand wieder eine kurze Pause. Theodor musste offenbar immer erst einmal das Gehörte verarbeiten, bevor er dazu etwas sagen konnte. Direkte Antworten gab er nur sehr selten.

„Maria und ich wohnen schon sehr lange hier. Ich weiss es nicht mehr. Ich kann mich an Anderes nicht erinnern.“ Die Antwort kam langsam, aber daran gewöhnte sich Mark. Theo war wohl nicht in der Lage, flüssig und deutlich zu sprechen.

„Hat Maria immer für Sie gesorgt? Oder haben Sie früher gearbeitet? Was waren Sie von Beruf?“

Verständnislos blickte der Alte ihn an. Mit dieser Frage schien er nichts anfangen zu können.

„Ich war immer hier und Maria hat immer für mich gesorgt. Sie war mal weg. Da ging es mir nicht so gut. Alles wurde wieder gut, als sie zurück kam.“

Mark lächelte jetzt verlegen. Es war relativ sinnlos, mit Theo Konversation betreiben zu wollen. Er kam auf keine eigenen Gedanken und reagierte nur auf die Fragen, die man ihm stellte. Seine Antworten liessen praktisch kein Nachhaken zu.

So liess er es sein. Er hoffte, dass Maria binnen kurzer Zeit wieder hier sein würde und er dann nach Hause fahren konnte.

Ruhelos stand er auf und bewegte sich zum Fenster hinüber. Da ein Gespräch nutzlos war, musste er sich die kurze Wartezeit anders vertreiben. Er blickte durch die Scheibe auf den kleinen Parkplatz hinaus und entdeckte seinen BMW. Verdammt, er hatte beide Wagentüren offen gelassen. Wie konnte er nur so sorglos sein? Seine Fürsorge für den armen Theodor hatte ihn tatsächlich jede Vorsicht vergessen lassen. Das war eigentlich unverzeihlich.

Solche Kleinigkeiten hatte er noch nicht vollständig im Griff. Er war der Hüter, belastet mit einer ungeheuer grossen, verantwortungsvollen Aufgabe. Nun war diese Sache hier nicht von grosser Bedeutung, aber auch solch kleine Fehler konnten vielleicht schlimme Folgen haben, die nicht nur das Leben der ihm anvertrauten Menschen gefährdeten, sondern als weitere Folge das Schicksal der Menschheit beeinflussen konnten.

`Kehre wieder auf den Teppich zurück´, dachte er. Seine Gedanken gingen ein bisschen zu sehr mit ihm durch. Er ärgerte sich zwar über seine Nachlässigkeit, dass er zum zweiten Mal an diesem späten Abend die Wagentüren offen gelassen hatte, aber so dramatisch war das Ganze nun auch wieder nicht. Er musste die Sache für sich selbst nicht unnötig hoch spielen.

„Ja, Maria, er ist noch hier. Du hättest nicht abschliessen sollen.“

Mark erstarrte, als er die Stimme des alten Mann hörte, der zu seiner Frau sprach. Er hatte Niemanden gesehen, keine Schritte gehört, keinen Schlüssel im Schloss, kein Öffnen der Tür. Nichts hatte er registriert, was auf die Ankunft der Frau hin gedeutet hätte.

Er wirbelte herum und starrte auf die Türöffnung, die den Blick in den Vorraum frei gab. Aber dort war Niemand zu sehen. Und dennoch – Maria war da!


 


                                                                         It started out so wonderful

                                                                         I heard the sounds so beautiful

                                                                         Heaven down, yeah, here below

                                                                         I never felt this way before

                                                                         So free of Mind

                                                                         The last time was too long ago

                                                                         So much to find

                                                                         An angel trying to touch my soul

(NovAct “Eternal Life”)

)

2. Kapitel:

Hetzjagd


 


21. Juli 1997…

„Da ist ein Haus. Vielleicht können wir dort unsere Wasservorräte auffrischen. Die Leute werden sicherlich nichts dagegen haben.“

Andreas streckte seinen Arm aus und zeigte nach Rechts, wo er eines dieser Fachwerkhäuser entdeckt hatte, die die ganze Gegend hier säumten.

„Da können wir vielleicht auch eine Pause machen.“

Daniela lächelte, obwohl ihr der Schweiss in Strömen über das Gesicht lief.

Es war durchaus eine verrückte Idee der Beiden, den Weg von Cuxhaven nach Stade zu Fuss zu bewältigen. Aber es waren Ferien und sie hatten viel Zeit. So hatten sich die beiden Siebzehnjährigen eben diesen Plan in den Kopf gesetzt. Ausgestattet mit dem Nötigsten, sowie einem kleinen Zelt, das Andreas auf dem Rücken trug, hatten sie sich auf den Weg gemacht. Wie lange sie für diese Wanderung brauchen würden, konnten sie nicht sagen. Sie hatten es nicht eilig.

Die nötigen Lebensmittel konnten sie sicherlich unterwegs besorgen und Wasser war bestimmt auf den Höfen oder so zu schnorren.

„Ja, für eine Stunde oder so mal die Sachen ablegen, wäre nicht das Schlechteste.“

Andreas und Daniela bogen von der Strasse ab und gingen über einen sandigen, von der Hitze ausgetrockneten und dadurch staubigen Weg auf das Haus zu, das zwar nicht übermässig gepflegt, aber auch nicht verkommen aussah.

Es war bisher ein anstrengender, aber durchaus vergnüglicher Weg gewesen. Mit dem Wetter hatten die Beiden bisher Glück gehabt, es hatte nur mal ein wenig genieselt. Allerdings machte sich bei klarem Sonnenschein doch das Gewicht bemerkbar, das sie jeweils auf dem Rücken trugen. So kam es dann doch hin und wieder zu recht beachtlichen Schweiss Ausbrüchen.

„Das fördert die Kondition und ausserdem kommen wir dadurch Nachts nicht nur auf dumme Gedanken.“ pflegte Daniela zu sagen. Frisch verliebt, wie die Beiden waren, wurde es dann Abends trotzdem immer sehr spät.

Als sie die Haustür erreichten, setzten sie ihre schwere Last erst einmal ab und atmeten tief durch. Obwohl das Ganze Spass machte, war es natürlich sehr anstrengend. Es knackte mächtig in den Gelenken, als sie ihre Körper streckten.

Andreas drückte die Klingel. Gespannt warteten sie. Es dauerte nicht lange, und die Tür wurde langsam geöffnet. Ein älterer Mann erschien, er mochte etwa sechzig Jahre alt sein. Die beiden Jugendlichen setzten ihr freundlichstes Lächeln auf, das sie zu bieten hatten.

„Guten Tag. Entschuldigen Sie die Störung. Wie sie sehen können, wandern wir ein wenig herum. Wir wollten Sie fragen, ob wir unsere Wasserflaschen bei Ihnen auffüllen könnten? Das wäre wirklich furchtbar nett.“

Der Mann sagte zunächst nichts und musterte die Beiden nur. Zum Glück gehörten sie zu jenen Vertretern ihrer Gattung, die nicht durch ungewöhnliche Haartracht oder gar Piercing unangenehm auffielen. Ältere Leute hatten so ihre Probleme damit.

Der ältere Mann wandte kurz den Kopf und blickte nach hinten. Dann sah er die Beiden wieder an.

„Das wird wohl kein Problem sein. Kommen Sie herein und bringen Sie ihre Wasserflaschen mit. Bei der Hitze kann man gar nicht genug trinken.“

„Wunderbar, danke schön.“

„Lassen Sie ihre Rucksäcke ruhig hier vorn am Haus stehen. Die wird schon keiner klauen.“

Das war den Beiden durchaus Recht. Ihre Sachen noch mit durch das Haus zu schleifen, wäre sicherlich mühselig gewesen. So holten sie nur ihre Wasserflaschen, die sie seitlich an den grossen Rucksäcken hängen hatten und folgten dem Mann dann in das Haus.

Als Andreas die Tür geschlossen hatte, wandte der Hausbesitzer sich ihnen wieder zu.

„Geben Sie mir Ihre Wasserflaschen, ich werde sie auffüllen gehen. Wissen Sie, meine Frau ist in der Küche. Sie mag nicht gern Fremde im Haus. Deshalb werde ich es besser tun. Wenn Sie wollen, können Sie sich einen Moment ins Wohnzimmer setzen und sich ausruhen.“

„Das ist sehr nett von Ihnen, danke sehr.“

Daniela und Andreas händigten ihm ihre Flaschen aus und betraten dann das Wohnzimmer, in dem es nur eine einfache Einrichtung gab.

„Mein Gott, sind das Spiesser.“ Andreas zog die Mundwinkel herunter, nachdem er sich schnell umgesehen hatte.

„Andreas, bitte.“ Daniela war es egal, wie die Leute wohnten. Ihr kam es darauf an, sich gesittet zu verhalten, um den hilfsbereiten älteren Mann nicht vor den Kopf zu stossen. Sie ging zum erstbesten Sessel hin und setzte sich. Ja, das war eine Wohltat, der Weg bei dieser Hitze war doch recht anstrengend. Sie hoffte, dass sie Beide noch ein wenig in diesem Zimmer verschnaufen konnten, bevor es wieder weiter ging.

Andreas setzte sich jedoch nicht. Er ging zu dem klobigen Schrank hinüber, weil einige dieser kitschigen Nippesfiguren seine Aufmerksamkeit erregt hatten. Es waren alles Darstellungen von Bauern und Bäuerinnen bei der Arbeit. Nichts Aussergewöhnliches eigentlich. Andreas nahm eine der Figuren in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten.

„Irgendwie finde ich die hübsch.“ Er lächelte etwas dabei und nahm eine weitere Figur in die Hand.

„Was tun Sie da!?“

Die Stimme, die plötzlich von der Tür her kam, war schneidend. Erschrocken wandten die beiden Jugendlichen ihre Blicke zur Türöffnung des Raumes.

„Ich … ich habe mir das nur angesehen.“

Die Frau des Hauses stand mit versteinerter Miene und scheinbar glühenden Augen in der Tür. Sie hielt etwas in der Hand, was die Beiden aber nicht richtig registrierten.

„Sie wollten es Stehlen!“

„Nein“, beteuerte Andreas, „das stimmt nicht.“

Die ältere, korpulente Frau setzte sich nun in Bewegung und kam festen Schritte auf ihn zu. Andreas liess erschrocken die Figuren einfach fallen. Daniela sass immer noch und wagte sich nicht zu rühren. Wer hatte denn ahnen können, dass jemand so empfindlich reagierte.

„Sie sollten sich in fremden Häusern benehmen und nicht stehlen!“

„Nein, ich…“ Zu weiteren Äusserungen kam Andreas nicht mehr. Die Frau holte plötzlich mit dem schweren Gegenstand in ihrer Hand aus und schlug ihm das Ding mit voller Wucht auf den Kopf. Mit einem Schrei brach er in die Knie.

Daniela schrie ebenfalls auf und wurde durch den Schrecken tief in den Sessel gedrückt. Entsetzt sah sie, wie ihr Freund blutüberströmt zusammen sackte. Ein weiterer kräftiger Schlag der Frau liess ihn einfach zur Seite kippen.

Der Mann erschien in der Türöffnung. Er hatte die Wasserflaschen in den Händen. Als er sah, was geschah, entglitten sie ihm und knallten zu Boden.

„Maria!“ Seine Stimme war ein Hauch.

Erst jetzt realisierte Daniela wirklich, was eigentlich geschehen war, aber es war schon zu spät. Sie schrie erneut. Die Frau, die der Mann Maria genannt hatte, war heran. Ihre Augen glühten vor Wut und Hass.

„Ihr seid alle gleich!“ schrie sie das Mädchen an, das in seiner Verzweiflung abwehrend die Arme hob. Danielas angsterfüllte Schreie erstarben, als Maria wuchtig auf ihren Schädel einschlug.

 

***

 

Gegenwart…

Theodor hatte seinen Kopf in Richtung Türöffnung gedreht. Es war mehr als deutlich, dass dort jemand stand, aber es war einfach kein Mensch zu sehen. Mark spürte die Ausstrahlung. Ausser ihm und dem alten Mann war definitiv eine dritte Person ihm Raum.

Er versuchte ruhig zu bleiben. Ein Gefühl wie beim ersten Eintritt in dieses Haus drohte sich in ihm breit zu machen. Nein, das durfte er auf gar keinen Fall zulassen. Eine panische Reaktion war jetzt wohl das Dümmste, was ihm passieren konnte.

Er liess seine Augen durch das Zimmer wandern, doch das brachte Nichts. Schnell fixierte er wieder die Türöffnung. Dort stand Maria. Er hatte den sicheren Eindruck, dass sie ihn anstarrte.

Was sollte er jetzt tun? Wie konnte er einem unsichtbaren Menschen begegnen? Die Situation war verwirrend, geradezu grotesk. Wenn er dem, was er empfand, Glauben schenken konnte, dann gab es im Augenblick zumindest noch nicht einmal eine Bedrohung. Die Unsichtbare in der Tür regte sich nicht. Mark spürte, dass sie ihn weiter musterte. `Ruhig bleiben, Junge, sie wird schon nichts Schlimmes tun´. Seine Gedanken wirbelten durcheinander.

Er wusste, dass er sich auf sein Gefühl verlassen konnte. Hier hatte er es nicht mit einer Suggestion zu tun. Ein Geist, oder was immer es war, stand dort und liess den Blick von oben nach unten wandern.

Die ganze Situation hatte sich komplett geändert. Plötzlich wusste er, dass er so einfach nicht gehen konnte. Hier geschah etwas, das in sein Gebiet fiel, mit dem er sich auseinander setzen musste. Eine übernatürliche Erscheinung, die sich nicht leugnen liess. Dieser Geist war zudem auch nicht ungefährlich, wenn er daran dachte, dass er vorhin nieder geschlagen worden war. Ihm kamen auch die blauen und roten Flecken im Gesicht Theodors in den Sinn.

Mark stand noch immer da und wagte nicht, sich zu rühren. Jede Bewegung konnte falsch sein. Er konnte die Unsichtbare zwar mit seinen Sinnen wahr nehmen, aber dennoch war es schier unmöglich, gegen so etwas zu kämpfen, da eben nicht zu erkennen war, wie der Gegner reagierte.

Ganz plötzlich verschwand das Gefühl wieder. Mark schüttelte den Kopf. Nein, er täuschte sich nicht, Maria war weg. Nur Theo und er waren noch im Zimmer. Der Zugang zum Vorraum war wieder frei. Nach dem Moment der Überraschung wandte der Alte ihm langsam das Gesicht zu.

„Warum sind Sie so unhöflich?“

„Wie bitte?“ fragte er irritiert.

„Maria ist sehr böse darüber, dass sie hier sind. Aber sie weiss auch, dass es ein wenig ihre Schuld ist. Setzen Sie sich wieder. Maria wird uns etwas zu Trinken holen.“

„Hat sie das gesagt?“

„Natürlich.“

Mark schüttelte den Schrecken ab, der ihn hatte erstarren lassen, ging wieder zu dem freien Sessel hinüber und setzte sich hinein. Seinen Blick hielt er fest auf Theodor gerichtet, der jede seiner Bewegungen verfolgte.

„Theo, ich habe Maria weder gesehen noch gehört.“

Jetzt war es der Alte, der die Stirn in Falten zog. Er schien nicht begreifen zu können, was der Jüngere da sagte.

„Aber sie war doch eben hier. Sie hat sich doch für ihr Verhalten vorhin entschuldigt. Ich finde es sehr unhöflich von Ihnen, gar Nichts zu sagen.“

Der Mann schien es wirklich ernst zu meinen. Nichts in seinem Verhalten deutete darauf hin, dass die ganze Sache ungewöhnlich war. Für ihn war Maria existent. Er konnte sie sehen und hören.

Es war Mark ein Rätsel, dass er sie nicht einmal akustisch hatte wahr nehmen können. Keine Geräusche der Bewegung, keine Sprache.

„Aber ich habe sie nicht gesehen und nicht gehört“, versuchte er es noch ein Mal. Das war plump, aber er hoffte, irgend etwas dem Alten entlocken zu können. Der jedoch machte ein beleidigtes Gesicht und schwieg. Demonstrativ wandte er seinen Blick ab und starrte in den Kamin, dessen Flammen langsam kleiner wurden. Niemand legte Holz nach.

Mark zwang sich weiter zur Ruhe. Jetzt wollte er sogar ganz bewusst abwarten. War es vielleicht doch nur eine Irrung seiner Sinne gewesen? Wenn Theo Recht hatte, dann würde dieser unheimliche Geist gleich wieder auftauchen. Schliesslich war sie nur kurz verschwunden, um etwas zu Trinken zu holen. Wenn sie tatsächlich zurück kam, dann hatte er ein echtes Problem.

Er musste auf irgend eine Art heraus finden, mit was für einem Phänomen er es hier zu tun hatte. War die Person unsichtbar? War es ein Geist? Woher kam dieser Geist? Ein paar weitere Fragen würden sich mit der Zeit ergeben. In jedem Fall würde eine Meldung bei der Polizei keinen Sinn mehr machen. Was sollte er den Leuten dort erzählen, ohne dass sie vor Lachen vom Stuhl kippten?

Seine Fahrt nach Hause würde sich noch weiter verzögern, das war ihm klar. Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde er nach draussen gehen und sein Handy suchen müssen, damit er James verständigen konnte.

Er verfluchte innerlich die Tatsache, dass ihm auf solchen Gebieten noch Erfahrungen fehlten. Jetzt hätte er gern Hinnerk an seiner Seite gehabt, der vielleicht eher eine Erklärung für das bisher Geschehene gehabt hätte. Der kauzige Mann kannte sich in all diesen Dingen doch noch etwas besser aus. Aber es war müssig, darüber jetzt zu spekulieren. Hinnerk war nicht erreichbar, befand sich ja nicht einmal im Haus in Hüll. Er war weg gefahren zu `einer wichtigen Konferenz´, wie er gesagt hatte. Noch wurde Mark nicht in alles eingeweiht. Da musste er dann eine solche Phrase, wie sie immer gern als Ausrede benutzt wurde, einfach hin nehmen.

