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Bd. 2 - Sie stirbt, wenn du nicht würdig bist

                                                                                              Sie stirbt, wenn Du nicht würdig bist ...Fight for freedom, fight for rights

                                                                          I see treason in your eyes

(Helloween, Judas)

 

 

1. Kapitel:

Das Erwachen der

Truhenwächter

 


Die Strahlen der vor zwei Stunden aufgegangenen Sonne hatten es noch nicht geschafft, den Nebel zu ver­treiben, der sich in dicken, schweren Schwaden im Ed­winstowe Valley niedergelassen hatte. Das Edwinstowe Valley lag etwa zehn Meilen nörd­lich von Notting­ham. Hätte man aber einen Be­wohner Nottinghams oder noch besser einen Ortskundigen aus Edwinstowe nach dem Weg zum Tal gefragt, hätte man nur ein verwundertes Kopfschütteln geerntet.

„Ein Tal?“, hätte man wahrscheinlich zu hören bekommen. „Ein Tal in der Nähe von Edwinstowe? Nein, da müssen Sie sich irren. Ein Tal gibt es hier nicht.“

Schuld an diesen heimatkundlichen Wissenslücken selbst alteingesessener Edwinstower trug ein magischer Schutz­schirm, der das ge­samte Tal über­spannte. Er machte es zwar nicht unsicht­bar, sorgte aber da­für, dass jedes Wesen (ob Mensch, ob Tier, ob Vampir) es ein­fach übersah.

Und so war es sehr still im Edwinstowe Valley an diesem Aprilmorgen. So still wie an jedem anderen Morgen seit über 150 Jahren auch. Da war keine Goldammer, die ihr Lied sang, kein Käfer, der vor sich hin brummte. Selbst der Wind schien das Tal zu meiden.

Der Nebel war dick und feucht. Ein Beobachter – den es freilich nicht gab – hätte den Eindruck eines ruhig daliegenden Sees bekommen können. Mitten aus diesem See ragte das Gemäuer einer alten Kapelle. Das große Buntglasfenster auf der Altarseite war stumpf und verdreckt, aber erstaunlicherweise noch intakt. Im Gegensatz zum gewölbten Dach, in dem ein etwa zwei Meter großes Loch klaffte. Zu einer Zeit, als sich das Tal und die Kapelle noch nicht den Blicken der Menschen entzogen, war eine alte Esche von einem Sturm gefällt worden und auf das Dach gestürzt.

Die Esche war inzwischen verschwunden, das Loch war noch da.

Trotzdem wurde es im Inneren der Kapelle nie richtig hell. Schließlich hatten Sträucher, Weinranken, Efeu und Bäume über 150 Jahre lang Zeit gehabt, sich erst an das Gemäuer anzupirschen und dann, als sie merkten, dass niemand die Absicht hatte, sie zurückzustutzen, es mit einem Frontalangriff zu überrennen. Die seitlichen Kapellenfenster waren vollständig überwachsen und die Schmutzschicht auf dem großen Buntglasfenster auf der Altarseite so dick, dass nicht einmal ein Rinnsal von Sonnenlicht sie hätte durchdringen können. Lediglich durch den von der Esche eingebauten Notausstieg konnte die Sonne ihre Strahlen schicken. Da das Loch aber im Dach über dem Eingangsbereich war, fristeten der Altar und die ersten paar Bankreihen ihr Dasein bestenfalls in schummrigem Dämmerlicht.

Die einfachen Holzbänke, die anderthalb Jahrhunderte ungeschützt dem stetigen Wechsel aus Regen, Schnee, Wärme und Frost ausgesetzt waren, waren morsch und hatten zum Teil sogar Moos angesetzt. Was das Sonnelicht der letzten 150 Jahre nicht geschafft hatte, war dem Laub der vielen Herbste erstaunlicherweise gelungen: Es hatte sich im Mittelgang fast bis zum Altar vorgearbeitet - als breiiger Teppich.

Das Laub war aber nicht das Einzige, was man in einer Kapelle nicht unbedingt erwartet hätte. Denn auf dem Altar stand, umrahmt von zwölf armdicken, gelblichen Kerzen, direkt unter einem hohen, schmucklosen Kreuz eine hölzerne Truhe. Obwohl das Altartuch an seinen besterhaltenen Stellen fadenscheinig und an den anderen gar nicht mehr vorhanden war, schienen die Zeit und die Witterung an der Truhe und den Kerzen spurlos vorüber gegangen zu sein. Fast so, als wären sie erst gestern aufgestellt worden ...

Hätte ein Kirchenkenner über das Arrangement auf dem Altar schon die Stirn gerunzelt, so hätten ihn die beiden mannshohen Statuen, die den Altar säumten, nicht weniger verwundert. Zu naturgetreu nachgebildet wäre ihm der Faltenwurf der knöchellangen Umhänge erschienen, zu detailverliebt die Zehen, die aus den Sandalen ragten. Vom Hühnerauge bis zum eingerissenen Zehennagel hatte der Künstler alles bedacht. Jedes Barthaar, jede Hautunreinheit war hier in Stein – oder um welches Material es sich auch immer handeln mochte – dargestellt. Und vor allem eines hätte den Kirchenkenner gestört, auch wenn er den Grund hierfür nicht hätte nennen können: Was machten zwei Statuen, die so derartig ... nun ja, ungläubig wirkten, in einer Kapelle?

Aber es war ja kein Kirchenkenner da, der die Stirn hätte runzeln und sich wundern können. In der Kapelle herrschte die gleiche tiefe Ruhe, wie sie in jeder einzelnen Minute der letzten 150 Jahre geherrscht hatte.

Und so war auch niemand da, der Zeuge davon werden konnte, wie die Dochte aller zwölf Kerzen wie von Geisterhand entzündet gleichzeitig aufflammten und die beiden Statuen in ein flackerndes Licht tauchten. Der Tanz von Licht und Schatten erweckte beinahe den Eindruck, als würden sich die Steinfiguren bewegen. Aber das war nur eine Illusion.

Oder etwa doch nicht?

Plötzlich schlugen die Statuen die Augen auf und sagten in einer Sprache, die vermutlich kein Edwinstower verstanden hätte: „Es hat begonnen!“

Nur wenige Sekunden später ließ sich eine Goldammer auf dem Dach des neu entdeckten Landeplatzes nieder und stimmte ein Lied an.

 

***

 

„Wartest du auf etwas?“, fragte Mark.

„Was?“

Hinnerk zuckte zusammen und stellte seine Tasse Kaffee so hastig auf den Frühstückstisch, dass das Porzellan klirrte und ein großer Schluck des Muntermachers auf das Tischtuch schwappte.

„Wartest du auf etwas?“, wiederholte Mark.

Hinnerk schüttelte den Kopf. „Nein. Wie kommst du denn darauf?“

„Weil du zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten auf die Uhr gesehen hast.“

„Is da so? Dat hebb ick gornicht markt.“ Hinnerk versuchte ein Lächeln. Es geriet zu einer gequälten Grimasse. „Willst du noch nen Taß Kaff?“

Mark warf einen Blick auf seine randvolle Tasse und zog die rechte Augenbraue nach oben. „Gerne, wenn du in meiner Tasse noch Platz dafür findest.“

„Oh“, sagte Hinnerk nur, verstummte dann und sah auf seine Armbanduhr.

Mark seufzte. „So, Schluss jetzt mit dem Theater. Was ist los mit dir? So kenne ich dich gar nicht! Vorgestern warst du noch die urige personifizierte norddeutsche Unterkühlung, hast gegen eine Hexe gekämpft, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass dich das in irgend einer Form aus der Ruhe bringen könnte, und heute bist du nervöser als ich vor meinem ersten Rendezvous.“

Hinnerk strich sich durch den Bart und sah hinüber zum Haus. Es war erst ihr zweiter Tag im Glückshaus von Hüll. Und den ersten Tag konnte man eigentlich gar nicht richtig zählen, denn der hatte zum Großteil aus Schlaf und Besorgungen bestanden.

Nach dem Kampf gegen Cresmonia Gwscore (Mark fragte sich, ob ihm dieser Name jemals fehlerfrei über die Lippen gehen würde) waren sie in dieses idyllische Fachwerkhaus von Marks altem Freund Knut gekommen. Sie hatten noch schnell gefrühstückt und sich anschließend auf die reichlich vorhandenen Schlafgelegenheiten gestürzt. Christine bekam das Gästezimmer, in das sie sich wegen seiner Größe sofort verliebt hatte. Hinnerk und Mark ließen sich im Doppelbett des Schlafzimmers nieder, was Mark angesichts der Sägearbeiten, denen sich Hinnerk nächtens zu widmen pflegte, für keine dauerhafte Lösung hielt. Algernon Finch machte es sich trotz Marks nicht ganz uneigennütziger Versuche, mit ihm zu tauschen, auf dem viel zu harten Sofa im Wohnzimmer bequem. Und James, der Butler, versuchte, einem kleinen Fernsehsessel eine gemütliche Schlafhaltung abzutrotzen.

„Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: Zu meiner Zeit in der Royal Air Force wurde uns zuweilen abverlangt, in Ruhestätten zu nächtigen, gegen die dieser Sessel hier wie ein Himmelbett anmutet“, sagte er, zog das rechte Bein nach und war eine Sekunde später eingeschlafen.

Weitere acht Stunden und ein hastiges Mittagessen aus zu weich gekochten Spagettis später tourten Mark, Hinnerk und Christine durch die umliegenden Ortschaften, um ein paar Besorgungen zu machen: Kleidung, ein paar Bücher und CDs für Christine, Lebensmittel für die Speisekammer und Hinnerks Bauch, zwei Einzelbetten für James’ Rücken und Marks Ohren und noch diversen anderen nützlichen Kram.

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, die Betten zusammenzubauen, die Zimmer zu verteilen und eine Bestandsaufnahme dessen zu machen, was schon alles im Haus vorrätig war.

Über den Orden verloren sie kein Wort. Auch nicht über Cresmonia Gwscore. Und soweit es Mark betraf, dachte er nicht einmal über die Ereignisse der Nacht nach. Es war fast, als hätte sich Marks Hirn vor diesem Thema und einer Überhitzung schützen wollen und deshalb einen Sicherungshebel umgelegt.

Am späten Abend war Algernon Finch zurück nach Hamburg gefahren. Die anderen hatten sich wieder in den Betten verkrochen und noch ein paar Stunden Schlaf getankt.

In dieser Nacht war Marks Hirn offenbar hinreichend abgekühlt gewesen, denn er hatte sehr unruhig geschlafen, obwohl Hinnerk am anderen Ende des Flurs sein Zimmer bezogen hatte. Als wäre sich sein Denkorgan seiner Verfehlungen bewusst geworden, traktierte es Mark immer und immer wieder mit den gleichen Bildern: das Flugfeld in Agathenburg; die Blitze, die die Hexe auf Christine und ihn geschleudert hatte; er selbst, wie er das Mädchen, den Schatz, niederriss und mit ihm über den Asphalt rollte. Immer wieder glaubte er, die Stimme der Hexe zu hören, die ihm mit dem Tod drohte. Und die seinen Namen kannte! Seinen Namen, um Himmels Willen! Hätte er doch nur ihr Gesicht gesehen! Vielleicht hätte er dann gewusst, woher sie ihn kannte. Aber das war Blödsinn! Er hatte bisher noch nicht das zweifelhafte Vergnügen gehabt, leibhaftige Hexen kennen zu lernen. Also, woher kannte sie ihn?

Das war aber nicht das Einzige, was Mark störte. Da gab es noch ein, zwei Punkte, die in seinem Hirn rumorten, die ihm sauer aufstießen, ohne dass er mit dem Finger hätte darauf zeigen können. Irgend etwas stimmte an der ganzen Geschichte nicht. Er wusste nicht was, aber irgend etwas stimmte ganz und gar nicht!

Und jetzt saßen Mark und Hinnerk im Garten und frühstückten. Christine war noch in ihrem Zimmer, während James versuchte, die gestern erworbenen Putz- und Lebensmittel strategisch im Haus zu verteilen.

„Also, was ist los?“, fragte Mark noch einmal.

„Meine Gedanken gehen kreuz und quer durcheinander“, sagte Hinnerk endlich. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“

„Was soll das heißen, du weißt nicht was du tun sollst? Das haben wir doch vorgestern besprochen! Wir werden diese Brut bekämpfen, die hinter Christine her ist.“

„Da heest Du beschloten“, sagte Hinnerk. Scheinbar wahllos wechselte er zwischen Hochdeutsch und Dialekt hin und her. „Nich wi.“

„Und du hast zugestimmt.“

„Ick hebb nich dogegen schnackt. Dat is wat anners.“ Hinnerk nahm einen Schluck von seinem Kaffee, biss in sein Nougathörnchen, kaute einen Augenblick darauf herum und sah Mark in die Augen. „Mark, es ist nicht Aufgabe des Hüters, die Schwarze Familie zu bekämpfen. Der Weg der Gewalt ist nicht der Weg unseres Herrn Jesus.“

Mark schüttelte den Kopf. „Was hat es denn gebracht, zweitausend Jahre lang auch die andere Wange hinzuhalten? Seit zweitausend Jahren seid ihr nun auf der Flucht, seit zweitausend Jahren habt ihr Angst, dass der Schatz entdeckt werden könnte. Das kann doch nicht richtig sein! Wir müssen kämpfen, Hinnerk. Wir müssen!“

„Wir dürfen nicht!“

„Wir müssen!“

„Versteh doch, Mark. Das ist nicht der Weg ...“

„Wir müssen, Hinnerk!“

Hinnerk donnerte mit der Faust auf den Kaffeetisch, so dass die Tassen einen erschrockenen Satz machten. „Herrgott noch mal, Mark“, schrie er. „Es geht nicht! Nicht, so lange die ...“ Dann brach er ab, griff nach seinem Nougathörnchen und biss zwei riesige Happen herunter wie ein reißender Löwe. Einige Fetzen Blätterteig blieben in seinem Bart hängen oder fielen auf sein Hemd, was er aber gar nicht wahrzunehmen schien.

Mark wartete, dass Hinnerk seinen Satz fortführte. Eine halbe Minute später wartete er immer noch.

„Nicht, so lange die was?“, fragte er endlich.

Hinnerk würgte die Reste seine Hörnchens hinunter. „Weißt du, dass ich Connor Baigent seit 25 Jahre kenne? Und jetzt ist er tot.“ Und leiser fügte er hinzu: „Oder etwas noch Schlimmeres.“

„Ein Grund mehr, diese Brut aufzuspüren und zu vernichten!“, ereiferte sich Mark.

„Ach ja? Und wie stellst du dir das vor? Laufen wir herum und ziehen arglosen Passanten die Oberlippe hoch wie bei einer Pferdeschau? Und was machen wir, wenn wir spitze Zähne entdecken? Besorgen wir uns einen Stab aus Dämonenhaut oder eine Peitsche, mit der wir die Zeit anhalten können? Mark, auch wenn es dir nicht so vorkommen mag, aber das hier ist das richtige Leben und kein Groschenroman! So läuft das nicht. Ich will nicht, dass dir etwas passiert!“

„Was soll denn passieren, was nicht auch geschehen könnte, wenn wir davonlaufen?“ Er zeigte auf das Glückshaus. „Wir schlagen zu und ziehen uns dann wieder hierher zurück. Hier sind wir sicher! Niemand weiß, dass wir hier sind! Dieser Ort ist dem Orden und damit dem zweiten Verräter total unbekannt.“ Mark hielt einen Augenblick inne. „Oder hast du es jemandem aus dem Orden gesagt?“

Hinnerk schwieg.

„Hinnerk?“

„Nein, natürlich hab ich niemandem etwas gesagt. Was denkst du denn?“

Mark zuckte mit den Schultern. „Ich weiß langsam nicht mehr, was ich denken soll. Es kommt mir beinahe vor, als würdest du mich hier festhalten wollen, dass ich dem schwarzblütigen Gesocks ja nicht zu nahe komme. Zumindest, bis irgend etwas anderes passiert. Was wolltest du vorhin sagen? Was hast du gemeint mit ‚Nicht, so lange die ...’? Was verschweigst du mir?“

Für zwanzig Sekunden herrschte Totenstille im Garten. Selbst die Vögel schienen den Atem anzuhalten.

„Nichts verschweige ich dir. Gar nichts“, murmelte Hinnerk und spielte mit seiner Kaffeetasse herum.

Er sah Mark dabei nicht an.

 

***

 

Christine saß auf ihrem Bett und hatte den Kopfhörer des Discmans, den sie gestern gekauft hatten, auf den Ohren. Nun ja, streng genommen war es nicht ihr Bett, sondern Knut Ukenas Gästebett. Aber nachdem sie jetzt bereits die zweite Nacht darin geschlafen hatte, sah sie es tatsächlich schon als ihr eigenes an.

Und das galt nicht nur für das Bett, sondern für das ganze Haus. Es strahlte eine tiefe Wärme und Behaglichkeit aus, und Christine hatte beinahe das Gefühl, als wäre es noch ein zusätzlicher Hüter, der genauso gut auf sie aufpasste, wie Mark es künftig hoffentlich tun würde. Christine konnte kaum glauben, dass sie gerade erst den zweiten Tag hier waren, so wohl fühlte sie sich.

So war es auch kein Wunder, dass sie an diesem Morgen noch selig schlummerte, obwohl die Sonne schon seit über zwei Stunden am Himmel stand. Was die Sonne nicht schaffte, obwohl sie in das geöffnete Fenster von Christines Zimmer schien, gelang dann aber letztlich ihrem neuen Hüter und dem knorrigen Hinnerk. Sie unterhielten sich im Garten so lautstark und leidenschaftlich, dass Christine davon aufwachte.

Sie verstand nicht alles, worum es in dem Streit ging, doch offensichtlich waren Mark und Hinnerk unterschiedlicher Auffassung in der Frage, was denn nun eigentlich die Aufgabe des Hüters sei. Christine wollte sich aber die Behaglichkeit, die sie empfand, nicht durch einen dummen Streit verderben lassen. Sie wusste nicht, warum sie sich dessen so sicher war, aber dieser Streit war nicht nur dumm, er war auch noch sinnlos. Und die Entscheidung, welcher Weg einzuschlagen sei, würde ganz gewiss nicht von Mark oder Hinnerk getroffen werden.

Also hatte Christine beschlossen, die Streithähne aus ihrem Wahrnehmungsbereich zu verbannen, und die Kopfhörer aufgesetzt. Und nun lauschte sie Kelly Clarkson, die ihrem Exfreund gerade mitteilte, dass er hinter diesen haselnussbraunen Augen keine Tränen zu sehen bekommen werde.

Auch Christine hatte braune Augen. Und die wurden plötzlich starr und leblos!

Christines Unterkiefer sackte herab, genauso wie ihre Schultern. Für einen Augenblick saß sie da, als wäre jeglicher Verstand aus ihrem Körper entflohen. Doch dann kam wieder Leben in sie. Ohne sich dabei zu bewegen, suchte sie nur mit den Augen den Raum ab, sah nach oben, nach unten, schielte nach links und nach rechts.

„Ja“, murmelte sie plötzlich tonlos. „Ich kann dich hören.“

Für einige Sekunden schien sie jemandem anderem als Kelly Clarkson zuzuhören. Dann nickte sie leicht.

„Was wird dort geschehen?“, fragte sie und lauschte der Antwort ihres unsichtbaren Gesprächspartners.

„Und wenn er versagt?“

Inzwischen verkündete Kelly, dass sie wegen ihres neuen Freundes, den sie in der Pause zwischen den Songs gefunden haben musste, nicht so weit vom Bürgersteig abweichen werde. Das kann es aber nicht gewesen sein, was Christine dazu veranlasste zu sagen: „Ich habe Angst.“

Und einen Augenblick später: „Na schön, wie du willst. Ich lege mein Leben in deine Hände.“

 

***

 

„Unsere Körper haben wir nun wieder“, sagte die eine der Statuen und hob die Arme. Dabei beobachtete sie, wie ein Flimmern über ihren steinernen Umhang huschte und ihn in Leinenstoff verwandelte. „Wie lange wird die Verbannung wohl gedauert haben, Rurrh’katan?“

Rurrh sah an sich herab, bewegte die Finger, schloss die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. „Woher soll ich das wissen, Skror’katan? Aber es ist mir gleichgültig! Von Bedeutung ist nur, dass wir wieder frei sind.“

„Das sind wir aber noch nicht“, erwiderte Skror. „Du weißt, dass wir vorher noch eine Aufgabe zu erfüllen haben.“ Er sah zu der Truhe auf dem Altar. „Oder meinst du, wir können unsere Seelen ...“

„Nein! Du weißt, wie leicht er uns bannen konnte. Glaubst du, er macht es uns jetzt so einfach?“

Skror schüttelte den Kopf. „Aber versuchen könnten wir es wenigstens!“

Noch bevor Rurrh Einwände erheben konnte, streckte Skror den linken Arm aus und ging in winzigen Schritten auf die Truhe zu. Doch als sich seine Finger der Truhe auf einen Meter genähert hatten, hörte er ein lautes Knacken und Knirschen, fast so als würde Eis brechen. Ein kurzer, heftiger Schmerz durchzuckte die Fingerspitzen seiner linken Hand. Skror sah noch, wie sie schlagartig die Farbe verloren, die sie gerade erst wieder gewonnen hatten, wie sie grau wurden, grau wie Stein, und nur einen weiteren Augenblick später schwarz. Skror riss die Hand zurück, doch es war zu spät. Die vordersten Glieder der mittleren drei Finger purzelten auf den Kapellenboden, wo sie mit einem trockenen Knistern zu einer Staubwolke zerbarsten.

Rurrh grinste. „Ich habe es dir doch gesagt!“

Skror betrachtete seine verstümmelte Hand und grinste zurück. „Einen Versuch war es wert. Ob das wieder nachwächst?“

„Nicht ohne unsere Seelen!“

„Dann lass sie uns holen!“

Rurrh legte seinen Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Mit fester Stimme rief er: „Rher ned iwrin chta nreken nen!“

„Chteerri nei tro zude ine mtulb“, erwiderte Skror.

Zwischen den beiden begann die Luft zu flirren und zu wirbeln, schnell und immer schneller. Unzählige winzige Spiegelscherben schienen durch die Luft zu tanzen und mit ihren scharfen Kanten Löcher in die Realität zu schneiden. Skror und Rurrh hörten ein lautes, trockenes Reißen und plötzlich tat sich an der Stelle, an der gerade noch der Luftwirbel zu sehen war, ein großer schwarzer Spalt auf, ein finsteres, mannshohes Schlangenauge.

Skror nickte und sah sich noch einmal in der Kapelle um.

„Welche Bedeutung hat wohl dieses Symbol?“, fragte er und deutete auf das große Holzkreuz über dem Altar.

„Wen interessiert das? Lass uns unseren Auftrag erfüllen.“

Sie fassten sich bei den Händen, traten in das Schlangenauge und im nächsten Augenblick waren sie verschwunden.

 

***

 

„Das glaube ich dir nicht!“, sagte Mark.

„Was?“, fragte Hinnerk.

„Dass du mir nichts verschweigst. Das glaube ich dir nicht.“

Hinnerk seufzte. „Das ist doch Blödsinn, Mark. Das hier ist keine Gruselgeschichte mit großer Verschwörung, wie sie sich die Kinder im Zeltlager am Feuer erzählt haben“, sagte er und starrte dabei in seine Kaffeetasse.

Das Zeltlager! Plötzlich rastete in Marks Gehirn etwas ein. Er wusste, was ihn so außerordentlich gestört hatte. Er sah Hinnerk an und kniff die Augen zusammen.

Das konnte doch nicht sein, oder? Und dennoch ...

„Wie kam es eigentlich“, fragte Mark und versuchte den Anschein von Arglosigkeit zu erwecken, „dass du auch bei diesem Zeltlager warst, in dem wir uns kennen gelernt haben?“

„Das weißt du doch ganz genau! Ich war als Betreuer vom Jugendheim eingesetzt.“

Mark nickte. „Ja, ja, schon klar. Aber wie stellt es einer der 13 Meister des Ordens an, für so eine profane Tätigkeit eingesetzt zu werden?“

„Indem er ein paar der zahlreichen Kontakte nutzt, die dem Orden zur Verfügung stehen. Auch das solltest du inzwischen wissen. Also, was soll diese Frage?“

„Und das ging so einfach?“

„Nein, natürlich nicht“, gab Hinnerk zu. „Da haben unsere Strippenzieher ein beachtliches Stück Arbeit geleistet. Da wirst du eher in eine extrem geheime Sicherheitszone beim Nachrichtendienst vorgelassen, als dass du die Verantwortung für ein paar Kinder übernehmen darfst. Etwas mehr als ein einfaches ‚Bitte’ wird schon vonnöten gewesen sein.“

„Und wozu der ganze Aufwand?“, fragte Mark.

„Jetzt wird es mir aber langsam zu blöd!“, brauste Hinnerk auf. „Warum fängst du plötzlich an, Dinge zu hinterfragen, die ich dir schon lange erklärt habe? Was versuchst du zu beweisen?“

Mark antwortete nicht. Stattdessen wiederholte er seine Frage: „Wofür war der ganze Aufwand gut?“

„Na gut“, seufzte Hinnerk. „Ein letztes Mal, dass auch du es endlich in deinen Schädel bringst: Ich war nur dort, um dich in Augenschein zu nehmen. Weil du der auserwählte neue Hüter bist. Die Hüter stammen immer aus denselben Geschlechtern. Einer deiner Urahnen war 994 beim Sturm auf Stade dabei und hat ziemlich geplündert, aber dann rettete er den Schatz, als Wikinger wieder mal über ein Kloster in England herfielen, das seinerzeit den Schatz barg. Er nannte sich übrigens Lars Wolfssohn und wurde dann zum Hüter. Seither gab es drei Hüter aus eurem Geschlecht. Alles gute Männer. Ich wollte sehen, wie stark das Erbe in dir ist."

Marks Wangen und Ohrläppchen färbten sich dunkelrot. Er konnte es nicht fassen! Und dennoch musste es die Wahrheit sein: Hinnerk spielte ihm hier billigstes Schmierentheater vor!

„Wie lange hast du eigentlich gebraucht, deinen Text zu lernen?“, brüllte Mark sein Gegenüber an.

Hinnerk fuhr zusammen. „Was ist denn mit dir los? Was soll diese Frage?“

„Halt mich doch nicht für blöde! Ich hab ein ziemlich gutes Gedächtnis, mein Freund.“ Das letzte Wort würgte Mark beinahe heraus. „Und das, was du mir da gerade erzählt hast, hast du vorgestern in annähernd dem gleichen Wortlaut gesagt. So, als hättest du es auswendig gelernt und würdest nun deinen Text wieder herunterspulen.“

„Mach dich doch nicht lächerlich!“

Mark gab einen Laut von sich, der nur bei großzügigster Auslegung als ein trockenes Lachen durchgegangen wäre. „Lächerlich? Ich mache mich lächerlich? Und wie nennst du die Geschichte, die du mir hier aufzutischen versuchst?“ Er strich sich mit der Hand über das Kinn. „Lass uns doch mal zusammenfassen: Mein Vorgänger war 25 Jahre im Amt, richtig?“

Hinnerk nickte.