Die Atmosphäre des Raumes veränderte sich, zunächst kaum merklich, aber nach und nach immer deutlicher. Maria war wieder da. Theodor richtete sich ein wenig in seinem Sessel auf.

„Danke, Maria.“

Er hatte plötzlich ein Glas vor sich stehen, das eine weisse Flüssigkeit enthielt. Natürlich, es war Milch. Mark begann langsam eine Abneigung gegen dieses Getränk zu entwickeln. Direkt vor ihm erschien aus dem Nichts nun ebenfalls ein Glas Milch. Seltsam...

Wieder hatte nichts gehört, nichts gesehen. Lediglich sein Gefühl sagte ihm, dass eine dritte Person im Zimmer war. Er spürte im Augenblick aber nichts Böses. Dieser Geist, oder was immer es war, war sicherlich nicht dämonischen Ursprungs. Hier spielten andere Gründe eine Rolle, die er nicht kannte, die er aber in Erfahrung zu bringen hoffte.

„Danke“, brachte er etwas mühselig hervor. Das Hinstellen des Glases war wenigstens etwas, auf das er reagieren konnte. Vielleicht konnte er damit Theodor auch wieder versöhnlich stimmen.

Tatsächlich wandte ihm der Alte wieder das Gesicht zu. Er beugte sich nach vorn, hob das Glas und trank einen Schluck Milch. Er stellte das Glas ab und lächelte ein ganz klein wenig. Mark tat es ihm gleich, obwohl ihm jetzt wahrlich nicht der Sinn nach Milch stand. Aber es gab nichts Anderes. Ausserdem wollte er gute Miene zum Spiel machen und nicht gleich wieder unangenehm auffallen.

Die unsichtbare Gestalt entfernte sich wieder, blieb aber im Raum. Er hatte das Gefühl, dass Maria sich in den dritten Sessel setzte. Warum konnte er die Aura dieses Wesens so deutlich spüren?

Am Liebsten wäre er jetzt aufgestanden und hätte gern so schnell wie möglich das Haus verlassen. Er fühlte sich nicht wohl. Aber was sollte er wirklich tun? Er blickte von einem Sessel zum Anderen und zwang sich ein Lächeln ab. Die Stille in diesem Zimmer wurde langsam für ihn unerträglich. Irgend jemand musste doch etwas tun, etwas sagen. Oder sprach Maria bereits mit ihm, er konnte es nur nicht hören?

Hilflos sichten seine Augen Theodor, der ihn unverwandt anstarrte. Mark war jetzt sogar sicher, dass die unsichtbare Frau mit ihm sprach. Verdammt, was sollte er antworten?

Im Grunde hatte er keine andere Wahl. Er musste hier erst einmal verschwinden. Er war ja eher ein Mensch des Handelns, aber das hier drohte ihn zu Überfordern. Ein Handeln war einfach nicht möglich, da es im Grunde Nichts gab, was er tun konnte. Dieser Geist verhielt sich ruhig, schien nichts Böses im Schilde zu führen.

Er musste hier `raus. Es war zwingend erforderlich, sich Informationen zu holen. So konnte er hier nichts erreichen. Wenn es möglich wäre, mit Hinnerk zumindest zu telefonieren, gab es eine Chance, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Vielleicht konnte James, dieser unnahbare Butler, der schon seit ewigen Zeiten in Diensten des Ordens stand, etwas bewegen. Stille Wasser sind tief. Irgendwie wurde Mark nie das Gefühl los, dass James mehr darstellte als er vorgab. Obwohl er dem Mann uneingeschränkt vertraute, war er nicht sicher, ob James Verbindungen innerhalb des Ordens nicht grösser waren. Aber es war jetzt auch müssig, darüber Überlegungen anzustellen. Wichtig war dahingehend nur, dass James eben möglicherweise Hinnerk erreichen konnte.

Theodor sah ihn inzwischen schon wieder etwas böse an. Vermutlich hatte Maria etwas gesagt, das eine Antwort erfordert hätte. Er schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich jetzt von ihnen verabschiede. Meine Familie wartet auf mich und ich bin ohnehin viel zu spät dran.“

Er versuchte sein nettestes Lächeln aufzusetzen und blickte die beiden alten Leute an – auch wenn er eben die Frau gar nicht sehen konnte. Er kam sich so blöd vor.

„Sie können jetzt nicht einfach gehen. Maria hat noch so viele Fragen. Warum antworten Sie nicht?“

Das war wieder Theodor, der mittlerweile erstaunlich gut drauf war. Der verwirrte alte Mann war weitestgehend verschwunden. Offenbar hatte die Anwesenheit Marias einen guten Einfluss auf seinen geistigen Zustand.

„Ich kann sie aber verdammt noch einmal nicht sehen und nicht hören“, rutschte es Mark ungewöhnlich aggressiv heraus. Er merkte, dass er die Kontrolle verlor, was ihm eigentlich nie passierte.

„Was soll das heissen? Maria sitzt ihnen doch gegenüber.“

Jetzt hörte Theo sich sogar richtig verärgert an und er versuchte seiner brüchigen Stimme so viel Nachdruck wie möglich zu verleihen.

Mark schloss verzweifelt seine Augen und atmete mehrfach tief durch. Er versuchte sein schneller schlagendes Herz wieder zu beruhigen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl der Wut in sich gespürt. Worüber er wütend zu werden drohte, konnte er noch nicht einmal beantworten. Vielleicht war es die Tatsache, dass er nicht Herr der Lage war. Diese Unwissenheit und Hilflosigkeit drohte ihn verrückt zu machen. Das waren so fremde Gefühle für ihn.

„Das Beste wird sein, wenn ich jetzt wirklich gehe. Ich bin müde“, sagte er nun etwas energischer, heftete seinen Blick regelrecht auf den alten Mann. Er durfte sich jetzt nicht beirren und durch Nichts aufhalten lassen. Er hob die Hände und liess sie dann auf die Armlehnen fallen, machte damit Anstalten, sich zu erheben.

Ganz plötzlich änderte sich wieder die Atmosphäre. Jemand, Etwas schoss regelrecht auf ihn zu. Er hatte keine Zeit zu reagieren. Er spürte wieder einen wuchtigen Stoss, diesmal direkt vor seiner Brust. Dadurch wurde er in den Sessel zurück geworfen. Mit geweiteten Augen starrte er dort hin, wo jetzt eigentlich eine Gestalt hätte sein müssen. Aber da war Nichts. Dennoch spürte er Hände, die über seinen Oberkörper tasteten. Ehe er überhaupt eine Chance hatte, etwas gegen die Gefahr zu unternehmen, legten diese Hände sich um seinen Hals. Mark suchte nach einer Möglichkeit der Gegenreaktion, doch es war zu spät. Erbarmungslos drückten unsichtbare Finger ihm die Luft ab.

 

***

 

„Hallo, James, ist Mark inzwischen angekommen?“

Der Butler hielt in seiner Arbeit, ein paar `Stullen´ für den verspäteten Herrn des Hauses zu belegen, inne und richtete sich auf. Er wandte den Kopf und blickte auf Sabrina Funke, die im Türrahmen stand und sich die Augen rieb.

„Ich habe doch Stimmen gehört, oder nicht?“

„Das ist korrekt, Mylady. Der Herr hat sich telefonisch gemeldet und eine weitere Verspätung angekündigt. Es ist damit zu rechnen, dass sich seine Ankunft um eine weitere Stunde verzögert.“

Die junge Dame stand in einem langen, geblümten Nachthemd da und lehnte sich gegen den Türrahmen. Sie schaute aus kleinen Augen auf den Butler. Sabrina war sichtlich müde. Ihre dunklen Haare hingen ungekämmt und etwas wirr herunter. Eine Tatsache, die James dazu veranlasste, das Messer, das er noch in der Hand hielt, auf das Brett zu legen und zu ihr hinüber zu gehen. Innerlich war er etwas ungehalten darüber, dass Sabrina so einfach aufgestanden war und auf nackten Füssen durch das Haus streifte. Das untergrub seine Autorität, denn immerhin hatte er ihr die nötige Bettruhe längst verordnet gehabt. Dennoch sah er sich veranlasst, ihr kurz zu berichten, was Mark ihm erzählt hatte. Immerhin galt es auch, die junge Dame zu beruhigen. Was aber an der eigentlichen Tatsache, dass sie hier unnötig herum lief, nichts änderte.

„Sie hätten nicht herunterkommen brauchen. Ich denke, Sie werden die Ankunft Herrn Larsens schon erfahren. Ausserdem brauchen Sie ihren Schlaf. Und, wenn ich es bemerken darf, Sie sollten der Beeinträchtigung Ihrer Gesundheit nicht Vorschub leisten, indem Sie keine Fussbekleidung tragen.“

„Aber es ist doch warm, James, selbst der Boden. Oder spielen Sie darauf an, dass ich mir eine Verletzung zuziehen könnte? Dann hiesse das aber, dass das Haus nicht gerade in einem sauberen Zustand ist.“

Sie blickte James keck direkt in die Augen, der innerlich erschrak. Diese Argumentation hatte etwas Entwaffnendes für ihn. Dennoch beugte er sich herunter, öffnete eine Tür im unteren Teil des Küchenschrankes und holte dann ein Paar einfache Hausschuhe hervor. Die Frage, warum er diese Schuhe in der Küche aufbewahrte, stellte Sabrina gar nicht erst. James hatte immer das Passende zur rechten Zeit parat. Vermutlich würde sie ihn mit einer entsprechenden Frage sogar beleidigen. Er stellte die weissen, flauschigen Hausschuhe direkt vor ihre Füsse. Natürlich waren es auch weibliche Schuhe, die Perfektion musste gewahrt bleiben. Sabrina seufzte, zuckte die Achseln und schlüpfte dann in die weichen Schuhe.

„Ich sollte Sie wieder in Ihr Gemach geleiten, Mylady. Ich bin sicher, dass Sie zu gegebener Zeit erfahren werden, wenn der Herr wieder im Haus ist. Ausserdem schickt es sich nicht für eine hübsche junge Dame, beinahe unbekleidet herum zu laufen, wenn ich es einmal so formulieren darf.“

„Unbekleidet?“

Sicher, das Nachthemd war leicht, aber es war undurchsichtig und reichte bis über die Knie hinunter. Da konnte man wohl schlecht behaupten, dass sie nichts am Körper trug. Aber James war ein überaus korrekter Mann. Möglicherweise waren seine Vorstellungen, wie man sich innerhalb des Hauses zu kleiden hatte, etwas antiquiert. Oder sollte sie gar durch ihren lockeren Aufzug gewisse Reize auf ihn ausüben? Dem Butler war nichts anzumerken. Sabrina kam es manchmal ohnehin so vor, als wäre er asexuell. In dieser Hinsicht hatte er noch nie etwas durchblicken lassen, wie seine Interessen lagen.

James streckte einen Arm vor. Sabrina lächelte nur und legte dann den Ihren darauf. Langsam liess sie sich von ihm aus der Küche geleiten. Sie gingen den direkten Weg zur Treppe und in den ersten Stock hinauf, wo sich die Schlafzimmer befanden. Schon nach kurzer Zeit erreichten sie die Tür zu dem Raum, in dem Mark und Sabrina residierten. James öffnete zwar noch die Tür, aber ein Eintreten untersagte er sich.

„Sie sollten sich ihre dringend benötigte Ruhe geben, Mylady. Ich denke, Sie werden es bemerken, wenn Herr Larsen wieder im Haus ist. Spätestens wohl, wenn er dieses Zimmer betritt.“ Seine Stimme hatte er gedämpft. Immerhin schlief auf dieser Etage auch Christine, die er unter gar keinen Umständen zu wecken gedachte.

„Da haben Sie Recht, James. Entschuldigen Sie, dass ich Sie bei Ihrer Arbeit gestört habe“, antwortete Sabrina ebenfalls sehr leise.

James nickte nur höflich. Sabrina betrat das Schlafzimmer und er schloss leise die Tür hinter ihr. Sie konnte keine Schritte hören, doch sie wusste, dass er sich entfernte.

Mitten im Raum blieb sie stehen. Eigentlich war der Butler ein netter Mann, wenn er nur nicht so furchtbar steif wäre. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte tiefer in die Seele dieses Mannes vor dringen, um zu erfahren, was er wirklich für ein Mensch war. Auch einer wie James musste doch Interessen und Gefühle haben. Oder doch nicht? War sein Leben die Erfüllung dieser Aufgabe?

Wieder zuckte sie mit den Achseln und ging zum Bett hinüber. Sie stiess hörbar die Luft aus, als sie sich darauf nieder liess. Der Raum war so leer ohne Mark. Für sie allein war er viel zu gross.

Sie schlüpfte aus den Hausschuhen und legte sich hin. Ihre Augen blieben geöffnet. Obwohl sie wirklich müde war, konnte sie nicht gleich einschlafen. Eine Unruhe, die sie nicht erklären konnte, war in ihr. Irgend etwas stimmte nicht mit der Verspätung des Mannes, den sie liebte. Sie konnte nicht sagen, was es war. Sie spürte einfach, dass Mark nicht nur aus jenem Grund länger fern blieb, weil er einem alten Mann helfen wollte. Dahinter steckte noch mehr und es war ihr, als könnte die Gefahr beinahe fühlen, in der Mark sich befand.

 

***

 

Der Druck war kräftig, aber nicht eisern. Automatisch fuhr Mark mit seinen Händen hoch. Er versuchte die gegnerischen Arme zu greifen, was nicht sehr einfach war. Die Luft wurde knapp. Er umschloss mit seinen Händen die Arme Marias und versuchte den Würgegriff zu lockern. Über die Seltsamkeit, dass die Arme nicht wirklich aus Fleisch und Blut wirkten, sondern irgendwie weich waren und nachgaben, dachte er jetzt nicht nach. Die Zeit dazu fehlte ihm.

Er schaffte es zwar, den Griff etwas zu lockern, doch es brachte nicht wirklich etwas. Er konnte trotzdem nicht atmen. Eine letzte verzweifelte Möglichkeit blieb ihm noch, bevor die Kräfte ihn verliessen. Er stemmte seine Füsse gegen den Boden und drückte durch seinen Körper den Sessel zur Seite. Es funktionierte, obwohl die Chance dazu gering gewesen war. Der Sessel kippte zur Seite. Die würgenden, irgendwie schwammigen Hände verschwanden und Mark rollte über den Boden.

Jetzt durfte er keine Zeit verlieren. Obwohl er nach Atem rang, kam er sofort auf die Beine. Er stand neben dem Kamin und blickte sich um. Nein, das war der falsche Weg. Er durfte sich nicht so sehr auf seine Augen verlassen. Die Gegnerin war nicht zu sehen. Er konnte sie aber spüren, das war zumindest bisher der Fall gewesen.

Theodor sass ohne eine Regung in seinem Sessel. Der alte Mann wäre gar nicht in der Lage, ihm zu helfen. Trotz der Situation wurde Mark klar, dass Theo nicht im Mindesten eine Chance hatte. Diese unsichtbare Frau hatte alle Macht über ihn. Vermutlich schlug sie ihn sogar.

Mark versuchte den Blick zu leeren. Die Augen zu schliessen war auch falsch, da er bei jeder Bewegung wahrscheinlich irgendwo anstossen würde. Aber er musste erreichen, dass seine Sinne ausser Maria alles nur noch beiläufig wahr nahmen. Er konzentrierte alles nur auf die Aura dieser Frau, von der er noch nicht wusste, was sie überhaupt darstellte. Darum konnte er sich hoffentlich später noch kümmern. Im Augenblick waren seine Sorgen anders gelagert.

Maria war vor ihm. Seine Sinne nahmen die unheilvolle Ausstrahlung wahr. Sie musste wie er zu Boden gefallen sein, sonst hätte er nicht so viel Zeit gehabt. Mark verliess sich jetzt ganz auf seinen Instinkt, von dem er wusste, dass er sehr gut ausgeprägt war. Mehr als eine gefährliche Situation hatte er schon damit gemeistert.

Jetzt!

Er machte einen Sprung zur Seite. Nicht zu spät, denn den Bruchteil einer Sekunde später knallte etwas gegen die Wand, genau in der Höhe, wo sein Kopf sich befunden hatte. Verdammt, Maria hatte einen Gegenstand, mit dem die kräftig zuschlagen konnte. Das war nicht gerade von Vorteil für ihn. Aber ihm wurde plötzlich klar, dass die Frau auf eine gewisse Art materiell war, immerhin hatte er auch ihre Handgelenke umschliessen können.

Wieder stand er konzentriert da. Er glaubte genau zu wissen, wo sie sich befand. Es war beinahe so, als könnte er sie sehen. Maria holte erneut aus. Mit einem Schrei warf Mark sich nach vorn. Wuchtig prallte er auf den Körper, der ihm fast ein wenig wie Gelee vorkam. Was immer diese Frau auch darstellte, sie reagierte wie ein Mensch. Mark versuchte sie zu umfassen, doch das war nicht ganz einfach. Er fiel mit dem unsichtbaren Körper zu Boden. Er hörte keinen Laut von der Frau, kein Ächzen, kein Stöhnen. Mit der Faust schlug Mark einfach zu, dort hin, wo er den Magen vermutete.

Es war jetzt irrelevant, ob er es mit einer Frau zu tun hatte oder nicht. Dieses Wesen trachtete ihm nach dem Leben. Da konnte er keine Rücksicht nehmen. Noch einmal schlug er zu, dann noch ein drittes Mal.

`Raus hier´, schoss es durch seinen Kopf. Er musste das Weite suchen. Wenn er es schaffte, dieses Haus zu verlassen, hatte er vielleicht eine Chance. Es war gut möglich, dass die Frau die körperlichen Eigenschaften eines Menschen hatte. Dann war er ihr mit Sicherheit überlegen. Zunächst einmal würde sich die Überlegenheit darin äussern, dass er vor ihr weglaufen konnte.