„Fein“, fuhr Mark fort. „Das sind über den Daumen ... hm ... nun ja, ungefähr neun- bis zehntausend Tage. Und ich soll dir jetzt glauben, dass ihr euch nach neuntausend Tagen plötzlich überlegt, dass ihr euch doch eigentlich mal den möglichen neuen Hüter anschauen könntet? Also grübelst du, wie du das am geschicktesten anfangen könntest. Du könntest zum Beispiel einfach ins Museum kommen und mich unter einem Vorwand ansprechen. Oder vielleicht auch ohne Vorwand: ‚Hallo, Sie könnten der neue Hüter werden. Hätten Sie Lust? Die Bezahlung ist zwar miserabel, aber Sie können echte Vampire und Hexen kennen lernen.’ Du könntest auch dem Museum oder mir einen Forschungsauftrag erteilen. Du könntest mir im Supermarkt mit dem Einkaufswagen in die Hacken fahren und dich mit einem Kaffee entschuldigen. Du könntest dich im Kino neben mich setzen und über den Film diskutieren. Es gibt unzählige einfache Möglichkeiten, was du alles könntest. Aber nein! Was tust du? Du engagierst ein paar Strippenzieher, wie du sie nennst, die dafür sorgen, dass du als Betreuer in ein schon lange geplantes Zeltlager eingeschleust wirst. Wer weiß, wie viele gute Worte oder Bestechungsgelder euch das gekostet hat. Und just in dieser Nacht, in der du deine Beobachtungen durchführst, läuft der alte Hüter vor ein paar Vampirzähne! Ich war in der Schule in Mathe nie gut bei solchen Sachen wie Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber um zu erkennen, dass das unwahrscheinlicher ist als ein ehrlicher Politiker, muss ich kein Mathegenie sein. Nie im Leben kann das Zufall gewesen sein!“

Hinnerk schüttelte den Kopf. „War es aber“, sagte er mit krächzender Stimme.

„Und was ist mit Algernon Finch?“

„Versteh ich nicht. Was soll mit dem sein?“

„Na ja, die Reaktionszeit des Ordens war doch echt beachtlich! Kaum ist der eine Hüter nur noch Geschichte, schon steht ein geschniegelter Algernon Finch vor mir und bietet mir einen neuen Job an. Wenn ich mir überlege, wie lange es gedauert haben muss, bis James dem Orden sagen konnte, was vorgefallen ist, und wie lange hat es dann noch gedauert hat, bis der Ordensmeister vom Dienst Algie erreicht hat! Schließlich war es mitten in der Nacht. Und selbst Algie wird wohl nicht mit Nadelstreifenanzug und Bowler ins Bett gehen. Außerdem musste er ja auch noch bis ins Zeltlager fahren. Nein, nein, da kannst du mir sagen, was du willst. Aber das ging alles viel zu reibungslos und schnell über die Bühne. So, als wäre es schon lange geplant gewesen.“ Mark schüttelte mit dem Kopf. „Diese ganze Geschichte kneift wie eine zu enge Unterhose.“

„Mark“, sagte Hinnerk und seine Stimme war wieder ruhig und samtig. „Ich weiß, wie dir das alles vorkommen muss. Aber ich bitte dich, dem Orden und mir zu vertrauen!“

„Wie kann ich dem Orden denn vertrauen, wenn ich weiß, dass es noch einen Verräter geben muss?“

Hinnerk zuckte zusammen. „Gut“, sagte er. „Der Einwand ist berechtigt. Aber das stellt doch nicht die Ziele des Ordens in Frage.“

Mark runzelte die Stirn. Gerade war ihm noch etwas eingefallen. Und es gefiel ihm immer weniger. „Woher weißt du eigentlich, dass es noch einen zweiten Verräter gibt?“

„Äh ...“, machte Hinnerk.

„Korrigier mich, wenn ich mich falsch erinnere. Aber hat James uns nicht erzählt, dass euer Chauffeur Jaques irgendwas ...“

„Terrierre“, sagte Hinnerk automatisch.

„Von mir aus. Dass also dieser Chauffeur den Vampiren den Zugang zu eurem Herrenhaus ermöglicht hat?“

„Richtig.“

„Also, wie kommst du darauf, dass es einen zweiten Verräter gibt?“

„Wegen Cresmonia Gwscores Auftauchen. Sie hat Christine und James vom Herrenhaus bis Agathenburg verfolgt. Wer soll ihr denn verraten haben, wo der Schatz ist?“

„Hm, lass mich mal nachdenken“, sagte Mark betont gelangweilt. „Wie wäre es zum Beispiel mit Jaques Terrier, dem erwiesenen Verräter? Ist das nicht viel wahrscheinlicher?“

„Der konnte Cresmonia aber nichts von dem Fluchttunnel erzählt haben, weil er nichts davon wusste.“

„Wer sagt das? Vielleicht hatte er ihn auf der Suche nach einer Pulle Wein im Keller entdeckt? Vielleicht musste er ja aber auch gar nichts davon wissen! Diese Schlampe mit dem schwierigen Namen ist schließlich eine Hexe, mein Gott! Vielleicht ist sie ja einfach nur hoch genug geflogen, um zufällig auch den Ausgang des Tunnels im Blick zu haben. Ich könnte mir da einige Möglichkeiten vorstellen, ohne gleich einen zweiten Judas zu unterstellen.“

„Trotzdem ...“, begann Hinnerk.

„Der Punkt ist doch aber gar nicht, ob es einen zweiten Verräter gibt“, unterbrach ihn Mark. „Der Punkt ist, dass du nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde auch nur in Erwägung gezogen hast, dass Jaques Trottoir für Cresmonias Erscheinen verantwortlich gewesen sein könnte. Du hast dich von Anfang an so auf die Theorie mit dem zweiten Verräter gestürzt, dass ich geneigt bin, auch daran zu glauben. Ich habe aber vielmehr den Eindruck, dass das nicht bloß eine Theorie von dir ist, sondern eine gesicherte Erkenntnis. Also noch einmal: Was verheimlichst du mir?“

Hinnerk rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sagte kein Wort.

„Soll ich dir mal sagen, was ich glaube?“, fuhr Mark fort.

Hinnerk sagte immer noch nichts.

„Ich glaube, dass deine Anwesenheit beim Zeltlager in der Nacht des Vampirüberfalls auf den Schatz kein Zufall war.“

Hinnerk sah zu Boden.

„Als Algie bei uns am Lagerfeuer auftauchte, hast du ihn empfangen mit den Worten: ‚Es ist also geschehen.’“

Hinnerk schluckte. „Dat hebb ick seggt?“

„Hast du. Wie ich dir schon sagte: Ich habe ein gutes Gedächtnis. Wie würde das auf dich wirken, wenn du an meiner Stelle wärst?“

Hinnerk sah wieder zu Boden.

„Ich glaube, du wusstest, dass etwas geschehen würde, noch bevor der Überfall stattgefunden hat. Ich glaube, du wusstest schon vorher, dass in dieser Nacht ein neuer Hüter gebraucht werden würde.“ Mark holte tief Luft. „Und was das wiederum heißt, liegt ja auf der Hand, oder?“

Hinnerk schwieg.

„Das heißt“, flüsterte Mark mit Tränen in den Augen, „dass du deshalb von dem zweiten Verräter weißt, weil du dieser Judas bist!“

 

***

 

Das Flimmern über der ausgedehnten Grasfläche setzte völlig unvermittelt ein. Ein paar Vögel flatterten laut zeternd davon und eine Maus verkroch sich in ihrem Loch. Nach nicht einmal drei Sekunden dehnte sich das Flimmern aus, wurde zu einem Wirbel, der sich drehte, schneller und immer schneller drehte ... und plötzlich regungslos in der Luft stand. Mit einem lauten, trockenen Reißen tat sich ein Riss in der Realität auf und formte sich zu einem finsteren, mannshohen Schlangenauge.

Kaum hatten Rurrh’katan und Skror’katan den magischen Tunnel, den das Auge darstellte, verlassen, flimmerte es noch einmal kurz auf und verblasste.

Skror runzelte die Stirn und sah seinen Bruder an. „Wo sind wir hier?“

Rurrh sah sich um und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht! Die schwarze Brücke hätte uns genau bis zum Blutspross führen müssen. Warum hat sie es nicht getan?“

Skror schirmte mit der Hand seine Augen ab und sah zum Horizont. „Ich hatte das Gefühl, als wäre eine Mauer um den Blutspross errichtet, der alles Böse von ihm abhält. Ist das da vorne eine Straße?“

Auch Rurrh schirmte seine Augen ab und blickte in die gleiche Richtung. „Aber wie kann das sein? Wir sind doch nicht böse, so lange wir unsere Seelen nicht haben! Ich glaube du hast recht, das ist eine Straße. Wir sollten ihr folgen.“

„Wir sind nicht böse, aber die schwarzen Brücken sind eine Schöpfung des Finsteren Herrn. Die Schutzmauer um den Blutspross hat wahrscheinlich das Ende der Brücke abgewiesen, so dass sie nur bis hierher reichte. Ich fürchte, wir müssen den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen.“

Skror schloss die Augen und drehte sich langsam im Kreis. Dabei richtete er sein Gesicht nach oben und summte leise vor sich hin. Plötzlich blieb er stehen und zeigte in die Richtung, in die auch die Straße führte.

„Dorthin. Ich kann den Blutspross spüren. Du hast Recht, wir sollten der Straße folgen.“

Sie setzten sich in Bewegung. Je näher sie der Straße kamen, desto langsamer wurde Rurrh. Schließlich blieb er ganz stehen und starrte auf den dunklen Asphalt und die weiße, gestrichelte Linie in der Straßenmitte.

„Das soll eine Straße sein? Sie ist so glatt und so gerade! Und so hart!“

Skror schüttelte den Kopf. „Wie lange wird unsere Verbannung wohl gedauert haben?“

„Das hast du schon einmal gefragt! Ich weiß es nicht! Und jetzt lass uns endlich gehen! Da vorne sind Häuser. In diese Richtung müssen wir.“

Zwanzig Minuten lang marschierten sie auf die Häuser zu. In dieser Zeit kamen ihnen vier Autos, zwei Jogger und ein Motorrad entgegen, ein Traktor und ein Nordic Walker überholten sie - aber niemand nahm sie wahr. Obwohl beide Jogger direkt auf sie zurannten, wichen sie im letzten Augenblick aus, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden.

Bei jeder dieser Begegnungen machte sich Skror’katan seine Gedanken. „Was sind das für eigenartige Wägen, die fahren, ohne dass man sie ziehen muss?“ - „Warum stinken diese Wägen so?“ - „Warum hat dieser Mann gleich zwei Wanderstäbe dabei? Und warum hat er es so eilig?“ - „Warum hängen diesen rennenden Menschen Schnüre aus den Ohren, die in ein kleines silbernes Kästchen führen?“

Und mit jeder dieser Fragen wurde Rurrh’katan ungeduldiger mit seinem Bruder.

Als sie an einem grauen Pfahl vorbeikamen, an dem ein grünes Schild mit gelben Zeichen darauf befestig war, fragte Skror: „Was mögen wohl diese Zeichen bedeuten?“

Rurrh blieb stehen, packte seinen Bruder an den Schultern und schüttelte ihn. „Lies es von meinen Lippen ab: Ich weiß es nicht! Ich war genauso lange verbannt wie du. Also stell mir keine solchen Fragen! Bei der nächsten Frage reiße ich dir die Kehle auf, egal ob ich meine Seele schon wieder habe oder nicht. Hast du mich verstanden?“

Skror nickte und sah zu Boden. Aber kaum hatte Rurrh ihn losgelassen, grinste er und fragte: „Also, was glaubst du bedeuten diese Zeichen?“

Rurrh seufzte. „Wahrscheinlich ist das der Name dieser Siedlung. Jetzt komm! Wir müssen weiter.“

Rurrh hatte Recht. Auf dem grünen Schild stand in gelber Schrift tatsächlich der Name des Ortes, den sie gerade betreten hatten.

Der Name des Ortes war Hüll!


 


                                                      Standing alone in the wind and rain

                                                      Feeling the fear that is growing

                                                      Sensing the change in the tide again

                                                      Brought by the storm that is brewing

                                                      Feel the anxiety hold off the fear

                                                      Some of the doubt in the things you believe

                                                      Now that your faith will be put to the test

                                                      Nothing to do but await what is coming

                                                                         

(Iron Maiden, Sign of the Cross)

2. Kapitel:

Hüter des verlorenen Schatzes

 


Diese Richtung?“, fragte Skror’katan seinen Bruder und zeigte auf ein etwa zweihundert Meter entferntes Fachwerkhaus. „Ich kann den Blutspross nur noch ganz gedämpft fühlen!“

Rurrh’katan blieb neben Skror stehen, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. „Du hast Recht. Das ist merkwürdig. Eigentlich müsste der Ruf mit jedem Meter, den wir uns ihm nähern, deutlicher werden. Stattdessen wird er ...“ Rurrh stockte. „Nun, undeutlicher eben.“

Er drehte sich einmal langsam im Kreis. Dann noch einmal und noch einmal. „Ja, der Ruf kommt von dort. Ich glaube, der Blutspross ist in diesem Haus!“

Skror machte zwei, drei Schritte darauf zu, blieb wieder stehen und runzelte die Stirn. „Kann es sein, dass es das Haus selbst ist, das den Ruf so dämpft? Ich habe fast den Eindruck, als würde es leben. Und atmen.“

Rurrh sah seinen Bruder an und zog eine Augenbraue hoch. „Unsinn!“, sagte er. „Wie soll ein Haus leben?“

Skrors Blick fiel auf ein altes Mütterlein, das auf dem Gehweg gerade von ihrem Bernhardiner Gassi geführt wurde. Es kam geradewegs auf die beiden Wächter zu und wich ihnen im letzten Augenblick aus, ohne sich dessen bewusst zu werden. Plötzlich ertönte aufgeregt klingende Musik, gespielt von Instrumenten, wie Skror sie noch nie zuvor gehört hatte. Sie kam genau - aus dem Bauch der alten Frau! Die blieb stehen, zog aus einer Tasche ihres eigenartig geschnittenen Umhangs ein silbernes Kästchen und drückte auf einen der zahlreichen winzigen Knöpfe des Kästchens. Die Musik verstummte.

Skror beobachtete das Geschehen mit großen Augen. Als das alte Mütterlein sich dann gar das Kästchen ans Ohr presste und eine Unterhaltung mit jemandem begann, der gar nicht da war, sah Skror seinen Bruder an und sagte: „Ich möchte wirklich zu gerne wissen, wie lange wir verbannt waren. Die Welt ist so merkwürdig geworden. Stinkende Kutschen, die sich von selbst bewegen, schreckliche Musik, die aus dem Nichts kommt. Die ganze Welt scheint voller Magie zu sein und doch kann ich nichts davon spüren!“

Rurrh verdrehte die Augen. „Das ist mir alles gleichgültig! Das Einzige, was mich interessiert, ist, dass ich meine Seele wieder bekomme. Deine dauernden Fragen und deine Neugier halten uns nur auf. Lass uns endlich weiter gehen und den Auftrag erfüllen.“

 

Also setzten sie sich wieder in Bewegung.

„Wie kommen wir hinein?“, fragte Skror, als sie endlich das Haus erreicht hatten.

„Lass uns einmal außen herum gehen“, schlug Rurrh vor.

Und tatsächlich! Auf der Rückseite des Hauses hatten sie Glück: eine große, gläserne Tür stand weit offen. Zwar saßen zwei Männer ganz in der Nähe an einem Tisch. Aber erstens waren sie in einen Streit vertieft und zweitens hätten sie die Wächter ohnehin einfach übersehen.

Rurrh lief zur Tür und betrat das Haus ohne zu zögern. Skror folgte ihm, sah sich aber bei jedem Schritt nach den Wundern dieser Welt um.

Die Wächter durchquerten das Zimmer, in das sie die Glastür geführt hatte. Mit kindlicher Neugier betrachtete Skror den hochflorigen Teppich und das Ledersofa. Er ging in die Hocke und strich mit seiner Hand über die Auslegeware. „Seltsames Gras haben die hier“, murmelte er, legte den Kopf schief und lächelte. „Aber es fühlt sich angenehm an. Warum stehen hier wohl zwei so winzige Särge herum?“, fragte er seinen Bruder, als er die hohen Raumlautsprecher der Stereoanlage entdeckte.

Rurrh beschloss, die Frage nicht einmal zu ignorieren und trat durch eine Tür hinaus in den Flur. Zu seiner Rechten sah er einen weiteren Raum, in dem ein großer, sehniger Mann in einer weit herausgezogenen Schublade wühlte.

Noch einmal schloss er die Augen und versuchte, den Ruf des Blutsprosses aufzunehmen. Jetzt, wo sie im Haus waren, war er so laut und deutlich zu fühlen, wie noch nie. Offenbar war es tatsächlich das Gebäude selbst gewesen, das den Ruf gedämpft hatte, wie auch immer das möglich sein konnte.

„Wir müssen nach ...“, begann Rurrh, hielt jedoch inne, als er feststellte, dass Skror nicht neben ihm stand.

Also ging er zurück in das Zimmer, aus dem er gekommen war. Dort kniete Skror hinter einer der Boxen und folgte dem Kabel bis zum Verstärker.

Als er Rurrh entdeckte, sagte er: „Aus den Särgen führen dünne Schläuche zu diesem Kasten hier. Was das wohl zu bedeuten hat?“

„Das hat zu bedeuten, dass du deine Seele nicht mehr bekommen wirst. Denn wenn du so weitermachst, dann werde ich dich so zerfetzen, dass von deinem Körper nicht mehr genug übrig bleibt, um deine Seele wieder aufzunehmen!“

„Ist ja schon gut!“, jammerte Skror. „Ich komme schon.“

„Wir müssen nach oben“, sagte Rurrh deutlich ruhiger. „Der Blutspross ist hier im Haus!“

„Dann lass uns zu ihm gehen. Vielleicht kann er mir ja etwas über diese Särge verraten!“

 

***

 

Christine saß immer noch auf ihrem Bett. Die Daunendecke, die seit gestern in einen Bezug mit Robbie Williams grinsendem Konterfei gehüllt war, bedeckte ihre Beine bis zu den Knien. Aus den Kopfhörern ihres Discmans versorgte Kelly Clarkson sie mit Weisheiten über das Leben und die Liebe im Allgemeinen und die Frage, wo das Herz ihres Freundes sei, im Besonderen. Sie hätte jedoch genauso gut in Kisuaheli singen können, Christine hätte auch nicht weniger zugehört.

Die Arme hatte sie so vor die Brust geschlungen, als sei ihr kalt. Mit dem Oberkörper wippte sie langsam vor und zurück, ihr Blick flackerte durchs Zimmer.

„Ich darf keine Angst haben“, murmelte sie. „Ich darf keine Angst haben.“

Sie griff nach Robbie Williams und zog ihn sich bis zum Kinn hoch. Die CD-Hülle, die bisher auf Robbies linkem Auge gelegen hatte, rutschte seitlich weg und knallte mit der Kante auf den Boden. Die zwei Plastiknasen, mit denen der Deckel am Rest der Hülle befestigt waren, splitterten ab und hüpften noch einige Meter durch den Raum. Außerdem zog sich ein Sprung im Plastik diagonal über Kelly Clarksons Gesicht wie eine Peitschenstrieme - was die Frage, welcher der beiden im Zimmer anwesenden Popstars besser aussah, aber auch nicht hinreichend zu beeinflussen vermochte.

Christine bemerkte davon nichts. Sie wippte vor und zurück und murmelte: „Ich darf keine Angst haben.“

Ihre Zehen, die jetzt unter der Bettdecke hervorlugten, verkrampften sich, lockerten sich wieder, verkrampften sich, lockerten sich. Zu und auf, und immer wieder zu und auf.

„Ich darf keine Angst haben!“

Plötzlich hielt sie inne, wartete einen kurzen Augenblick, riss sich den Kopfhörer von den Ohren und feuerte ihn in Robbie Williams grinsendes Gesicht.

„Ich hab aber Angst!“

Sie schlug die Decke zurück, tapste zum Fernseher auf der Kommode und knipste ihn an. Dann kroch sie zurück unter ihre Bettdecke und zappte sich mit der Fernbedienung durch die Programme, bis sie schließlich bei einer Folge von Kim Possible hängen blieb. Und die schaffte es tatsächlich, was Kelly Clarkson nicht gelungen war: Christine für einige Minuten auf andere Gedanken zu bringen.

Doch gerade als sich Kim mit ihrem Freund Ron Stoppable und dessen Nacktmull im Bueno Nacho traf, um zu besprechen, wie sie dieses Mal verhindern könnten, dass Dr. Drakken die Weltherrschaft an sich reißt, schwang die Tür zu Christines Zimmer nach innen.

Christines Kopf fuhr herum. Sie hoffte, James, Hinnerk oder ihren neuen Hüter Mark in der Tür stehen zu sehen. Doch in ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass diese Hoffnung vergebens war.

Sie sah aber auch nicht das, was sie befürchtet hatte, denn vor der Tür stand - niemand! Der Gang vor ihrem Zimmer war menschenleer.

Und dennoch wusste Christine, dass es jetzt soweit war.

„Keine Angst!“, murmelte sie noch einmal, atmete tief durch und kletterte aus dem Bett.

 

***

 

Hinnerks Kopf zuckte hoch.

„Das geht zu weit!“, brüllte er Mark an. „Das ist doch lächerlich! Ich bin kein Judas!“

Der neue Hüter hielt Hinnerks Blick stand.

„Ach nein?“, brüllte er zurück.

„Nein!“

„Wer, in Gottes Namen, bist du dann? Sag mir, was hier gespielt wird.“

Hinnerk atmete tief durch.

„Mark!“ Seine Stimme war plötzlich Samt. „Mark! Denk doch nach! Ich kann deine Überlegungen ja verstehen. Aber hätte ich denn tatsächlich die Theorie von einem zweiten Judas aufgebracht, wenn dieser Verräter ich wäre? Das ist doch total unlogisch. Warum hätte ich die Hexe vertreiben sollen? Warum hätte ich euch, warum hätte ich Christine retten sollen, wenn ich sie doch verraten habe?“

„Äh ...“, machte Mark. Seine Schultern sackten nach unten. Daran hatte er nicht gedacht. „Aber ...“

„Kein Aber! Versuch doch bitte einfach, mir zu vertrauen.“

Mark schüttelte den Kopf. „Aber wie soll ich das denn?“, hauchte er. „Du verheimlichst mir etwas! Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir nicht vertraust?“

Hinnerk sah Mark an, sah wieder weg. Dann biss er auf seiner Unterlippe herum, sah Mark noch einmal an und wieder weg.

Mark nickte ihm zu. „Was? Was willst du mir sagen?“

Hinnerk strich sich mit der Hand durch den Bart, dann schüttelte der den Kopf. „Tut mir Leid, aber ich kann dir nicht mehr sagen.“

Mark kniff die Augen zusammen. Seine Kiefermuskulatur zuckte, als er mit den Zähnen mahlte. Dann atmete er einmal tief ein, nickte zwei, drei Mal und stand auf. „Na gut. Unter diesen Umständen ist es vielleicht besser, wenn ihr euch einen anderen Idioten sucht, der für euren Club das Kindermädchen spielt. Vielleicht findet ihr ja einen, dem es Spaß macht, von euch verarscht zu werden.“

Er drehte sich um und ging zurück zum Haus. Hinnerk sah ihm noch einen Augenblick hinterher, stieß ein herzhaftes „Scheiße!“ aus und folgte ihm.

 

***

 

James stand in der Küche und betrachtete mit gerunzelter Stirn das Bataillon Flaschen, das er auf dem Esstisch aufgebaut hatte. Mark und Hinnerk hatten es ja sicher gut gemeint, als sie gestern Unmengen an Putzmittel gekauft hatten. Allerdings hatten sie mit diesem Einkauf bewiesen, dass sie dem Irrglauben vieler putzender Männer erlegen waren: Viel hilft viel. Und so standen auf dem Tisch drei Kalklöser unterschiedlicher Hersteller, sogar vier verschiedene Glaspflegemittel, zwei Flaschen Bodenputzmittel, zwei Desinfektionsmittel, eine Flasche mit Sanitärreiniger (der auf den James völlig unverständlichen Namen WC-Ente hörte) und ein Tübchen mit Reinigungsmittel für Ceran-Kochfelder (obwohl James im ganzen Haus noch kein Ceran-Kochfeld entdeckt hatte). Dafür fehlten ein Allzweckreiniger und ein Geschirrspülmittel völlig. Oder konnte dieser Essigreiniger gleich neben dem Buntwaschmittel etwa als Allzweckreiniger benutzt werden?

James seufzte. Obwohl er wusste, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren würden, sehnte er sich nach dem Herrenhaus, in dem er mit dem Schatz die letzten Jahre verbringen durfte - und vor allem nach der Kammer mit den Putzmitteln. Alle ordentlich nach Verwendungszweck aufgereiht und mit Produktnamen versehen, die James wenigstens etwas sagten. Sehnlichst wünschte er sich eine Flasche mit Mr Muscle Bathroom Cleaner herbei! Ein Mittel, das den Namen eines im Lokus schwimmenden Wasservogels hatte, wäre ihm da jedenfalls nicht ins Haus gekommen.

Tja, aber die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt waren sie hier in Hüll und würden es wohl auch eine ganze Zeit lang bleiben. Deshalb musste jetzt erst einmal eine straffe Organisation des Haushalts her.

Verderbliche Lebensmittel in die kleine Speisekammer neben der Spüle, Konserven in die größere Kammer im Flur. Die Bodenputzmittel unter die Spüle, das Geschirrspülmittel darauf - ach nein, Geschirrspülmittel hatten sie ja noch keines.

James seufzte noch einmal. Er lehnte sich an die Tischplatte und sah sich in der Küche um. Es würde wohl noch ein paar Tage dauern, bis alles seinen Platz gefunden hatte. Heute Nachmittag würde er die Töpfe und Pfannen zählen und eine Inventur des Geschirrs und Bestecks machen, um zu sehen, ob sie damit auskommen würden.

Sein Blick fiel auf eine geschlossene weiß lackierte Tür, ungefähr einen halben Meter neben der Tür zum Flur.

Nanu! Die war ihm bisher ja noch gar nicht aufgefallen! War die gestern auch schon da?

Natürlich! James schalt sich einen Narren. Natürlich war die Tür gestern auch schon da. Türen pflegen in der Regel nicht plötzlich einfach so zu aufzutauchen.

James machte drei große Schritte und schon lag seine Hand auf der Klinke. Langsam drückte er sie herunter. Nichts! Die Tür war verschlossen.

James seufzte. Wie sollte man den Haushalt vernünftig organisieren, wenn man nicht wusste, was alles vorhanden war? Vielleicht warteten hinter dieser Tür ja unglaubliche Schätze auf ihn, wie englischer Tee, Geschirrspülmittel oder gar ein Ceran-Kochfeld. Vielleicht aber auch nur fünf weitere Flaschen mit Klo-Gans, oder wie das hieß.