Sofort kam er auf die Beine. Für einen Moment schwankte er. Das Ganze war für seinen Körper etwas zu überraschend gekommen. Aber er fing sich schnell. Seine Schläge hatten offenbar nichts genutzt. Er konnte spüren, dass Maria auf die Beine kam. Also war sie körperlich doch nicht mit einem Menschen gleich zu setzen. Da hatte er sich doch mehr erhofft. Unaufmerksamkeit für einen winzigen Moment.

Der wuchtige Schlag traf ihn am rechten Arm. Mark wurde zu Seite geschleudert, fiel quer über den Sessel, in dem Theodor sass, und landete schmerzhaft auf der anderen Seite. Die Frau hatte offenbar recht beachtliche Körperkräfte. Sein rechter Arm schmerzte. Darauf durfte er jetzt aber keine Rücksicht nehmen. Er musste versuchen, es zu ignorieren.

Wo war sie jetzt? Mark kam neben dem Sessel hoch und starrte mit leerem Blick nach vorn.

Nein, sie war Links von ihm, stand jetzt zwischen ihm und der Türöffnung, die in den Vorraum führte. Offenbar hatte er ihr aber etwas Respekt eingeflösst. Sie stand nur da und wartete. Das gab Mark Zeit, schnell seine Gedanken zu ordnen. Seine Sinne hielt er auf die Unsichtbare gerichtet.

„Maria, lass ihn gehen. Er hat nichts gestohlen oder kaputt gemacht. Er hat mir nur helfen wollen.“ Theodor richtete sich ein wenig auf und blickte in die Richtung, in der Mark die Frau vermutete. Es klatschte richtig, als er die Ohrfeige kassierte. Er gab einen gequälten Laut von sich und sackte in den Sessel zurück.

Diesen Moment nutzte Mark. Er sprang um den Sessel herum. Diesmal war Maria für einen Moment abgelenkt gewesen. Er hetzte sofort auf den Durchlass zu. Beiläufig registrierte er die Berührung. Offenbar hatte sie versucht, ihn festzuhalten.

Als er im Vorraum war, spürte er, dass sie ihm folgte. Er durfte also keine Zeit verlieren. Er stürzte zur Tür und drückte die Klinke. Mit einem Ruck wollte er sie auf ziehen, doch das ergab nur ein schmerzhaftes Zerren in den Muskeln. Natürlich, wie konnte es auch anders sein, war die Tür verschlossen. Maria hatte gut vorgesorgt und diesen Fluchtweg ausgeklammert.

Jetzt blieb wohl doch nur ein Fenster. Er konnte keine Rücksicht mehr auf die Unversehrtheit der Einrichtung nehmen. Sein Leben war ihm nun wirklich wichtiger als eine Glasscheibe.

Die Aktion mit der Tür hatte ihm entscheidende Zeit gekostet. Maria erreichte ihn und ergriff seinen rechten Arm. Ausgerechnet jenen. Der Schmerz raste in seinen Körper. Er stöhnte auf. Dann wurde er zurück gerissen. Mark flog quer durch den Raum nach hinten, wo es sehr dunkel war. Nach wie vor gab es als einzige Lichtquelle das Feuer aus dem Wohnzimmer. Er streckte hilflos die Arme aus und konnte sich so wenigstens abfangen, als er wieder auf dem Boden landete. Sofort wandte er sich um, blickte in Richtung Tür.

Maria war noch nicht nah heran, das konnte er spüren. Jetzt brauchte er dringend eine gute Idee. Er konnte nur vage Umrisse erkennen. Einige Momente würde es noch dauern, bevor sich seine Augen einigermassen an die Dunkelheit gewöhnen würden. Momente, die er nicht hatte.

Gehetzt ging sein Blick zu allen Seiten. Er lag vor einem Schrank, der direkt neben einer Treppe stand, die offenbar nach oben führte.

Maria kam näher. Er hatte keine andere Wahl. Eine Flucht nach oben bedeutete zwar, dass er sich selbst praktisch in die Enge trieb, aber im Augenblick fiel ihm nichts Besseres ein. Vielleicht gab es später eine andere Variante.

Ächzend kam Mark wieder auf die Beine, schnellte aber im nächsten Moment instinktiv zur Seite. Krachend schlug der schwere Gegenstand in den Schrank. Geschirr schepperte, ein Teil des Inhalts fiel heraus und landete klirrend und splitternd auf dem Boden.

Mark hielt sich wacker auf den Beinen. Schweiss lief ihm über das Gesicht. Er spürte ein seltenes Gefühl in sich: Angst! Ein unsichtbarer Gegner war unberechenbar. Bisher hatte er mit so etwas auch noch Nichts zu tun gehabt. Er wünschte sich, dass es auch für immer so geblieben wäre. Der heutige Abend war keine schöne Erfahrung.

Er wandte sich ab und hetzte die Treppe hinauf, so gut es ging. Viel war wahrlich nicht zu erkennen und das eine oder andere Mal stiess er gegen die Kanten der Stufen. Mit Mühe und Glück konnte er sein Gleichgewicht halten. Er musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass Maria ihm folgte. Sie würde nicht aufgeben. Das aber machte ihm Sorgen. Er selbst würde irgendwann seine Kräfte verlieren, sie aber nicht. Was war dann? Mark hatte nur eine Chance, wenn er zu jenem Zeitpunkt schon möglichst weit von diesem Haus weg war.

Wider aller Vernunft warf er einen Blick zurück, als er den Treppenabsatz erreichte. Natürlich war Nichts zu sehen. Also hiess es, den zweiten Teil der Treppe zu erklimmen. Er verzichtete auf das Wagnis, zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Das war in dieser Situation mit zu viel Risiko verbunden.

Oben angekommen, gönnte er sich keine Pause. Es gab wieder einen grösseren Raum, von dem alle Zimmer abzweigten. Das jedenfalls glaubt er zu erkennen. Er stürzte zu einer der Türen hin und ertastete dort einen Schalter. `Bitte, lieber Gott, gib mir ein wenig Glück´.

Tatsächlich flammte das Deckenlicht auf. Mark stolperte vor Überraschung zurück. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis seine Augen Herren über das Licht wurden. Eine kleine Träne liess sich nicht verhindern. Sie lief über die Wange und vermischte sich mit dem Schweiss.

Maria war auf den letzten Stufen. Er konnte sie nicht hören, aber deutlich fühlen. Sie war glücklicherweise nicht sehr schnell, was wohl darauf zurückzuführen war, dass sie eine alte Frau war. Jedenfalls war das zu vermuten, denn sie war die Ehefrau von Theodor.

Es war so, wie Mark es angenommen hatte. Er hatte sich in eine schier aussichtslose Lage manövriert. Unentschlossen stand er da. Es gab zwei Türen, durch die es in andere Räume ging. Was hatte er da schon für eine Wahl. Er sah sich in eines dieser Rollenspielheftchen versetzt, wo man am Ende einer jeden Szene eine Entscheidung wählen musste, die zum Vor- oder Nachteil gereichte.

Er entschied sich für Variante A. Die Tür war direkt hinter ihm. Er hatte sowieso kaum Zeit, eine andere Entscheidung zu fällen, denn Maria war wieder gefährlich nahe.

Mark ertastete die Klinke, drückte sie und liess sich dann einfach nach hinten fallen. Zum Glück ging die Tür auch wirklich nach innen auf. Zwei, drei Schritte nach hinten, dann wirbelte er herum und schlug die Tür wieder ins Schloss. Tief durchatmend lehnte er sich gegen das Holz und wartete ab. Der Schweiss liess sein leichtes Shirt inzwischen am Oberkörper kleben. Darauf konnte er jetzt aber nun wirklich nicht achten. Er befand sich ohnehin nicht auf einem Schönheitswettbewerb.

Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tür, doch im Moment geschah Nichts. Hatte Maria aufgegeben? Das war sicherlich eine Illusion. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er es hier mit einem Phänomen zu tun hatte, das seine Vorstellungskraft sprengte. Maria war nicht einfach nur ein Geist. Ein unsichtbarer Mensch war sie ohnehin nicht. Mark musste daran denken, wie seltsam sich der Körper des unsichtbaren Wesens angefühlt hatte. Das war kein menschlicher Körper. So wie es sich darstellte, war die Form zwar menschlich, hatte Arme und Beine. Aber die Materie schien weich und instabil. Er hatte das Gefühl gehabt, in ein flauschiges Kissen zu schlagen. Dadurch hatte er natürlich Nichts erreichen können.

Aber Maria musste wie ein Mensch aussehen. Theodor konnte sie sehen und mit ihr sprechen. Für ihn war dieses Wesen real. Oder waren seine Sinne so verwirrt, dass er es sich nur einbildete? Mark hatte jetzt schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass die Unsichtbare existent war. Die aktuellen Schmerzen in seinem rechten Arm waren deutlich genug.

Rumms!

Etwas krachte gegen die Tür und liess sie erzittern. War es Maria? Es wäre das erste Mal, dass er etwas von ihr hörte. Aber eine solche Aktion, das Anrennen gegen eine verschlossene Tür, konnte einfach nicht geräuschlos ablaufen. Mark stemmte sich verbissen gegen das Holz. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass sie in diesen Raum eindrang. Was seine Augen vage wahrnehmen konnte, liess nicht gerade grosse Hoffnungen zu. Er war in eine Art Abstellkammer geraten, klein an Fläche, voll gestellt mit allem möglichen Gerümpel, der vermutlich vollkommen nutzlos war. `Variante B wäre vielleicht doch besser gewesen´, dachte er mit einem Anflug von Galgenhumor. Oder konnte er den gesplitterten Besenstiel, der in etwa zwei Meter Entfernung zu sehen war, als Waffe benutzen? Seine Faustschläge hatten keine Wirkung gezeigt. Was war aber, wenn er Maria ernsthaft verletzen konnte?

Wieder krachte etwas gegen die Tür, und dann wieder. Die Abstände wurden kürzer und erstaunlicherweise wuchtiger. Mark hielt diesem Ansturm noch stand, aber wie lange noch?

Die augenblickliche Situation machte ihn fast wahnsinnig. Er war ein Mensch des Handelns, hielt gern die Fäden in der Hand. Auch wenn es Situationen gab, die er nicht beherrschen konnte, so hatte er immer eine Möglichkeit gefunden, selbst aktiv zu sein. Hier war es völlig anders. Er war noch nicht ein einziges Mal wirklich in der Lage gewesen, selbst zu agieren. Ständig war er in die Rolle des Reagierenden gedrängt. Eine vollkommen neue Erfahrung.

Wieder und wieder rannte die Unheimliche gegen die Tür an. Ihre Kraft schien ungebrochen. Nein, sie konnte kein Mensch sein. Aber er, Mark, war so eine Kreatur. Er wusste, dass er dem nicht ewig die Stirn bieten konnte. Irgendwann würde der Kraftaufwand für ihn zu viel sein. So etwas wie Panik drohte sich wieder in ihm breit zu machen. Er schaffte es, diese Aufwallung der Gefühle zu unterdrücken. Planlose Reaktionen konnte er sich jetzt nicht mehr leisten.

Sein Blick wanderte umher. Er hoffte, eine Möglichkeit zu finden, doch er konnte nicht sehen, was ihm eventuell einen Vorteil verschafft hätte. Rechts von der Tür war ein kleines Fenster in die Wand eingelassen, durch das er gerade so durchpassen würde. Wenn alle Stricke reissen sollten, dann musste er es eben so versuchen. Aber das sollte die letzte Variante sein. Immerhin befand er sich im ersten Stock. Er wusste nicht, was ihn auf der anderen Seite des Fensters erwartete. Vermutlich nur der freie Fall in die Tiefe.

Es knirschte und krachte entsetzlich, als das Schloss brach. Jetzt war es deutlich, dass er dem nicht mehr stand halten konnte. Wenn er doch nur einen Geistesblitz haben würde, irgend eine grossartige Idee, die den Spuk zumindest vorläufig in die Schranken weisen konnte. Aber da kam Nichts, er war mit seinem Latein schon jetzt am Ende. Er konnte nur hoffen.

Wieder und wieder knallte es. Mark wurde mächtig durchgeschüttelt. Wenn Maria ein Mensch gewesen wäre, hätte sie ihm Respekt abgenötigt. Die Beharrlichkeit war schon sehr beeindruckend. Aber sie war nun mal kein Mensch.

Genau in diesem Moment verloren seine Füsse den Halt. Der nächste Schlag gegen die Tür katapultierte ihn regelrecht nach vorn. Mark schrie überrascht auf und fiel dann in das Gerümpel vor ihm. Im Fallen griff er instinktiv nach dem zerborstenen Besenstiel. Es krachte und splitterte um ihn herum. Schmerzen rasten durch seinen Körper. Seine letzte Reaktion im Fallen war, sich so zu drehen, dass er auf dem Rücken zu Liegen kam.

Wuchtig wurde die Tür aufgestossen, so dass sie seitlich mit lautem Knallen gegen die Wand schlug. Entsetzt starrte Mark auf die Öffnung, in der Niemand zu sehen war. Aber Maria war da und er glaubte zu spüren, dass sie sehr zornig war.

Hilflos lag er in dem Müll und sah dem Unheil entgegen. Verzweifelt riss er den Besenstiel hoch und hielt ihn in die Richtung, aus der Maria kommen würde.

Plötzlich ein Widerstand. Der Stiel bohrte sich tief in das unsichtbare Wesen. Kein Laut war zu hören, Nichts, was darauf hindeuten könnte, ob die Aktion Wirkung gezeigt hatte.

Etwas drückte auf seinen Körper. Maria! Sie musste jetzt direkt auf ihm hocken. Der Besenstiel wurde seiner Hand entrissen und quer durch den Raum geschleudert. Mark versuchte sich zu wehren, doch es war wieder, als würde er in eine weiche Masse greifen.

Jetzt spürte er eine Hand an seiner Kehle. Obwohl sie unsichtbar war, glaubte er nun fast, sehen zu können, wie Maria mit dem anderen Arm ausholte. Der Moment war gekommen, da sie ihn in die ewige Dunkelheit schicken würde.



                                                                         Silence

                                                                         Can tell me where to go

                                                                         A golden hall of ghosts

                                                                         In my head

                                                                         Silence

                                                                         So individual

                                                                         Can no one hear the voices

                                                                         From another World?

(Andy Kuntz/Abydos “Silence”)

)

3. Kapitel:

Ein Geist verschwindet


 


3. August 2004

„Mann, Theo, Du solltest Dir wirklich mal ein paar anständige Klamotten zulegen.“

Heinrich Klödner grinste schief, als er den alten Mann anblickte. Theo war schon ein komischer Kauz. Er wusste nicht mehr zu sagen, seit wie vielen Jahren dieser Mann bei ihm Lebensmittel kaufte. Meist Milch, Kartoffeln und Gemüse. Er hatte immer einen Zettel mit, den seine Frau ihm schrieb. Das Geld trug er abgezählt lose in der Tasche.

In all den Jahren hatte der Typ nie andere Kleidung getragen. Immer diese Sachen, die man nur im Haus trug. Leichte Stoffhosen, alte Hemden und Pantoffeln. Seit einiger Zeit hatte er sich angewöhnt, einen Bademantel zu tragen, unter dem er auch nur diese einfachen Sachen am Körper hatte.

„Gibt Maria Dir etwa kein Taschengeld?“

Theodor blickte kurz auf, es wirkte aber so, als hätte er den Bauer gar nicht richtig verstanden.

„Es ist warm draussen, mir reichen die Sachen.“

Klödner zuckte die Achseln. Irgendwie mochte er den alten Mann zwar, aber es war nun wirklich nicht seine Aufgabe, sich in seine privaten Belange einzumischen. Letztlich konnte es ihm egal sein, wie Theo herum lief. Er kam immer treu zu ihm gelaufen und holte seine Lebensmittel ab. Hin und wieder kaufte er sogar mal ein Stück Fleisch. Ein Freund grosser Worte war er auch nicht. Längere Unterhaltungen zwischen ihnen hatte es noch nicht gegeben.

„Alles klar, dann mach’ es gut, Theo. Bis zum nächsten Mal.“

„Ja.“

Klödner hob eine Hand zum Gruss und drehte sich dann ab. Theo wandte sich zum Gehen. Er hatte einen grossen Leinenbeutel, in dem er die Sachen transportierte, die er bei dem Bauern gekauft hatte.

Langsam trottete er davon. Der Bauer wandte sich noch einmal um und schaute ihm hinterher. Er vermutete, dass seine Maria ihn an der kurzen Leine führte. Theo war ein sehr ruhiger Charakter und er nahm es vermutlich ohne Murren hin, dass seine Frau die Hosen an hatte. Na ja, jeder sollte so leben, wie er es gern mochte. Und wenn Theo mit seinem Los zufrieden war, wen sollte es dann kümmern.

Der Hof befand sich etwa hundertfünfzig Meter abseits der Strasse. Theo ging langsam den staubigen, ungepflasterten Weg, der von den Spuren des Traktors tief zerfurcht war, entlang. Er nahm nicht viel von seiner Umgebung wahr. Es interessierte ihn nicht, immerhin wohnte er ja auch schon seit Ewigkeiten hier.

Sein Leben war einfach. Er machte sich nie grosse Gedanken, war zufrieden mit dem, was er hatte. Maria sorgte für alles. Er brauchte sich um Nichts zu kümmern. Schon als er sie geheiratet hatte, war sie die Stärkere von ihnen gewesen. Wann war das eigentlich gewesen? Er hatte sich immer nach dem gerichtet, was sie vorgegeben hatte. Auf seine Art war er glücklich. Er war nie ein starker Charakter gewesen und seine Maria war ein Idealfall für ihn. Sicher, manchmal war sie sehr Jähzornig. Sie hatte keine guten Nerven und liess dann ihre Gefühlsausbrüche an ihm aus. Aber das machte ihm Nichts. Maria konnte auch sehr lieb sein. Das waren dann richtig schöne Momente.