Noch einmal drückte er die Klinke nach unten. Verschlossen! Wie gerade eben schon. Natürlich. Genauso wenig, wie Türen pflegten, einfach so aus dem Nichts zu erscheinen, pflegten sie plötzlich offen zu sein, wenn sie gerade noch verschlossen waren.

James legte die Hände auf das Holz und strich darüber und schätzte die Maße der Küche und des Hauses ab. Er beschloss, dass hinter dieser Tür bestenfalls eine Vorratskammer sei. Und die war, wenn man die Maße der angrenzenden Räume und die Nähe der Außenwand berücksichtigte, wahrscheinlich nicht einmal besonders groß. Zwei auf zwei Meter vielleicht. Wenn überhaupt.

Außerdem öffnete sich die Tür (wenn sie sich denn endlich einmal öffnen würde!) in die Kammer hinein, was von dem ohnehin geringen Platz sicherlich einen Großteil raubte.

Trotzdem! James hasste ungelöste Rätsel und verschlossene Türen. Und wenn sich hinter der Tür nur eine Besenkammer verbarg, James wollte es wissen!

Er ging zur Anrichte, zog eine der drei Schubladen heraus und wühlte darin herum. Gummibänder, ein paar Päckchen Papiertaschentücher, drei Kugelschreiber, drei Notizblocks. Aber kein Schlüssel. Ohne die eine zu schließen, riss er die nächste Schublade hervor.

Er wunderte sich über sich selbst. Normalerweise war er ein sehr ordentlicher, fast schon penibler Mensch. Unkontrolliert in Schubladen zu wühlen passte so gar nicht zu ihm!

Auch in diesem Schub war außer ein paar Löffeln, etlichen Rouladennadeln und einigen Rollen Bindfaden unterschiedlicher Stärke und Farbe nichts Aufregendes zu finden.

Wo könnte der Schlüssel noch sein? Oder gab es vielleicht gar keinen Schlüssel mehr? Hatte Marks Freund ihn verloren? Es war wohl das Beste, ihn bei Gelegenheit selbst einmal zu fragen.

„Nein! Bitte nicht!“, hörte er plötzlich einen schrillen Schrei aus dem oberen Stockwerk.

Oh, mein Gott! Christine!

Er rannte aus der Küche und sah Mark, der aus dem Wohnzimmer gehetzt kam.

„War das Christine?“, fragte Mark.

James nickte.

In diesem Augenblick ertönte von oben ein Scheppern, gefolgt von einem dumpfen Knall!

 

***

 

Cresmonia Gwscore war wütend. Wobei diese Beschreibung etwa genauso zutreffend war, als würde man sagen, der Mount Everest sei ein Hügel.

Sie war wütend auf Mark Larsen. Wie lange war es her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte? Zweihundert Jahre? Fünfhundert? Oder nur zehn? Sie wusste es nicht mehr! Sie wollte es auch nicht mehr wissen, hatte sie die schmerzhaften Erinnerungen doch so lange erfolgreich verdrängen können. Und plötzlich, in einem Augenblick, in dem sie am wenigsten damit gerechnet hatte, stand er wieder vor ihr! Und nicht nur das! War es nicht schon schlimm genug, was er ihr früher alles angetan hatte? Musste er jetzt unbedingt auch noch der neue Hüter von diesem blöden Gör, von diesem Schatz, werden? Wie gern hätte Cresmonia ihn in ihrem Netz aus Blitzen zucken sehen! Wie gern hätte sie sein verkohlendes Fleisch gerochen! Wie gern hätte sie seine Schreie gehört!

Cresmonia seufzte. Und wie gerne hätte sie ihn wieder bei sich im Bett gehabt! Aber nichts davon war geschehen! Stattdessen war ihm die Flucht gelungen!

Sie war wütend auf ihren bärtigen Widersacher, diesen andauernden Spielverderber! Sie hatte sich so sehr in ihrem Schmerz, ihrem Hass, ihrer Liebe gesuhlt, dass sie Marks neuen Freund gar nicht mehr beachtet hatte. Ein schwerer Fehler! Denn er war es gewesen, der sie mit seinen Kräften vertrieben hatte. Er war es gewesen, der ihren Besen durch die Luft hatte trudeln lassen wie einen betrunkenen Vogel. Er war es gewesen, den sie sich zuerst hätte vorknöpfen müssen. Denn Larsen, den sie als stark, kraftvoll und mächtig in Erinnerung hatte, war beinahe so hilflos gewesen wie ein kleines Kind!

Und vor allem war sie wütend auf sich selbst! Wie hatte sie die Situation nur so falsch einschätzen können?

Sie zerbiss einen harschen Fluch zwischen den Zähnen und trat mit dem nackten Fuß gegen das Nachttischkästchen. Schmerz spürte sie keinen, aber das Kästchen knallte gegen die Wand und zerbarst.

Der Muskelprotz, der in dem zerwühlten Bett saß, zuckte nicht einmal zusammen. Stattdessen folgte er Cresmonias Bewegungen mit gierigen Augen. Ein dümmliches Lächeln umspielte seine leicht geöffneten Lippen und verlieh ihm einen Gesichtsausdruck, der darauf schließen ließ, dass er selbst in einem Wortgefecht mit einer Parkuhr den Kürzeren gezogen hätte. Der glitzernde Speichelfaden, der aus seinem Mundwinkel rann und inzwischen schon am Kinn baumelte, war auch nicht gerade dazu angetan, diesen Eindruck zu mildern.

Nachdem Cresmonia ihre schändliche Niederlage hatte hinnehmen müssen, war sie noch zwei Stunden mit ihrem Besen durch die Luft getorkelt, bevor sie ihn endlich wieder unter Kontrolle bekommen hatte. Sie war natürlich sofort wieder zu dem Flugfeld zurückgekehrt, aber der verfluchte, geliebte Mark Larsen war schon lange verschwunden gewesen. Und Cresmonia hatte keine Ahnung, wohin!

Also flog sie nach Hamburg, suchte ein Fitness-Studio, das in so frühen Morgenstunden geöffnet hatte, und kreiste mit ihrem Besen über dieser modernen Folterkammer in der Hoffnung, einen appetitlichen Tröster zu finden. Sie musste nicht lange warten. Nur fünf Minuten später kam ein muskelgewordener Traum aus dem Studio geschlendert. Er pfiff irgendein Lied, das Cresmonia nicht erkannte. Um den Zeigefinger ließ er seinen Autoschlüssel kreisen.

Cresmonia landete vor ihm und sah ihm in die Augen. „Hallo“, sagte sie.

Der Autoschlüssel wurde langsamer und hörte schließlich ganz auf, seine Runden zu drehen. Die gepfiffene Melodie wurde dissonant, leiser und erstarb. Die Hand des Muskelbergs sank nach unten und der Autoschlüssel purzelte zu Boden. Die Blicke des Athleten saugten sich an Cresmonias splitternacktem Körper fest.

„Lebst du alleine?“, fragte Cresmonia.

Der Muskelberg nickte.

„Hast du eine Freundin?“

Der Muskelberg nickte.

„Na egal. Die vergisst du einfach mal für ein paar Stunden, ja?“

Der Muskelberg nickte.

„Gefällt dir, was du siehst?“

Der Muskelberg nickte.

„Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich dich nach Hause begleite.“

Der Muskelberg nickte. Dann beschloss er, etwas Konversation treiben zu wollen und sagte: „Äh ...“

„Fein“, erwiderte Cresmonia. „Dann ist ja alles geklärt.“

In seiner Wohnung hatte sich die Hexe schließlich davon überzeugt, dass der Muskelberg auch andere Stellen seines Körpers so hart bekam wie seinen Bizeps. Und zwar nicht nur einmal ...

Die ersten paar Male war er noch gut bei der Sache und es machte ihm augenscheinlich auch hinreichend Spaß. Doch etwa beim siebten oder achten Mal brannte sein Gehirn durch. Seitdem hatte er diesen unterhaltsamen Gesichtsausdruck und Cresmonia musste mit dem einen oder anderen Zauber nachhelfen, um auch weiterhin zu ihrem Vergnügen zu kommen.

Als sie nach mehreren Stunden ihre erste Wut etwas abreagiert hatte, griff Cresmonia zum Handy des Muskelbergs. Der würde es wohl nicht mehr brauchen, denn es war nicht zu erwarten, dass er Geräte, deren technische Komplexität über die einer Büroklammer hinausgingen, jemals wieder würde benutzen können.

„Wo sind sie?“, fauchte sie in den Hörer, kaum dass sich ihr Gesprächspartner gemeldet hatte.

„Wer?“, brüllte sie nach einem Augenblick. „Die heiligen drei Könige!“ Dann, etwas ruhiger: „Natürlich der Hüter und sein Schatz, du Schwachkopf!“

Sie lauschte ein paar Sekunden. Dann lief sie rot an.

„Was soll das heißen? Das letzte Mal wusstest du doch auch, wo sich dieses Gör versteckt hielt!“

Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie das zierliche Nokia.

„Dann finde es gefälligst heraus, verdammt noch mal!“

Dann gab sie die Handynummer des Muskelbergs durch, die der - Asmodi sei Dank - in einem kleinen Notizbuch aufgeschrieben hatte. Cresmonia bezweifelte nämlich, dass er sie selbst noch gewusst hätte.

„Ruf mich an, wenn du was weißt!“

Sie drückte auf die Taste mit dem roten Hörer, pfefferte das Handy auf die Kommode und sprang wieder ins Bett. Ihre Wut war wieder zurückgekehrt und dagegen musste dringend etwas unternommen werden.

Also hatte sie sich noch einmal von dem Muskelberg trösten und besänftigen lassen. Und dann noch einmal und noch einmal ...

Das alles war gestern gewesen. Inzwischen war der neue Tag schon wieder ein paar Stunden alt und sie hatte noch immer nichts von ihrem Informanten gehört. Und die Wut war auch wieder da. Das Zertrümmern des Nachttischkästchens hatte sie nur unwesentlich beruhigt.

Vielleicht sollte sie noch einmal mit dem sabbernden Muskelberg ...?

Nein, der war inzwischen nicht mehr annähernd so appetitlich wie noch gestern.

„Braver Bube!“, sagte sie zu ihm.

„Gargl ...“, entgegnete der Muskelberg.

„Du hast deine Sache gut gemacht!“, flötete Cresmonia.

„Blrbng ...“, erwiderte der Muskelberg geschmeichelt.

„Aber jetzt brauche ich dich nicht mehr!“

„Blörb görpskn“, behauptete der Muskelberg. In seiner Stimme lag Enttäuschung.

Cresmonia beugte sich über ihn und presste ihre vollen Lippen auf sein dümmliches Lächeln. Dabei gelang es ihr trotzdem, kehlige Worte zu murmeln, die der Muskelberg selbst dann nicht verstanden hätte, wenn er nicht nur noch ein sabbelnder Idiot gewesen wäre.

Da klingelte das Handy. Na ja, es klingelte nicht wirklich. Es hupte eine grauenhafte Version von „Also sprach Zarathustra“ in den Raum.

Cresmonias Lippen lösten sich von denen ihres letzten Liebhabers.

„Na endlich“, murmelte sie und ging zur Kommode, auf der das Handy lag.

Drei Minuten später war das Telefonat beendet und Cresmonia wieder wesentlich besserer Laune.

Sie warf das Handy auf das Bett neben den Muskelberg, aus dessen Blick inzwischen jegliche Gier verschwunden war.

„Ich muss jetzt gehen, mein Süßer“, säuselte sie und warf das Handy auf das Bett. Noch einmal sah sie in die Augen des Kerls, die tumb in den Raum starrten. „Na ja, vielleicht hast du ja Glück und deine Freundin merkt keinen allzu großen Unterschied.“

Dann drehte sie sich um und verließ den Raum.

Der Speichelfaden am Kinn des Muskelbergs glitzerte in der Vormittagssonne.

 

***

 

Christine stand neben dem Bett und starrte zur offenen Tür und dem leeren Flur dahinter. Ihre nackten Zehen krallten sich in den Teppich.

Sollte das jetzt tatsächlich alles gewesen sein? Eine sich öffnende Tür? Und das war’s? Davor hatte sie Angst gehabt? Nein, das konnte nicht sein.

Und sie hatte Recht. Die Luft im Flur begann zu flimmern, so wie man es oft an sehr heißen Tagen über der Straße sehen konnte. Aus dem Nichts schälten sich zwei hochgewachsene Männer, die in ihren schmutziggrauen Umhängen und den Sandalen nicht gerade dem Anlass angemessen gekleidet schienen.

Na ja, wobei ihr knallroter Schlafanzug auch nicht wesentlich besser war!

Merkwürdig! Da standen zwei ihr völlig fremde Männer in ihrem Zimmer, deren Eindringen offenbar niemand mitbekommen hatte. Und dennoch war ihre Angst plötzlich wie weggeblasen. Daran änderte sich auch nichts, als die linke der beiden Gestalten die Hand zu ihr ausstreckte und etwas in einer Sprache sagte, die Christine nie zuvor gehört hatte.

„Aramäisch!“, zuckte es durch ihren Kopf, ohne dass sie hätte sagen können, woher sie das wusste. „Die Sprache deines Urvaters.“

Und auch wenn sie ihn nicht verstand, wusste sie genau, was der Mann in der Kutte gesagt hatte: „Komm mit! Es ist soweit!“

Aber außer der Sprache war da noch etwas anderes an dem Mann, das sie erkannte: Er war, genau wie sein Begleiter, ein Dämon! Und doch irgendwie auch nicht. Nicht mehr. Oder noch nicht.

Verwirrt schüttelte Christine den Kopf.

„Lasst uns gehen!“, sagte sie.

In diesem Augenblick überschlugen sich die Ereignisse.

 

***

 

„Ein Mädchen!“, dachte Rurrh. „Natürlich! Der Blutspross ist ein Mädchen. Genau wie damals.“

„Sieh doch nur, was die Menschen von heute für eigenartige Kleidung tragen“, sagte Skror und handelte sich dafür einen tadelnden Blick seines Bruders ein. „Ich frage mich wirklich, wie lange unsere Verbannung ...“

„Halt den Mund!“

Ohne dass es dazu einer bewussten Entscheidung bedurft hätte, lösten die Truhenwächter den Zauber, der sie umgab und wurden für den Blutspross und den Rest der Welt sicht- und hörbar.

Skrors Blicke huschten durch das große Zimmer, saugten jedes Detail auf, hinterfragten jeden der vielen merkwürdigen Gegenstände. Da war dieses große, hässliche Gesicht, das auf der Decke in der Ruhestatt des Blutsprosses zu sehen war. Was hatte dieser Mann nur Schlimmes verbrochen, dass er dafür in eine Decke gebannt worden war? Da war diese große Flasche, die neben der Ruhestatt stand. Sie war durchsichtig, aber deutlich erkennbar nicht aus Glas. Natürlich nicht, das wäre auch zu prunksüchtig gewesen. Aber was war das für eine ekelerregende schwarze Flüssigkeit in der Flasche? Da sah ja brackiges Sumpfwasser appetitlicher aus - sofern man sich überhaupt etwas aus Wasser machte.

Und vor allen Dingen war da dieser eigenartige Kasten, in den man hineinsehen konnte und in den ... kleine Menschen gesperrt waren! Oder besser: Gemälde von kleinen Menschen! Die sich aber dennoch bewegten, die dennoch lebten! Er hätte alles darum gegeben, selbst so starke Magie wirken zu können!

Nur aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sein Bruder dem Blutspross die Hand entgegenstreckte und sagte: „Komm mit! Es ist soweit!“

Er musste unbedingt das Geheimnis des Kastens mit den lebenden Bildern erfahren! Vielleicht konnte er diese Magie auch lernen.

Skror hörte, wie das Mädchen irgend etwas in einer fremden Sprache sagte, aber da er es nicht verstand, achtete er gar nicht darauf. Er machte einen Schritt auf den Bilderkasten zu, dann noch einen und noch einen. Und als er ihn endlich erreicht hatte, streckte er die rechte Hand danach aus. Die Menschen in dem Kasten beachteten ihn nicht, aber er hörte ein leichtes Knistern, als seine Fingerspitzen auf Widerstand stießen und zu kribbeln begannen.

Na gut, von dieser Seite konnte er also nicht in den Kasten hineinfassen. Vielleicht von hinten?

„Was machst du denn jetzt schon wieder?“, fragte Rurrh. „Wir müssen gehen!“

„Gleich“, antwortete Skror. „Erst muss ich herausfinden, wie diese Menschlein da hineingekommen sind.“

Mit beiden Händen zog er den Kasten auf sich zu. Auf der Hinterseite entdeckte er viele schmale Schlitze, aus denen Wärme drang. War hier vielleicht der Eingang?

„Was machen Sie denn mit dem Fernseher?“, fragte der Blutspross, aber für Skror war das nur eine unverständliche Aneinanderreihung von Lauten. „Lassen Sie ihn doch stehen!“

„Stell dieses Ding wieder hin. Wir müssen gehen!“, sagte Rurrh.

„Ich muss erst noch ...“, begann Skror.

Rurrh legte ihm die Hand auf die Schulter und riss ihn herum. „Ich sagte, wir müssen gehen!“, zischte er.

Da rutschte Skror der schwere Kasten aus den Händen.

„Oh nein!“, hauchte Christine. „Bitte nicht der Fernseher.“

Aber es war zu spät. Skror versuchte zwar noch nachzufassen, was ihm dank zwei fehlender Finger an der linken Hand aber gründlich misslang.

„Nein! Bitte nicht!“, gellte Christines Schrei durch den Raum.

Doch auch er konnte den Gesetzen der Schwerkraft nicht Einhalt gebieten. Der Fernseher polterte auf den Boden, das Gehäuse splitterte und die Bildröhre implodierte mit einem dumpfen Knall.

Für eine Sekunde lang herrschte eisiges Schweigen im Zimmer.

„Großartig!“, sagte Rurrh schließlich. „Ich hatte eigentlich vor, hier unbemerkt wieder zu verschwinden.“

„Ich wollte doch nur ...“, flüsterte Skror.

„Los jetzt!“, befahl Rurrh. „Wir versuchen eine schwarze Brücke zu errichten.“

„... die Menschlein in dem Kasten ...“

„Halt - den - Mund!“

Skror schüttelte sich. „Ja, du hast Recht. Entschuldige.“ Dann runzelte er die Stirn. „Eine schwarze Brücke? Es ist uns doch auch nicht gelungen, eine hier hinein zu errichten!“

Rurrh zuckte mit den Schultern. „Aber vielleicht gelingt es ja hinaus! Also konzentriere dich!“

Dann schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken. „Rher ned iwrin chta nreken nen“, hauchte er.

“Chteerri nei tro novde ine mtulb”, ergänzte Skror.

Und tatsächlich begann zwischen den beiden die Luft zu flirren und zu wirbeln. Nach nicht einmal einer Sekunde war das Tor zur schwarzen Brücke offen.

Aber etwas war damit nicht in Ordnung!

Die Ränder flimmerten. Die Finsternis des Tors schien ... ja, schien zu flackern. Die Brücke pulsierte und bebte, als wehre sie sich gegen etwas.

Das Haus! Das musste das Haus sein! Es hatte verhindert, dass etwas Böses in es hinein gelangte. Und nun schien es verhindern zu wollen, dass etwas Böses fliehen konnte.

„Beeil dich!“, sagte Rurrh zu seinem Bruder und nahm Christine bei der Hand. „Das Tor ist nicht stabil!“

Dann machte er mit dem Blutspross einen Schritt nach vorne. Auf das Tor zu und hinein. Im nächsten Augenblick waren die beiden verschwunden.

„Ich beeile mich ja schon“, murrte Skror.

Auch er machte einen Schritt auf das Tor zu, doch bevor er die Brücke betreten konnte, hörte er einen lauten Schrei. Dann raste ein Schatten auf ihn zu und riss ihn zu Boden!

 

***

 

Mark und James hetzten die Stufen hinauf. Aus den Augenwinkeln nahm Mark wahr, dass auch Hinnerk aus dem Wohnzimmer gerannt kam. Wahrscheinlich hatte er Christines Schrei ebenfalls gehört.

Oben angekommen blieb Mark einen Augenblick stehen. Christines Zimmer lag am anderen Ende des Flurs. Nichts Ungewöhnliches zu sehen. Aber zu hören!

Männerstimmen!

Ohne darauf zu achten, ob James Schritt halten konnte, raste Mark den Flur entlang. Als er Christines Zimmer erreicht hatte, wäre er wegen seines hohen Tempos fast noch mitsamt dem Teppich ein paar Meter weiter gerutscht, aber er konnte sich gerade noch am Türstock festhalten.

„Christine, was ist denn ...“, begann er.

Dann stockte er. Sein Herz übersprang einen Schlag, als er sah, was im Zimmer vor sich ging. Mitten im Raum stand ein pulsierendes, schwarzes ... Ding. Mark musste unwillkürlich an einen fauligen, eitrigen Zahn denken, obwohl das Ding keinerlei Ähnlichkeit damit hatte.

Mark brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um die Lage zu überblicken. Ein Mann mit einer gräulichen Kutte. Er hatte Christine an der rechten Hand. Und er verschwand mit ihr in dem pulsierenden Ding. Aber da war noch ein zweiter Mann. Auch er trug einen Umhang. Er löste seinen Blick gerade von den Trümmern auf dem Fußboden, die einmal der Fernseher gewesen waren, und wollte auch auf das pulsierende Ding zugehen.

Das ist ein Tor, zuckte es durch Marks Hirn. Das muss ein Tor sein!

„Nein!“, schrie Mark, rannte in das Zimmer, sprang den Kerl im Umhang an und riss ihn zu Boden.

Eng umschlungen rollten sie über den Teppich, knallten gegen das Bett, rollten zurück. Immer wieder versuchte Mark, dem Eindringling einen Faustschlag zu verpassen, aber jedes Mal konnte der ausweichen.

„James!“, rief Mark. „Hilf mir!“

Wieder rollten die Kämpfer über den Boden und rammten diesmal die Kommode. Mark, der unten zu liegen gekommen war, konnte darauf eine Vase mit einem Strauß Stiefmütterchen sehen, die ins Wanken geraten war. Hin und her, her und hin. Mark gab der Kommode mit dem Fuß noch einen Tritt und endlich stürzte die Vase herunter - dem Eindringling genau auf den Schädel. Es war eine von diesen schweren, massiven Dingern, die einem die Zehen zertrümmern konnten, wenn sie einem auf den Fuß fielen, aber der Kerl auf Mark schüttelte nur den Kopf und machte keineswegs den Eindruck, als würde er Schmerzen leiden. Stattdessen wirkte er eher überrascht. Auch der Gesichtausdruck des Kerls kam Mark keineswegs bösartig vor, eher neugierig und verblüfft.

Mark riskierte einen kurzen Blick zur Tür. Er konnte kaum noch atmen unter dem Gewicht des Eindringlings.

„James!“, keuchte er noch einmal.

Der Butler stand in der Türöffnung und schien unschlüssig, was er tun sollte. Gerade als er einen Schritt nach vorne ins Zimmer machte, tauchte Hinnerk hinter ihm auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. James drehte sich um und sah Hinnerk an. Der schüttelte ganz leicht mit dem Kopf.

Mark konnte es nicht fassen! Was ging denn hier ab? Warum hinderte Hinnerk James daran, ihm zu helfen?

Wieder sah Mark zu dem Kerl, der auf ihm saß und ihn zu Boden drückte. Erstaunlicherweise tat er aber auch nicht mehr als das. Und plötzlich stand er sogar auf und ging auf das schwarze, pulsierende Ding zu.

Für einen Augenblick war Mark so verdattert, dass er einfach liegen blieb. Ein Angreifer, der nicht angriff, ein Butler und ein ... ein ... welche Rolle Hinnerk auch immer spielte, die einfach nur zusahen. Und er, ein Hüter, dessen Schatz ihm gerade gestohlen worden war.

„Halt!“, rief Mark und rappelte sich hoch. „Nicht so schnell!“

Doch der merkwürdige Kerl hatte den fauligen Zahn schon fast erreicht.

„Du sollst stehen bleiben!“, brüllte Mark.

Mit einem Hechtsprung katapultierte er sich zu dem Kerl und bekam ihn gerade noch am linken Arm zu fassen. Jetzt erst bemerkte Mark, dass dem Eindringling ein paar Finger fehlten.

Der Kerl versuchte, Mark abzuschütteln wie ein lästiges Insekt. Dabei ging er weiter auf das pulsierende Ding (Ein Tor!, erinnerte sich Mark.) zu.

„Hier geblieben“, keuchte Mark, aber es war zu spät.

Der Kerl machte noch einen letzten Schritt und war im Tor verschwunden. Nur noch sein Arm ragte daraus hervor, den Mark fest umklammert hielt.

Es sah gespenstisch aus! Ein Arm, der aus der Schwärze wuchs und versuchte, Mark abzuschütteln. Dabei zog er sich immer weiter zurück. Jetzt war er schon bis zum Ellenbogen im Tor verschwunden.

Verdammt, was mach ich jetzt?, fragte sich Mark. Hinterher? Durch dieses Tor, diesen ... diesen ... fauligen Zahn?

Mark schüttelte sich vor Ekel. Er spürte, wie ihm der Arm des Kerls immer weiter entglitt. Inzwischen hielt er ihn schon nur noch an der Hand. Und der Arm wurde weiter und weiter in die Schwärze zurückgezogen.

Warum nicht hinterher? Es ist die einzige Chance. Also Augen zu und durch!

Doch noch bevor Mark sich wirklich dazu aufraffen, seinen unerklärlichen Ekel vor diesem Tor überwinden konnte, geschahen zwei Dinge gleichzeitig.

Die Hand des Kerls entglitt ihm endgültig. Doch bevor der sie zurückziehen konnte, zerbrach das Tor. Mit einem lauten Klatschen stürzte es in sich zusammen. Fast so, wie der schwarze Punkt auf der Bildröhre, wenn man einen alten Fernseher ausschaltete.

Mark glaubte noch, einen verwehenden Schrei zu hören, als das Tor dem Kerl die linke Hand abtrennte.

„Nicht so schlimm“, dachte Mark völlig sinnlos. „Ein paar Finger haben sowieso schon gefehlt.“

Die Hand fiel zu Boden, wo sie in einer Staubwolke zerstob.

Mit hängenden Schultern stand Mark da und starrte auf die Stelle, an der gerade noch das Tor gewesen war.

„Du bist ein toller Hüter“, murmelte er. „Kaum zwei Tage im Dienst und schon versagt.“

Ja! Er hatte kläglich versagt. Das Schicksal des Schatzes, das Schicksal der Welt war in seine Hände gelegt worden - und er hatte versagt! Hätte ihm wenigstens James geholfen oder Hinnerk.

Hinnerk!

Was war nur mit diesem Kerl los? Mit einem einzigen Satz hatte er Marks Theorie, dass Hinnerk der zweite Verräter sei, vom Tisch gewischt. Mark war schon soweit gewesen, ihm zu glauben, auch wenn er mit seiner Geheimnistuerei nicht einverstanden war. Und jetzt passierte das!

Zwei Gestalten spazierten einfach in ihr Versteck und entführten ihnen Christine unter den Fingern weg. Dabei hatte doch überhaupt niemand gewusst, wo sie sich versteckten. Außer Algie Finch, Knut Ukena (der ja aber nicht einmal wusste, was sie hier taten), James, ihm selbst ... und Hinnerk natürlich!

Hinnerk!

Sollte er etwa doch der Verräter sein? Woher sonst hätten diese Kuttenkerle von dem Haus wissen sollen?

Auf den Fersen zirkelte Mark herum und sah zu Tür. James starrte verlegen zu Boden, aber Hinnerk erwiderte Marks Blick.

„Was sollte das denn jetzt?“, brüllte Mark und sein Gesicht verfärbte sich krebsrot. „Hättet ihr mir nicht helfen können? Ich möchte jetzt endlich wissen, was hier ...“

Noch bevor Mark den Satz zu Ende gesprochen hatte, drehte sich Hinnerk um und ging wortlos davon.

 

***

 

„Jetzt warte doch mal!“, rief Mark und eilte Hinnerk nach. „Du kannst mich doch nicht einfach so stehen lassen!“

Aber Hinnerk konnte.

Als Mark den Flur betrat, sah er gerade noch wie Hinnerk in seinem eigenen Zimmer verschwand. Mark folgte ihm.

„Hinnerk!“, rief er ihm noch einmal nach. „Bleib doch stehen, verdammt noch mal!“

Mit vier, fünf großen Schritten hatte er die Tür zu Hinnerks Zimmer erreicht. Sie stand offen.

Drinnen kniete Hinnerk über einem Rucksack, den er schon im Zeltlager vor ein paar Tagen dabei gehabt hatte, und kramte darin herum.

Mark ging einen Schritt in den Raum hinein und blieb stehen. Dann stemmte er die Hände in die Seiten.

„Würdest du mir jetzt bitte erklären, was das hier soll?“

Hinnerk sah nur kurz auf und kramte dann weiter in seinem Rucksack.

„Falls es deiner geschätzten Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, muss ich dich darauf hinweisen, dass Christine gerade entführt worden ist.“ Marks Stimme troff vor Sarkasmus.

Endlich schien Hinnerk das gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte, denn er zog eine etwa 30 Zentimeter lange Holzschatulle hervor. Dann stand er auf und ging damit auf Mark zu.

„Und all deiner Beteuerungen, dass du kein Verräter bist, zum Trotz, würde mich brennend interessieren, wie unser Versteck so schnell auffliegen konnte“, fuhr Mark fort.

Einen Schritt vor Mark blieb Hinnerk schließlich stehen. Jetzt konnte Mark erkennen, dass die Schatulle mit kunstvollen Schnitzereien übersät war. Kryptische Zeichen, vielleicht Buchstaben aus einem fremden Alphabet, wer konnte das schon so genau sagen?

Hinnerk klappte die Schatulle auf, hielt sie jedoch so, dass Mark nicht hineinsehen konnte.

„Also? Ich bin gespannt auf deine Erklärungen!“, sagte Mark. „Aber offensichtlich hast du dich ja dazu entschlossen, gar nichts mehr zu sagen.“ Mark holte tief Luft. „Hinnerk, bitte! Was ist hier los?“

Doch statt eine Antwort zu geben, drehte er die Schatulle so, dass Mark sehen konnte, was sich darin befand: Auf rotem Samt lag ein schmuckloser Dolch. Er war aus Metall, aber aus welchem, konnte man auf den ersten Blick nicht feststellen. Die Klinge war matt und voller Verkrustungen.

Rost, vermutete Mark.

Oder etwa ...?

Mark hielt die Luft an!

Oder etwa Blut?

„Prima“, sagte er. „Ein Messer! Soll mir das jetzt irgendwas erklären?“

„Nein“, hauchte Hinnerk.

„Oh, ist dein Schweigegelübde schon zu Ende? Also, was machen wir jetzt mit dem Dolch?“

„Das hier“, sagte Hinnerk.

Dann holte er den Dolch aus der Schatulle, hielt ihn noch ein, zwei Sekunden in der Hand, als wolle er sein Gewicht prüfen - und stieß ihn Mark genau ins Herz!

Für einen Moment sah er Mark noch in die fassungslos aufgerissenen Augen, dann ließ er die Schatulle fallen und zog sein Handy aus der Hosentasche.

Er tippte auf ein paar Tasten herum und hielt sich das Handy ans Ohr.

„Ich hab’s getan!“, sagte er schließlich. Dann bekreuzigte er sich und ließ sich auf einen Stuhl sinken.


 


                                                                  What is this that stands before me

                                                                  Figure in black that points at me

                                                                  Turn round quick and start to run

                                                                  Find out you’re the chosen one!

                                                                         

(Black Sabbath, Black Sabbath)

3. Kapitel:

Am Anfang war der Tod

 


Fabio Cassani sah auf die große Standuhr, die in seinem Arbeitszimmer vor sich hin tickte. Dann trommelte er mit den Fingern ein paar Sekunden auf seinem wuchtigen Mahagoni-Schreibtisch herum und schielte auf seine Armbanduhr. Sie zeigte die gleiche Zeit wie die Standuhr. Natürlich! Alle Uhren in seiner Villa zeigten die gleiche Zeit! Was würden sie sonst nützen?

Er nahm seine randlose Brille ab, rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel, setzte die Brille wieder auf und erhob sich aus seinem Bürostuhl. Mit zwei schnellen Schritten war er bei dem großen Panoramafenster und sah hinunter auf den Albaner See, der in der Vormittagssonne tiefblau glitzerte.

Ein Idyll, das sich da seinen Augen bot. Die Albaner Berge südlich von Rom verströmten an diesem Morgen Ruhe und Frieden, wie sie Fabio Cassani auch gerne in sich gespürt hätte.

Noch einmal sah er auf die Armbanduhr. Er stellte fest, dass ungefähr eine Minute vergangen war. Er seufzte.

Warum meldete sich Lührs nicht? Es herrschte Funkstille seit dem gestrigen Anruf. Und der war auch schon nicht besonders aufschlussreich gewesen. Alles sei in Ordnung so weit, hatte er gesagt. Dem Schatz gehe es gut, hatte er gesagt. Der neue Hüter habe seine Aufgabe angenommen, hatte er gesagt. Und dass er sich wieder melden würde, wenn er Näheres wisse, hatte er gesagt.

Aber kein Wort davon, wo sie sich aufhielten. Keine Andeutung darüber, ob dieser 142. und letzte Versuch des Ordens, Jesu Prophezeiung zu deuten, genauso kläglich gescheitert war wie die 141 davor. Nicht auch nur der Hauch einer Bemerkung darüber, ob der neue Hüter, dieser ... dieser ...

Wie hieß er doch gleich wieder?

Ach ja, richtig: Mark Larsen!

Also: Nicht auch nur der Hauch einer Bemerkung darüber, ob dieser Mark Larsen wider Erwarten tatsächlich der ...

Da klingelte das Telefon.

„Endlich!“, brummte Cassani.

Er riss den Hörer von der Gabel.

„Ja!“, bellte er hinein.

Doch es war nicht Hinnerk Lührs, wie er auf dem Telefondisplay eigentlich auch gleich hätte erkennen können. Es war einer seiner Rechtsanwälte, ein aufgeregt klingender Römer mit viel zu hoher Stimme, der ihm mitteilte, dass die Verträge zum Aufkauf einer kleinen Tageszeitung aus Turin unter Dach und Fach seien.

Fabio Cassani ließ sich wieder auf seinen Bürostuhl sinken. Er lauschte in den Hörer, sagte aber nichts. Ihn interessierte nicht, dass die VIGILANZA, die größte und wohl einflussreichste italienische Tageszeitung, dessen Eigentümer er war, bereits das siebte oder achte kleinere regionale Blatt übernehmen konnte. Ihn hätte nicht einmal interessiert, wenn es ihnen gelungen wäre, die NEW YORK TIMES zu schlucken. An jedem anderen Tag, aber nicht heute! Ihn interessierte nur, wo Lührs gerade steckte, und ob ihre 1112 Jahre lang währenden Versuche, eine Prophezeiung richtig zu deuten, nun endgültig gescheitert waren.

Er nahm sich vor, bei passender Gelegenheit mal ein ernstes Wort mit Hinnerk Lührs zu reden. Fabio Cassani hatte als Großmeister des Ordens gegenüber den anderen zwölf Meistern zwar auch nicht mehr zu sagen, aber ihn mit so unzureichenden Informationen zu versorgen, als wäre er nur ein besserer Hausmeister, war schon ein starkes Stück. Schließlich war es seine, Cassanis Aufgabe, die anderen Ordensmeister über den Sachstand zu informieren, die nächsten Sitzungen zu koordinieren, die Tagesordnung zusammenzustellen und vieles mehr. Wie sollte das denn gehen, wenn er nicht einmal wusste, wie es überhaupt um die Zukunft des Schatzes und die des Ordens bestellt war?

Nein, nein, nein. Da bestand eindeutig Diskussionsbedarf. Am besten gleich bei der nächsten Sitzung in den Höhlen des Kyffhäuser, jenem Bergrücken, in dem der Sage nach König Friedrich Barbarossa, auf einer Bank saß und schlief. Das würde eine Diskussion geben, die vielleicht sogar den alten Rotbart wieder aufweckte!

Am anderen Ende der Leitung hörte Cassani noch immer die hohe Stimme des Anwalts, dessen Namen er schon gar nicht mehr wusste. Er erzählte gerade etwas davon, dass durch den Aufkauf der Turiner Zeitung womöglich nicht alle Arbeitsplätze erhalten werden könnten, man könne aber gegebenenfalls durch einen ausgeklügelten Plan etwa 75 Prozent der Belegschaft ...

Da hörte Cassani außer der nervenden Stimme ein leises Tuten. Noch ein Anrufer!

Fabio Cassani fuhr auf seinem Bürostuhl hoch und sah auf das Display seines Telefons.

„Lührs H. Mbl“, war dort zu lesen.

„Gut“, fiel Cassani dem Anwalt ins Wort. „Ich rufe zurück!“

Dann schmiss er ihn einfach aus der Leitung und nahm das andere Gespräch an.

„Ich höre“, sagte er nur.

Er griff zu seinem Waterman-Füllfederhalter und machte sich ein paar Notizen, während er lauschte.

„Irrtum ausgeschlossen?“, fragte er schließlich.

Er nickte, kritzelte wieder etwas auf seinen Zettel und sah auf die Uhr.

„Ich komme. Bin gegen Mittag da“, sagte er schließlich und legte auf.

Er nahm die Brille ab, legte sie auf den Schreibtisch und strich sich mit beiden Händen durchs Gesicht und das lichte, graue Haar.

Dann rief er nacheinander die restlichen elf Ordensmeister an. Allen sagte er das Gleiche: „Es ist geschehen! Die Prophezeiung ist dabei sich zu erfüllen. Ich reise zur Kapelle.“

 

***

 

30 n. Chr., 3. April, kurz vor Mitternacht

Gabriel schrak aus dem Schlaf hoch. Er hatte einen furchtbaren Traum gehabt! Sein Herr hatte auf der Straße gelegen, sein Bart und seine langen, schwarzen Haare verklebt von Dreck, Blut und Schweiß, die Lippen aufgeplatzt und geschwollen, der Leib von unzähligen Fußtritten geschunden ... und trotzdem hatte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen umspielt.

Da hatte sich der Mob geteilt und eine Gasse freigemacht, an deren Ende ein Mann stand. Oder war es gar kein Mann? Nein, das konnte kein Wesen aus Fleisch und Blut sein. Sein nackter Oberkörper war muskulös und glänzte vor Schweiß. Schwarze Schatten huschten wie Ratten um seinen Brustkorb, seine Oberarme. Und sein Gesicht war ein einziger schwarzer Schatten, der zugleich eine unglaubliche Hitze und Eiseskälte verströmte. Statt Haaren umspielte ein Meer aus bläulichen Flammen seinen Schädel.

Das Schlimmste war aber nicht sein Aussehen, sondern die Aura des unfassbar Bösen, die er ausstrahlte.

„Da liegst du nun im Staub“, drang eine Stimme aus der Schwärze des Schattens hervor, die klang, als hätten Hunderte von Menschen zugleich gesprochen, geschrieen, geflüstert und geweint. „Und so wie du, wird bald die ganze Welt im Staub liegen!“

Gabriels Herr verzog die Lippen zu einem gequälten Grinsen und spuckte einen blutigen Zahn aus.

„Es ist nicht an dir, darüber zu entscheiden!“, sagte er schließlich. Seine Stimme perlte sanft wie klares Wasser.

Aus dem schattigen Gesicht drang ein vielstimmiges Lachen. „Ist es nicht? Was hast du mir denn noch entgegenzusetzen? Was?“

Gabriels Herr schwieg. Und lächelte.

Der Schattige trat auf den geschundenen Körper zu und blickte auf ihn herab. „Also, was hast du mir entgegenzusetzen? Die Welt gehört mir! Mir allein!“

Gabriels Herr schwieg noch immer.

„Du liegst vor mir wie ein Käfer!“, höhnte der Schattige und hob seinen linken Fuß. „Deshalb werde ich dich zertreten wie einen Käfer!“

Der Fuß fuhr herab, Gabriels Herr schloss ergeben die Augen und ...

Das war der Moment, als Gabriel schweißgebadet und mit einem gekrächzten „Nein!“ auf den Lippen hochschrak.

Sein Herz trommelte, sein Puls raste, der Mund war ausgedörrt. Mit müden Augen versuchte er, die Dunkelheit wegzublinzeln, doch es gelang ihm nicht. Erst nach und nach beruhigte sich sein Körper wieder.

Er seufzte. Was für ein Albtraum!

„Geht es wieder?“, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.

Gabriel zuckte zusammen und sofort begann sein Herz wieder zu trommeln. „Was ... wer ... wie ...?“, fragte er.

Endlich gelang es seinen verschlafenen Augen, die Finsternis zu durchdringen. Er sah die drei großen Tonkrüge, die neben dem Tisch standen. Er sah die Schüsseln auf dem Tisch. Er sah den Hocker neben Rebekkas leerer Schlafmatte.

Gabriel versteifte sich!

Rebekka! Wo war sie?

„Ruhig“, sagte die Stimme aus der Dunkelheit wieder. „Sie ist bei ihrem Vater!“

„Aaron? Bist du das?“, fragte Gabriel.

Aus der Finsternis schälte sich der hagere Umriss eines Mannes. „Natürlich, wer denn sonst?“

„Was ist geschehen? Was tust du mitten in der Nacht hier? Warum ist Rebekka bei ihrem Vater?“

Aaron lächelte milde. „So viele Fragen auf einmal?“ Dann reichte er Gabriel die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. „Komm mit. Er will dich sehen. Er wird dir all deine Fragen beantworten. Und vermutlich noch ein paar mehr ...“

 

***

 

Fassungslos sah Mark an sich herab. Aus seiner Brust ragte der alte Dolch, den Hinnerk ihm ins Herz gestoßen hatte. Hinnerk wiederum saß auf einem Stuhl und telefonierte, allerdings ohne Mark dabei aus den Augen zu lassen. Unbegreiflich!

Was Mark aber noch weniger begreifen konnte, war die Tatsache, dass er noch am Leben war. Er spürte keinerlei Schmerzen, nur einen leichten Druck in der Brust. Sein Hemd war von dem Dolchstich zwar durchbohrt worden, aber es war noch genauso blütenweiß wie heute Morgen, als er es angezogen hatte. Kein auch noch so kleiner Blutstropfen zeigte sich auf dem Stoff.

Mark löste seinen Blick von dem Dolchgriff, sah zu Hinnerk, sagte „Äh“ und schielte wieder nach unten auf die eigentlich tödliche Wunde. Wie in Trance fasste er mit der rechten Hand nach dem Dolch und zog ihn langsam zur Hälfte heraus. Der Druck ließ etwas nach, aber ansonsten spürte er immer noch nichts.

„Äh“, wiederholte er vorsichtshalber noch einmal, aber Hinnerk antwortete ihm nicht.

„Irrtum ausgeschlossen!“, sagte er stattdessen ins Telefon. „Ich hab ihm den Dolch ins Herz gestoßen und er lebt noch. Wie  sicher kann man sich noch sein?“

Mit einem letzten Ruck zog Mark den Dolch gar völlig aus der Wunde. Sofort war der Druck auf der Brust verschwunden. Mit offenem Mund konnte Mark beobachten, wie sich die Wunde schloss. Es floss kein Tropfen Blut. Die Hautlappen wuchsen zusammen. Es sah aus wie ein Reißverschluss, den man zuzog! Vier, fünf Sekunden lang war noch eine Narbe zu sehen, doch auch die verblasste und war gleich darauf verschwunden. Einfach so! Mein Gott!

Marks Blick huschte von der Klinge des Dolchs, den Verkrustungen darauf, die wahrscheinlich vom Blut eines anderen stammten (von ihm jedenfalls nicht!), über seine unverletzte Brust wieder zurück zur Dolchklinge.

Wieder sah er zu Hinnerk, der gerade sein Telefonat beendete.

„Du hast mein Hemd kaputt gemacht!“, sagte Mark und fragte sich im nächsten Augenblick, ob ihm nicht etwas noch Blöderes hätte einfallen können.

Er öffnete die linke Hand und betrachtete seine Handfläche. Dann legte er die Dolchspitze an den Daumenballen. Er wollte gerade zudrücken, als Hinnerk meinte: „Das würde ich lieber nicht tun.“

Mark zuckte zurück.

„Aber ...“, begann er und stockte. Er schien urplötzlich ein Talent dafür entwickelt zu haben, kluge Sätze ... nun ja, Bruchteile von klugen Sätzen von sich zu geben.

„Du würdest dir ziemlich weh tun damit“, sagte Hinnerk, trat auf Mark zu und nahm ihm den Dolch aus der Hand.

„Ich hab doch ...“, erwiderte der. Wieder ein feines, wohl durchdachtes Bonmot!

„Hör zu!“, sagte Hinnerk. Seine Stimme klang tief und weich. „Mir ist klar, dass du im Augenblick verwirrt bist. Du hattest auch Recht mit fast allem, was du mir vorgeworfen hast. Aber ich werde es dir erklären!“

„Ich hatte Recht?“, hauchte Mark.

Hinnerk nickte.

„Du ... du bist der Verräter?“, stammelte Mark.

Hinnerk lachte. „Nein! Damit hast du nicht Recht. Mit allem anderen, aber damit nicht.“

Mark atmete auf. Komisch, aber diesmal glaubte er ihm sofort. Erstaunlich, was für eine vertrauensbildende Maßnahme so ein Dolchstoß ins Herz sein kann! dachte er.

„Du hast mein Hemd kaputt gemacht!“, sagte Mark noch einmal. Diesmal allerdings lag ein Lachen in seiner Stimme. Und Erleichterung.

„Ich weiß!“ Auch Hinnerk musste lachen. „Tut mir Leid, kannst eines von meinen haben!“

Mark sah an Hinnerks beachtlichem Bauch herab und prustete los. Aber nur einen Augenblick später wurde er wieder ernst.

„Was ist mit Christine?“, fragte er und sein Blick verdunkelte sich.

„Keine Sorge! Sie ist vorerst in Sicherheit. Hoffe ich zumindest.“

Mark riss die Augen auf. „Vorerst? Hoffst du? Wie darf ich denn das verstehen?“

Hinnerk lächelte. „Fällt dir eigentlich etwas auf? Ich habe dir ein Messer ins Herz gestoßen. Trotzdem lebst du noch. Und du? Du machst dir Gedanken um Christine! Du bist der geborene Hüter!“

Hinter sich hörte Mark ein Hüsteln. Er fuhr herum und sah James in der Tür stehen. Der Butler würdigte weder das Loch in Marks Hemd, noch den Dolch in Hinnerks Hand eines Blickes. Stattdessen fixierte er irgend einen Punkt zwischen beiden.

„Ich habe mir gestern erlaubt, die Vorräte dieses Hauses um einige Flaschen Heidewasser zu ergänzen“, sagte er.

Mark und Hinnerk sahen sich an, zuckten mit den Schultern und richteten den Blick wieder auf James.

„Ach was“, sagte Mark.

„Ah ja“, ergänzte Hinnerk.

„Nun, auch wenn ich es dafür vorgesehen hatte, einige der vorzüglichen Malts, die Mr Finch die Freundlichkeit hatte uns zu überlassen, damit zu veredeln, so halte ich es in Anbetracht der Umstände dennoch für angemessen, es nun zur Zubereitung eines guten Tees zu nutzen. Ich glaube, dass ein Tässchen ein vorzüglicher Weg wäre, uns alle nach der ganzen Aufregung wieder etwas aufzurichten.“

„James hat Recht“, sagte Hinnerk. „Lass uns runter gehen und einen Tee trinken. Gegen Mittag müssen wir am Flugfeld in Agathenburg sein. Aber bis dahin haben wir genug Zeit, dass ich dir alles erklären kann.“

 

***

 

Der Nebel, der die alte Kapelle im Edwinstowe Valley an diesem Morgen wie in Watte gepackt hatte, war inzwischen so gut wie verschwunden. Nur ein paar letzte Schwaden lieferten der Sonne erbitterte Rückzugsgefechte, die sie aber auch in den nächsten Minuten verlieren würden.

Im Inneren der Kapelle saß ein Amsel auf der Lehne einer der Bänke, die die Sonnenstrahlen durch das Loch im Dach erreichten, und putzte ihr Federkleid. Kaum war durch das Erwachen der Truhenwächter der Zauber erloschen, der die Kapelle vor allzu neugierigen Augen verborgen hatte, hatte die Amsel dieses Fleckchen England für sich entdeckt und einer näheren Untersuchung unterziehen wollen. Vielleicht konnte sie hier ja einen guten Nistplatz oder eine ergiebige Futterquelle finden. Dennoch wagte sie es nicht, ins andere Ende der Kapelle zu fliegen. Irgend etwas warnte sie davor. Ihr Instinkt womöglich.

Plötzlich hörte die Amsel auf sich zu putzen. Ihr Köpfchen zuckte hoch, wippte auf und ab und ihr Blick huschte durch die Kapelle.

Am anderen Ende, dort, wo der Altar ins Licht von zwölf armdicken, flackernden Kerzen getaucht war, platzte die Haut der Wirklichkeit auf und gab einen großen schwarzen Spalt frei, ein finsteres, mannshohes Schlangenauge. Aus diesem Riss in der Realität trat ein Mann mit einem schmutziggrauen Umhang, der ein Mädchen an der Hand hielt.

Die Amsel entschied, dass es hier wohl doch kein Futter gebe und es besser sei, sich woanders danach umzusehen. Unter lautem Schimpfen flatterte sie davon.

Kaum war das ungleiche Paar der schwarzen Brücke entstiegen, drehte sich Rurrh’katan um und starrte auf das Tor. Obwohl Christine sich jederzeit hätte losreißen und davonlaufen können, tat sie es nicht.

„Wo bleibt er denn?“, fragte Rurrh.

Christine konnte ihn zwar nicht verstehen, wusste aber dennoch genau, was er gesagt hatte.

Nach einigen Sekunden Unendlichkeit öffnete sich die schwarze Brücke erneut und Skror’katan taumelte daraus hervor. Nur sein linker Arm kam nicht zum Vorschein. Der blieb weiter jenseits des Risses in Christines Zimmer.

Skror zog und zerrte, aber der Erfolg blieb überschaubar. Nur Zentimeter um Zentimeter trotzte er dem Schlangenauge einen weiteren Teil seines Körpers ab.

„Warum hält der mich fest?“, keuchte er und zerrte weiter. „Wir erfüllen doch nur unseren Auftrag!“

Da endlich ließ Rurrh Christine los und packte seinen Bruder am linken Oberarm, soweit der sich schon in der Kapelle und nicht noch in Christines Zimmer befand. Mit vereinten Kräften zogen sie.

Endlich hatten sie Erfolg. Doch es war zu spät!

Gerade als Skror den Kampf um seinen Arm gewann und ihn aus der schwarzen Brücke ziehen wollte, stürzte die in sich zusammen und trennte ihm die Hand ab.

Er spürte keinen Schmerz. Dennoch schrie er auf vor Wut!

„Aaaaaah! Warum hat der nicht losgelassen? Warum?“

Rurrhs Mitleid hielt sich in Grenzen. „Halt den Mund! Du hast doch selbst Schuld!“ Dann nahm er wieder Christines Hand. „Was machen wir jetzt mit ihr?“

Er sah sich in der Kapelle um. Dabei blieb sein Blick an dem großen Kreuz hinter dem Altar hängen. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Dann sah er zu den Kapellenbänken und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen.

„Zieh dich aus“, sagte er schließlich.

„Ja“, sagte auch Skror zu Christine. „Zieh dich aus!“

Rurrh schüttelte den Kopf. „Nein, Skror. Nicht sie. Du!“

Skror zuckte zurück. „Ich?“

„Ja! Du! Wir haben unseren Auftrag schon so gut wie erfüllt. Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Also zieh dich aus! Oder willst du deine Seele nicht wiederbekommen?“

„Doch, schon. Aber ...“

„Kein Aber! Erst erfüllen wir den Auftrag dieses Zauberers Aaron, dann holen wir unsere Seelen zurück, trinken das Blut der Menschen, die hierher kommen werden, und dann wird auch deine Hand wieder wachsen. Willst du das, Bruder?“

„Ja“, flüsterte Skror.

„Also“, sagte Rurrh, „dann - zieh - dich - aus!“

Skror tat, was ihm sein Bruder aufgetragen hatte.

 

***

 

30 n. Chr., 4. April, kurz nach Mitternacht

Das Haus, in das Aaron Gabriel führte, war nicht das, in dem sich ihr Herr sonst mit seinen Getreuen zu treffen pflegte. Offenbar durfte außer ihnen niemand etwas von dieser nächtlichen Zusammenkunft erfahren.

Geheimniskrämerei, wie es sonst nicht die Art des Herrn war. Da musste irgend etwas in der Luft liegen. Und das war nicht gut! Gar nicht gut!

Der einzige Raum des Hauses war spärlich beleuchtet und noch spärlicher eingerichtet. Ein langer Tisch ohne Tuch. Dahinter zwei Stühle, auf denen Gabriels Herr und dessen geliebte Ehefrau saßen. Auch auf der anderen Seite des Tischs standen zwei Stühle. Auf einem davon saß Rebekka, der andere war leer. Auf dem Tisch tummelten sich die Reste eines kärglichen Abendmahls: ein angebrochenes Brot, etwas Käse, zwei Schalen, zwei Messer, ein Tonkrug mit Wein oder Wasser, zwei Becher. Lediglich die kleine Holztruhe und die längliche Schatulle wollten nicht recht ins Bild passen. In zwei der Zimmerecken hing eine Öllampe. Ansonsten war das Haus leer.