Er erreichte die Hauptstrasse und hielt sich von nun an seitlich der Fahrbahn. Stur lief er seinen Weg, schaute kaum hoch. Die Autos, die an ihm vorbei fuhren, registrierte er praktisch gar nicht. Hin und wieder gab es einen Fahrer, der anhielt. So kam es, dass er manchmal bis zu seinem Haus mit genommen wurde. Wichtig war das aber nicht. Die Bewegung tat ihm gut und eine wirkliche Entfernung war es auch nicht.

Theodor ging ruhig seinen Weg am Strassenrand, den Blick immer nach unten gerichtet. Er kümmerte sich so wenig um die Welt, die ihn umgab, wie die Welt sich um ihn kümmerte. Vielleicht war es nicht richtig, aber konnte und wollte er es ändern?

Wenn seine Gedanken überhaupt bewegt waren, dann drehten sie sich meist um Maria. Worum auch sonst. Ohne sie wäre er Nichts und allem hilflos ausgeliefert. Liebe, das war ein sehr strapaziertes Wort. Nein, Liebe war nicht die richtige Umschreibung. Es war mehr, da war er sicher. Aber er hatte auch Angst. Seine Frau war sehr leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie war dann unberechenbar, gewalttätig. Mehr als ein Mal hatte er es schon zu spüren bekommen. Und die Fremden?

Er musste immer an die jungen Leute denken, die vor Jahren in ihrem Wohnzimmer gewesen waren. Es war das erste und einzige Mal gewesen, dass er ein Gefühl gegen Maria entwickelt hatte. Warum hatte sie dem jungen Mann nicht zugehört? Warum hatte sie ihm keine Chance gegeben?

Als das Haus in Sicht kam, verlor er diese Gedanken wieder. Er war kein Mensch, der sich lange mit einer Sache beschäftigte. Es machte für ihn keinen Sinn, sich mit den Problemen seines Lebens auseinander zu setzen. Und wenn es nötig war, dann tat Maria es für ihn.

Er bog von der Strasse auf den kleinen Sandweg ab, der zu ihrem Haus führte. Davor gab es einen kleinen Platz, der wohl als Parkplatz mal gedacht gewesen war. Was für ein Unsinn. Weder er noch seine Frau hatten je einen Führerschein, geschweige denn ein Auto. Kinder hatten sie auch nie in die Welt gesetzt, die hier vielleicht einen Spielplatz hätten haben können. Ein einfaches, ruhiges Leben, kein Risiko, keine Unternehmungen. Theodor hatte nie einen Wunsch nach mehr gehabt.

Als er die Tür des Hauses erreichte, war er doch froh, wieder daheim zu sein. Mit zunehmendem Alter strengte ihn der Weg doch mehr und mehr an. Er war nie ein kräftiger Mann gewesen. Seine einzige körperliche Ertüchtigung war dieser Spaziergang zum Bauern und zurück. Wenn es nötig war, dann half er Maria bei den Hausarbeiten. Oder er sass, wenn es warm war, hinter dem Haus auf dem kleinen Rasen in seinem Stuhl. Meist las er gern. Sie hatten viele alte Bücher, in denen er gern stöberte.

Theodor öffnete die Tür und trat ein. Sie war am Tage immer offen. Nur für die Nacht pflegte Maria abzuschliessen. Das waren alles Sachen, um die er sich keine Gedanken machen musste. Er hatte nicht einmal einen Hausschlüssel. Warum auch, er ging ja doch nie weg.

„Ich bin wieder da, Maria.“ Seine Stimme war kraftlos. Sie war ja auch nie sonderlich strapaziert worden.

Er erhielt keine Antwort. Einen Moment stand er unschlüssig da und wusste nicht so recht, was er nun tun sollte. Fast immer fing Maria ihn sofort ab, nahm den Beutel mit den Lebensmitteln und verschwand dann in der Küche. Alles Weitere war ihre Sache. Er brauchte sich wirklich um Nichts zu kümmern.

Er blickte in Richtung hinterer Tür, die zum Rasen hinaus führte. Jene war durch die geöffnete Tür blockiert, die den Weg in den kleinen Keller frei gab. Licht war in der Öffnung zu sehen. Eigentlich war es ungewöhnlich, denn Häuser wie dieses hatten normalerweise keine Keller. Warum ausgerechnet sie einen hatten, entzog sich seiner Kenntnis. Er hatte das Haus ja auch nicht bauen lassen. Sie waren damals in dieses verlassene Haus eingezogen.

Maria war also vermutlich im Keller. Theodor setzte sich langsam wieder in Bewegung. Er ging zur Tür, wollte dort noch ein Mal nach seiner Frau rufen. Sie bestand darauf, dass er sie immer wissen liess, wenn er wieder im Haus war.

Er registrierte den Schatten viel zu spät, als er die Öffnung erreichte. Maria trat genau in jenem Moment hindurch und stiess mit ihm zusammen. Er stolperte überrascht zurück und prallte an die gegenüber liegende Wand. Das splitternde Geräusch drang beinahe schmerzhaft an seine Ohren. Die Milchflaschen!

Dass ihm sein Rücken durch den Aufprall weh tat, war in diesem Augenblick zweitrangig. Er blickte entsetzt auf Maria, die ihn zornig anstarrte.

„Du bist und bleibst ein Tölpel. Konntest Du nicht warten, bis ich wieder oben bin? Ich habe Dich doch gehört.“

Ihre Stimme war kräftig, schneidend. Theodor zuckte zusammen.

„Sieh´ nur, was Du angerichtet hast. Jetzt hast Du die ganzen Flaschen kaputt gemacht.“

Betroffen richtete er seinen Blick auf den Beitel, der unten schon völlig durchnässt war und aus dem die Milch zu Boden tropfte. Er registrierte beiläufig, dass Maria einen Schritt nach vorn machte und mit dem linken Arm ausholte. Unwillkürlich duckte er sich ein wenig. Er wusste, was jetzt folgen würde. Er hatte sie wütend gemacht.

„Du bist ein Versager. Wenn ich mich nicht ständig um Dich kümmern würde, dann wäre bei Dir wohl schon alles am Ende gewesen.“

Theodor kniff in Erwartung der Schläge und der Schmerzen die Augen zusammen. Er ertrug ihre Wutausbrüche immer. Aber er konnte diesmal doch gar Nichts dafür? Wie hatte er ahnen können, dass sie genau in jenem Moment durch die Tür kommen würde, da er sie erreichte?

Die Ohrfeige traf ihn mit voller Wucht. Sein Kopf knallte gegen die Wand. Schmerzen rasten durch seinen Schädel. Seine Wange begann sofort zu glühen.

„Nein, Maria, ich habe doch nicht gewusst, dass Du unten im Keller warst.“

Etwas in ihm regte sich. Er nahm es immer hin, wenn sie ihn demütigte, ihn schlug. Sie konnte doch so lieb sein…

„Du wagst es zu Widersprechen? Es ist doch alles Deine Schuld.“

Vage konnte er erkennen, dass sie wieder ausholte. Er hatte sie durch seine Widerworte nur noch weiter angestachelt. Etwas in ihm explodierte. Es war so Ungerecht. Immer war er an allem Schuld! Immer waren Andere die Bösen!

In dem Moment, da sie zuschlagen wollte, trat er die Flucht nach vorn an. Nein, sie sollte ihn nicht schlagen, nicht dafür. Mit einer instinktiven Bewegung der Hände stiess er sich von der Wand ab. Wuchtig prallte er gegen die korpulente Frau, die beinahe einen Kopf grösser war als er. Der Beutel entglitt seinen Händen dabei endgültig.

Maria war von dieser Reaktion ihres Mannes völlig überrascht. Sie war zu keiner kontrollierten Handlung mehr fähig. Irritiert riss sie die Augen weit auf. Der Stoss katapultierte sie regelrecht nach hinten, direkt durch die Öffnung.

Theodor fiel einfach zu Boden, während Maria jeglichen Halt verlor. Verzweifelt wedelte sie mit den Armen, dann hatte sie kein Gleichgewicht mehr.

Mit einem gellenden Schrei stürzte sie die Kellertreppe hinunter…

 

***

 

Gegenwart…

Es war unmöglich, noch etwas zu unternehmen. In einer letzten verzweifelten Reaktion hob Mark Larsen die Arme vor seinen Kopf. Doch das war eine sinnlose Sache. Der Druck auf seinem Körper war stark. Das unsichtbare Wesen liess ihm keine Chance. Jetzt! Jetzt würde Maria zuschlagen!

Mark kniff die Augen zusammen. Sah so das Ende aus? Sollte er in diesem abseits gelegenen Haus seinen Tod finden? In einem Kampf, der so sinnlos war. Nicht im Widerstreit gegen die dämonischen Mächte.

Wieso konnte er diese Gedanken überhaupt noch zum Ende bringen? Hätte der Schlag nicht schon längst erfolgen müssen? Warum hatte er jetzt nicht höllische Schmerzen? Warum konnte er auch Dieses noch denken?

Sein Herz spürte er im Hals klopfen, in einer extrem überhöhten Geschwindigkeit. Der Druck war verschwunden. Da war keine Maria mehr, die ihn durch ihren unsichtbaren Körper nieder drückte. Seine Arme sackten nach unten. Irritiert blinzelte er mit den Lidern, dann öffnete er die Augen ganz.

Stille umgab ihn, unheimliche bedrückende Stille. Er lag zwischen all dem Gerümpel und spürte jetzt plötzlich, dass einige Gegenstände durchaus schmerzhaft in seinen Rücken drückten. Mark stöhnte schwer und hob dann seinen Oberkörper etwas an. Mit den Ellenbogen stützte er sich ab.

Was war geschehen? Wieso lebte er noch? Oder war der Tod nur ein Übergang in ein und dieselbe Welt? Wo war Maria?

Das Licht aus dem Vorraum gab ihm die Möglichkeit, seine Umgebung jetzt besser wahrzunehmen. Was er sah, liess in ihm jedoch kein Gefühl der Freude aufkommen. Er befand sich tatsächlich in eine Art Abstellraum. Auf Anhieb konnte er nichts Sinnvolles erkennen. Die Tür war weit geöffnet, das Schloss war gebrochen. Die Bedrohung seines Lebens war also keine Einbildung gewesen.

Die Schmerzen in seinem rechten Arm bestätigten dies. Hinzu gesellten sich jetzt jene in seinem Rücken. Sein Hinterkopf war auch noch nicht völlig genesen. Selten waren ihm bisher binnen Kurzem so viele Verletzungen zugefügt worden. An seine Kleidung mochte er jetzt gar nicht denken. Das war auch gar nicht wichtig. Jetzt galt es erst einmal, wieder auf die Beine zu kommen.

Er hatte noch mehr Fragen in seinem Kopf. Antworten konnte er im Augenblick ohnehin nicht finden, also versuchte er sie zu unterdrücken. Er musste erst wieder Herr seiner eigenen Lage werden. Bisher war er von den Ereignissen regelrecht überrollt worden. Er hatte nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit gehabt, die Dinge selbst zu beinflussen. Und wer konnte ihm versichern, dass es von jetzt an so sein würde. Hatte er nur noch einmal eine Atempause bekommen?

Ächzend stemmte er seinen Körper weiter in die Höhe. Die Schmerzen waren nicht ganz von Ohne, aber gottlob war er hart im Nehmen und konnte sie zumindest zum Teil wenigstens ein bisschen überspielen. Mühsam kam er in eine hockende Stellung. Puh, erst wieder etwas Ruhe, tief durchatmen. Dann schraubte er sich langsam hoch. Für einen Moment stellte sich ein Schwindelgefühl ein, das aber sehr schnell wieder verschwand.

Irritiert blickte er von der Tür zum Fenster. Was sollte er jetzt tun? Sein ganzer Körper war in Schweiss gebadet, die Kleidung klebte regelrecht an seiner Haut. Er beschloss, das Fenster zu öffnen. Eigentlich war das ein Risiko, denn in dieser Abstellkammer war er weiterhin ein Gefangener. Die Entfaltungsmöglichkeiten bei einem Angriff waren sehr gering.

Direkt neben dem Fenster stand ein hüfthoher Schrank. Zu seiner Verblüffung stand darauf eine kleine Taschenlampe mit der Glasfläche nach unten. Er griff danach. Sie war nicht eingestaubt. Offenbar wurde sie genutzt. Ein kleiner Test zeigte ihm, dass die Lampe tatsächlich funktionierte. Das Licht flammte grell auf. Die Batterie war scheinbar nicht stark verbraucht. Er schaltete das Licht wieder aus und steckte die Taschenlampe in seine hintere Hosentasche. Wer wusste schon zu sagen, ob er sie nicht vielleicht noch brauchen konnte.

Jetzt wandte er sich dem Fenster zu. Es war etwas beschwerlich, den Riegel zu betätigen, aber er schaffte es dann doch. Das Ding quietschte beachtlich. Er drückte den Fensterflügel nach aussen und spürte sofort die Luft, die sich beinahe kalt über seinen aufgeheizten Körper legte. Tief sog er die Luft ein. Er schloss für einen Moment die Augen und gab sich ganz dem guten Gefühl hin, frei atmen zu können. Langsam legte sich dadurch auch die Verkrampfung seines Körpers.

Mark beugte sich vor und sah nach unten. Sein Gedanke war richtig gewesen. Ein Sturz durch dieses Fenster hätte ihm vermutlich das Leben gekostet. Da war kein Zwischendach mehr. Der Boden des kleinen Hinterhofes war das nächste Hindernis. Es war nur eine kurze Steinfläche, dann begann die Naturfläche. Es gab keine Beete oder andere Pflanzenflächen, nur Rasen.

Licht fiel in den Hinterhof. Es kam aus dem Haus. Wie konnte das sein? Er schaute etwas genauer hin. Offenbar gab es eine geöffnete Hintertür, durch die der Schein in den Hof fiel. Das musste bedeuten, dass jemand das Licht im Erdgeschoss an gemacht hatte. Aber wer konnte das gewesen sein?

Er liess seinen Blick schweifen und entdeckte wenig später eine Gestalt am Ende der Rasenfläche, direkt bei den Büschen, die das kleine Anwesen umgaben. Theo! Das konnte nur Theodor sein. Er musste sich aufgerafft haben und aus dem Haus gegangen sein. Was wollte er dort?

Diese Frage musste er ihm jetzt unbedingt stellen. Mark wandte sich vom Fenster ab und ging langsam zur Türöffnung. Er passierte sie ohne Widerstand.

Maria war tatsächlich verschwunden. Wo mochte sie jetzt sein? Es war mehr als eigenartig, dass sie plötzlich von ihm abgelassen hatte. Es musste etwas Entscheidendes geschehen sein, das sie regelrecht in die Flucht geschlagen hatte. Er konnte sich aber nicht erinnern, dass er etwas Aussergewöhnliches getan hatte.

Er liess das Deckenlicht in der oberen Etage brennen, als er langsam und vorsichtig die Treppe ins Erdgeschoss hinunter stieg. Er war seiner Bewegungen noch nicht absolut sicher.

Tatsächlich, im Vorraum des Erdgeschosses brannte Licht. Zum ersten Mal konnte er diesen Raum deutlich sehen. Im Augenblick interessierte ihn das aber nicht sonderlich. Er wollte jetzt erst einmal aus diesem unheimlichen Haus heraus. So wie sich die Sache darstellte, würde er ohnehin noch nicht verschwinden. Er musste dieses Geheimnis lüften, egal wie.

Die Vordertür war sicherlich weiterhin abgeschlossen. Also musste er zur Hintertür hinaus, die auch Theodor benutzt hatte. Warum war er da nicht gleich drauf gekommen? Solche Häuser hatten sehr oft zwei Ausgänge. Möglich, dass jener auf der Rückseite die ganze Zeit schon geöffnet gewesen war.

Mark umrundete vorsichtig den Scherbenhaufen, der durch den mächtigen Schlag Marias verursacht worden war. Er wollte so wenige Geräusche wie möglich machen. Er wusste nach wie vor nicht, warum Maria plötzlich verschwunden war. Also konnte es sein, dass sie jeden Moment wieder auftauchte. Er spürte im Augenblick Nichts. Seine Sinne waren seine einzige Chance, dieses unsichtbare und offenbar auch unverletzbare Wesen zu orten.

Rechts neben der geöffneten Hintertür befand sich ein geschlossener Durchgang. Vermutlich führte er in den Keller. Mark zögerte einen Moment, aber dann schüttelte er den Kopf. Hinter dieser Tür befand sich sehr wahrscheinlich ein Abgang, der in diesen Keller mündete. Es war wohl nicht nötig, jenen aufzusuchen.

Ungehindert passierte er den Hinterausgang. Puh, jetzt brauchte er nur noch das Haus umrunden und zu seinem Wagen zu gehen, der noch immer mit geöffneten Seitentüren auf dem kleinen Parkplatz stand. Dort würde er sicherlich auch sein Handy finden.

Sein Blick fiel zunächst jedoch auf Theo, der hinten an den Büschen stand. Mark konnte nicht genau erkennen, was der alte Mann dort tat. Also beschloss er, zu ihm hinüber zu gehen. Jetzt, wo er draussen war, gingen seine Befürchtungen zurück, erneut angegriffen zu werden. Und selbst wenn es geschehen sollte, so waren seine Chancen hier ungleich grösser. Im Haus hatte er ja schon feststellen können, dass er schneller war als dieser Geist. Zur Not also konnte er davon laufen.

Was für ein Gedanke. Es war fast entwürdigend, dass so etwas überhaupt durch seinen Kopf wanderte. Er war ein Kämpfer, kein Feigling. Obwohl, war es wirklich feige, vor einer Gefahr davonzurennen, die man nicht sehen und der man dadurch auch nicht effektiv begegnen konnte?

„Was machen Sie hier draussen?“ fragte er, als er den Alten erreicht hatte. Er blieb etwa einen halben Meter von ihm entfernt stehen. Theo trug immer noch seinen Bademantel.

Der Kopf des Mannes ruckte herum, seine Augen weiteten sich. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass Mark hier neben ihm auftauchen würde. Der Schreck darüber hatte ihn erstarren lassen. Er sagte aber keinen Ton.