„Ich freue mich, dich zu sehen!“, sagte Gabriels Herr. „Setz dich zu uns!“

„Danke, Herr“, antwortete Gabriel und ließ sich auf dem freien Stuhl nieder. Aaron blieb hinter ihm stehen.

Gabriel sah hinüber zu Rebekka, die ihm zulächelte. Aber ihre Augen waren rot und verschwollen, und die Tränen darin drohten überzulaufen.

„Rebekka! Schatz, was ist denn?“, fragte Gabriel.

Rebekka antwortete nicht. Sie lächelte ihn nur weiter an. Eine einsame Träne kullerte über ihre Wange.

„Gabriel“, ergriff stattdessen Rebekkas Vater wieder das Wort. „Ich möchte dir danken, für alles, was du getan hast. Seit zwölf, fast dreizehn Jahren hütest du meine Tochter, als wäre sie deine eigene. Das werde ich dir nie vergessen. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen.“

Gabriel schrak zusammen. „Abschied nehmen? Warum denn?“

Gabriels Herr atmete tief durch. Seine braunen Augen strahlten Wärme und Güte aus. „Ich werde sterben, Gabriel.“

„Aber nicht doch, Herr!“

„Nenn mich nicht Herr, Gabriel. Diese Anrede gebührt einem, der über uns allen steht!“ Auf sein bärtiges Gesicht schlich sich ein ansteckendes Lächeln. „Ich werde sterben. In zwei, spätestens drei Tagen ist es soweit, das weiß ich. Und jetzt möchte ich, dass du mir gut zuhörst. Auch, wenn ich mich heute von dir verabschieden werde, ist deine Aufgabe noch nicht beendet. Noch lange nicht, Gabriel. Denn mit meinem Tod fängt sie erst an!“

„Ich ... ich verstehe ... verstehe das nicht“, stammelte Gabriel.

„Du weißt, dass ich nie ein Geheimnis um mein Wirken gemacht habe. Ich wollte, dass alle Menschen von der Liebe und der Güte meines Vaters erfahren. Aber dennoch gibt es etwas, das nur wir wissen, wir fünf, die wir uns hier in diesem Raum befinden. Nicht einmal mein Freund Petrus weiß von der Existenz meiner geliebten Tochter Rebekka.“

Er lächelte das schwarzhaarige Mädchen an und in seinen sanften Augen lagen Liebe und Schmerz.

„Wie du dir denken wirst, gibt es einen Grund, warum niemand etwas von Rebekka erfahren darf“, fuhr er fort. Er griff nach seinem Becher und nahm einen kräftigen Schluck. „Seit Tausenden von Jahren und noch länger gibt es das Gute und das Böse. Es gibt Liebe, Vergebung, Güte und Sanftmut, aber es gibt auch Hass, Niedertracht, Rache und Gewalt. In jedem Menschen steckt beides. Er ist wie ein Acker, auf dem die Samen des Getreides genauso gedeihen können, wie die Samen des Unkrauts. Der Vater überlässt den Menschen die freie Entscheidung, ob sie auffahren wollen ins Paradies oder eingehen wollen in die Verderbnis der Hölle. Jeder entscheidet selbst, ob er am Ende seines Lebens das Getreide oder das Unkraut erntet. Mein Vater steht den Menschen bei dieser Entscheidung zur Seite mit all seiner Liebe. Aber das Böse ist nicht untätig! Es versucht die Menschen zu verführen, sie zu blenden, ihre Gier anzustacheln. Und doch: wenn der Mensch vor der Weggabelung steht, ist er selbst es, der entscheiden muss, wohin der Weg ihn führt.“

Rebekkas Vater brach ein Stück des Brots ab und steckte es sich in den Mund. Während er kaute, wanderte sein Blick von Gabriel zu Rebekka. Dann sah er hinüber zu seiner Frau, die wie versteinert auf ihrem Stuhl saß und in die Ferne starrte. Auch über ihre Wangen rannen die Tränen und tropften in ihren Schoß. Er griff nach ihrer Hand und strich darüber. Als sie ihn ansah, nickte er ihr zu und wischte mit der anderen Hand ein paar Tränen aus ihrem Gesicht.

Gabriel ruckelte auf seinem Stuhl hin und her. Er wusste nicht, worauf sein Herr hinaus wollte. Er wusste nicht, was das alles hier sollte! Er wusste gar nichts!

„Zumindest sollte es so sein“, fuhr sein Herr schließlich fort. „Aber das Böse spielt ein falsches Spiel. Es gibt sich nicht damit zufrieden, den Menschen die Entscheidung zu überlassen.“ Er atmete tief durch. „Gabriel, das Böse bietet Legionen von Kreaturen auf, die den Menschen auf die dunkle Seite zwingen können. Es reicht der Schwarzen Familie nicht mehr, den Menschen zu verführen. Sie schickt Blutsäufer, Dämonen und schlimmeres Gezücht. Sie schickt Leichenfresser, Wesen, die halb Mensch, halb Tier sind. Sie schickt Zauberer, die das Böse in jedem Menschen gegen das Gute richten. Sie alle stecken den Menschen an mit ihrem Keim - und schließlich wird er selbst eine Kreatur der Dunkelheit. Oder sie töten ihn, nur um des Spaßes Willen oder zum Gefallen des Dunklen Engels.“

Gabriels Mund war trocken wie die Straße vor dem Haus. Er spürte, wie sein Hals eng wurde. Der Herr hatte sich mit all seinen Reden bisher nicht nur Freunde gemacht, das wusste Gabriel. Dennoch war er immer überzeugt von der Wahrhaftigkeit der Worte seines Herrn. Aber das, was er Gabriel hier glauben machen wollte, konnte nicht der Wahrheit entsprechen! Oder etwa doch?

Rebekkas Vater lächelte. „Ich sehe Zweifel in deinen Augen. Aber die solltest du überwinden, sonst könnte es dich das Leben kosten. Doch sorge dich nicht, Gabriel. Ich werde dir dabei helfen.“

Mit diesen Worten nickte er Aaron zu, der noch immer hinter Gabriels Stuhl stand. „Hol sie herein, bitte!“

„Natürlich“, antwortete Aaron und ging hinaus.

„Der Mensch ist sündig“, sagte Rebekkas Vater zum Hüter seiner Tochter. „Er alleine kann gegen die Mächte des Bösen nicht bestehen. Deshalb hat mein Vater mich geschickt.“

„Du wirst gegen sie kämpfen?“

Gabriels Herr schüttelte den Kopf und wieder lag ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. Wie immer. „Nein. Ich werde nicht gegen sie kämpfen. So viel solltest du inzwischen begriffen haben. Der Kampf ist nicht mein Weg. Und er wird auch nicht deiner sein. Gabriel, der Mensch ist ein Sünder, der Gottes Strafe verdient hätte. Aber was würde geschehen, wenn Gott die Sünder und die Ungerechten straft? Das Böse würde auf Erden triumphieren. Es hätte gesiegt für alle Zeiten.“

Gabriel schauderte bei diesen Worten. Er zitterte. Er hatte Angst vor den nächsten Sätzen, aber er hörte dennoch zu.

„Wer weiß? Vielleicht hätte die Menschheit das sogar verdient. Aber was habe ich euch immer wieder gesagt? Gott ist ein gnädiger Gott! Selbst wenn die Menschheit es vielleicht verdient hat, ist mein Vater bereit, ihr eine Gelegenheit zur Bewährung zu geben. Und so bin ich es, der stellvertretend die göttliche Strafe auf sich nehmen wird, die der Schuldige verdient hätte. Verstehst du, Gabriel? Ich werde zu eurem Stellvertreter, wenn Gott die gesamte Sünde und Schuld der Menschheit auf mich legt. Jeder Mensch ist ein Sünder, aber ich sterbe für die gesamte Welt. Und für die ganze Welt werde ich wieder auferstehen und neben meinem Vater sitzen und euch beobachten.“

„Es tut mir Leid, Herr“, sagte Gabriel. „Aber ich verstehe immer noch nicht.“

„Gabriel, mein lieber Gabriel. In der Sekunde meines Todes wird das Böse durch die Vergebung Gottes für einen Augenblick aus den Menschen weichen. Sie alle werden erfüllt sein von göttlicher Kraft und Liebe. So erfüllt, mein Freund, dass sie davon überlaufen! Und all diese überlaufenden Tropfen von Liebe und Kraft werden sich in einem Menschen vereinen, in meiner geliebten Tochter Rebekka.“

„Aber warum?“

„Warum, fragst du? Das Böse weiß sehr wohl, wer ich bin. Es weiß aber nichts von Rebekka. Der Dunkle Engel glaubt, mit meinem Tod habe er gesiegt und der Weg sei frei für seine Heerscharen.“

Plötzlich musste Gabriel an den Traum denken, aus dem er vorhin hochgeschreckt war. Sollte er mehr gewesen sein als ein einfacher Traum?

 Rebekkas Vater lachte. „Er wird sehr überrascht sein, wenn das nicht der Fall ist. Und er wird mit seinen Schergen nie den Sieg davontragen, so lange mein Blut in den Adern eines Menschen fließt. Denn in diesem Menschen fließt auch die göttliche Liebe und Kraft. Deshalb ist dies nun deine Aufgabe, Gabriel: Nimm Rebekka! Geht fort von hier. Niemand weiß, wer ihr seid. Niemand weiß, dass das Schicksal der Welt von eurem Wohlergehen abhängt. Hüte meine Rebekka wie einen wertvollen Schatz. Verteidige ihr Leben mit deinem. Aaron wird zwölf Getreue und Vertraute meines Weibs auserwählen, die dich bei deiner Aufgabe unterstützen werden. Verbergt euch gut! Bewahrt die Welt vor der Dunkelheit!“

Gabriel hörte, wie Rebekkas Mutter ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte. Er versuchte zu schlucken, aber seine Kehle war eine ausgetrocknete Wüste.

„Kann ... kann ich bitte einen Schluck haben?“, krächzte er und deutete auf den Becher vor seinem Herrn.

„Natürlich“, sagte Rebekkas Vater und reichte ihm das Gefäß.

Das Wasser darin war warm und schmeckte abgestanden, dennoch trank Gabriel es mit gierigen Schlucken.

„Wenn die Mächte der Finsternis nicht siegen können, so lange Rebekka lebt, was wird dann geschehen, wenn sie einmal stirbt? Denn irgendwann wird sie sterben!“

„Dann wird es Rebekkas Kind sein, das das Böse vom Sieg abhält. Wenn sie allerdings kinderlos stirbt, dann ... nun, du weißt, was dann geschieht!“

„Aber ist diese Gefahr nicht viel zu groß? Warum bekämpfen wir diese Brut nicht? Warum versuchen wir nicht sie auszurotten, so lange Rebekka lebt?“

Rebekkas Vater wollte gerade antworten, doch noch bevor er etwas sagen konnte, hörte Gabriel von der Tür ein dumpfes Poltern. Er fuhr auf seinem Stuhl herum.

In der Tür stand Aaron. Und vor ihm auf dem Fußboden kauerten zwei hagere Männer in abgetragenen Umhängen mit gesenkten Köpfen. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt. Um ihre Hälse lagen breite Riemen mit merkwürdigen Zeichen darauf.

Da hob der linke Mann den Kopf. Sein Blick huschte durch den Raum, streifte Gabriel und blieb schließlich an Rebekka hängen.

„Ich würde zu gerne wissen, wer dieses saftige Kind dort ist! Ob ihr Blut so gut schmeckt, wie ...“, begann er.

„Halt - den - Mund!“, zischte der andere und verzog die Lippen.

Gabriel zuckte zurück!

Die Eckzähne des Kerls waren lang und spitz! Vor ihm auf dem Boden kauerten zwei Blutsäufer, wie Jesus sie erwähnt hatte!

 

***

 

Cresmonia Gwscore schloss die Schlafzimmertür und verharrte für einen Augenblick im Flur. Ihre Wut und ihre schlechte Laune waren wie weggeblasen. Stattdessen hatte sich freudige Erregung ihrer bemächtigt.

Sie wusste endlich, wo sie Mark Larsen finden würde. Wie hieß es in Zeitungen immer so schön? Ihr Informant aus gewöhnlich gut informierten Kreisen (oder besser noch: aus ungewöhnlich gut informierten Kreisen) konnte ihr zwar immer noch nicht sagen, wo sich Larsen mit diesem Balg verkrochen hatte, aber er hatte ihr haarklein berichtet, wo der neue Hüter sich in ein paar Stunden aufhalten würde. Und das war doch noch viel besser, nicht wahr? So konnte sie sich in aller Ruhe dort auf die Lauer legen und erst einmal gemütlich abwarten, was geschah.

Der Gedanke an Mark ließ ihr Herz schneller schlagen. Verdammt noch mal! War sie immer noch nicht darüber hinweg? Nach all den Jahren?

Sie dachte an den Muskelberg, der auf der anderen Seite der Schlafzimmertür vor sich hinvegetierte und dessen Kommunikationsmöglichkeiten sich auf ein tumbes Glotzen beschränkten.

Vielleicht sollte sie Mark doch nicht gleich töten. Vielleicht sollte sie ihn lieber in etwas verwandeln, das selbst der Muskelberg im Schlafzimmer als minder intelligent ansehen würde.

Cresmonias Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln.

Ja, das würde vermutlich mehr Spaß machen. Wesentlich mehr Spaß!

Cresomnia ging ins Wohnzimmer, öffnete die Balkontür, schnappte sich ihren Besen, den sie daneben abgestellt hatte und erhob sich in den Himmel über Hamburg.

Ihr Ziel war eine alte, vergessene Kapelle in England.

 

***

 

Mark pulte mit dem Zeigefinger in dem Einstichloch in seinem Hemd, während James ihm Tee einschenkte. Wie vorhin saßen sie im Garten.

Als auch Hinnerks Tasse gefüllt war, drehte sich James um und wollte wieder ins Haus gehen. Doch Hinnerk hatte etwas dagegen.

„Bleib bitte hier“, sagte er. „Das, was ich Mark zu erzählen habe, solltest du auch wissen.“

„Ja, bleib hier“, sagte auch Mark. „Du kannst mich retten, falls Hinnerk diesmal zur Abwechslung auf mich schießt.“

„Sehr witzig“, brummelte Hinnerk.

„Ganz wie die Herrschaften wollen“, sagte James. „Ist es recht, wenn ich mich auf diesem Stuhl hier niederlasse?“

„Jetzt setz dich hin, halt die Klappe und hör zu!“, befahl Hinnerk mit einem Grinsen.

„Sehr wohl!“

„Also“, sagte Mark, „du wolltest mir erzählen, warum ich plötzlich unverwundbar bin und was du mir alles verschwiegen hast.“

Hinnerk schüttelte den Kopf. „Den wichtigsten Punkt vorneweg: Du bist keineswegs unverwundbar!“

„Aber der Dolch in meinem Herzen ...“, begann Mark.

„Wie lässt sich dann seine Unversehrtheit ...“, sagte gleichzeitig James.

„Himmel noch mal!“, brauste Hinnerk auf. „Würdet ihr jetzt bitte einfach mal zuhören?“

Mark und James verstummten, wechselten einen kurzen Blick und sahen dann wieder zu Hinnerk, dem sie zunickten. Wir sind leise, sollte das wohl heißen. Also erzähl uns etwas.

„Also, noch einmal: Du bist keineswegs unverwundbar. Es war nur dieser eine Stich mit diesem einen Dolch der dir nichts anhaben konnte.“

Mark runzelte die Stirn. „Aha. Und woher hast du das vorher gewusst?“

„Ich hab es nicht gewusst.“

„Du ... d-du hast es nicht gewusst?“

„Nein, aber gehofft.“

Mark schluckte. „Gehofft! So, so!“

Hinnerk nickte. „Ja, ich habe gehofft, dass du derjenige bist, den die Prophezeiung angekündigt hat.“

„Prophezeiung“, sagte Mark.

„Ja. Obwohl die Prophezeiung von einem Hüter gesprochen hat und nicht von einem Papagei.“ Hinnerk nahm einen kleinen Schluck von seinem Tee. „Du hattest Recht. Es war kein Zufall, dass wir uns schon vor der verhängnisvollen Nacht im Herrenhaus kennen gelernt haben.“

„Prophezeiung“, sagte Mark noch einmal. „Und die hat mich angekündigt? Da muss ja ein sehr kluger Kopf am Werk gewesen sein!“

„Davon gehe ich mal aus“, sagte Hinnerk. „Denn die Prophezeiung stammt von Jesus.“

Marks Kinnlade sank nach unten.

„Er hat sie getätigt in der Nacht, in der er seine Tochter dem ersten Hüter, sein Name war Gabriel, übergeben hat. Gabriel hat danach die Ereignisse dieser Nacht aufgeschrieben, so dass uns Jesus Worte bis heute überliefert sind.“

Und endlich, endlich hatte Hinnerk die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Also begann er zu erzählen ...

 

***

 

30 n. Chr., 4. April, nach Mitternacht

„Siehst du?“, sagte Jesus. „Ich habe dir gesagt, dass ich dir deine Zweifel nehmen werde!“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Gabriel auf die beiden Geschöpfe auf dem Fußboden.

„Sind das ... sind das tatsächlich ...?“

„Ja, das sind Blutsäufer der schlimmsten Sorte. Sie gehören der Sippe der Katan an. Nein, sie gehören ihr nicht nur an, sie sind die ältesten Söhne des Oberhaupts.“ Dann sah er auf die beiden Blutsäufer herab und lächelte sie an. „Ich denke, ihr könnt mir und der Menschheit einen guten Dienst erweisen. Das ist sicher eine große Ehre für eure Sippe.“

„Was sollen wir denn tun?“, fragte der Linke.

„Eher sterbe ich, Nazarener!“, fauchte der Rechte und spuckte auf den Boden.

„Das lässt sich einrichten, du widerliche Ausgeburt der Hölle“, sagte Aaron, der hinter den beiden Kreaturen stand.

„Sachte, sachte!“, sagte Jesus zu Aaron. „Sie werden ihrem Schicksal nicht entrinnen können.“

Gabriels Augen begannen zu strahlen. „Also wirst du doch kämpfen, Herr? Du wirst diese Kreaturen vernichten und der Hölle ...“

„Nein!“, sagte Rebekkas Vater mit so fester Stimme, dass Gabriel sofort verstummte. Dann lächelte er wieder. „Nein, Gabriel. Ich werde nicht kämpfen und ich werde diese beiden Geschöpfe nicht vernichten.“

Dann griff er zu der Holztruhe, die auf dem Tisch stand, und öffnete sie. Er holte etwas daraus hervor, das Gabriel erst auf den zweiten Blick als ein zusammengefaltetes Tuch aus grobem Stoff identifizieren konnte. Rebekkas Vater breitete das Tuch vor sich aus und es kam eine Goldmünze zum Vorschein, die im Licht der Öllampen matt schimmerte.

Jesus nahm den Dolch, mit dem er vorhin noch Käse abgeschnitten haben mochte, in die rechte Hand. Mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung zog er sich die Klinge über die linke Handfläche.

Gabriel sog die Luft ein. Fast glaubte er, den Schmerz selbst zu spüren. Aber dem Gesicht seines Herrn war nichts anzumerken.

Rebekkas Vater öffnete die längliche Schatulle, legte den blutverschmierten Dolch hinein und schloss sie wieder. Dann nahm er die Goldmünze hoch, küsste sie, legte sie wieder auf das Tuch, ballte die linke Hand zur Faust und ließ das herausquellende Blut auf die Münze tropfen. Als er die Hand wieder öffnete, war von der Wunde nichts mehr zu sehen.

Gabriel hörte, wie Aaron hinter ihm ein paar Worte murmelte, die er nicht verstehen konnte, während sein Herr gleichzeitig die Münze wieder in das Tuch schlug und in die kleine Truhe legte.

Dann winkte er Aaron zu sich, der sofort an den Tisch kam und die Truhe an sich nahm.

„Du weißt, was zu tun ist“, sagte Jesus.

Aaron nickte und stellte die geöffnete Truhe zwischen die beiden Blutsäufer.

Gebannt beobachtete Gabriel, wie Aaron jedem der Geschöpfe der Nacht eine Hand auf die Stirn legte, die Augen schloss und wieder etwas vor sich hinmurmelte.

„Ich werde sie nicht vernichten“, rissen ihn die Worte seines Herrn in die Wirklichkeit zurück. „Denn noch weiß ich nicht, ob die Menschheit sich bewähren wird. Durch meinen Tod erhält sie Gelegenheit dazu, aber nutzen muss sie sie selbst. Gabriel und Aaron, höret mich an, denn ich sage euch“, fuhr er fort, obwohl er genau sah, dass Aaron gerade beschäftigt war. „Wendet euch nach Osten, Süden, Westen und Norden und zählt für jeden meiner treuen Jünger und ihrer Tugenden einmal die Zeit, seit Rebekka meinem Samen entsprang, denn dies soll sein die Zeit des Hütens. Wenn aber der letzte Tag vergangen ist, endet die Zeit des Hütens mit einem zweifachen Verrat. In den Tagen, in denen jeder das Geheimnis kennt, aber niemand es glaubt, wird der Friedliche das Licht verlassen ohne die Dunkelheit zu erreichen. Wahrlich, ich sage euch: Es wird ein letzter Hüter auserwählt, dessen Aufgabe der Kampf ist. So wie ich stellvertretend für alle Menschen die Strafe Gottes auf mich nehme, so muss er stellvertretend für alle Menschen ganz alleine beweisen, dass die Menschheit würdig ist, gerettet zu werden. Nur wenn er würdig ist, ist es auch die Menschheit. Der Blutdolch wird die Reinheit seines Herzens prüfen, die Seelentruhe wird die Kampfkraft seines Herzens prüfen, das Gold der Versuchung wird die Treue seines Herzens prüfen. Ist er würdig, so wird er den Kampf für die Menschheit aufnehmen. Ist er aber unwürdig, dann soll mein Blut erlöschen und das Jüngste Gericht über die Menschen hereinbrechen.“

Gabriel verstand kein Wort von dem, was sein Herr ihm da sagte. Warum sollte jeder das Geheimnis kennen, aber keiner daran glauben? Was war mit den Prüfungen gemeint?

„Doch selbst wenn er würdig ist“, fuhr Rebekkas Vater fort, „wird sein Kampf nicht leicht sein. Und dennoch wird er den dunklen Statthalter des Bösen auf Erden vernichten können, wenn er sich ein weiteres Mal als würdig erweist. Denn dann erhält er ...“

Die weiteren Worte gingen unter in einem ohrenbetäubenden Schrei.

Gabriel zirkelte auf seinem Stuhl herum.

Er sah die vor Schmerz verzerrten Gesichter der Blutsäufer. Ihre Mäuler waren weit aufgerissen, die übergroßen Eckzähne schoben sich zurück in die Kiefer. Aus Augen, Nase, Mund und Ohren der dunklen Geschöpfe waberten schwarze Schwaden aus Qualm, die über ihren Köpfen zu einem pulsierenden finsteren Kokon verschmolzen.

Schlagartig verstummte der Schrei. Die schwarzen Kokons begannen zu rotieren und rasten schließlich in die Truhe hinein, die mit lautem Scheppern hinter ihnen zuschlug.

Aarons Hände glitten von den Köpfen der Blutsäufer. Sein Gesicht sah ausgezehrt aus, so als hätte er seit einer Woche weder geschlafen noch gegessen.

Aber waren das überhaupt noch Blutsäufer? Ihre spitzen Zähne waren nicht mehr zu sehen, ihre Blicke waren glasig und leer.

Mit zittrigen Fingern löste Aaron die Riemen mit den magischen Symbolen und die Fesseln, die die Kreaturen in Schach gehalten hatten. Wie auf ein unhörbares Kommando hin, standen die Söhne aus der Sippe der Katan auf.

„Könnt ihr mich hören?“, fragte Aaron.

„Ja“, kam die tonlose Antwort aus beiden Mündern gleichzeitig.

„Ihr werdet nun in einen langen, tiefen Schlaf fallen“, sagte Aaron, „aber ihr werdet wieder erwachen, wenn der letzte Hüter berufen ist. Eure Aufgabe ist es, den Spross aus der Blutlinie Jesu an euch zu bringen, bis der letzte Hüter seine Würdigkeit nachgewiesen hat. Habt ihr eure Aufgabe erfüllt, bekommt ihr eure schwarzen Seelen zurück und werdet Teil der Prüfung. Ist er unwürdig, so ... so ...“

Aaron stockte und sah hinüber zu Rebekkas Vater. Der nickte ihm zu.

„Ist er unwürdig, so dürft ihr ihn und den Blutspross aussaugen oder mit ihnen tun, was immer ihr wollt. Habt ihr alles verstanden?“

„Ja“, kam wieder die tonlose Antwort.

Im gleichen Augenblick hörte Gabriel ein Knacken und Knirschen. Er sah, wie die Füße der Blutsäufer grau wurden. Grau wie Stein. Dann waren die Kittel der Katan-Brüder an der Reihe, dann die Arme und am Ende die Köpfe. Kurze Zeit später standen nicht mehr zwei ehemalige Blutsäufer im Raum, sondern zwei Statuen.

„Und was geschieht nun?“, fragte Gabriel.

„Du wirst noch heute Nacht mit Rebekka weggehen. Weit weg. Aaron wird dir sagen, wohin. Er holt später mit seinen Getreuen die beiden ... Statuen und die Truhen ab. Er wird sie verstecken und mit einem Zauber versehen, so dass weder sie noch ihr Versteck gefunden werden können. Nicht wahr, Aaron?“

Der nickte. „Ja. Der Zauber wird etwa zwei- bis dreihundert Jahre anhalten. Danach werden Truhe und Statuen wieder sichtbar, bis sie unsere Nachfolger an einen anderen Ort gebracht haben. Dadurch erneuert sich der Zauber und er wird wieder etwa zwei- bis dreihundert Jahre währen. Und so geht es weiter und weiter, bis irgendwann der letzte Hüter erwählt wird. Und er wird schließlich die Seelentruhe öffnen.“

„Was geschieht, wenn sie schon vorher geöffnet wird?“, wollte Gabriel wissen.

Aaron lachte. „Das geht nicht. Die Truhe weiß genau, ob sie geöffnet oder nur getragen werden soll. Sie wird sich gegen jeden unerlaubten Zugriff zu wehren wissen.“

„Aber was geschieht, wenn ...“

„Gabriel!“, unterbrach ihn Jesus. „Ich denke, alle deine Fragen sind beantwortet. Und die, die nicht beantwortet sind, brauchen auch nicht beantwortet zu werden. Lass uns den unvermeidbaren Augenblick nicht länger als nötig hinausschieben.“ Er stand auf, griff über den Tisch und packte mit der Hand Gabriels rechtes Handgelenk. Und wieder lächelte er, sanft und voller Güte. „Ich danke dir noch einmal für alles, mein Freund. Ich wünsche dir und allen, die nach dir kommen werden, alles Gute!“

„Danke, Herr!“, sagte Gabriel. Seine Stimme klang wie die eines alten Mannes. Krächzend und brüchig.