„Sie werden sich den Tod holen. Soll ich Sie nicht doch lieber wieder ins Haus bringen?“

Die Lippen des Mannes bebten. „Nein.“

„Dann nicht. Das ist ihr gutes Recht. Aber trotzdem, was machen Sie hier?“

Theodor blickte ihn weiter an, als hätte er einen Geist vor sich. Es schien wirklich so, als hätte er nicht mehr mit ihm gerechnet.

„Maria ist sehr böse. Ich will jetzt nicht hinein gehen. Sie schlägt wieder.“

„Maria schlägt auch Sie, nicht wahr?“

Es kam keine Antwort. Die war auch gar nicht nötig. Die Furcht in den Augen des Mannes sprach Bände. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Vermutlich wäre eine Hundertschaft nötig gewesen, um ihn wieder in das Haus zu schieben.

„Maria hat Sie nicht getötet.“ Das schien mehr eine Feststellung zu sein denn eine Frage. Es war wohl wirklich so, dass Theodor über diese Tatsache sehr verwundert war. Das warf natürlich schon wieder Fragen auf. Wenn Theo dieses so erstaunte, dann hiesse das ja…

„Hat sie denn schon Andere getötet?“

Theo zitterte jetzt am ganzen Körper, was sicherlich nicht an der Luft lag, denn die war weiterhin recht mild. Der Grund dafür war nur offensichtlich.

„Ja. Maria kann sehr böse sein. Sie liegen alle hier.“

 

***

 

Sie schreckte mit einem Male hoch. Es gab keine Übergangsphase, die aus dem Schlaf über den Traum zum Erwachen führte. Sabrina Funke richtete sich ruckartig auf. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit.

Sie war tatsächlich eingenickt, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte, auf Mark zu warten. Im Grunde war es unsinnig, sich Sorgen zu machen. Was sollte schon Grosses passieren auf einer Fahrt, die ihn von Cuxhaven nach Hüll führte, auch wenn er einen alten Mann auf der Stecke mitnahm.

Mittlerweile gewöhnte sie sich auch langsam an den Zustand, dass Mark häufig in Gefahr war. Er hatte bisher immer alle Situationen gemeistert. Warum also war sie jetzt plötzlich so in Sorge um ihn? War es diese Ungewissheit?

Sie blickte zur Seite und streckte die Hand aus. Ein Druck auf den entsprechenden Knopf am Wecker liess das Zifferblatt aufleuchten. Es war noch nicht einmal zwei Uhr. Aber das bedeutete, dass Mark längst überfällig war. Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass er nicht neben ihr im Bett lag, die sie beunruhigte. Aber das kam häufiger vor, als ihr lieb sein konnte. Allerdings wusste sie dann immer, wo er war. Jetzt aber…

Sie sah sich einfach gezwungen, wieder aus dem Bett zu steigen, um nach unten zu gehen. Was James jetzt wohl gerade tat? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihm diese Tatsache, dass Mark sich weiter verspätete, egal war. Er würde sich zwar nichts anmerken lassen, aber es beschäftigte ihn vermutlich ähnlich wie sie.

Sie knipste die Nachttischlampe an, schlug die Decke zurück und schwang ihre Füsse aus dem Bett. Dieses Mal schlüpfte sie gleich in die Hausschuhe, die sie von James erhalten hatte. Sie wollte seine Geduld nicht unnötig auf die Probe stellen. Obwohl, es war sicherlich reizvoll, zu erfahren, wo er dieses Mal ein Paar Schuhe herholen würde. Sie musste davon ausgehen, dass er derart nützliche Dinge im ganzen Haus verteilt hatte.

Etwas mühselig stand sie auf. Eigentlich war sie müde. Es wäre ihr wohl auch gelungen, gleich wieder einzuschlafen, wenn sie sich erneut hingelegt hätte. Aber die innere Unruhe verhinderte das. Sabrina wollte erst zumindest mit James sprechen.

Kurz streckte sie ihren Körper, gähnte herzzerreissend, dann ging sie langsam zur Tür. Nein, sie würde sich Nichts über das Nachthemd ziehen. Da konnte James ruhig protestieren.

Als sie das Zimmer verlassen hatte, blieb sie einen Moment stehen, als brauchte sie eine Orientierung. Geräusche hörte sie keine. Also war ausser ihr höchstens noch der Butler wach. Von ihm würde sie aber zu nachtschlafender Zeit nie etwas hören. Er war bestimmt auch in der Lage, eine Explosion im Haus um diese Zeit so zu dämpfen, dass Keiner geweckt würde.

Im Erdgeschoss brannte noch Licht. Natürlich war James noch auf den Beinen. Er würde nicht eher ruhen, bis Mark im Haus war. Die Beleuchtung der unteren Räume war gedämpft, reichte aber aus, um den Weg, den man suchte, zu finden.

Sabrina stieg die Stufen hinab, versuchte dabei so leise zu sein, wie es ging. Dennoch musste James sie gehört haben. Das war eigentlich auch nicht anders vorstellbar.

Er hatte neben dem Telefon gesessen, dessen war sie sicher. Als sie sich dem Butler näherte, stand er natürlich, wie es sich für einen Mann wie ihn gehörte.

Obwohl er keine Miene verzog, konnte sie ihm ansehen, dass er ihr Verhalten missbilligte. Frauen hatten halt doch eine andere Sichtweise für so etwas. Er konnte diese Gedanken nicht vor ihr verbergen.

„Ich weiss, James, ich sollte jetzt nicht hier sein. Aber ich mache mir Sorgen. Hat Mark sich inzwischen bei Ihnen gemeldet?“

„Zu meinem Leidwesen muss ich Ihnen sagen, dass dies nicht der Fall ist. Ich habe mir schon zwei Mal erlaubt, ihn anzurufen, aber er hat auch darauf nicht geantwortet. Ich kann Sie also leider keineswegs beruhigen.“

Sabrina nickte und warf einen sinnlosen Blick auf das Telefon. Irgendwie hoffte sie wohl, dass es jetzt klingeln würde. Der Gefallen wurde ihr leider nicht getan.

Es entstand einen Moment Stille. Sie wussten Beide nicht, was sie jetzt sagen sollten. Es gab eigentlich keinen wirklichen Grund für unnötige Angst. Vielleicht war Mark ja nur auf dem Polizeirevier aufgehalten worden, wo er den alten Mann abliefern wollte. Wahrscheinlich musste er noch diverse Fragen beantworten. Auch eine solche Sache verlangte ihren Bürokratismus.

„Obgleich ich es nicht befürworten kann, dass Sie ihren Schlaf unterbrechen, glaube ich doch, dass es einen Sinn haben könnte.“

Sabrina sah den Butler verwundert an. Das war eine Äußerung, die sie nicht verstand. Was meinte er damit? James erkannte diese unausgesprochene Frage in ihrem Gesicht und sah sich sofort genötigt, eine Antwort zu liefern.

„Nun, ich denke, dass Herr Larsen unter Umständen eine Hilfe gebrauchen könnte. Da er nicht auf einen Telefonanruf reagiert, wird er wohl verhindert sein. Ich würde gern jene Strecke abfahren, die er mir genannt hat, um es herauszufinden. Es mag einen einfachen Grund für das Verhalten geben. Ich möchte jedoch nicht ausklammern, dass er sich in Gefahr befinden könnte. Ich bin mir seiner Berufung und Tätigkeit bewusst.“

„Sie spüren es also auch, James?“

„Was, Mylady?“

„Diese Unruhe hat mich wieder wach werden lassen. Ich musste einfach herunter kommen, um mich zu vergewissern. Leider konnten Sie mich nicht beruhigen.“

„Nun, aus der Tatsache, dass er sich nicht meldet und über jene Zeit der Verspätung hinaus ist, die er genannt hat, lässt sich nicht sehr viel schliessen. Ich möchte nur alle Eventualitäten ausgeschlossen wissen. Wenn ich Sie also bitten könnte, hier am Telefon zu bleiben, dann wäre mir die Möglichkeit gegeben, Herrn Larsen suchen. Ich weiss, dass ich sehr viel verlange, denn Sie brauchen ihren Schlaf und…“

„Schon gut!“ fiel sie ihm ins Wort. Sie hatte die Befürchtung, dass er jetzt zu einem endlosen Vortrag über die Notwendigkeit des Schlafes ansetzen wollte. Kurios dabei war, dass er sich selbst die nötige Ruhe nicht gab.

„Ich würde zwar viel lieber mit Ihnen fahren, aber das wäre wohl nur möglich, wenn wir Christine zur Telefonwache überreden könnten.“

„Das werde ich unter gar keinen Umständen dulden!“ Diesmal war seine Stimme sogar ein wenig schneidend. Hier schien sie dann doch einen wunden Punkt getroffen zu haben. In erster Linie war James nur für Christine da. Er hatte sie ihr ganzes Leben begleitet und sie war sicherlich mehr für ihn, als nur eine zu behütende Person, die er zu umsorgen hatte. Sabrina lächelte etwas verkrampft.

„Nein, nein, das wollte ich damit auch gar nicht sagen. Ich werde mich Ihrem Vorschlag fügen, James. Aber bitte, machen Sie schnell. Vielleicht sollten Sie noch einen Versuch mit dem Telefon machen und dann los fahren.“

„Sehr wohl. Ich werde auch der gebotenen Eile Rechnung tragen.“

Schon hatte er den Telefonhörer in der Hand. Er drückte jene Taste, unter der Marks Handy gespeichert war und hielt die Muschel an sein Ohr. Steif und ohne Gemütsregung wartete er das mehrmalige Klingeln ab. Sabrina verlagerte ihr Gewicht unruhig von einer Seite auf die Andere. Warum antwortete Mark nicht? Es war deutlich, dass sein Handy eingeschaltet war, aber er ging nicht `ran.

James legte wieder auf. Er verzog keine Miene.

„Dann werde ich ihn wohl suchen müssen.“

 

***

 

„Alle!?“

Für einen Moment war es ihm, als würde der Boden unter seinen Füssen schwanken. Die Äusserung bedeutete, dass Maria also mehr als einen Menschen schon getötet hatte. Bei dem Gedanken konnte einem übel werden. Und Theodor hatte es die ganze Zeit gewusst. Möglicherweise war er sogar dabei gewesen, so wie heute.

„Haben Sie jemals irgendeinem Menschen davon erzählt?“ Eigentlich konnte er sich die Frage sparen, denn die Antwort war ohnehin klar.

„Nein. Maria hat es verboten. Und sie würden mir Maria doch weg nehmen. Was soll ich dann tun?“

Obwohl Theodor Mitwisser einer Mordserie war, tat er Mark nur noch leid. Ein hilfloser, schwacher alter Mann, der zu keiner eigenen Initiative mehr fähig war. Alles, was er offenbar allein tat, war, hin und wieder Milch zu kaufen. Was für ein Leben…

„Wo ist Maria jetzt?“ fragte er. Theo blickte ihn etwas ratlos an.

„Das sollten Sie wissen. Sie ist bestimmt im Haus. Ich habe gedacht, dass sie auch Sie erschlagen hat. Haben Sie ihr etwa etwas getan?“

„Sie war auf einmal einfach verschwunden, einfach so. Ich weiss nicht, wo sie jetzt ist.“

Theo antwortete nicht. Er starrte seinen Gegenüber weiter fragend an. Offenbar wusste er mit der Äusserung Marks nichts anzufangen.

„Hören Sie, ich muss dringend telefonieren gehen. Sie sollten besser ins Haus zurückgehen.“

„Maria ist sehr böse heute Abend. Ich weiss nicht… - Sie sollten besser wegfahren. Maria mag Sie nicht.“

Mark nickte. „Das wäre vielleicht eine klügere Entscheidung. Aber erst einmal werde ich telefonieren gehen.“

Damit wandte er sich einfach ab. Was der alte Mann jetzt tat, das konnte er nicht wirklich beeinflussen. Für ihn war nur wichtig, dass er jetzt mit James sprach. Vielleicht gab es doch eine Chance, Hinnerk zu erreichen.

Die Büsche waren recht nah am Haus platziert, aber man konnte ohne Probleme an der Seitenwand entlang zum Parkplatz gehen. Mark bewegte sich unbewusst sehr langsam. In ihm war durchaus die nicht unberechtigte Furcht, dass Maria jeden Moment wieder erscheinen konnte, wenn man bei einer unsichtbaren Person von einem `Erscheinen´ sprechen konnte. Er wollte sich nicht einfach überrumpeln lassen.

Von Weitem schon hörte das Klingeln seines Telefons. Das Geräusch kam aus dem Wagen. Also lag das Handy tatsächlich dort. Es musste es an seiner Tasche vorbei in den Innenraum gerutscht sein. Der Anrufer konnte eigentlich nur James sein – oder vielleicht Sabrina. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass die Sorge daheim wohl berechtigt war.

Er beschleunigte seine Schritte, doch als er den BMW erreichte, verstummte das Klingeln wieder. Mist. Aber das würde wohl kein Problem sein. Er brauchte ja einfach nur den Rückruf betätigen.

Mark beugte sich in den Innenraum und suchte einen Moment. Zum Glück dauerte das nicht lange. Das Telefon war tatsächlich neben den Sitz gerutscht. Für eine solche Unachtsamkeit konnte er sich ohrfeigen. In einer echten Notsituation konnte so etwas über Leben und Tod entscheiden. Da musste er noch deutlich Umsichtiger werden.

Er verliess sich darauf, dass sein Gedankengang richtig gewesen war und drückte die Rückruftaste. Das Klingeln hatte noch nicht einmal geendet, als James sich schon meldete. In diesem Moment war Mark froh, dass auf den Butler Verlass war, wenn er sich auch immer wieder fragte, wie jener es bewerkstelligte.

„James, ich brauche dringend Ihre Hilfe“, überfuhr er die Höflichkeitsfloskeln des Hausdieners. Er wollte sich jetzt nicht die Zeit nehmen, lange um den heissen Brei herum zu reden.

„Wie kann ich Ihnen dienlich sein, Sir.“

„Haben Sie irgendeine Möglichkeit Hinnerk zu erreichen? Es wäre wirklich ungeheuer wichtig. Ich weiss, dass Sie derartige Informationen nicht weitergeben dürfen, aber es wäre doch sehr sehr dringend.“

„Sir, ich weiss nicht, was Sie von mir erwarten. Ihnen dürfte bekannt sein, dass Herr Lührs sämtliche Möglichkeiten ausschliesst, erreichbar zu sein, wenn er zu einem besonders wichtigen Termin fährt.“

„Kommen Sie, James, Sie sind schon hundert Jahre im Dienst des Ordens. Machen Sie mir nicht weis, dass sie immer nur der einfache Butler waren.“

„Meine Betätigung ging niemals über dieses Amt hinaus, wenn ich das so sagen darf. Ich kann ihnen da wirklich keine Auskunft geben.“

„Dann muss ich es wohl hinnehmen.“

„Ich fürchte, das müssen Sie. Ich glaube, Sie überschätzen die Bedeutung meiner Person, Sir. Im Übrigen steht die Lady des Hauses hier neben mir und macht sich schwere Sorgen, was Ihre Person betrifft. Obwohl ich schon mehrfach geraten habe, sich der nächtlichen Ruhe…“

„Schon gut, geben Sie sie mir.“ Er war jetzt wirklich nicht dazu aufgelegt, sich einen Vortrag über die Bedeutung des Schlafes anzuhören. Er war selbst eigentlich schon längst an jenem Punkt angelant, da er sich hätte zu Bett begeben müssen. Aufgrund des Stresses aber hatte er noch nicht ein Mal einen Gedanken an Müdigkeit verschwendet.

Der Telefonhörer wurde weiter gereicht.

„Mark, was ist denn los?“ hörte er die aufgeregte Stimme seiner Freundin. Auch ihm war es eigentlich gar nicht Recht, dass Sabrina immer noch auf den Beinen war.

„Nun, ich befürchte, dass sich mein Eintreffen noch weiter verzögern wird.“

Er gab ihr einen kurzen Abriss von dem, was bisher geschehen war. Sie würde das alles schlucken und glauben, das wusste er. Zu viel hatte sie schon mit ihm erlebt, als dass sie an seinen Worten zweifeln konnte. Er hörte, wie sie mehrfach „Oh!“ am anderen Ende der Leitung machte. Als er geendet hatte, schwieg sie einen Moment.

„Du solltest von dort verschwinden, Mark. Du weißt immer noch nicht, mit wem oder was Du es dort zu tun hast.“

„Ich kann diesen alten Mann nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Zudem weiss ich, dass dieser Geist schon mehrere Menschen getötet hat. Man kann es doch nicht so weiter laufen lassen.“

„Aber Du begibst Dich in unnötige Gefahr.“

„Das weiss ich. Deshalb hätte ich ja gern Hinnerk gesprochen gehabt. Möglich, dass er weiss, mit welch einem Phänomen ich es hier zu tun habe.“

Mark war fest entschlossen, dieses Haus nicht eher zu verlassen, bis er dessen Geheimnis gelüftet hatte. Maria war eine Mordmaschine, zumindest wenn sie wütend wurde. Das musste in irgend einer Form unterbunden werden.

„Ich kann Dich nicht überreden, dass Du die Sache erst einmal ruhen lässt?“ Ihre Stimme war schwer und er konnte die Sorge um ihn deutlich darin hören.

„Du kennst mich gut genug, Sabrina. Ich kann nicht einfach von hier verschwinden und so tun, als wäre Nichts geschehen. Ich muss da jetzt am Ball bleiben.“

„Ich verstehe das zwar, aber ich kann es nicht für Gut heissen. Ich wäre jetzt gern bei Dir.“

„Komme mir ja nicht auf dumme Ideen. Ich habe mit viel Glück mein eigenes Leben durchgebracht. Da wäre es nicht ratsam, wenn wir gegenseitig auf uns Acht geben müssten.“

Am anderen Ende herrschte Schweigen. Sabrina wusste wohl nicht, was sie jetzt noch sagen sollte. Plötzlich meldete sich James wieder.