„Sag nicht Herr zu mir! Diese Anrede gebührt einem Anderen!“

„Ich weiß! Danke ... Jesus.“

Dann drehte Gabriel sich um und ging hinaus. Er wollte Rebekka die Zeit geben, sich in Ruhe von ihrem Vater zu verabschieden.

 

***

 

„Dann waren die Kerle in Christines Schlafzimmer also die Söhne dieser Katan-Sippe, die ihren Auftrag erfüllt haben?“, fragte Mark.

Hinnerk nickte.

„Vampire! Christine ist in der Hand von Vampiren! Und du sitzt in aller Seelenruhe hier!“, brauste Mark auf.

Hinnerk lächelte. „Du hast es doch gehört, Mark. Ihr wird nichts geschehen. Zumindest vorerst nicht. Außerdem sind die Katans im Augenblick keine Vampire. Sie haben ihre schwarze Seele verloren.“

Mark sah hinüber zu James. Der saß regungslos auf seinem Stuhl, den Blick ohne Zeichen eines Gefühls in die Ferne gerichtet.

„Hast du davon gewusst?“, fragte Mark ihn.

„Nein“, antwortete der Butler. „Ich muss gestehen, dass auch ich heute erstmals die Ehre hatte, diesen historischen Ereignissen meine Aufmerksamkeit zu schenken.“

„Niemand hat davon gewusst, Mark!“, sagte Hinnerk. „Nicht Algernon Finch, nicht James, nicht einmal Christine. Obwohl ich glaube, dass sie etwas geahnt haben könnte. Sie ist sehr sensibel, was solche Dinge angeht. Nein, Mark. Nur die Ordensmeister waren eingeweiht.“

„Aber warum? Warum diese Geheimniskrämerei? Vor allem mir hättest du doch reinen Wein einschenken können, wenn ich schon der vorhergesagte Hüter sein soll.“

Hinnerk lachte auf. Er klang wie das heisere Bellen eines erkälteten Hundes. „Mark, mein Junge! Du machst mir Spaß! Jeder von uns Ordensmeistern kennt den Wortlaut der Prophezeiung auswendig, und ich habe ihn dir vorhin Wort für Wort aufgesagt. Kam darin etwa vor, dass der letzte Hüter Mark heißt und immer alles besser wissen will?“

„Nein, aber ...“

„Wendet euch nach Osten, Süden, Westen und Norden und zählt für jeden meiner treuen Jünger und ihrer Tugenden einmal die Zeit, seit Rebekka meinem Samen entsprang, denn dies soll sein die Zeit des Hütens“, zitierte Hinnerk. „Kannst du daraus etwas Eindeutiges erkennen? Mark, der Orden hat sich Hunderte von Jahren mit dem Wortlaut der Prophezeiung beschäftigt. Alle waren sich sehr schnell einig, dass in den Worten eine Formel verborgen sein musste, mit der man die Zeit des Hütens berechnen konnte, wie Jesus es ausgedrückt hat. Aber wie lautet diese Formel? Ist mit den Himmelsrichtungen die Zahl 4 gemeint? Die treuen Jünger und ihre Tugenden, was ist damit? Jünger hatte er zwölf, klar. Aber treue Jünger? Soll man Judas hier nicht mitzählen? Sind es also vielleicht nur elf? Was ist mit den Tugenden? Davon gibt es sieben. Soll man diese Zahlen jetzt addieren oder multiplizieren? Alleine hier haben wir vier Möglichkeiten. 18, 19, 77 und 84. Und das jetzt mal 4 wegen der Himmelsrichtungen? Vielleicht. Die Zeit, seit Rebekka meinem Samen entsprang. Was ist damit gemeint? Zwölf Jahre? So alt war sie schließlich in der Nacht der Übergabe. Oder muss man seit der Zeugung zählen? Dann wären es 13 Jahre. Eine der denkbaren Formeln ist als 4 mal 19 mal 13. Das Ergebnis ist 988. Also 988 Jahre nach dem Tag der Übergabe könnte der letzte Hüter auserwählt werden. Die Übergabe war nach Gabriels Aufzeichnungen im Jahr 30. Der letzte Hüter hätte also im Jahr 1018 erwählt werden müssen.“

Mark nickte. Er ahnte, worauf das hinauslief.

„Du bist also 988 Jahre zu spät dran! Oder hat die Tatsache, dass er Gabriel und Aaron ansprach, auch etwas zu bedeuten. Er sagte ja: ‚zählt die Zeit’ und nicht ‚zähle die Zeit’. Muss man also noch mit 2 multiplizieren, weil er zwei Personen angesprochen hat? Wenn man das tut, oh Wunder, kommt man tatsächlich bis ins Jahr 2006. Aber wann genau? Wie zuverlässig waren Gabriels Aufzeichnungen, was das Datum angeht? Zu Jesu Zeiten galt der julianische Kalender, wo es alle vier Jahre ein Schaltjahr gab. Hat Jesu vorhergesehen, dass etwa 1500 Jahre später ein neuer Kalender eingeführt werden würde? Hat er vorhergesehen, dass es nicht mehr alle vier Jahre ein Schaltjahr geben würde? Hat er vorhergesehen, dass bei der Kalenderumstellung einfach ein paar Tage gestrichen würden?“

Hinnerk nahm einen Schluck von seinem Tee, der inzwischen kalt geworden war.

„Was ich dir damit sagen will: Die Mathematiker, Historiker und sonstigen Berufenen des Ordens haben unzählige mögliche Termine errechnet, an denen sich die Prophezeiung hätte erfüllen können. Ganz abgesehen davon: Man hat ihnen wegen der Geheimhaltung ja nicht gesagt, was sie da eigentlich berechnen sollen. Alleine das ist eine wahnsinnige Fehlerquelle. Langer Rede kurzer Sinn: Es gab schon 141 mögliche Termine vor diesem.“

Mark räusperte sich. „141?“

„Ja. Verteilt über mehr als elfhundert Jahre.“

Mark schwieg. Elfhundert Jahre lang ist der Orden einer Prophezeiung hinterher gerannt? Elfhundert lange Jahre?

„Oh!“, sagte er deshalb schließlich.

„Ja: oh! Das ist eine kurze, aber sehr zutreffende Umschreibung der Sachlage, mein Junge. Wenn ich die Aufzeichnungen des Ordens richtig im Kopf habe, dann war man bei den ersten zwanzig Terminen noch wirklich guter Dinge. Jedes Mal wurde der alte Hüter schonend auf sein mögliches Schicksal vorbereitet. Jedes Mal wurde der mögliche neue Hüter angesprochen. Und nie ist irgend etwas geschehen! Als es auf den fünfzigsten Termin zuging, wurde man langsam unruhig. Hatten die Mathematiker richtig gerechnet? Gab es vielleicht eine Deutung, die sich bisher noch niemandem erschlossen hatte? Waren Gabriels Aufzeichnungen zuverlässig? All diese Dinge wurden diskutiert. Irgendwann kam der hundertste Termin und wieder geschah nichts. Aus der Unruhe war inzwischen Resignation geworden. Und vor einem oder zwei Jahren hat der Orden beschlossen, nur noch die Termine wahrzunehmen, die logistisch schon vorbereitet waren. Wenn du dich also fragst, warum dir niemand etwas gesagt hat: Wir glaubten schlichtweg nicht mehr daran, dass sich die Prophezeiung, so wie wir sie verstanden, erfüllen würde. Du warst der letzte Versuch.“

Mark nickte und rieb sich den Nacken. „Ich verstehe. Aber als der Überfall auf Christines letztes Versteck stattfand und ihr Hüter ... wie war sein Name?“

„Connor Baigent.“

„... als also Connor Baigent getötet wurde, hättest du doch die Prophezeiung erkennen müssen.“

„Du hast Recht“, gab Hinnerk zu. „Zuerst war ich fassungslos, als Algernon Finch beim Zeltlager auftauchte. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.“

„Deshalb also deine Bemerkung zu Algie, als er am Lagerfeuer auftauchte: Es ist also geschehen!“

„Richtig! Ich war innerlich aufgewühlt. Als du dich dann so kämpferisch gegeben hast, war ich überzeugt, dass du der letzte Hüter sein musst. Deshalb hab ich dir auch beigepflichtet. Dennoch wagte ich es nicht, dir etwas zu sagen. Nicht, solange ich nicht den Beweis hatte! Versteh das bitte, ich habe über tausend Jahre darauf gewartet, dass etwas passiert ...“

Mark lachte. „Na ja, du selbst wohl nicht!“

Hinnerk wedelte unwirsch mit der Hand. „Wie auch immer. Wenn man lange genug vergeblich auf etwas wartet und plötzlich geschieht es doch, dann weigert man sich, es zu glauben. Zu groß ist die Angst davor, wieder enttäuscht zu werden. Und als dann am nächsten Tag nichts geschah, wurde ich immer skeptischer. Warum kamen die Katan-Brüder nicht, um Christine zu holen? Warum blieb alles so ruhig? War der Überfall auf das Herrenhaus vielleicht doch nur ein unglaublicher Zufall? Doch gleichzeitig hatte ich auch wahnsinnige Angst davor, dass sich die Prophezeiung doch erfüllen würde. Denn was würde geschehen, wenn wir die Prüfungen des letzten Hüters falsch ausgelegt hätten? Schon vor dem ersten Termin hatte der Orden vereinbart, dass derjenige, der Kontakt mit den neuen Hüter aufnimmt, ihn auch der ersten Prüfung unterzieht.“

Ohne sich dessen bewusst zu werden, griff sich Mark an die Brust. „Der Blutdolch!“

Hinnerk nickte. „Die Prüfung der Reinheit des Herzens. Aber was, wenn Jesus die Prüfung metaphorisch gemeint und ich im Überschwang den verheißenen Hüter umgebracht hätte? Wenn ich dir also übernervös erschienen bin, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass ich übernervös war.“

Mark lächelte. „Ja, das klingt nach einer einleuchtenden Erklärung.“

„Und das ist auch der Hauptgrund, warum ich dir nichts gesagt habe. Denn was hätte ich sagen sollen? Du bist der letzte, verheißene Hüter, aber um ganz sicher zu gehen, muss ich dir mal eben einen Dolch ins Herz stoßen. Halt ruhig, es tut auch gar nicht weh.“

Hinnerk holte sein Tabakpäckchen aus der Hemdtasche und zauberte eine schon fertig gedrehte Zigarette daraus hervor.

„Es mag vielleicht darin begründet liegen, dass ich die Prophezeiung eben zum ersten Mal vernehmen durfte“, meldete sich James zu Wort, „aber ich muss gestehen, dass ich sie trotz ihrer Erläuterungen noch nicht in vollem Umfang verstanden habe. Welche Bedeutung ist den Worten zuzumessen, die von einem Geheimnis sprechen, das jeder kennt, aber keiner glaubt?“

Hinnerk zündete sich die Selbstgedrehte an, nahm einen tiefen Zug und sah James ernst an. „Eine sehr gute Frage. Eine Frage, an der sich der Orden etwa tausend Jahre lang die Zähne ausgebissen hat. Anschließend hat er beschlossen, diesen Teil der Prophezeiung als unlösbar abzutun und sich nicht weiter darum zu kümmern.“

„Also weiß bis heute niemand, was damit gemeint war?“, fragte Mark.

Hinnerk lächelte hintergründig. „Doch! Ich glaube, ich habe das Geheimnis gestern Nachmittag gelöst. Als wir uns im Haus etwas umgesehen haben, ist mir im Wohnzimmer etwas aufgefallen, das mir die Augen geöffnet hat. Wartet mal einen Augenblick.“

Mit diesen Worten stand er auf und ging zurück ins Haus. Mark sah hinüber zu James, der genauso ratlos schaute, wie Mark sich fühlte. Keine Minute später war Hinnerk zurück. Er warf ein Buch auf den Tisch.

James las den Titel und schüttelte mit dem Kopf. „Dan Brown. Sakrileg. Tut mir Leid, aber dieser Titel ist mir kein Begriff!”

Hinnerk lachte. „Das ist ja auch die deutsche Übersetzung. Im Original heißt das Buch: The Da Vinci Code!“

James Miene hellte sich auf. Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, versteckte sie aber sofort wieder unter dem Tisch, als er sich seines Gefühlsausbruchs bewusst wurde.

„Natürlich!“, sagte Mark. „Ein Roman, der erzählt, dass Jesus ein Kind gehabt haben soll. Das Buch offenbart jedem das Geheimnis, aber keiner glaubt daran, weil es ja nur ein Roman ist! Das muss es sein!“

Hinnerk setzte sich wieder an den Tisch, nahm einen letzten tiefen Zug aus der Zigarette und drückte sie aus.

„Jetzt weiß ich auch, wie du auf die Idee mit dem zweiten Verräter gekommen bist!“, sagte Mark.

„Wenn aber der letzte Tag vergangen ist, endet die Zeit des Hütens mit einem zweifachen Verrat“, murmelte Hinnerk.

Mark nickte. „Genau. Und was sollte dieser Satz mit dem dunklen Statthalter des Bösen?“

„Das wissen wir leider nicht. Gabriel hat von diesem Satz offensichtlich nicht alles verstanden. Wir gehen aber davon aus, dass der Satz eine Waffe offenbart hätte, mit der du einen richtig bösen Buben hättest vernichten können. Aber dieses Geheimnis wird wohl für immer in der Vergangenheit begraben bleiben.“

„Schade“, seufzte Mark. „Und was tun wir jetzt?“

Hinnerk sah auf die Armbanduhr. „Oh, wir müssen uns sputen! Wir fahren jetzt zum Flugplatz. Dort lernst du den Großmeister des Ordens kennen. Mit ihm fliegen wir zum Versteck der Seelentruhe. Und dort finden wird dann hoffentlich auch Christine.“

Mark drehte sich der Magen um, als er an das Mädchen dachte. Die Euphorie, die Hinnerks Erzählung ausgelöst hatte, war wie weggeblasen.

„D-da ist noch etwas, das ich wissen möchte“, sagte Mark.

„Ja?“

„Hab ich das richtig verstanden, was du uns da erzählt hast: Christines Leben hängt davon ab, dass ich mich jetzt als würdig erweise?“

Hinnerk schüttelte den Kopf.

Mark atmete auf, doch seine Erleichterung verpuffte, als Hinnerk sagte: „Nicht Christines Leben. Das der ganzen Menschheit! Lass uns gehen.“



                                                     Though you may be pure of heart and free of sin

                                                     And though you have been chosen to begin

                                                     And yet you must be worthy of the prophecy

                                                     But seek and you shall find your destiny

                                                     Loneliness will haunt you, will you sacrifice

                                                     Do you take the oath, will you live your life

                                                     Under the rose

(KISS, Under The Rose)

4. Kapitel:

Sie stirbt,

wenn du nicht würdig bist ...

 


Den Weg zum Flugfeld in Stade-Agathenburg legten Mark und Hinnerk mit dem Taxi zurück. Fast während der gesamten Fahrt starrten sie wortlos aus den Seitenfenstern. Nicht, weil sich die beiden nichts zu sagen gehabt hätten, sondern weil ihre Themen nicht für die Ohren eines Taxifahrers geeignet waren.

Nur einmal richtete Hinnerk das Wort an Mark. Als er seine beachtliche Körperfülle auf die Rückbank des eierschalenfarbenen Audi quetschte, murmelte er: „Wir brauchen ganz dringend ein eigenes Auto.“

Mark überkam bei diesen Worten ein Schauder. Plötzlich musste er an Dinge denken, die er in den letzten zwei Tagen verdrängt hatte.

Wir brauchen ein eigenes Auto.

Marks alter VW Golf stand einsam und verlassen in der Garage neben dem Mietshaus, in dem er sechzig auf drei Zimmer verteilte Quadratmeter bewohnte. Oder besser: bewohnt hatte! Spuren seines alten Lebens. Eines unbeschwerten Lebens, frei von geheimen Organisationen, frei von Hexen und frei von einem Kind, von dessen Leben das Wohlergehen der ganzen Menschheit abhing.

Was würde jetzt werden? Er war einfach so abgetaucht, hatte das Zeltlager verlassen, hatte ...

Oh, mein Gott!

„Was ist mit den Kindern?“, entfuhr es Mark.

„Den Kindern?“ Hinnerk runzelte die Stirn.

„Den Kindern aus dem Zeltlager. Ich bin da mitten in der Nacht ...“

„Denen geht es gut. Wir haben vorher schon einen Ersatzmann für dich bereitgehalten.“

„Wir?“, fragte Mark.

„Wir!“, bestätigte Hinnerk.

Mark verstand.

Der Orden! Der anscheinend allmächtige Orden!

Danach verfielen sie wieder in Schweigen und starrten aus den Taxifenstern.

Was würde aus seiner Anstellung beim Museum werden? Was aus seiner Wohnung? Was aus seinem kärglichen Bankkonto, aus seinen wenigen Bekannten ... nun, aus seinem Leben?

Er beschloss, die Gedanken darüber noch ein wenig zu vertagen. Denn wer wusste schon, ob er den heutigen Tag überhaupt überleben würde?

Mark fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte.

Wenn er diesen Tag nicht überleben würde, wenn er sich nicht würdig im Sinne der Prophezeiung Jesu erweisen würde, wäre eine ungekündigte Mietwohnung in Anbetracht der Apokalypse, die dann über die Menschheit hereinbrechen würde, wohl ein eher zu vernachlässigendes Ärgernis.

Was tu ich hier eigentlich?, fragte sich Mark. Warum muss ausgerechnet mir diese Last aufgebürdet werden? Kann das nicht vielleicht doch ein Anderer ...

„Wir sind da!“, dröhnte Hinnerk. Im gleichen Augenblick blieb das Taxi stehen.

Mark stieg aus. Seine Knie waren weicher als Erdbeereis in der prallen Sonne.

Hinnerk drückte sich aus dem Wagen und bezahlte den Fahrer. Dann ging er zu Mark, legte ihm den Arm um die Schulter und steuerte mit ihm auf ein Flugzeug zu.

Mark hatte keine Ahnung von diesen Dingern, aber für ihn sah es aus wie das, mit dem James und Christine vor zwei Nächten hier auf sie gewartet hatten. Kurz danach hatte Cresmonia Gwscore ihren Angriff gestartet.

Mit einem unguten Gefühl suchte Mark den Himmel über dem Flugfeld ab. Er konnte nichts entdecken, was da nicht hin gehörte, wie beispielsweise eine nackte Frau auf einem Besen.

Vor dem Learjet wartete ein kleiner, hagerer Mann auf sie, der die Sechzig gerade überschritten haben mochte. Er trug sein lichtes, graues Haar streng gescheitelt. Seine schmale Nase und die randlose Brille, hinter der wässrigblaue Augen in die Welt funkelten, gepaart mit seiner Größe, die nicht wesentlich über 1,60 Meter, höchstens 1,65 Meter liegen konnte, ließen Mark unwillkürlich den Begriff „Giftzwerg“ in den Sinn kommen.

„Mark, darf ich dir den Großmeister des Ordens vorstellen?“, fragte Hinnerk. „Fabio Cassani - Mark Larsen. Mark Larsen - Fabio Cassani.”

Mark ergriff die Hand, die ihm der kleine Italiener entgegenstreckte.

„Freut mich“, sagte er.

Fabio Cassani nickte. Dann musterte er Mark von oben bis unten und wieder zurück. Mit missbilligendem Blick sah er auf das Loch in Marks Hemd, das Hinnerks Dolchstich hinterlassen hatte.

Verdammt!, dachte Mark. Vor lauter Hektik hab ich nicht einmal das Hemd gewechselt!

„Wenn Sie versagen, stirbt die Welt“, sagte Cassani in nahezu akzentfreiem Deutsch. „Kommen Sie!“

Er drehte sich um und ging mit Hinnerk auf das Flugzeug zu. Mark folgte ihnen mit dem Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

 

***

 

Dass Mark keine nackte Frau auf einem Besen im Himmel über Stade gesehen hatte, lag daran, dass die in diesem Augenblick im Himmel über dem Edwinstowe Valley kreiste.

Erst als sie sicher war, dass Mark Larsen und sein neuer Schatten Hinnerk noch nicht aufgetaucht waren, ging sie in den Sinkflug und landete auf dem Dach der alten Kapelle, die im Zentrum des Tals stand. Vorsichtig näherte sie sich dem Loch, das ihr in zwei Metern Entfernung wie ein zahnloses Maul entgegengähnte. Es war nicht einfach, sich auf dem gewölbten Dach sicher vorwärts zu bewegen. Außerdem traute sie dem zersplitterten Holz, welches das Loch umgab, nicht mehr als den so oft gehörten Liebesschwüren eines erregten Mannes. Deshalb schwebte sie auch mehr, als dass sie ging.

Plötzlich ertönte ein Krachen und Scheppern aus der Kapelle.

Cresmonia erstarrte. Was war da unten los?

Sie lauschte, aber die Geräusche wiederholten sich nicht. Stattdessen hörte sie Stimmen, die sich ein lautstarkes Wortgefecht lieferten. Sollte Larsen etwa doch schon hier sein?

Nein, das war undenkbar! So schnell hätte er es nie hierher schaffen können. Außerdem wurde der Streit in einer Sprache geführt, die Cresmonia nicht identifizieren konnte. Das da unten war also nie und nimmer Mark Larsen!

Aber wer dann?

Wieder dröhnte das Krachen an ihr Ohr.

Cresmonia klemmte sich ihren Besen zwischen die Beine und erhob sich ein paar Zentimeter in die Luft.

„Zeit für ein bisschen Kunstflug“, kicherte sie.

Dann ließ sie sich nach rechts wegkippen, so dass sie kopfüber an ihrem Besen hing. Sie manövrierte noch ein bisschen hin und her, bis sie genau über dem Loch schwebte. Bereit, jederzeit den Besen hochzureißen und die Flucht zu ergreifen, sank sie abwärts. Langsam. Zentimeter um Zentimeter. Bis sie endlich durch das Loch in das Innere der Kapelle lugen konnte.

Im ersten Augenblick konnte Cresmonia kaum etwas erkennen. Sie sah zwar hinten beim Altar ein paar Kerzen flackern, deren matter Schein war aber nicht hell genug, um ihre vom grellen Tageslicht geblendeten Augen etwas sehen zu lassen. Dank ihrer Hexenkräfte dauerte dieser Zustand aber nicht lange an und schon bald schälte sich ein Bild aus dem Dämmer.

Ein Bild, wie es Cresmonia niemals erwartet hätte!

Ein nackter Mann, der Cresmonia zu ihrem größten Bedauern nur den Rücken zuwandte, versuchte mit aller Gewalt, die hölzernen Bänke in Altarnähe aus ihren Verankerungen zu lösen. Mit nur einer Hand (die andere fehlte ihm, wie Cresmonia jetzt erkennen konnte) riss er an den Rückenlehnen herum, zerrte an den Sitzflächen, setzte sich auf eine Bank und stemmte sich mit den Beinen gegen die davor, prügelte mit einem schweren Kerzenständer auf die Bänke ein, bis große Splitter und Holztrümmer durch die Kapelle flogen.

Ein zweiter Mann saß im Schneidersitz vor dem Altar. Er war bekleidet mit einem sackähnlichen, viel zu weiten Kaftan. In den Händen hielt er einen weiteren Kaftan (den des Nackten?), den er sorgfältig zu langen Stoffstreifen riss.

Immer wieder hielt er inne und gab dem Nackten Anweisungen, die Cresmonia nicht verstehen konnte. Dann hörte der auf, auf die Bänke einzuprügeln, diskutierte mit dem Mann im Schneidersitz für einige Sekunden und widmete sich anschließend weiter der Zerstörung des Mobiliars.

Was ging hier vor? Welchen Grund sollte Larsen haben, diesen beiden Irren einen Besuch abzustatten?

Ihr Informant hatte ihr bei ihrem Telefonat nur gesagt, dass Larsen im Laufe des frühen Nachmittags bei der Kapelle eintreffen würde, weil er dort irgendeine Truhe öffnen müsse. Außerdem sei in der Kapelle wahrscheinlich etwas, dass er zurückhaben wolle. Bei diesen Worten hatte Cresmonias Informant dreckig gelacht und aufgelegt.

Cresmonia zuckte zurück!

Da, in einer der hinteren Bänke, hatte sich etwas bewegt! Saß da etwa jemand?

Tatsächlich! Und jetzt drehte sich dieser Jemand auch noch um und sah hoch zu ...

Cresmonia schoss mit ihrem Besen hoch in den wolkenlosen Himmel.

Da unten in der Kapelle bei diesen bekloppten Vandalen saß dieses nutzlose Balg, das sie so hochtrabend den Schatz nannten.

Cresmonia musste grinsen. Da schien Larsen in seinem neuen Job doch gleich ein kleiner Patzer unterlaufen zu sein!

Und plötzlich ging ihr ein Licht auf! Dieses dumme Gör war es, das Larsen zurückholen wollte!

Sie beschloss, dass sie Larsen bei dessen Ankunft doch nicht gleich mit ihrer Anwesenheit konfrontieren würde. Erst würde sie zusehen, was sich hier ereignen würde. Das versprach doch recht interessant zu werden! Sie konnte sich nämlich durchaus vorstellen, dass der nackte Holzfäller und sein schneidernder Freund die Kleine nicht so ohne Weiteres wieder hergeben würden.

Also suchte sich Cresmonia ein ruhiges Plätzchen in einer Esche gleich neben der Kapelle und wartete darauf, was dieser Tag noch alles bringen würde.

Sie wartete ...

... und wartete ...

... und wartete ...

... bis sie nach zwei Stunden schließlich das Flapp-Flapp-Flapp eines Hubschraubers hörte.

 

***

 

Mit jedem Meter, den sie sich der Kapelle näherten, zog sich Marks Magen weiter zusammen. Dass Hinnerk sich betont locker gab, so als machten sie mal eben einen kleinen Betriebsausflug nach Mittelengland, konnte daran nichts ändern. Als er bemerkte, dass Mark derzeit für keinerlei Frohsinn empfänglich war, hielt er lieber die Klappe.

Mit dem Flugzeug, von dem Hinnerk ihm inzwischen erklärt hatte, dass es sich tatsächlich um das gleiche Modell handelte, wie das, mit dem James und Christine aus England geflohen waren, waren sie nach London geflogen. Dort waren sie umgestiegen in einen Helikopter.

Wenn Sie versagen, stirbt die Welt.

Nur dieser eine Satz raste in Marks Kopf hin und her. Eine wirklich nette Art, jemanden zu begrüßen, dachte er.

Fabio Cassani, der Hinnerk und Mark im Hubschrauber gegenüber saß, hatte nach diesem höchstens noch drei weitere Sätze gesprochen, die aus nicht mehr als zehn Wörtern bestanden.

Wenn Sie versagen, stirbt die Welt.

Na toll!

„Erzähl mir etwas von dieser Kapelle“, forderte Mark Hinnerk auf, um sich abzulenken.

„So sehr viel gibt es da nicht zu erzählen. Gebaut wurde sie im Jahre 1741 von einem Grafen. Der war ungefähr genauso reich, wie er gläubig war. Und deshalb baute er mit Billigung der Church of England diese Kapelle. Sie diente vor allem Reisenden zur Erbauung. Aber nur knappe hundert Jahre später, 1839, um genau zu sein, stürzte bei einem Sturm ein Baum auf ihr Dach. Der Graf hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet, seine Kinder und Enkel den Großteil des Erbes verprasst, und deshalb fand sich niemand, der für die Kosten einer Instandsetzung aufkommen wollte oder konnte. Ein Jahr später bequemte man sich, wenigstens den Baum zu entfernen. Und so sprang schließlich der Orden in die Bresche und hat die Kapelle gekauft. Er ließ sie vorläufig leer stehen, bis im Jahr 1854 der Zauber, den Aaron auf die Seelentruhe gelegt hatte, wieder erlosch. Also hat der Orden die Statuen und die Truhe in die Kapelle gebracht und den Zauber dadurch erneuert. Die Kapelle wurde mitsamt dem Tal, in dem sie steht, unsichtbar. Na ja, nicht wirklich unsichtbar, aber niemand nahm das Tal mehr wahr. Wer direkt darauf zuging, bog rechtzeitig vorher ab und marschierte außen herum, ohne es zu merken.“

„So ein Zauber hat mich in der siebten und achten Klasse auch umgeben“, murmelte Mark und zuckte mit den Schultern. „Aber bei mir wirkte er nur auf die Mädels.“

Hinnerk lachte.

In Fabio Cassanis Gesicht zuckte nicht einmal der Mundwinkel.

„Nur ein Mädchen war gegen den Zauber immun“, fuhr Mark fort. „Machen abstehende Ohren und schiefe Zähne eigentlich immer resistent gegen Unsichtbarkeitszauber? Oder ist das nur ...“

„Wo wird der Schatz aufbewahrt?“, fiel ihm Fabio Cassani ins Wort.

„Was?“, fragte Hinnerk.

„Der Schatz!“

Hinnerk schüttelte mit dem Kopf. „Du weißt genau, dass ich dir das nicht sagen kann, Fabio. Erst, wenn wir wissen, wer der zweite Verräter ist. Vorher nicht!“

Cassani nickte. „Du verdächtigst einen Ordensmeister?“

„Ich verdächtige gar niemanden!“, brauste Hinnerk auf. „Ich weiß nicht, wer der Judas ist! Wer hat denn alles von Christines Versteck gewusst? Die Ordensmeister und eine Handvoll ausgewählte Leute.“ Hinnerk atmete tief durch. „Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass einer der Ordensmeister der Verräter ist!“

Cassani nickte wieder. Er nahm die Brille ab, massierte die Nasenwurzel und sah aus dem Fenster. Dann setzte er die Brille wieder auf, was aufgrund der wuchtigen Kopfhörer, die alle auf den Ohren hatten, nicht ganz einfach war. Als es ihm doch endlich gelungen war, griff er in die Innentasche seines Jacketts und holte sein Scheckbuch heraus.

„Wie viel?“, fragte er.

Hinnerk hob fragend eine Augenbraue. „Wie viel was?“

„Wie viel Geld braucht ihr?“

„Oh!“ Er strich sich mit dem rechten Hand durch den Bart. „Nun, Lebensmittel, Kleidung, sonstiger alltäglicher Bedarf, Zeitungen, Putzmittel. Wie viel kannst du denn entbehren?“

Fabio Cassani winkte ab. „Unerheblich! Also: wie viel?“

„Zehntausend würden fürs Erste reichen, denke ich. Wenn nötig, holen wir uns mehr.“

„Gut“, stimmte Cassani zu und begann zu schreiben. Als er fertig war, zupfte er den Scheck aus dem Buch und hielt ihn Hinnerk hin.

Der sah aber gerade aus dem Fenster. Plötzlich riss er die rechte Hand hoch und zeigte hinaus. „Da! Die Kapelle! Wir sind da!“

Dabei schlug er Fabio das Scheckbuch aus der Hand, das auf den Boden des Helikopters purzelte.

„Oh! Tut mir Leid!“, beeilte er sich zu sagen und bückte sich nach dem Scheckbuch.

„Erstaunlich, was 150 Jahre ohne Gärtner so ausmachen“, sagte in diesem Augenblick Mark mit Blick auf die Kapelle. „Die ist ja völlig zugewuchert!“

Fabio Cassani sah aus dem Fenster, nickte und murmelte: „Ja.“ Dann wand er sich Hinnerk zu und hielt die Hand auf.

Der ließ das Scheckbuch in Cassanis Hand gleiten, nahm den ausgefüllten Scheck in Empfang und sagte: „Du hast Recht, Mark. Es kann auch sein, dass Aarons Zauber dafür gesorgt hat! Die Truhe versucht sich zu verbergen, also lässt sie ihr Versteck einfach zuwachsen. Bei den früheren Orten, an denen die Truhe aufbewahrt wurde, soll es ähnlich gewesen sein.“

Der Pilot drehte mit dem Hubschrauber noch zwei Runden über der Kapelle und Mark klebte förmlich am Fenster. Er sah das Loch im Dach, das der Baum gerissen hatte, und das von Klettergewächsen überwucherte Gemäuer. Das heißt, streng genommen sah er nur die Klettergewächse. Vom Gemäuer und den Seitenfenstern war nicht wirklich viel zu erkennen. Dafür sah er das große, verhältnismäßig freie Buntglasfenster am Kopfende der Kapelle, an dem sich selbst das Gestrüpp bisher die Zweige ausgebissen hatte. Stattdessen starrte es vor Dreck, als hätte das Fenster Schlamm und Matsch magnetisch angezogen.

Die Truhe versucht sich zu verbergen.

Mark schauderte. Was würde ihn dort drin erwarten?

Als der Hubschrauber vor der Kapelle landete, erkannte Mark, dass selbst das zweiflügelige Eingangstor von der grünen Flut nicht verschont geblieben war.

Ein kurzer Ruck ging durch den Helikopter und dessen Insassen, als die Kufen aufsetzten. Die Passagiere warteten noch einige Sekunden, bis der Rotor zur Ruhe gekommen war, dann nahmen sie die Kopfhörer ab und stiegen aus.

Langsam gingen sie auf das Tor zu. Mit jedem Schritt wurden Marks Beine schwerer, als wollten sie sich weigern, den Rest des Körpers in die Kapelle zu tragen, hin zu Christine, hin zur Truhe ... und vielleicht in den Tod!

Am liebsten wäre Mark stehen geblieben und hätte in ein Gebüsch gekotzt. Er musste aufstoßen und der strenge Geschmack von Magensäure machte sich in seinem Mund breit. Sein Herz pochte so heftig, dass er es in den Ohren pulsieren spürte. Und im Nacken fühlte er ein unheilvolles Kribbeln, als lägen Tausende von Blicken auf ihm.

Vor dem Tor blieben sie stehen.

„Und jetzt?“, fragte Mark.

Hinnerk klopfte ihm mit beiden Händen auf die Schultern. „Jetzt gehst du da rein und zeigst denen, aus welchem Holz ein Hüter geschnitzt ist!“

„Und ihr?“

„Tut mir Leid, Mark“, seufzte Hinnerk. „Aber wir müssen draußen bleiben. Erinnere dich an die Worte der Prophezeiung: So wie ich stellvertretend für alle Menschen die Strafe Gottes auf mich nehme, so muss er stellvertretend für alle Menschen ganz alleine beweisen, dass die Menschheit würdig ist, gerettet zu werden.“

Mark nickte.

„Alleine!“, betonte Hinnerk. „Das heißt, du gehst da jetzt rein und kommst erst wieder heraus, wenn du die Prüfungen abgelegt hast.“

„Oder gar nicht mehr“, murmelte Mark.

„Unsinn, mein Junge! Du wolltest doch kämpfen! Also geh rein und kämpfe.“

„Sag mir doch noch einmal, was für Prüfungen mich erwarten.“

„Die Seelentruhe wird die Kampfkraft seines Herzens prüfen, das Gold der Versuchung wird die Treue seines Herzens prüfen“, zitierte Hinnerk. „Was auch immer das bedeuten soll. Aber ich denke, du wirst es feststellen.“

„Das werde ich wohl. Wünscht mir Glück!“

Hinnerk machten einen Schritt auf Mark zu und schloss ihn in die Arme. „Glück ist etwas für Menschen, die nichts können. Du bist ein Hüter, Mark. Ach was, du bist der letzte Hüter! Du bist ein Kämpfer. So wie deine Ahnen! Du brauchst kein Glück! Also geh rein und mach sie platt. Ich stell schon mal das Bier kalt!“

Dann ließ er ihn wieder los und klopfte ihm noch einmal auf die Schultern.

„Viel Glück“, ließ sich auch Fabio Cassani zu einem Wortschwall hinreißen.

Na prima, dachte Mark. Wenigstens hat er nicht wieder gesagt: Wenn Sie versagen, stirbt die Welt.

Er atmete noch einmal tief durch, dann ging er die letzten paar Schritte zum Tor. Er griff nach dem völlig überwucherten schmiedeeisernen Kreuz, das als Türgriff diente, und zog.

Trotz des Gestrüpps und der Kletterranken, die das Tor in Besitz genommen hatten, glitt es widerstandslos auf.

Die Truhe versucht sich zu verbergen, dachte Mark. Und jetzt hat das Versteckspiel ein Ende! Sie lässt mich zu sich kommen.

Mit zwei Schritten, die weit entschlossener wirkten, als er sich tatsächlich fühlte, trat er ein. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden, zog er das Tor hinter sich zu.

Noch bevor sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnen konnten, das im hinteren Teil der Kapelle herrschte, hörte er eine leise Stimme.

„Hallo, Mark!“

Christine!

 

***

 

Hinnerk stöhnte unwillkürlich auf, als sich das Tor hinter Mark schloss.

„Jetzt können wir ihm nicht mehr helfen“, sagte er.

Fabio Cassani schwieg und starrte auf die Kapelle. Sein Gesicht war starr wie eine Porzellanmaske.

Aus dem Augenwinkel sah Hinnerk, wie sich aus der Krone einer Esche einige Meter neben der Kapelle ein Schatten löste. Sein Kopf zuckte herum, hin zu der Bewegung.

Sein Unterkiefer sackte herab, als er erkannte, was sich da aus dem Baum in die Luft erhoben hatte. Oder besser: wer!

Cresmonia Gwscore flitzte mit ihrem Besen auf die Kapelle zu, hoch auf das Dach, wo sie neben dem Loch landete.

„Da hol mich doch ...“, murmelte Hinnerk, begann sich aber sofort auf den Zauber zu konzentrieren, mit dem er die Hexe schon einmal vertrieben hatte. Aber gerade, als er die Arme spreizen wollte, um Cresmonia seine Kraft entgegenzuschleudern, legte ihm Fabio Cassani die Hand auf den linken Unterarm und versuchte, ihn herunter zu drücken.

Hinnerk sah zum Großmeister des Ordens hinüber.

„Lass los!“, sagte er. „Ich muss Mark helfen!“

Cassani schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht zulassen, dass die Hexe alles kaputt macht!“, sagte Hinnerk.

Cassani schüttelte immer noch den Kopf.

„Aber ...“, begann Hinnerk. „Aber ...“

„Du darfst nicht helfen!“, erinnerte Cassani den bärtigen Alten an die Prophezeiung.

Hinnerk ließ die Arme, aber auch die Schultern sinken. Trotz seiner Massen wirkte er urplötzlich klein und verletzlich.

„Du hast Recht!“, presste er zwischen knirschenden Zähnen hervor. „Du hast so verdammt Recht!“

Er sah hinauf zu Cresmonia, die ihm hämische Blicke zuwarf und sogar winkte!

Hinnerk ballte die Hände zu Fäusten, drehte sich um und stapfte zurück zum Helikopter.

 

***

 

Mark stand inmitten einer Insel aus Licht, die unter dem Loch im Dach ihren Kopf aus dem Meer der Düsternis streckte. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt und doch konnte er kaum glauben, dass das Bild, das sie ihm zeigten, der Wirklichkeit entsprach.

Er zwinkerte einmal, noch einmal, doch das Bild blieb das gleiche.

Langsam ging Mark durch den Mittelgang nach vorne. Der Boden war glitschig vom vergammelnden, feuchten Laub. Er verzog das Gesicht, als der modrige Geruch in seine Nase stieg.

Mit jedem Schritt nahm Mark mehr von der Szenerie am anderen Ende der Kapelle in sich auf.

Die Katan-Brüder hatten offensichtlich ihre eigenen Vorstellungen von der Einrichtung der Kapelle in die Tat umgesetzt. Mark konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass der Altar schon immer schief auf der linken Seite gestanden und das Taufbecken umgeworfen hatte.

Ein Schritt ...

Wie Mark erkannte, war der Altar nichts anderes als ein langer, schwerer Holztisch, der erst durch das Tuch an sakraler Ausstrahlung gewann. Oder besser: gewonnen hätte, denn das Tuch hing in Fetzen und bot einen eher traurigen Anblick. Auf dem Altartisch stand sie! Die Truhe!

Ein weiterer Schritt ...

Links und rechts neben dem Altartisch standen die Katan-Brüder und grinsten ihm entgegen. Der, der in Christines Zimmer seine Hand verloren hatte, war zu Marks allergrößtem Erstaunen nackt. Soweit Mark das im flackernden Dämmer erkennen konnte, war sein Körper sehnig und ausgezehrt.

Noch ein Schritt ...

Ein merkwürdiger Anblick, fürwahr. Ungleich schlimmer war aber das, was er dort sah, wo der Altar früher einmal gestanden haben musste. Vor dem Fenster am Kopfende der Kapelle war ein großes, hölzernes Kreuz in den Boden eingelassen. Und daran hing - Christine! Sie erinnerte fatal an ihren Urvater. Allerdings war sie nicht festgenagelt, sondern mit breiten Stoffstreifen um Handgelenke, Unter- und Oberarme festgebunden worden. Jetzt wusste Mark auch, was aus dem Kaftan des Einhändigen geworden war!

Der nächste Schritt ...

Am Fuß des Kreuzes war ein beachtlicher Haufen aus Holztrümmern errichtet worden. Trümmer, wie Mark jetzt erkennen konnte, die bis vor kurzem noch die ersten paar Bankreihen dargestellt hatten.

Noch ein Schritt ...

Das stetige Flackern in der Kapelle stammte von einigen dicken Kerzen, die die Katan-Brüder so in den Holzhaufen eingebaut hatten, dass nur etwa die obere Hälfte herausschaute und sie nicht umfallen konnten. Mark stockte der Atem! Zwischen den Holzsplittern konnte er noch einige Stoffstreifen erkennen. Vermutlich die Reste des Kaftans, die sie nicht mehr für Christines Fesselung gebraucht hatten. Wenn die Kerzen weit genug heruntergebrannt wären, würden sie die Stoffstreifen und die Holzsplitter in Brand setzen. Das, was Mark da vor sich sah, war nichts anderes als ein Scheiterhaufen mit primitivem Zeitzünder.

„Keine Angst, Christine“, sagte er und seine Stimme klang erstaunlich fest. „Ich hol dich gleich da runter!“

Christine lächelte ihm zu. In ihrem etwas zu weiten roten Schlafanzug sah sie verletzlich aus wie ein kleines Kind.

Sie ist ja auch ein Kind, schalt sich Mark selbst. Ungeachtet der Bedeutung, die sie für die Welt hat, ist sie dennoch nur ein Kind!

„Ich weiߓ, sagte sie mit zittriger Stimme. Und mit stetem Lächeln fügte sie hinzu: „Aber bitte beeil dich. Mir tun die Arme weh.“

Mark würgte den Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte.

„Natürlich, Schatz“, krächzte er.

Dann wandte er sich nach links und ging hinüber zu dem auf dieser Seite gar so deplaziert wirkenden Altartisch. Er sah den Katan-Brüdern in die Augen, erst dem angezogenen, dann dem nackten. Sie erwiderten seinen Blick, standen aber ansonsten regungslos und mit verschränkten Armen da.

„Na, dann wollen wir mal!“, sagte Mark.

Noch einmal nickte er sich selbst zu und griff mit feuchten Händen nach der Truhe. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, was passieren würde, wenn er sie berührte. Aber weder ertönte eine Fanfare, noch hielt die Welt den Atem an. Es geschah schlicht und ergreifend gar nichts.

Das Holz fühlte sich unter seinen Fingern kühl und trocken an. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er nie geglaubt, dass die Truhe schon 2000 Jahre alt war. Er hatte Stühle zu Hause, die sahen älter aus.

 Mark atmete tief durch. Dann schlug er den Deckel zurück.

Im nächsten Augenblick peinigte ein dissonantes Heulen Marks Ohren und trieb ihm die Tränen in die Augen.

Zum ersten Mal in seinem Leben stand Mark dämonischen Kreaturen gegenüber. Und wenn es nach ihnen ging, war es zugleich auch das letzte Mal ...

 

***

 

Ein frischer Frühlingswind umschmeichelte Cresmonias nackten Körper. Auch wenn sie dank ihrer Hexensalbe nicht fröstelte, spürte und genoss sie das Gefühl, von der Natur gestreichelt zu werden.

Mit einem breiten Grinsen sah sie dem bärtigen Alten unten vor der Kapelle zu, wie er zum Hubschrauber stapfte. Sie hatte vorhin dem Gespräch genau gelauscht, und deshalb wusste sie auch, dass Larsen auf sich alleine gestellt war. Und so musste sie natürlich auch nicht fürchten, dass der bärtige Dickwanst ihren Besen wieder in ein widerspenstiges Stück Holz verwandelte. Obwohl er ja nahe dran gewesen war, die Beherrschung zu verlieren. Aber, dem Gehörnten sei Dank, hatte ihn der kleine, strenge Grauschopf zurückgehalten.

Cresmonia spähte durch das Loch in die Kapelle. Direkt unter sich sah sie Larsen. Sie hätte ihm auf den Kopf spucken können, wenn sie gewollt hätte. Aber womöglich hätte sie ihm dann sogar noch geholfen, Schuppen oder Haarausfall zu behandeln.

Und dann setzte er sich langsam in Bewegung und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

„Keine Angst, Christine“, hörte sie ihn nach ein paar Sekunden sagen. „Ich hol dich gleich da runter!“

Jetzt schien es interessant zu werden!

Also begab sie sich wieder in ihre Kunstflugstellung und sank kopfüber an ihrem Besen hängend in die Kapelle. Wieder wagte sie nur, sich Zentimeter um Zentimeter vorzutasten.

Als sie endlich sehen konnte, was drinnen vor sich ging, war sie begeistert! Das Mädchen hing am Kreuz über einem Scheiterhaufen! So viel Kreativität hatte sie diesen merkwürdigen Gestalten gar nicht zugetraut.

Oh ja, hier lag tatsächlich das Versprechen nach viel Spaß in der Luft.

Larsen hatte ihr den Rücken zugewandt und der nackte Holzfäller und der Schneider hatten nur Augen für den Hüter. Auch das Balg in dem roten Schlafanzug schien sich völlig auf ihren neuen Babysitter zu konzentrieren.

Also glitt Cresmonia unbeobachtet in die Kapelle hinein, landete leise, huschte aus dem Lichtschein und verkroch sich hinter einem dicken, hölzernen Balken.

Von ihr aus konnte die Show beginnen. Schade, dass es kein Popcorn gab ...

 

***

 

Kaum hatte Mark den Deckel der Truhe geöffnet, schossen zwei schwarze, heulende Wolken hervor. Sie stiegen in die Luft und wirbelten um die eigene Achse. Das Heulen wurde immer lauter und schriller. Es stach in Marks Ohren, drohte sein Trommelfell zu zerfetzen, ihn in den Wahnsinn zu treiben.

Aber genauso schnell wie es erklungen war, verstummte es wieder.

Benommen schüttelte Mark den Kopf.

Die Wolken stanken nach Verwesung, Exkrementen und allem Bösen der Welt. Wie öliger Qualm standen sie in der Luft. Doch plötzlich schossen sie aufeinander zu, umtanzten sich einmal, noch einmal, lösten sich voneinander und rasten auf die Katan-Brüder zu ... und in sie hinein.

Die rissen die Köpfe zurück und stöhnten auf.

Mark stand da, beobachtete die Brüder, die die letzten zweitausend Jahre als Statuen verbracht hatten, und wirkte dabei so, als wäre nun er in einen Steinernen verwandelt worden.

Mark lief ein Schauer über den Rücken, als er ein widerliches Knirschen hörte. Es kam aus dem halb geöffneten Mund des nackten Katan.

Die Eckzähne des Einhändigen schoben sich aus dem Kiefer. Gleichzeitig wurden sie spitzer, wie auch immer das möglich war!

Die Katans hatten ihre Seelen wieder! Ihre schwarzen Seelen! Sie hatten sich zurückverwandelt in blutgierige Vampire.

„Scheiße!“, murmelte Mark.

Jetzt erst war er aus seiner Erstarrung erwacht. Was sollte er tun?

Er verfluchte sich selbst. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, hier einfach so hereinzuspazieren, ohne sich irgendwie vorzubereiten oder auszurüsten? Was hatte er denn gedacht, was ihn hier erwarten würde? Die freundlichen Katans, die ihm Christine in die Hand drückten, sich noch einmal für die Unannehmlichkeiten entschuldigten und ihm zum Abschied hinterher winkten?

Blödsinn!

Wie hatte er in den letzten Tagen Hinnerk in den Ohren gelegen, sie müssten gegen die schwarze Brut kämpfen. Sie aufstöbern, sie vernichten, wann immer es ging.

Toller Vorsatz!

Und jetzt stand er hier, hatte zwei leibhaftige Vampire vor sich und wusste nicht, was er tun sollte.

Waffe! Er brauchte eine Waffe!

Er machte zwei vorsichtige Schritte zurück, ohne dabei die Katans aus den Augen zu lassen, die ihn gierig angrinsten. Aus dem Augenwinkel sah er den flackernden Schein, den die Kerzen an die Wand der Kapelle warfen.

Feuer!

Mit Feuer konnte er die Vampire vernichten!

Also tappte er rückwärts zum Scheiterhaufen. Ein Schritt, noch einer und noch einer, dann hatte er den Holzstoß erreicht. Den Blick weiterhin nur auf die Katans gerichtet ging er in die Knie und tastete mit der rechten Hand hinter sich. Seine Finger glitten über die zerborstenen Bänke, fühlten die Trümmer, aber fanden keine Kerze.

Da fauchten die Vampire ihn an. Sie sagten etwas in einer kehlig klingenden Sprache, was nicht die Spur von freundlich klang. Dann setzten sie sich in Bewegung. Auf Mark zu!

„Scheiße!“, fluchte Mark noch einmal.

Er drehte sich zum Scheiterhaufen hin, griff zu der Kerze, die ihm am nächsten war, und zog sie vorsichtig heraus. Er wollte keinesfalls riskieren, dass dadurch der Haufen zusammenbrach und womöglich sofort in Brand gesetzt wurde.

Als er die Kerze endlich befreit hatte, schoss er hoch, drehte sich auf den Hacken sofort wieder um - und starrte in das verzerrte Gesicht des nackten Vampirs.

Mit einer fahrigen Bewegung riss er die Kerze hoch und reckte sie dem Katan entgegen.

In diesem Augenblick erst wurde Mark bewusst, wie lächerlich die Idee mit der Kerze war! Der Tatsache, dass der Vampir sie einfach auspustete, hätte es dazu gar nicht mehr bedurft.

Mark ließ die Kerze fallen. Noch bevor sie mit einem dumpfen Poltern auf dem Boden aufschlug, krachte die Faust des Vampirs gegen Marks Kinn und schleuderte ihn quer durch den Altarraum und an die Wand. Sein Hinterkopf knallte gegen die Holzvertäfelung, auf der der Leidensweg Jesu dargestellt war. Vor seinen Augen zerplatzten Tausende von Sternen. Auf den Lippen schmeckte er Blut.

Wieder drang ein Fauchen an seine Ohren, aber er war sich nicht sicher, ob es nicht viel mehr ein Lachen darstellen sollte. Als das Feuerwerk vor seinen Augen endlich abgeklungen war, sah er den angezogenen Katan, der breitbeinig über ihm stand. Sein Gesicht war schneckenbleich, die Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzerrt.

Er bückte sich, packte Mark am Hemdkragen und zerrte ihn hoch. Langsam zog er ihn auf sich zu, näher und näher, bis sich fast ihre Nasen berührten.

In diesen Sekunden durfte Mark feststellen, dass man nicht unbedingt atmen musste, um bestialischen Mundgeruch zu haben.

Rurrh’katan zog die Lippen hoch und fauchte Mark an. Mark verzog das Gesicht, als ihm erneut der Hauch von fauligem Fleisch um die Nase wehte.

Wie können die eigentlich fauchen, wenn sie keine Luft in der Lunge haben?, fragte sich Mark.

Interessante Frage, dachte er sich im nächsten Augenblick. Wenn du nicht bald etwas unternimmst, wirst du sie dir selbst beantworten können. Denn dieses Arschloch sieht verdammt hungrig aus!

Mit beiden Fäusten prügelte Mark auf die Arme des Vampirs ein, auf die Schultern und den Kopf. Aber es war sinnlos! Der Blutsauger ließ nicht los.

Das war’s dann wohl, großer Dämonenjäger, zuckte es Mark durch den Kopf. Gleich deine ersten Vampire haben dich überfordert!

Doch offensichtlich hatte Rurrh seinen Hunger im Griff, denn statt Mark zur Ader zu lassen, hob er ihn hoch und schleuderte ihn in die Überreste der vorderen Kapellenbänke.

Der Aufschlag presste Mark die Luft aus den Lungen. Unter sich hörte er das Knirschen und Knacken der Holztrümmer, die die Vampire nicht im Scheiterhaufen verbaut hatten. Und unter seiner rechten Hand fühlte er ein splittriges, raues Bruchstück. Automatisch schlossen sich seine Finger darum.

Rurrh’katan stand einige Meter rechts von Mark und grinste ihn an. Da kam von links der andere Vampir auf ihn zu. Mit seiner einzigen Hand bedeutete er Mark aufzustehen.

 Lass uns spielen!, schien seine Geste zu sagen.

Mark rappelte sich hoch. Es gab kaum einen Körperteil, der nicht vor Schmerzen brüllte. Auf zittrigen Beinen stand er da wie ein neugeborenes Kalb und erwartete den nackten Vampir.

Der schlenderte auf ihn zu. Sein Grinsen verhieß noch mehr Schmerz und den Tod. Oder den Untod.

Dann blieb er einen Augenblick lang stehen, gewährte Mark noch einen Panoramablick auf ein paar imposante Augenzähne und rannte im nächsten Moment mit lautem Brüllen auf Mark zu.

Für den Bruchteil einer Sekunde war Mark überrascht von der Geschwindigkeit, die der Vampir so plötzlich entwickelte, aber sofort als er erkannte, dass die Zeit des Spielens jetzt wohl vorbei und die Zeit für Mittagessen angebrochen war, riss er den improvisierten Pflock hoch und hielt ihn dem heranstürmenden Vampir entgegen. Der konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und Mark hörte ein ekliges Krachen, als der Nackte mit ihm zusammenprallte.