„Sir, kann ich sonst irgendetwas für Sie tun?“

„Nun ja, da gibt es wohl nicht mehr viel. Sorgen Sie auf jeden Fall dafür, dass Sabrina auf keine dummen Gedanken kommt. Sie darf auf gar keinen Fall hier her kommen. Sie würde sich in allergrösste Gefahr begeben.“

„Sie können auf mich zählen, Sir.“

„Danke, James.“ Er wusste, dass er das konnte. James würde Sabrina vermutlich zur Not an einen Stuhl fesseln, damit sie nicht das Haus verliess.

Er unterbrach die Verbindung einfach wieder. Es hatte ja wirklich keinen Sinn, weiter darüber zu diskutieren, ob James eine Möglichkeit wusste oder nicht. Tatsache war, dass Hinnerk sich trotz gemeinsamer Sache immer noch mit Geheimnissen umgab. Wenn er zu einem dieser Ordenstreffen reiste, dann gab er nicht alles Preis, was dort geschah. Zudem wollte er häufig nicht gestört werden, weswegen er den Ort des Treffens nicht bekannt gab und sein eigenes Handy auf Aus schaltete.

Damit musste Mark jetzt leben. Er war also weiterhin auf sich allein gestellt. Er achtete genau darauf, dass er sein Telefon dieses Mal in die Hosentasche steckte, dann schloss er die Wagentür. Er umrundete das Auto und drückte auch die Beifahrertür zu. Das war jetzt eine prinzipielle Sache. Er musste das einfach tun, um dieser Leichtfertigkeit für die Zukunft entgegen zu wirken.

Dann wandte er sich wieder dem Haus zu. Es wirkte mit einem Mal bedrohlich auf ihn. Die Fenster waren Augen, die ihn beobachteten, sie leuchteten, als wollten sie ihn locken. Wo war Maria? In welchem Raum hielt sie sich gerade auf?

Was sollte er jetzt tun? Aus Theodor war nicht viel herauszuholen. Für diesen Mann existierte diese irreale Situation überhaupt nicht. Er musste also einen anderen Ansatz finden. Vermutlich war alles, wie so oft, ganz einfach. Aber jener Aspekt, der es einfach machte, war eben nicht leicht zu finden.

Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als in das Haus zurückzukehren. Er musste, so lange er unbehelligt blieb, die Räume durchsuchen. Irgendwo konnte er vielleicht etwas in Erfahrung bringen, bei dem er ansetzen konnte. Das war seine einzige Chance.

Merkwürdig, irgend etwas war anders. Er blickte an dem Haus entlang, in dem nun unten und oben beinahe alles erleuchtet war. Wenn jetzt jemand mit dem Auto vorbei fuhr, der musste wohl denken, dass hier eine fette Party abging. Die Fassade gab nichts her. Trotz des Lichtes sah sie aus wie vorher. Und doch…

Die Vordertür war offen!

Mark stutzte, zog wieder einmal die Stirn in Falten. Während der Verfolgung war sie verschlossen gewesen, das hatte sein Arm schmerzhaft in Erfahrung gebracht. Jetzt aber war sie zur Hälfte geöffnet. Das Licht aus dem Vorraum schien dort auf den Parkplatz hinaus.

War Maria durch die Tür aus dem Haus gegangen? Sie war immerhin die Einzige, die einen Schlüssel hatte. Das bedeutete dann aber, dass sie sich in seiner Nähe aufhalten konnte. Mark versuchte sich auf seine Sinne zu konzentrieren. Er konnte Nichts spüren, das auf die Anwesenheit der Unsichtbaren hin gedeutet hätte. Aber das musste nichts heissen.

Eigentlich hatte er wieder zur Hintertür gehen wollen, aber diese Entdeckung erweckte seine Neugier und stachelte ihn an, die Sache zu ergründen. Langsam bewegte er sich zur Vordertür hin, immer auf dem Sprung. Maria konnte jeden Moment angreifen.

Unbehelligt erreichte er den Eingang. Einen Moment zögerte er noch. Es konnte eine Falle sein. Vielleicht lauerte sie direkt hinter der Tür? Nichts, so hatte er festgestellt, war hier unmöglich.

Mit Zögerlichkeit konnte er letztlich keine Entscheidung erreichen. Er musste seinen Mut zusammen nehmen. Fest entschlossen trat er vor und stiess die Tür ganz auf. Sofort ging er in Abwehrstellung, aber es geschah Nichts.

Er konnte den grössten Teil des Raumes überblicken. Diesmal fiel ihm die Veränderung sofort auf. Der Durchgang, den er beim Verlassen des Hauses durch den Hinterausgang wahr genommen hatte, war geöffnet. Licht war darin zu erkennen. Die Tatsache, dass es sich an der Decke spiegelte, legte den Schluss nahe, dass es sich hinter dem Durchlas um einen Kellerabgang handelte.

Vor der Öffnung stand Theodor und blickte in den Keller hinunter. Er sprach mit einer Person dort unten. Mark konnte sich schon denken, wer es war.

„Nein, er ist draussen. Ich glaube, er will wieder herein kommen. - Ja, auch ich finde ihn seltsam.“

Das war wohl auf Mark gemünzt. Theo schien sich mit Maria zu unterhalten, die wohl jene Person im Keller war. Jetzt wusste er wenigstens, wo diese Frau sich aufhielt.

Was für eine Chance!

Mit einem Mal war Mark ganz schnell. Er musste keine Bedrohung auf dem Weg fürchten. Maria war also da unten und das ergab die Möglichkeit, sie dort einzusperren. Er musste es eben nur schaffen, bevor sie es merkte. Schon erreichte er Theo, der ihn völlig verdattert ansah.

„Ist Maria dort unten?“ fragte Mark.

„Ja, ich…“

„Gut!“

Er drückte den total überraschten alten Mann einfach zur Seite und ergriff die Tür. Schnell bewegte er sie in Richtung Schloss. Da war es wieder. Er konnte Marias Aura wahr nehmen. Es ging alles im Bruchteil einer Sekunde von statten.

Maria stemmte sich gegen die Tür. Mark war nicht mehr in der Lage, sie zu schliessen. Mit ungeheurer Wucht wurde er an die gegenüber liegende Wand geschleudert, als Maria mit aller Kraft die Tür auf drückte. Wieder wurde er von der Rasanz der Situation überwältigt. Schmerzen rasten durch seinen Körper. Er fühlte, wie sein rechter Arm ergriffen wurde, dann wurde er mit aller Macht nach vorn gezogen.

Mark schrie entsetzt auf, als er den Durchlass auf sich zu kommen sah. Es gab keinen Halt mehr. Er raste ungebremst die Treppe hinunter.

Oben wurde derweil das Licht gelöscht und dann einfach die Tür geschlossen.


 


                                                                      Who am I to be

                                                                      You could never see

                                                                      Always pretending

                                                                      What you are to me

                                                                      What am I to say

                                                                      When all you do is hate

                                                                      Got some news

                                                                      Nobody wins this game

(Circle II Circle “Who Am I To Be”)

)

4. Kapitel:

Das Geheimnis der Geisterfrau


 


5. August 2004

Warum? Immer wieder nur die eine Frage. Warum war es geschehen? Warum hatte sie ihn so weit getrieben? Er hatte es nicht gewollt.

Theodor sass auf dem Absatz direkt in der Türöffnung und starrte verzweifelt zum Fuss der Treppe. Er konnte es einfach nicht glauben. Die verrenkte Gestalt dort unten war seine Maria. Sie lag nur da, die Augen weit aufgerissen. Er glaubte Anklagen darin lesen zu können. Er hatte sie getötet, es war allein seine Schuld. Warum hatte er diesen einen Schlag nicht noch hin genommen, so wie er es immer getan hatte? Dann wäre jetzt alles in Ordnung. Sein Leben würde sein wie immer.

Was sollte er jetzt tun? Um alles in seinem Dasein hatte Maria sich gekümmert. Er hatte nie eine Entscheidung treffen brauchen, musste nie für irgend etwas einstehen.

Maria!

Er hatte sich selbst seines Lebensnerves beraubt, indem er sie getötet hatte. Theodor machte sich Vorwürfe, aber er konnte es nicht mehr ändern.

Sollte er zur Polizei gehen? Sollte er gestehen, dass er seine Frau umgebracht hatte? Vielleicht war es sogar die beste Lösung. Wenn er in ein Gefängnis kam, dann würde man sich dort wenigstens um ihn kümmern. Er bräuchte sich wohl dann weiterhin um Nichts Gedanken machen. Aber trotzdem würde es nicht das Gleiche sein. Maria hatte immer gewusst, was er nötig hatte. Sie hatte für alles gesorgt, auch was ihn betraf.

Er verbarg sein Gesicht wieder in den Händen. So sass er jetzt den dritten Tag hier. Seit es geschehen war, hatte er kaum etwas gegessen. Sein Schlaf war unruhig. Er wusste, dass sein Leben nun eigentlich zu Ende war. Warum stürzte er sich nicht gleich zu ihr hinunter? Der Gedanke war ihm schon mehr als ein Mal gekommen. Es war doch jetzt alles so sinnlos.

Theodor rührte sich nicht. Er war gar nicht in der Lage dazu. Irgendwie schien selbst das von Maria gelenkt worden zu sein.

Sein Blick heftete sich wieder auf die Gestalt im Keller. Kein Leben mehr. Es war aus. Maria würde…

Sein Herz drohte auszusetzen, als sich die Hand auf seine Schulter legte. Er erstarrte, als wäre er im Bruchteil einer Sekunde gefroren.

„Das war nicht schön von Dir.“ Er hörte die Stimme wie durch einen Wattebausch. Nein, das konnte nicht sein.

„Du hättest eine Strafe dafür verdient. Aber ich will Dir vergeben. Es soll wieder so sein wie immer.“

Sein Kopf kam hoch, seine Augen wandten sich zur Seite. Als er das Antlitz seiner Maria erblickte, wurde sein Herz mit einem Mal warm. Es war ihm gleichgültig, ob sie real war oder nicht. Sie war wieder da, das allein zählte. Er wagte es nicht, sich von ihr abzuwenden. Er wollte nicht hinunter in den Keller sehen.

„Komm’ mein Alter.“ Es war eindeutig ihre Stimme.

Maria hielt ihn fest, als er sich erhob. Sie war da, so wie er da war. Theodor konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen aus den Augen und über die Wangen liefen. Er war glücklich, glücklich wie selten zuvor in seinem Leben. Jetzt konnte ihm Nichts mehr geschehen.

Ohne noch einen Blick nach unten zu verschwenden knipste er das Licht aus und schloss einfach die Tür zum Keller. Dann nahm Maria ihn in den Arm.

 

***

 

Gegenwart

James liess den Hörer sinken und legte ihn schliesslich auf. Etwas betreten blickte er Sabrina Funke an.

„Herr Larsen hat einfach abgeschaltet, um es so salopp zu formulieren.“

Sabrina zog die Mundwinkel herunter. In ihr brodelte es. Das, was Mark ihr in groben Zügen erzählt hatte, klang alles Andere als Beruhigend. Ihr eigener Instinkt hatte sich als leider richtig erwiesen. Ihr Freund sah sich mehr als ein Mal einer direkten Lebensgefahr ausgesetzt. Und es war noch nicht vorbei. Er wollte in dieses Haus zurück, obwohl er wusste, dass er erneut in eine bedrohliche Situation kommen konnte.

Einerseits liebte sie ihn genau dafür, dass er so hartnäckig sein konnte und niemals aufgab, mochte es auch noch so verfahren sein. Andererseits hatte sie wenig Verständnis genau dafür, dass er wider seines besseren Wissens weiter machte, obgleich seine Chancen äusserst gering waren.

„Dann werde ich jetzt zu ihm fahren“, sagte Sabrina bestimmt. Sie nahm den Butler fest in den Blick. Der aber hielt ihrem Blick stand. James war kein Schwächling. Ein Mann in seiner Position musste auch zumindest mental stark sein. Besonders dann, wenn er es mit einem Haufen Verrückter zu tun hatte, wie es die Leute in diesem Haus waren. Zudem war da ja noch das Mädchen, das bald auch nicht mehr so einfach sein würde, da es stark auf die Teenagerjahre zu steuerte.

„Das kann und werde ich nicht zulassen, Mylady. Herr Larsen hat mir nachdrücklich aufgetragen, sie nicht aus dem Haus zu lassen.“

„Es ist mir in einem solchen Moment egal, was Mark gesagt hat. Sie werden doch wohl nicht Gewalt anwenden, oder, James?“

„So etwas liegt mir fern, das wissen Sie. Ich kann Sie nur bitten, sich an unsere vor dem Telefonat getroffene Absprache zu halten.“

„Und die wäre?“ Worauf spielte er jetzt an? Sabrina hatte alles, was vor dem Telefonat gewesen war, weitestgehend vergessen. Vielleicht wollte sie sich aber daran auch gar nicht erinnern.

„Sie bleiben hier am Telefon, falls eine weitere Entwicklung eintritt, die Herr Larsen uns mitteilen will. Ich werde mich auf die Suche nach Herrn Larsen begeben.“

„Sie wissen, dass wir diese Anlage auf ein Handy schalten können. Warum fahren wir nicht zusammen?“

„Es muss jemand im Haus bleiben. Darauf muss ich bestehen, auch wenn ich nur ein Bediensteter bin. Ich kann nicht dulden, dass Christine unbeaufsichtigt bleibt.“

Sabrina wusste, dass sie sich irgendwann geschlagen geben musste, aber trotz der Situation wollte sie dieses Wortgefecht jetzt durch ziehen. Das war wichtig für ihre Selbstachtung gegenüber James.

„Das wäre dann ja wohl Ihre Aufgabe, James. Oder sollte ich mich da so täuschen?“

„Nicht ganz korrekt, Mylady. Es wäre die Aufgabe des Hüters, also des Herrn Larsen, über Christine zu wachen. Die Lage, in der wir alle uns befinden, lässt diese Teilung der Befugnisse jedoch nicht zu. Also muss nach einer alternativen Lösung gesucht werden. Und wenn ich einmal so formulieren darf, Mylady, Sie als Dame des Hauses haben gegenüber einem weiblichen Kind sicherlich mehr Einfühlungsvermögen als ich.“

Das war eines dieser berühmten Totschläger-Argumente, mit denen man jede weitere Diskussion prinzipiell zunichte machte. Dennoch wollte Sabrina immer noch nicht aufgeben.

„Aber Sie kennen Christine schon viel länger als ich. Ausserdem schläft sie ja sowieso gerade.“ Ein letztes Aufbäumen von Seiten Sabrinas, aber sie hatte verloren. James würde kein weiteres Argument mehr gelten lassen.

„Zudem, wenn ich es noch bemerken darf, ist die Situation des Herrn Larsen äusserst gefährlich. Ich kann es nicht gestatten, dass Sie sich einer solchen Bedrohlichkeit aussetzen.“

„Haben Sie etwa gelauscht?“

„Ich möchte es einmal so sagen. Herr Larsen war in seinen Äusserungen nicht sehr leise. Da musste ich mein Gehör nicht anstrengen, um jedes Wort verfolgen zu können.“

Sabrina liess die Schultern sinken. Es machte keinen Sinn, sich gegen James aufzulehnen. Er würde ständig die besseren Argumente haben. Was immer wieder erstaunlich war, war die Tatsache, dass ein Mann mit seiner Intelligenz und Rhetorik nur als Butler tätig war. Ob er vielleicht manchmal unterfordert war mit seiner Aufgabe?

„Sie haben gewonnen, James. Wir gehen also nach Plan A vor.“

„Wie bitte?“

„Ich werde hier zurück bleiben und das Hausmütterchen spielen. Sie, lieber James, werden sich in das grosse Abenteuer stürzen.“

„Ich habe keinerlei Vergnügen daran, wenn Sie das meinen. Sehen Sie, ich…“

„Schon gut, James, das war nur ein Scherz.“

Der Butler verstummte sofort, zwang sich aber nicht einmal ein Lächeln ab. Er liess sich nicht anmerken, ob und wie sehr es ihn berührte, dass ihm schon mehrfach in dieser Nacht über den Mund gefahren worden war. Er nickte nur und trat dann vom Telefon zurück.

Sabrina liess sich auf den Stuhl sinken. Das konnte eine lange Nacht voller Ungewissheit werden. James entfernte sich derweil, holte einen leichten Mantel von der Garderobe und zog ihn über.

„Es ist warm draussen, James. Sie werden keinen Mantel brauchen.“

„Es ziemt sich nicht, zu nachtschlafender Zeit nackt vor die Tür zu treten.“

Sabrina hob blitzartig ihren rechten Arm, biss in den Handrücken und pustete dann dagegen. Trotz aller Sorgen, die sie im Augenblick hatte, musste sie verhindern, dass sie laut loslachte. Manchmal war James einfach zu komisch in seiner Art. Er trug wie immer einen Anzug, der hoch geschlossen war. Schon in diesem Aufzug musste er eigentlich schwitzen, was er natürlich niemals tat.

Der Butler verliess das Haus ohne einen weiteren Ton. Stille senkte sich über sie und der Anfall von Fröhlichkeit verschwand so schnell, wie er gekommen war. Jetzt war sie ganz allein und sie hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich in den Schlaf zu flüchten. Sie war verdammt zum Warten. Hoffentlich hielten ihre Nerven das durch.

Sie wusste, dass sie sich auf James in jeder Hinsicht verlassen konnte. Er war zwar unnahbar, was für sie als Frau eine echte Herausforderung war, aber er war auf jeden Fall Verlässlich. Er würde Nichts unversucht lassen, um Mark zu finden und er würde ihm helfen, so weit es im Bereich seiner Möglichkeiten lag. Seine Loyalität würde ihn sicherlich auch so weit führen, dass er das Leben Marks über sein eigenes stellte. Da gab es nicht den geringsten Zweifel.

Sabrina stand auf. Diese innere Unruhe drohte sie krank zu machen. Es sprach wohl nichts dagegen, wenn sie eben in der Küche verschwand, um sich einen Kaffee zu machen. Immerhin musste sie sich ja auf den Beinen halten.

Schon als sie den Raum betrat, entdeckte sie die grosse Warmhaltekanne, die mitten auf dem Tisch stand. Sie ging hinüber und hob die Kanne an. Natürlich war sie voll. Sabrina brauchte nicht zu testen, ob es Kaffee war und ob er kochend heiss war. Das war so sicher wie ein Amen in der Kirche. Diese Situation war ganz typisch für James. Trotz ihrer Sorgen musste sie Lächeln. Es war schon komisch, aber auf eine seltsame Art mochte sie diesen Mann, der in seiner selbstverständlichen Perfektion schon beinahe ein bisschen unheimlich war.

 

***

 

Instinktiv rollte er sich wie ein Igel zusammen. Seine Arme schlug er schützend über seinen Kopf. Er spürte die Stufen, auf die er während des Fallens prallte, an seinem ganzen Körper. Endlos schien er hinunter zu stürzen. Es gab keinen Halt. Und natürlich auch keinen weichen Aufprall. Wuchtig erreichte er das Ende der Treppe, rollte noch ein wenig über den Boden.

Als sein Körper endlich ruhig lag, war Mark lediglich glücklich darüber, dass er diesen Sturz überlebt hatte. Mehr fiel ihm nicht ein und mehr Anlass zur Freude konnte es auch nicht geben.

Schmerzen rasten durch seinen Körper. Gab es überhaupt noch ein Körperteil, das während der wenigen Zeit, in der er sich jetzt in diesem Haus aufhielt, nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war? Seinen Empfindungen nach zu urteilen jedenfalls nicht. Dieser letzte Sturz musste ihn mit blauen Flecken übersät haben.

Mark stöhnte und regte sich weitestgehend nicht. Nur ein paar kleine Bewegungen, um seine Lage so bequem wie irgend möglich zu gestalten. Das war vorerst alles. Er konnte wirklich froh sein, dass es so glimpflich abgelaufen war. Er hätte sich genau so gut das Genick brechen können.

Es war dunkel um ihn herum. Durch seine geschlossenen Lider drang kein Licht. Also war Maria jetzt vermutlich auch nicht hier. Es war wohl so, dass sie fest damit rechnete, dass er den Sturz nicht überlebt hatte. Oder war es ihr Ansinnen, ihn einfach nur gefangen zu setzen? Vielleicht war er bisher der härteste Brocken, mit dem sie je zu tun gehabt hatte. Er hatte sich von ihr nicht Töten lassen. Hatte er ihr in gewisser Weise Respekt abgerungen?

In seinem Innern musste Mark darüber lächeln. Nein, diese Gedankengänge waren nun wirklich zu absurd. Man musste schon überaus naiv sein, um so etwas glauben zu können.

Aber was konnte noch kommen? Irgendwann würde Maria in den Keller gehen, dessen war er sicher. Wenn sie dann fest stellte, dass er bei dem Sturz nicht ums Leben gekommen war, ging das Ganze wieder von vorn los. Jetzt war vielleicht seine Chance gekommen, selbst zu Handeln. Das Überraschungsmoment konnte er auf seine Seite bringen.

Dazu aber musste er wieder auf die Beine. Diese Sache würde sich als Schwieriger erweisen, als es ihm lieb sein konnte. Sein Körper schien doch mehr oder minder eine einzige Wunde zu sein.

`Ruhig bleiben, Junge´, sagte er in sich hinein. Er versuchte seine Gedanken auszuschalten und sich ganz auf seinen Körper zu konzentrieren. Viele Schmerzen konnte man beseitigen, indem man ihnen einfach sagte, sie sollten verschwinden. Einbildungskraft war eine starke Waffe, wenn man in der Lage war, sie richtig einzusetzen.

Immerhin, angeknackst oder gar gebrochen schien nichts zu sein. Wenn er dieses Unwohlsein überwinden konnte, war er bald wieder einsatzfähig. Er musste jetzt, ob er wollte oder nicht, sich einen Moment Ruhe gönnen.

Mark schlug die Augen auf. Da es ohnehin dunkel war, konnte er das riskieren. Er hatte allerdings das Gefühl der Erblindung, denn die Finsternis gab wirklich kein einziges Geheimnis preis. Sein Atem ging jetzt langsam. Er sog die Luft tief ein und stiess sie kontrolliert wieder aus. Zunächst mit Mund und Nase, dann nur noch mit der Nase. Sein Körper beruhigte mit der Zeit etwas. Die Schmerzen gingen nach und nach auf ein Mass zurück, das er ertragen konnte. Doch selbst dann wartete er noch etwas. Er musste ganz sicher gehen, dass er während des Versuches, wieder auf die Beine zu kommen, nicht schlapp machte.

Die beinahe hypnotische Kraft der tiefen, geregelten Atmung verbesserte seinen Zustand deutlich. Jetzt konnte er es wohl wagen. Ganz langsam zog er die Arme an, bog seinen Körper durch und drückte dann mit den Ellenbogen seinen Oberkörper nach oben. Das funktionierte besser, als er es erwartet hatte. Trotzdem hielt er nach diesem Erfolg einen Moment inne. Wie lange würden sich wohl die Schmerzen ruhig verhalten?

Die nächste Etappe. Er zog seine Beine an und drückte dann seinen Körper hoch. Als er den Scheitelpunkt des Gleichgewichtes erreicht hatte, liess er den Körper nach vorn fallen und fing sich mit den Händen ab. Jetzt befand er sich in kniender Stellung. Wieder atmete er tief durch. Die Schmerzen dabei waren dann doch nicht unerheblich gewesen. Also wartete er wieder ab. Dann kam er hoch in die Hocke. Das war beinahe schon zu leicht. Deshalb traute er sich gleich zu, sich aufzurichten. Das tat zwar durchaus weh, aber er biss die Zähne zusammen. Da musste er jetzt verdammt noch einmal durch. Das obligatorische Schwindelgefühl brachte er sofort mit einem Ausfallschritt unter Kontrolle. Es war vollbracht.

So gut es eben ging, war er wieder hergestellt. Jetzt musste er sich darum kümmern, wie er unbehelligt aus dem Keller heraus kam. Mark ahnte, dass Maria wohl entsprechende Vorkehrungen getroffen hatte. Die Tür war sicherlich verschlossen.

Verdammt, es war total finster hier. Es gab kein Fenster, durch das zumindest das Mondlicht hätte scheinen können. Er erinnerte sich der kleinen Taschenlampe, die er oben eingesteckt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Sturz heil überstanden hatte, war sehr gering. Dennoch wollte er sich später keine Vorwürfe machen, es nicht wenigstens versucht zu haben.

Überraschend war sie in seiner hinteren Hosentasche geblieben. Immerhin ersparte ihm das eine tastende Sucherei, an deren Ende vermutlich Frust gestanden hätte. Er holte die Lampe hervor, suchte den kleinen Schiebeschalter und knipste das Ding an.

Es ward Licht!

Beinahe wäre ihm die Lampe vor Schreck aus der Hand gefallen. Damit hatte er nun gar nicht gerechnet. Das Glas vorn war gesplittert, aber die kleine Birne hatte merkwürdigerweise nichts abbekommen. Endlich einmal ein Glücksfall in dieser vertrackten Situation.

Langsam begann er, den Raum abzuleuchten. An den Wänden standen einige scheinbar altersschwache kleine Schränke. Er konnte einen Tisch sehen, sowie einige Gebrauchsgegenstände, etwa Schaufeln und Besen. In einer Ecke stand eine grosse Truhe, auf der diverse Sachen lagen. Und dann war da eben noch die hölzerne Treppe, die zum eigentlichen Haus hinauf führte.

Der Geruch in diesem Keller war alles Andere als angenehm. Es muffig zu nennen, war eine harmlose Umschreibung. Es roch hier, als wären jede Menge Tiere verendet und dann verwest. Es war sicherlich nicht ratsam, in diesem Raum eine Mahlzeit einzunehmen.

Diese Tatsache bedeutete für Mark, dass er nach Möglichkeit schnell aus dem Keller heraus musste. Es gab hier vermutlich ohnehin nicht viel zu entdecken. Aber auch in dieser Hinsicht wollte er sich später Nichts nachsagen können. Vielleicht gab es hier doch ein kleines Detail, das ihm weiter helfen konnte.

Das Wichtigste aber war, dass er einen Augenblick Ruhe hatte. Maria sah sich offenbar nicht veranlasst, nach seiner Leiche zu sehen, wodurch sie ihm unfreiwillig etwas Freiraum gewährte. Es war ohnehin nicht unbedingt ratsam, gleich wieder nach oben zu stürmen. Er konnte die Zeit nutzen, seinen Körper wieder etwas zu regenerieren.

Ein guter Gedanke war, jetzt noch einmal zu Hause anzurufen, wenn er aus diesem Keller heraus überhaupt ein Netz bekam. Also tastete er nach seinem Handy. Vergeblich, es war schon wieder verschwunden. So drehte er sich mit der Lampe im Kreis und suchte danach. Schliesslich entdeckte er es an einer Wand. Es war wohl aus der Tasche gerutscht und dort hin geschliddert.

Die Bewegung zu der Wand hin bereitete ihm weniger Probleme, als er erwartet hatte. Der Sturz war wirklich glimpflich abgelaufen. Das Handy jedoch war in einem bemitleidenswerten Zustand. Eine Hoffnung, damit telefonieren zu könnte, musste er zu Grabe tragen.

Das war wirklich kurios. Während die deutlich grössere Taschenlampe den Sturz weitestgehend unbeschadet überstanden hatte, musste man bei dem Handy Totalschaden diagnostizieren. Aber wenn er ehrlich war, dann war ihm der kleine Lichtspender jetzt auch lieber und wichtiger.

Mark begann damit, den nächstbesten Schrank etwas genauer abzuleuchten. Es gab aber nichts Interessantes zu entdecken. Die Staubschichten darauf mussten schon Jahre unberührt sein. Da war Nichts zu holen.

Der Tisch gab auch nicht viel her. Der ganze Plunder konnte höchstens noch eine Müllhalde glücklich machen. Blieb also nur noch diese recht beachtliche Truhe übrig. Er wollte nicht gehen, ohne wenigstens einen Blick in das Innere geworfen zu haben.

Mark bewegte sich gemässigten Schrittes zu der Truhe hin. Das Gehen war schon recht gut möglich. Glücklicherweise wurde sein Körper noch nicht weiter gefordert. Als er am Ziel war, begann er, die Gegenstände darauf einzeln abzutragen und zu Boden zu stellen. Der einfachere Weg war sicherlich, den ganzen Krempel einfach mit dem Arm herunter zu wischen, doch er tat es ganz bewusst nicht. Es wäre ein Kardinalfehler gewesen, denn die Geräuschkulisse dabei hätte Maria bestimmt sofort auf den Plan gerufen. Wenn es irgend ging, wollte er eine weitere Begegnung mit ihr vermeiden. Ganz besonders hier im Keller, wo es keinerlei Möglichkeiten zu Flucht gab. Da er nach wie vor nicht wusste, wie er dieser unsichtbaren Gestalt begegnen sollte, wäre ein Aufeinandertreffen in diesem Kellerraum sein sicheres Ende.

Also gab er sich der mühseligen Aufgabe hin, die Teile einzeln von der Truhe zu nehmen. Ein positiver Effekt war immerhin auch dabei. Er konnte die Beweglichkeit seines Körpers testen und diese gleichzeitig dabei wieder verbessern.

Der eklige Geruch war hier in dieser Ecke noch etwas intensiver als im Rest des Raumes. Obgleich sein Magen ihm eigentlich signalisierte, dass er gern etwas Nahrung aufnehmen würde, verspürte Mark nicht das geringste Bedürfnis, jetzt etwas zu Essen. Er hätte vermutlich keinen Bissen herunter bekommen – oder ihn gleich wieder heraus geholt.

Endlich hatte er es geschafft. Mit ein wenig Stolz registrierte er, dass er wirklich fast kein Geräusch dabei verursacht hatte. Das bestätigte ihm, dass er in einem gewissen Rahmen wieder fit war.

Die Abdeckung war dünn und offenbar nirgendwo verschlossen. Mark versuchte es mit einer Hand. Es funktionierte. Es war geradezu leicht, die Klappe anzuheben.

Augenblicklich verbreitete sich dieser bestialische Gestank, der aus der Truhe kam. Mark musste sofort Würgen. Trotzdem richtete er mühselig den Schein der Taschenlampe in das das Innere.

Seit sehr langer Zeit musste die Leiche in dieser Truhe liegen, denn sie war bis auf einige wenige Knochen verwest. Aufgrund der Stofffetzen, die er noch wahrnehmen konnte, kam er zu dem Schluss, dass er hier des Rätsels Lösung sah.

Maria!

 

***

 

„Er hat mir doch nur helfen wollen.“

Theodor blickte mit müden Augen auf Maria, die sich überhaupt nicht beruhigen konnte.

„Er ist zurück gekommen. Nein, er wollte gewiss etwas stehlen. Auf jeden Fall mochte er mich nicht. Du hast es mit bekommen, wie er mich behandelt hat. Er tat gerade so, als wäre ich Luft.“

Sie war immer so schnell aufbrausend. Theodor hatte es immer hin genommen, all die Jahre. Zuletzt war es immer schlimmer geworden. Sie hatte ihm nie verziehen, dass er in einer Affekthandlung versuchte, sie zu töten. Die Kellertreppe hatte er sie hinunter gestossen. Ach, wenn er sie doch nicht so sehr brauchen würde. Was sollte er denn tun?

„Zuerst habe ich Dir geglaubt, dass er nur nett zu Dir gewesen ist. Ich war froh, dass mein Schlag ihn nicht getötet hat. Aber Du hast es ja mit erlebt. Er wollte nicht einmal meine Entschuldigung akzeptieren. Da war mir klar, dass er etwas Anderes im Schilde führte.“

Theo sass wieder in seinem Sessel. Maria hatte zwar ihm gegenüber Platz genommen, rutschte aber unruhig auf dem Polster hin und her.

„Er hat seine Strafe bekommen, so wie all die Anderen. Die Menschen sind schlecht, Theodor. Aber Du hast es ja nie gesehen. Ich habe nie verstanden, warum ich Dich geheiratet habe. Du warst und bist ein Schwächling. Immer habe ich für alles gesorgt, unser Heim und unser Leben beschützt. Und jetzt verteidigst Du diesen Mann auch noch, der uns Böses antun wollte. Womit habe ich das verdient?“

Ihre Augen funkelten wütend. Theodor konnte ihr ansehen, dass die Sache noch nicht vorbei war. Meist war es so, dass sie sich schnell wieder beruhigte. Dann war sie auch wieder ganz lieb. Und wenn sie lieb war, dann waren es schöne Momente, in denen er sich richtig wohl fühlte.

„Er hat gesagt, dass er Dich nicht sehen konnte.“

„Dann muss er wohl blind sein, oder? Du kannst mich doch auch sehen. Du hast mich doch immer gesehen.“

„Ja…“

Er war etwas verwirrt. Dieser Fremde, dessen Namen er inzwischen wieder vergessen hatte, hatte mehr als ein Mal zu ihm gesagt, dass er Maria nicht hatte sehen können. Was hatte das zu bedeuten? Er musste in diesem Moment an den Tag denken, da er Maria die Kellertreppe hinunter gestossen hatte. Beinahe drei Tage hatte sie dort unten gelegen. Er hatte gedacht, sie wäre tot gewesen. Aber sie hatte ihm gesagt, dass sie nur das Bewusstsein verloren hätte. Es musste doch auch so sein. Er konnte sie doch sehen, sie berühren.

„Was soll das? Bist Du jetzt plötzlich gegen mich? Nach allem, was ich für Dich getan habe?“

„Nein…“

Sie durfte ihn nicht verlassen. Ohne sie würde er sterben. Alles hatte sie getan. Nein, das konnte sie ihm doch jetzt nicht antun. Er wollte jetzt Schweigen, damit sie nicht weiter gereizt wurde. Bald würde es vorbei sein, dann war sie wieder die Maria, die er liebte.

Morgen würde er dann mit ihr in den Keller gehen. Sie würden den Toten in den Garten bringen, so wie sie es mit den anderen gemacht hatten, die Maria getötet hatte. Danach kehrte sicherlich wieder Ruhe ein. Sie würde wieder so sein wie vorher. Auch dass sie ihn geschlagen hatte, weil er die Milch nicht geholt hatte, war dann bestimmt vergessen. Darauf hoffte er. Schliesslich war es schon immer so gewesen.

Theodor wandte den Blick ab und starrte in den Kamin, der wieder deutlich heller war. Maria hatte wütend ein paar Scheite regelrecht hinein geschleudert. Das Feuer strahlte Wärme und Beruhigung aus. Das brauchte er jetzt, denn auch seine Nerven waren arg strapaziert.

Maria lehnte sich nun in ihrem Sessel zurück. Ihr Körper bebte zwar noch, aber sie wirkte nicht mehr so aufgebracht.

„Vielleicht sollten wir zu Bett gehen“, sagte er so vor sich hin.

„Ja, vielleicht sollten wir das tun.“ Sie beugte sich wieder vor und nahm seine Hand. Er schloss für einen Moment die Augen und genoss ihre Berührung.

Ja, jetzt war sie wieder ganz die Alte.

 

***

 

Langsam, aber nicht ohne Eile schloss er die Truhe wieder. Der Gestank, der heraus getreten war, hatte sich aber inzwischen verbreitet. Da es keine Lüftung gab, stand der Geruch der Verwesung nun im Raum.

Mark kämpfte mit den Resten seines Mageninhalts. Nur mit Mühe konnte er das Würgen unterdrücken. Er zog das Unterteil seines Shirts hoch und hielt es sich gegen Mund und Nase. Der Stoff roch zwar nach seinem Schweiss, aber das war fast ein angenehmer Geruch gegenüber jenem, der aus der Truhe gekommen war.

Schnell zog er sich zurück und setzte sich auf eine Stufe der Kellertreppe. Dann knipste er die Taschenlampe aus. Er musste die Batterie nicht unnötig verbrauchen, denn es war jetzt nicht notwendig, seine Umgebung zu sehen. Und wer konnte schon sagen, wie lange er in diesem Keller ausharren musste.

Wieder umgab ihn absolute Finsternis.

War das wirklich die Lösung des Ganzen? Konnte es so einfach sein?

Es war zumindest einfach, wenn man bereit war, an jene Phänomene zu glauben, die neben der Realität existierten. Für ihn war das kein Problem. In der jüngeren Vergangenheit hatte er genug erlebt, um zu wissen, dass die Realität nur eine Scheinwelt war, aus der die meisten Menschen auch lieber nicht herausblicken wollten. Diese Scheinwelt besass eine trügerische Sicherheit für sie. Aber Menschen wie Mark wussten, dass da noch viel mehr war. Da gab es doch diese Floskel mit der Schulweisheit.

Maria war tot!

Diese Tatsache setzte er jetzt einfach voraus. Natürlich konnte in der Truhe irgend Jemand liegen, aber das leuchtete ihm nicht ein. Wer immer sie auch getötet hatte, das war eigentlich gar nicht so wichtig. Also hatte er es mit einer geisterhaften Erscheinung zu tun. Das allein war es aber noch nicht. Geister waren ruhelos, weil es im Regelfall noch eine Sache gab, die sie in der hiesigen Welt zu erledigen hatten. Wenn sie auf Gewalt aus waren, dann nicht gegen Fremde, die sie nicht kannten.

Der Schlüssel zu der ganzen Sache war Theodor, das wurde Mark plötzlich klar. Dieser eher unauffällige, scheinbar etwas verwirrte alte Mann barg Kräfte, die man ihm Niemals ansehen würde. Kräfte der Liebe und des Lebenswillens. Er war ein Schwächling, oder, wie man solche Leute auch gern nannte, ein Versager. In seinem ganzen Leben hatte nie eigene Entscheidungen getroffen oder treffen müssen. Zumindest seit er Maria geheiratet hatte. Sie hatte ihm alles abgenommen. Er war abhängig von ihr geworden. Liebe war ein abgegriffenes Wort. Bei ihm ging es viel tiefer. Er konnte ohne sie einfach nicht mehr leben. Und dann starb Maria plötzlich. Das war im Grunde auch das Ende seines Lebens.

Der Geist Marias blieb, denn er hatte noch etwas zu erledigen. Sie musste sich um Theodor kümmern, der ohne sie verloren war. Theo wünschte sich Nichts mehr, als dass seine Frau weiter bei ihm bleiben möge. Sein Wille war so stark, dass der Geist sich mehr oder minder materialisieren konnte. Beides ging eine Symbiose ein. Für ihn war nun Maria existent. Es stellte sich nie die Frage nach dem Wie oder Warum. Maria nutzte diese Kraft, um weiter existieren zu können. Sie wurde, wie es der Alte auch wollte, wieder zu der Ehefrau, die sie schon vor ihrem Tode war. Vermutlich ging es sogar so weit, dass mittlerweile weder Theodor noch der Geist Maria wirklich wussten, dass die Frau eigentlich tot war. Das war auch der Grund, warum sie nur für ihn sichtbar war. Sie war ein eigenständiges, wenn auch instabiles Wesen geworden. Die Beiden waren aufeinander fixiert. Geister waren aber niemals optisch existent, weshalb Fremde sie mit ihren Augen nicht wahr nehmen konnten.

Mark musste trotz seiner nicht gerade schönen Lage sogar ein wenig schmunzeln. Plötzlich passte alles ins Bild. Auch die Sache mit dem Abstellraum. Maria war plötzlich verschwunden, weil die Energie nicht mehr da war. Theo hatte das Haus verlassen. Vermutlich waren die Beiden niemals ausgegangen. Auch die Einkäufe hatte er immer allein getätigt. Alle Macht Marias beschränkte sich auf dieses Haus. Er hatte sie also ausserhalb nie wirklich gebraucht. Deshalb war die Kraft Theodors weg gewesen, als er aus dem Haus in den Hinterhof gegangen war. Ihr Geist allein hatte keine materielle Kraft ausüben können.

Wenn man es genau nahm, war Theo, ohne es zu wissen, zu einer Art Frankenstein geworden. Allein mit seinem Willen hatte er ein neues, körperliches Wesen geschaffen. Man konnte dem alten Mann noch nicht einmal Bösartigkeit vorwerfen. Der Akt der Schöpfung war nicht wissentlich vollzogen worden. Das Wesen, das aus dieser Symbiose hervor gegangen war, trug auch keine dämonischen Eigenschaften, es war genau der Mensch geworden, der es auch vorher gewesen war, mit allem, was dazu gehörte.

Es brauchte keinen Kampf zu geben, keine Teufelsaustreibung. Im Grunde musste er nur versuchen dieses Haus zu verlassen. Dann würde das Leben hier seinen gewohnten Gang gehen. Die ganze Sache würde enden, wenn Theodor starb. Seine Energie, die Maria am Leben erhielt, würde verschwinden. Und für den Geist der Frau gab es keinen Grund mehr, in dieser Welt zu sein. Auch sie würde für immer vergehen.

Natürlich durfte Niemand je dieses Haus betreten, denn die jähzornige Maria würde dann wieder versuchen, den Eindringling zu töten.

Es gab natürlich noch die alternative Lösung, Theodor zu töten oder aus dem Haus zu schaffen. Letzteres hatte mit Sicherheit zur Folge, dass er binnen kürzester Zeit sterben würde, da sein Leben ohne Maria sinnlos war. Das betrachtete Mark als herzlos. Natürlich waren in diesem Haus mehrere Menschen gestorben. Theodor jedoch war praktisch schuldlos daran. Er hatte nie auch nur den Funken einer Chance gehabt, sich gegen diese Frau aufzulehnen. Und wenn Maria ins Gefängnis gekommen wäre, hätte sein eigenes Leben geendet. Die Abhängigkeit war zu stark.

Aber es gab eine Chance, hier heraus zu kommen. Mark schraubte seinen Körper wieder in die Höhe und wandte sich um. Er durfte sich nicht unnötig auf einen Kampf mit Maria einlassen, sondern er musste Theodor dazu bringen, dass er wieder das Haus verliess, bis er selbst draussen auf dem Parkplatz war. Die Sache konnte unter Umständen sogar völlig undramatisch ablaufen und enden. Wenn er erst einmal draussen war, dann konnte er sich immer noch überlegen, wie er Theodor und seine geisterhafte Frau gegen Einflüsse von Ausserhalb schützen konnte.

Er liess das Licht der Taschenlampe wieder aufflammen und leuchtete auf die vor ihm liegenden Stufen. Langsam und vorsichtig bewegte er sich aufwärts. Er durfte zunächst kein Geräusch verursachen. Hier mitten auf der Treppe war er Maria schutzlos ausgeliefert. Die Frage stellte sich auch, wie er ohne einen Kampf an der Geisterfrau vorbei kam. Es war kaum davon auszugehen, dass Theo die Kellertür öffnen würde. Was konnte er also tun?

Sein Vorteil würde sein, dass die Tür in das Haus und nicht in den Keller schwang. Dadurch hatte er vielleicht ein paar Sekunden, in denen er Maria zur Seite stossen und die Flucht aus dem Haus antreten konnte. Theo hatte er in diesem Fall gar nicht nötig.

Es war nicht gerade ein genialer Plan, den er sich da ausdachte, aber mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein. Viele Alternativen standen ihm ja auch nicht zur Verfügung. Alles, was er jetzt tun musste, war, im richtigen Moment das Richtige tun.

Als er an der Tür angekommen war, schaltete er das Licht wieder aus. Mehr einem Instinkt folgend fuhr seine Hand zur Klinke und drückte sie. Zu seiner Verblüffung liess sich die Kellertür ganz einfach öffnen. Aber natürlich! Warum sollte Maria auch Vorsicht walten lassen? Sie musste ja davon aus gehen, dass er tot war oder zumindest mit gebrochenen Knochen im Keller lag. Wozu also dann noch abschliessen?

Mark atmete tief durch. Jetzt kam es darauf an. Der Plan änderte sich, aber das Ziel blieb. Er musste das Haus verlassen. Langsam und vorsichtig drückte er die Tür auf. Die Lichter im Haus waren alle erloschen. Nur das Flackern des Kaminfeuers aus dem Wohnraum war zu erkennen. Lichtverhältnisse, wie sie beim ersten Eintritt geherrscht hatten.

Er vergrösserte den Spalt ein wenig und schlüpfte dann hindurch. Ohne ein Geräusch zu verursachen lehnte er die Kellertür wieder an. Mehr wollte er nicht tun, denn jeder Laut, der entstand, konnte fatale Folgen haben. Er wollte sich nach Möglichkeit keiner unnötigen Gefahr mehr aussetzen.

Der kürzeste Weg war die Hintertür. Aber es trat das ein, was er erwartet hatte. Die Tür war verschlossen. Das war auch durchaus logisch. Er hätte die Tür jetzt einfach einrennen können, doch auch das wollte er vermeiden. Und wer wusste schon zu sagen, wie robust die Tür war. Wenn der erste Versuch scheiterte, dann war es vermutlich auch sein Letzter. Nein, er durfte kein Risiko eingehen. Er musste durch die Vordertür hinaus. Aber was, wenn diese auch verschlossen war? Dann blieb ihm wohl wirklich keine andere Wahl, als durch eines der Fenster zu springen.

Mark wandte sich um und schlich in den Vorraum. Er drückte sich mehr oder minder an die Wand und bewegte sich Schritt für Schritt zur Türöffnung des Wohnraumes hin. Er ging fest davon aus, dass Theo und seine Frau sich dort aufhielten. Allerdings konnte er weder Geräusche noch eine Stimme vernehmen.

An der Ecke zur Öffnung hielt er inne. Ruhe bewahren. Jetzt nur keine überstürzten Handlungen. Die Ausgangstür war so nahe. Er musste sie nur noch auf machen und ins Freie treten, dann war die Gefahr gebannt.

Nur ein paar Schritte noch…

Plötzlich nahm er Geräusche wahr, die es zu dieser Zeit an diesem Ort gar nicht geben sollte. Das konnte und durfte nicht sein! Aber es war so. Draussen vor dem Haus fuhr ein Auto vor. Wie konnte das sein? Ein sehr später Besucher? Warum gerade jetzt?

Er trat vorsichtig einen weiteren Schritt vor. Plötzlich spürte er sie wieder. Maria! Sie war deutlich. Die unsichtbare Frau stand mit einem Male in der Türöffnung. Auch sie musste das Motorengeräusch gehört haben.

Jetzt oder nie! Er hatte einfach keine andere Wahl mehr. Blitzartig schnellte er aus seinem Versteck hervor und stürzte zur Tür hin. Kein Nachdenken, nur Handeln! Mit zielsicherem Griff erfasste er die Klinke und drückte sie. Es war nicht verschlossen. Schon riss er die Tür auf. Der Sprung nach draussen blieb ihm jedoch verwehrt. Gerade als er ansetzen wollte, wurde er zurück gerissen. Er fühlte Marias Hände, die wieder seinen rechten Arm umschlossen. Wuchtig wurde er in den Raum zurück geschleudert und landete zum wiederholten Male auf dem Boden.

Trotz aller Vorsicht und Schnelligkeit war es ihm nicht gelungen, diese geisterhafte Frau zu überrumpeln. Jetzt ging es ums nackte Überleben. Er spürte, dass sie auf ihn zu kam. `Hoch, verdammt noch mal, hoch mit dir´! Zu viel hatte sein Körper in dieser Nacht durchmachen müssen. Er war einfach nicht mehr fit genug. Mark kam etwas mühselig wieder auf die Beine, schwankte etwas. Da hatte Maria ihn erreicht. Ohne eine wirkliche Chance zur Gegenwehr zu haben, legten sich wieder ihre Hände um seinen Hals. Augenblicklich wurde ihm die Luft abgeschnürt.

Beiläufig nahm er wahr, dass Theo in der Türöffnung erschien. Er sah den Kampf zwischen Mark und seiner Frau. Langsam bewegte er sich auf die Beiden zu.

Mark versuchte verzweifelt mit seinen Fingern unter jene Marias zu kommen. Wieder fühlte er diese instabile Masse, die so schwer zu greifen war.

„Nein, Maria, es muss ein Ende haben.“

Wie durch Watte nahm er die brüchige Stimme Theos wahr. `Verlasse einfach das Haus´! wollte er ihm zurufen, doch er war nicht in der Lage einen Ton hervor zu bringen. Lichter tanzten vor seinen Augen.

„Nein!“

Plötzlich wurde er herum gerissen und einfach davon geschleudert. Direkt auf die Türöffnung zu. Er konnte nur ganz kurz erkennen, dass der alte Mann direkt neben seiner Frau war.

Mark versuchte irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Er stolperte ins Freie, rang verzweifelt nach Luft und fiel dann doch der Länge nach zu Boden. Gierig sog er die Luft ein. Sein Blick klärte sich langsam und er entdeckte direkt vor seinem Gesicht ein Paar Schuhe.

Hinter sich glaubte er ein Poltern zu hören.

„Maria! Nein!“ Zum ersten Mal war Theodors Stimme laut, ja beinahe auch kräftig. Nun war ein Krachen zu hören. Im nächsten Moment war es still. Totenstill.

Mark starrte nur auf diese blank geputzten Schuhe. Langsam kam sein Kopf in die Höhe.

„Hallo, James“, grüsste er mit schwacher Stimme, als er das Gesicht des Butlers hoch über sich entdeckte.

„Nun, Sir, ich freue mich zwar, wenn Sie mir ihre Dankbarkeit zeigen möchten, aber Sie brauchen deswegen nicht vor mir zu Kriechen.“

Mark überhörte diese Bemerkung, die James vermutlich sogar Freude bereitet hatte, denn er war mit den Gedanken schon wieder woanders. Mühsam erhob er sich und wandte sich um. Im Haus war es ruhig, eine geradezu unheimliche Stille. Er ahnte, was geschehen sein konnte.

Wider aller Vernunft kehrte er in das Haus zurück. Aber er wusste, dass es ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Als er eintrat, lag Theodor neben der Tür. Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu sehen, dass sein Genick gebrochen war.

Er ging neben dem alten Mann in die Knie, streckte die Hand aus und drückte ihm die Lider herunter. Armer Theodor. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er so etwas wie Courage gezeigt, und hatte diese dann eben mit jenem Leben bezahlt. Einen Moment lang hockte er stumm neben dem Mann. Dann richtete er sich wieder auf.

Welch eine Ironie. Maria hatte in ihrem Wutanfall ihren eigenen Mann getötet – und damit auch sich selbst.

 

***

 

Als Mark zu dem Wagen ging, mit dem der Butler gekommen war, konnte er sehen, dass James im Kofferraum herum hantierte. Er förderte schliesslich einen Klapptisch zutage, den der blitzschnell fachmännisch bereit stellte. Der dazu gehörige Klappstuhl durfte danach natürlich nicht fehlen.

„Es ist kein ausreichender Komfort, Sir, aber es dürfte für diesen Notfall reichen, damit Sie sich ausruhen können“, bemerkte er dazu. Mark lächelte ihn dankbar an und setzte sich. Sein Körper schien eine einzige Wunde zu sein. Selten war dieser so in Mitleidenschaft gezogen worden wie in jenen paar Stunden in diesem Haus.

James holte derweil eine grosse Schüssel hervor und stellte sie auf den Tisch. Danach trug er einen Kanister heran, öffnete diesen und füllte die Schüssel mit klarem Wasser.

„Ich denke, es wird noch eine lange Nacht, Sir. Sie müssen die Polizei verständigen. Die wird sicherlich einige Fragen an Sie haben. Da ist es ratsam, sich ein wenig frisch zu machen.“

„Danke, James.“ Mehr war als Antwort kaum drin. Mark musste erst einmal richtig zur Ruhe kommen. Unterdessen brachte James noch ein paar frische Kleidungsstücke, eine einfache Stoffhose und ein Poloshirt. Natürlich auch ein Handtuch. Der Mann dachte wirklich an alles.

Mark zog sein Shirt aus, wusch sich den Oberkörper, die Arme und das Gesicht. Überall entdeckte er dabei kleine blaue Flecken. Aber es tat gut, das Wasser auf dem Körper zu spüren. Schliesslich zog er sich um. Es war ihm egal, ob ihm dabei jemand zusah, wie er kurz in Unterhose auf dem Parkplatz stand. James wandte sich dabei ab.

Danach räumte er ab und holte etwas von der Rückbank des Wagens.

„Ich dachte, Sie würden gern jetzt ihren Imbiss nehmen. Ich denke, eine Stärkung wird Ihnen gut tun. Danach sollten Sie der Polizei den Vorzug geben.“

Er brachte tatsächlich ein silbernes Tablett auf den Tisch. Als er die Alufolie entfernte, entdeckte Mark vier grosse belegte Scheiben Brot, über die er sich heisshungrig her machte. Die Thermoskanne mit heissem Kaffee stand dann auch bald daneben.

„Ich weiss gar nicht, was ich der Polizei erzählen soll?“ bemerkte Mark während des Essens.

„Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Sir.“ James verzichtete natürlich auf einen Stuhl und stand in üblicher steifer Haltung neben dem Tisch.

Mark erzählte ihm die ganze Geschichte in so knappen Worten, wie es ging. Er war froh, dass er es erzählen konnte, seine Seele frei bekam, denn der Stress war doch enorm gewesen. Als er schliesslich endete, blickte er den Butler fragend an.

„Es gibt nur eine Sache, James, die ich nicht verstehe. Woher hatte Maria die Milch, die sie Theodor und mir zum Trinken gereichte? Sie hatte Theo ja los geschickt, um welche zu holen, aber er brachte gar keine mit. Woher also hatte sie sie?“

„Nun, Sir, daran erkenne ich, dass Sie mit einem gut geführten Haushalt nicht vertraut sind. Man wartet einfach nicht, bis etwas vollständig verbraucht ist, sondern ordert selbstverständlich rechtzeitig nach, damit nie ein Engpass entstehen kann. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, Sir, dann war Maria eine sehr umsichtige und fürsorgliche Frau, nicht wahr?“


 

Wird fortgesetzt

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