So hören sich also brechende Rippen an, die von einem Pfahl durchstoßen werden, dachte Mark und eine Welle der Befriedigung überspülte ihn.

Doch nur einen Augenblick später war wieder Ebbe in Marks Gefühlswelt. Als nämlich der Vampir sichtlich erstaunt einen Schritt zurück machte und an sich herabsah, erkannte Mark, dass es keineswegs die Rippen des Blutsaugers gewesen waren, die er hatte brechen hören, sondern sein viel zu dünnes Bruchstück aus dem morschen Holz der Kapellenbänke.

Mark seufzte.

Aus! Vorbei! Und du hattest nicht einmal den Hauch einer Chance!

Auf der Brust des nackten Vampirs entdeckte Mark eine etwa zwanzig Zentimeter lange Risswunde, die ihm der Möchtegern-Pflock in die Haut gepflügt hat. Die aufklaffenden Hautfetzen waren bleich und fast durchscheinend. Nicht ein Tropfen Blut floss aus der Wunde.

Mark glaubte auch nicht, dass der Blutsauger Schmerzen spürte. Und trotzdem funkelte der Zorn in seinen Augen. Vermutlich konnte er nicht fassen, wie es so ein Wicht von einem Menschen wagen konnte, ihn vernichten zu wollen!

Mit einem langen Schritt war er wieder bei Mark. Er brüllte ihm ein paar kehlige Worte ins Gesicht und erneut schwappte Mark der Geruch nach verfaultem Fleisch entgegen. Mit einem ansatzlosen Schlag trieb er Mark die Faust in den Magen. Und als der sich vor Schmerz nach vorne krümmte, bekam er die Faust aufs Kinn. Auf genau die gleiche Stelle, die von dem vorigen Schlag noch vor Freude jubilierte.

Er hatte das Gefühl, von einem ICE angefahren worden zu sein. Die unmenschliche Kraft des Hiebs schleuderte ihn zurück in den Mittelgang der Kapelle, wo er noch etliche Meter auf dem schmierigen Laubfilm entlang schlidderte, bis er endlich zum Liegen kam.

Wieder zündete vor seinen Augen ein Feuerwerk und blendete ihn. Doch als der letzte Stern explodiert war, war er immer noch geblendet. Aus tränenden Augen blinzelte er nach oben und sah einen Raubvogel, der am Himmel über der Kapelle einsam seine Kreise zog.

Mark lag genau unter dem Loch im Dach! Im Sonnenlicht! Oder mit anderen Worten: in Sicherheit!

Zumindest bis die Sonne unterging.

Er sah nach vorne. Die Vampire standen vor dem Scheiterhaufen im Dämmerlicht und grinsten ihn an. Sie wussten, dass sie ihm nichts antun konnten, so lange er Ferien auf dieser Insel aus Licht machte. Sie wussten aber auch, dass er dort nicht für ewig bleiben konnte, wenn er nicht riskieren wollte, dass Christine innerhalb absehbarer Zeit in Flammen aufging.

Was sollte er jetzt tun? Fliehen? Die Kapelle verlassen?

Nein, undenkbar!

Das würde Christines Tod bedeuten. Und somit den Tod der Welt.

Zurückkehren zu den Vampiren? Aber welche Chancen hatte er gegen sie, wenn sie die Sicherheit des Dämmerlichts auf ihrer Seite hatten? Etwa soviel wie ein Schokokuss auf einem Kindergeburtstag!

Es müsste ihm irgendwie gelingen, die Schwarzblütler unter das Loch ins Sonnenlicht zu locken. Aber da könnte er auch versuchen, ein Huhn dazu zu überreden, sich erst freiwillig auf den Grill zu legen und anschließend in seinen Mund zu spazieren.

Mark sah wieder nach oben.

Der Raubvogel war verschwunden. Er sah nur noch das Blau des Himmels und ...

Meine Güte, Larsen, wie kann man nur so dämlich sein?, dachte er plötzlich.

Mit schmerzenden Knochen stand er auf und klopfte sich das verwitterte Laub vom Hemd. Dann straffte er die Schultern und ging festen Schrittes auf die Vampire zu.

Die warfen sich einen kurzen Blick zu. Mark glaubte, die Fragen hören zu können, die hinter diesem Blick standen.

Ist er jetzt größenwahnsinnig geworden? Hat er immer noch nicht genug?

Als er das Trümmerfeld der zerstörten Bänke erreicht hatte, blieb er stehen. Er suchte ein Holzstück, dass etwas stabiler aussah als das, mit dem er vorhin so kläglich versagt hatte. Stattdessen sah er etwas viel Besseres: Inmitten der Holztrümmer lag ein unterarmlanger Kerzenständer!

Hätte er einige Minuten mit Cresmonia Gwscore auf dem Dach verbracht gehabt, dann hätte er gewusst, dass der Kerzenständer ein Werkzeug war, mit dem der Nacktvampir auf die Kapellenbänke eingeschlagen hatte, was ihm bei Cresmonia den Namen Holzfäller eingebracht hatte. Da er es nicht wusste, hielt er ihn einfach für ein Geschenk Gottes.

Er machte zwei schnelle Schritte nach links zu dem Kerzenständer und hob ihn auf. Er lag gut in der Hand, war schwer ... und absolut ungeeignet, einem Vampir damit zu Leibe zu rücken.

Das wussten die Katans, die ihn neugierig aber keineswegs beunruhigt beobachteten.

Das wusste auch Mark. Dennoch hob er den Kerzenständer über den Kopf, rannte laut schreiend auf den nackten Vampir zu ... und an ihm vorbei.

Und da erkannte auch der Katan, was Mark vorhatte. Er riss die Augen auf. Der Schrecken war ihm ins Gesicht geschrieben. Mit der linken Hand griff er nach Mark, wollte ihn am Oberarm packen und zurückreißen. Doch da er seine linke Hand als Staubhäufchen in Christines Zimmer zurückgelassen hatte, fühlte Mark zwar noch, wie der Stumpf des Unterarms ihn berührte, aber dann war er auch schon vorbei.

Mit einem letzten Aufschrei schleuderte Mark den Kerzenständer an Christine vorbei, hinein in das Buntglasfenster hinter dem Kreuz. Ohrenbetäubendes Scheppern brandete durch die Kapelle, als das Fenster in Tausende von Scherben zersplitterte und die Pforten öffnete für das so lange ausgesperrte Sonnenlicht.

Das Scheppern war noch gar nicht richtig verklungen, da wurde es abgelöst vom Kreischen der Vampire.

Mark zirkelte herum.

Er sah die Katans, die das vermutlich erste und ganz sicher letzte Sonnenbad ihrer schwarzen Existenz nahmen. Ihre Haut warf Blasen, qualmte, platzte auf und spie kleine Fontänen aus grauem Staub. Schlagartig verstummte das Kreischen. Stattdessen hörte Mark ein dumpfes Pfffummbf. Dort, wo gerade noch die Vampire gestanden hatten, wirbelten zwei Staubwolken auf, zerbarsten, als hätte jemand in einen Haufen Asche geniest, und sanken zu Boden.

Marks Schultern sackten nach unten, als die Anspannung seinen Körper verließ.

„Da hättest du auch eher drauf kommen können“, murmelte er.

Christine hatte ihn dennoch verstanden.

„Aber echt!“, sagte sie. „Machst du mich jetzt endlich ab? Bitte!“

 

***

 

Cresmonia hatte sich königlich unterhalten! Alles war ihr geboten worden.

Überraschung, als sich der Holzfäller und der Schneider plötzlich in Vampire verwandelt hatten.

Spannung, als der Kampf zwischen Larsen und den Blutsaugern abgelaufen war.

Genugtuung, als Larsen, der ihr so unerträgliche Schmerzen zugefügt hatte, sich selbst vor Schmerzen gewunden hatte.

Mitgefühl mit Larsen, erstaunlicherweise aus dem gleichen Grund.

Und Stolz auf ihren Mark Larsen, als er endlich die Kraft hatte aufblitzen lassen, die sie früher so an ihm geliebt hatte.

Und jetzt war alles vorbei. Die Show war vorüber und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis der strahlende Held in den Sonnenuntergang reiten würde.

Aber das konnte Cresmonia nicht zulassen! Sie mochte es selbst kaum glauben, aber als sie so hinter ihrer Säule gestanden und den Kampf beobachtet hatte, waren Gefühle in ihr aufgelodert, die sie für längst vergangen gehalten hatte.

Nein, keinesfalls würde sie ihn töten, wie sie es noch vorgestern auf dem Flugfeld am liebsten getan hätte.

Aber genauso wenig würde sie ihn alleine in den Sonnenuntergang reiten lassen. Wenn hier geritten wurde, dann nur ... nun ja ...

Sie würde ihn schon davon überzeugen, dass es besser für ihn wäre, sich um das große Mädchen zu kümmern, statt um das kleine. Oh ja, das würde sie! Sie konnte sehr überzeugend sein, wenn sie wollte. Ein sabbernder Muskelprotz mit ausgebranntem Hirn in einer kleinen Wohnung in Hamburg hätte davon ein Lied singen können, sofern es ihm noch möglich gewesen wäre, andere Laute als Gargl und Blbrng von sich zu geben.

Aber vielleicht sollte sie dennoch dafür sorgen, dass er sich bei ihrem Anblick innerlich nicht gleich gegen sie auflehnen würde. Das würde den Beeinflussungszauber nur unnötig erschweren.

Gib dir ein anderes Aussehen, dass er dich nicht erkennt!

Wie erstaunt wäre die Hexe gewesen, hätte sie gewusst, dass Mark Larsen der festen Überzeugung war, sie überhaupt nicht zu kennen!

Sie berührte mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger die Lippen und benetzte sie mit Speichel. Das Gleiche tat sie mit Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand. Dann schloss sie die Augen, streichelte mit den feuchten Fingern über die Lider, murmelte beinahe unhörbar ein paar melodiös klingende Worte und klopfte abschließend mit dem linken kleinen Finger siebenmal in die rechte Handfläche.

Sie schüttelte den Kopf und mit jedem Schütteln wurden ihre Haare länger und dunkler. Es dauerte nicht lange und ihr schulterlanges, blondes Haar schimmerte mattschwarz bis zu den Hüften. Auch ihr Gesicht veränderte sich. Die Nase wurde etwas länger, die Lippen etwas voller, die Feenaugen glitzerten plötzlich beide in der gleichen Farbe, nämlich einem sanften Rehbraun.

Natürlich fanden diese Veränderungen nicht tatsächlich statt. Es war nur ein Illusionszauber, den sich Cresmonia übergezogen hatte wie ein Kleid.

Und als sie der Meinung war, dass ihr das Kleid gut genug stand, trat sie hinter dem Holzbalken vor.

 

***

 

Mark, der noch ganz versonnen auf die Aschehäufen starrte ... Nein, falsch! Mark, der noch ganz versonnen auf seine ersten vernichteten Vampire starrte, wand sich um und sah zu Christine.

„Natürlich hole ich dich herunter!“, lachte er. In diesem einen Satz schwang eine bunte Palette von Gefühlen mit. Befriedigung, Befreiung, Glück, Stolz - und väterliche Liebe.

Mark war selbst überrascht davon. Freilich war Christine ein nettes Mädchen, natürlich war sie der momentane Garant für das Weiterbestehen der Welt. Das änderte aber nichts daran, dass er sie erst seit ein paar Tagen kannte. Und dennoch durchströmte ihn bedingungslose Liebe zu dem Kind.

Er ging zu dem Scheiterhaufen und löschte die Kerzen. Dann räumte er die Holztrümmer weg, warf sie einfach achtlos zur Seite oder nach hinten. Als er schließlich vor dem befreiten Kreuz stand, legte er den Kopf in den Nacken und sah hinauf zu Christine.

Und wie sollte er jetzt da hinauf kommen, um sie loszubinden?

Sein Blick durchstreifte die Kapelle und blieb an dem Altartisch hängen. Sicherlich hatten auch die Katans ihn benutzt, um Christine da oben festzuzurren, bevor sie ihn zur Seite geschoben hatten.

Mark ging hinüber zum Altar. Noch immer spürte er jeden Knochen im Leib. Hoffentlich schaffte er es, den Altartisch auch nur um ein paar Zentimeter zu verrutschen. Denn andernfalls müsste er ...

Plötzlich stockte er.

Er hatte gerade den Altartisch erreicht. Und jetzt stand er vor dem fadenscheinigen und zerfetzten Altartuch, vor der geöffneten Seelentruhe ... und vor dem Stoffpäckchen, das darin lag.

Mark erinnerte sich an Hinnerks Erzählung, die auf dem Bericht Gabriels, des ersten Hüters, beruhte. In der Nacht als Jesus seine Tochter Gabriel anvertraute, hatte er sein Blut auf eine Goldmünze getropft, die Münze in Stoff eingeschlagen und sie in die Truhe gelegt. Und da lag sie noch immer. Direkt vor Mark. Zum Greifen nahe.

Er fröstelte bei dem Gedanken.

Man stelle sich das einmal vor! Nicht nur eine Goldmünze, die aus der Zeit Jesu stammt. Nein, sie war auch mit seinem Blut veredelt! Welchen unschätzbaren Wert mochte diese Münze wohl haben?

Automatisch streckte Mark die Hand aus und griff in die Truhe. Er holte das zusammengefaltete Stofftuch heraus und legte es sich auf die linke Handfläche. Mit zittrigen Fingern schlug er das Tuch zurück, öffnete Lage um Lage, bis er sie schließlich sah. Die Münze!

Sie sah aus wie neu. Nun ja, wenn man von dem verkrusteten Blut absah.

Er nahm sie in die rechte Hand, ließ sie durch die Finger gleiten, fühlte die Kühle des wertvollen Metalls.

„Davon können wir unseren ersten Liebesurlaub bezahlen“, sagte plötzlich eine rauchige Stimme hinter ihm.

Mark fuhr herum.

Im Mittelgang stand eine atemberaubende Schönheit! Lange schwarze Haare, sehr exotisches Äußeres - und sie war nackt. Das war außergewöhnlich genug. Aber noch außergewöhnlicher war, dass sie einen Besen in der linken Hand hielt.

Doch noch bevor Mark sich darüber wundern konnte, spürte er, wie etwas nach seinem Gehirn griff ...

 

***

 

Cresmonia lächelte ihn an. Da stand er nun, ihr Mark Larsen. Bald würde er ihr mit Haut und Haaren gehören und dann würden sie alles nachholen, was sie bisher verpasst hatten.

„Willst du nicht zu mir kommen?“, fragte sie.

Mark sagte nichts und starrte sie nur an.

Sie verstärkte ihren geistigen Griff, packte noch etwas fester zu und sah, wie Mark zusammenzuckte.

Er schien zu überlegen. Sein Blick geisterte durch die Kapelle, hin zu dem Gör im roten Schlafanzug, von dort zu Cresmonia und wieder zurück zu Christine.

Er kann sich nicht entscheiden!, dachte Cresmonia. Aber wie kann das sein? Sperrt er sich trotz meiner Verkleidung gegen mich?

„Vergiss sie!“, befahl sie und drückte geistig noch fester zu. Sie senkte ihre neue rauchige Stimme auf einen schmeichelnden Tonfall: „Was interessiert dich ein kleines Kind, Mark? Ich hab dir doch viel mehr zu bieten!“

Bei diesen Worten strich sie sich über die nackten Brüste.

„Lade nicht so eine Last auf dich, mein Süßer“, flötete sie. „Du kannst nicht die ganze Welt retten. Aber du kannst dich selbst retten. Komm zu mir. Komm mit mir. Mit mir wirst du den Himmel auf Erden erleben!“

Mark wandte seinen Blick von Christine ab und sah Cresmonia an. Um seine Lippen lag der Hauch eines Lächelns.

„So ist es brav!“, lobte Cresmonia. Ihre Stimme war Honig, golden und süß. „Sicherlich findet sich ein Anderer, der sich um die Kleine kümmern wird. Was hat sie dir denn schon zu bieten? Ein Leben in Gefahr! Ein Leben im Verborgenen! Sie macht dich zu ihrem Knecht. Aber ich mache dich zu meinem König! Und glaube mir, dein Zepter ist bei mir in guten Händen.“ Sie lachte.

Mark sah noch einmal rasch zu Christine, dann versank er wieder in Cresmonias braunen, lockenden Augen.

„D-du ... du ... hast Recht“, hauchte er.

Ja!, jubilierte die Hexe. Ich hab ihn!

„Ich weiߓ, sagte sie wesentlich ruhiger als sie sich fühlte. „Du bist nicht dafür gemacht, ein Leben am Randes des Todes zu führen.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. „Am Rande meines Bettes ist es angemessener für dich!“ Dann wurde sie wieder ernst. „Ich konnte euch hier an diesem geheimen Ort finden. Und ich weiß, dass auch die richtig bösen Buben euch finden werden, egal wo ihr euch versteckt. Deshalb ist das beste Versteck für dich bei mir!“

Mark grinste lüstern. „Das glaube ich gerne“, sagte er und musterte ihren Busen. „Wie hast du uns überhaupt gefunden?“

Mit dem Nagel ihres rechten Zeigefingers strich sie ihm über die Stirn, am Nasenrücken entlang und über die Lippen.

„Wen interessiert denn das noch?“, fragte sie. „Ab jetzt bin nur noch ich für dich wichtig. Nicht mehr dieses Kind dort. Und nicht mehr der Orden. Nur noch ich! Warum solltest du dem Orden trauen, wenn er sich eigentlich selbst nicht trauen dürfte?“

„Der Orden hat dir verraten, dass wir hier sind?“

Cresmonia lächelte und zuckte mit den Schultern. Doch dann nickte sie. „Natürlich, Dummerchen. Was dachtest du denn?“

Mark hob die linke Hand und streichelte Cresmonias Brust. Dann beugte er sich nach vorne und küsste die Brustwarze.

„Ich dachte, der Orden beschützt das Kind!“, sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte.

Cresmonia lachte. „Tja, da hast du ja auch Recht! Zumindest theoretisch. Aber trotzdem gibt es da einen, der das anders sieht als die Anderen.“

„Und wer ist das?“

Cresmonia zuckte zurück. „Was soll denn das jetzt?“, fragte sie und verstärkte vorsichtshalber noch einmal ihren mentalen Griff. „Du interessierst dich nur noch für mich, ist das klar?“

„Ja“, sagte Mark. „Natürlich.“

„Na also!“

Mark lachte.

„Was gibt’s denn da zu lachen?“, fragte Cresmonia.

„Ich stelle mir nur gerade die Gesichter der Ordensmeister vor, die alles versuchen, um das Kind in Sicherheit zu bringen, und sich immer wieder wundern, wenn es nicht klappt.“

Zuerst hatte die Vorstellung auch für Cresmonia etwas Erheiterndes. Dennoch blieb ihr das Lachen im Hals stecken. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum interessierte sich der Kerl für mehr als sein Zepter und seine Königin? Man konnte fast meinen, er stünde gar nicht unter ihrem Bann. Aber das war natürlich unmöglich.

„Und das findest du komisch?“, fragte sie.

„Ja!“, sagte er. „Komm, jetzt sei nicht so! Sag mir, wer der Spaßvogel ist.“

Cresmonia überlegte einen Augenblick. „Nein!“, sagte sie dann.

„Schade!“, antwortete Mark.

Dann riss er die rechte Hand hoch und drückte Cresomina die Goldmünze auf die Stirn.

 

***

 

Es war eigenartig gewesen. Mark hatte genau gefühlt, wie Cresmonia mit ihren geistigen Fingern nach seinem Verstand gegriffen hatte. Denn um niemand anderen konnte es sich bei dem schwarzhaarigen Miststück handeln. Und für einen Augenblick war er ihr auch erlegen. Doch dann war er ihr wieder entglitten wie ein feuchtes Stück Seife.

Aber seltsamerweise schien sie nichts davon zu bemerken. Im ersten Moment war er verdattert, als sie ihm befahl, zu ihr zu kommen. Er sah zu Christine und hätte sie am liebsten um Rat gefragt, aber das wagte er nicht. Denn dann hätte er Cresmonia auch gleich sagen können, dass ihr Zauber nicht wirkte.

Also hatte er sich entschlossen mitzuspielen. Er wollte die Chance nutzen und herausfinden, wer der zweite Verräter war. Anfangs hatte sie ihm offensichtlich sein Theater abgekauft, aber am Ende schien sie doch Lunte gerochen zu haben.

Er wusste nicht, warum er auf den Gedanken gekommen war, ihr die Münze auf die Stirn zu pressen. Es war ihm ganz plötzlich wie eine verdammt gute Idee erschienen.

Und tatsächlich! Es war eine verdammt gute Idee.

Plötzlich erklang ein lautes Zischen und Brutzeln, als würde man ein Steak in eine heiße Pfanne voller Fett werfen. Die geballte Magie des Guten, die Jesu Blut innewohnte, wandte sich mit aller Kraft gegen die Hexe.

Sie riss die Augen auf. Die Farbe ihrer Augen wechselte von Braun zu Blau zu Grün und wieder zurück. Was aber immer gleich blieb, war der Schmerz, der in den Augen lag.

Cresmonia stieß ein schrilles Kreischen aus. Für eine Sekunde sah sie keineswegs mehr jung und hübsch aus, sondern erinnerte eher an einen verschrumpelten Apfel, der schon mehrere Tausend Jahre auf dem Buckel hatte.

Die Münze wurde glühend heiß. Mark glaubte auch zu fühlen, dass sie sich verflüssigte, so als ob sie schmolz. Dennoch spürte er keinerlei Schmerz in der Handfläche.

Cresmonias Kopf zuckte zurück. Im gleichen Augenblick war sie wieder eine glatthäutige Schönheit und kein verschrumpelter Apfel mehr. Dennoch hatte ihre Schönheit einige kleinere Fehler. Da war zum Beispiel das Haar, das auf der rechten Seite hüftlang und schwarz, auf der anderen aber nur schulterlang und hellbraun war. Da waren die Augen, von denen das linke blau war, während das rechte gerade von Braun zu Grün wechselte. Am auffälligsten jedoch war der knallrote Abdruck der Münze, der sich in ihre makellose Stirn gefressen hatte.

Langsam ging Cresmonias Kreischen in ein weinerliches Gejammer über. Noch einmal sah sie Mark tief in die Augen. Ihr Blick wirkte ... ja, irgendwie traurig.

Dann klemmte sie sich den Besen zwischen die Beine, stieß sich vom Boden ab, jagte durch die Kapelle, vorbei an Christine, der sie noch einen verächtlichen Blick zuwarf, und hinaus durch das ehemalige Buntglasfenster.

Mark holte tief Luft.

„War’s das jetzt?“, fragte er. „Will sich noch jemand mit mir anlegen?“

Als sich niemand meldete, sah er wieder zu Christine. Dann grinste er sie breit an.

„Wo waren wir stehen geblieben?“

 

***

 

Hinnerks Lachen dröhnte durch das Edwinstowe Valley und schreckte einige der Tiere auf, die gerade dabei waren, sich auf diesem bisher unberührten Stückchen Erde heimisch einzurichten.

„Und du hast diesen schweren Altar ganz alleine wieder unter das Kreuz gezerrt? Warum hast du mich nicht um Hilfe gebeten?“ Wieder ertönte sein Lachen und es schwang eine gehörige Portion Erleichterung darin mit.

„Ich wusste doch nicht, ob die Prüfungen schon beendet waren“, verteidigte sich Mark. „Und denen musste ich mich ja alleine stellen.“

„Du magst ein großer Kämpfer sein, mein Junge“, sagte Hinnerk. „Aber ein großer Zähler bist du nicht! Es ist doch offensichtlich! Die Seelentruhe hat die Kampfkraft deines Herzens geprüft. Das waren die Katans. Und das Gold der Versuchung hat die Treue deines Herzens geprüft. Das war Cresmonia, die du mit der Goldmünze vertrieben hast. Danach hättest du mich jederzeit holen können!“

„Na ja ...“, setzte Mark an, wurde aber gleich wieder unterbrochen.

„Was ist eigentlich mit der Goldmünze?“, fragte Hinnerk.

Mark griff in seine Hosentasche und zog etwas hervor, das aussah wie ein ausgekauter und breit getretener goldener Kaugummi. „Geschmolzen!“, sagte er. „Ich glaube kaum, dass sie noch magische Kräfte hat.“

Hinnerk schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich auch nicht. Außerdem war es nicht die Münze, die magische Kräfte hatte, sondern das Blut. Und von dem ist gar nichts mehr zu sehen. Ich bin sicher, wenn die Hexen nicht geflohen wäre und du ihr das Blut des Herren noch länger gegen die Stirn gedrückt hättest, hättest du sie damit töten können.“

Christine, die in ihrem Schlafanzug neben dem knorrigen Hinnerk recht verloren wirkte, sah zu den beiden auf. „Und was machen wir jetzt? Geht’s wieder in unser neues Haus?“

Hinnerk grinste. „Nein, ich habe eine Überraschung für euch. Wir gehen einkaufen! Wir lassen uns von dem Helikopter in London absetzen. Dort kaufen wir dir etwas Anständiges zum Anziehen. Du kannst ja schlecht im Schlafanzug durch Frankfurt laufen.“

„Frankfurt?“, echote Christine.

„Ja! Wir chartern eine Maschine, fliegen nach Frankfurt und machen dort ein paar kleinere Besorgungen.“

„Und was?“

„Das wird nicht verraten!“ Hinnerk lächelte. „Ich hab doch gesagt, es wird eine Überraschung!“

Christine grinste. Sie ahnte schon, was für eine Überraschung das sein konnte. Dann runzelte sie die Stirn. Ihr war plötzlich etwas ganz Anderes eingefallen. „Wie konnten mich die Vampire bei Tageslicht überhaupt aus dem Haus holen? Sie hätten doch zu Staub zerfallen müssen.“

Hinnerk schüttelte mit dem Kopf. „Zu diesem Zeitpunkt waren sie keine Vampire, weil ihre schwarzen Seelen in der Truhe gefangen waren. Also konnte ihnen das Sonnenlicht auch nichts anhaben. Sie konnten in dieser Zeit aber auch nichts Böses tun. Ihre Lichtempfindlichkeit kam erst zurück, als sie wieder zu Vampiren wurden. Verstehst du?“

„Nein“, sagte Christine. „Denn dann hätte ihnen ja auch das Kreuz in der Kirche etwas ausmachen müssen. Hat es aber nicht!“

Hinnerk nickte. „Du hast Recht. Aus der Vergangenheit des Ordens wissen wir, dass das Kreuz schmerzhaft auf Vampire wirkt, selbst wenn sie aus einer Zeit stammen, bevor das Kreuz zu einem religiösen Symbol wurde. Das liegt daran, dass sie sich genauso mitentwickelt haben wie das religiöse Verständnis der Christenheit. Bei den Katans ist es aber anders. Sie hatten 2000 Jahre lang Sendepause und nichts von den Entwicklungen mitbekommen. Ich nehme an, dass es daran liegt, dass ihnen das Kreuz nicht schaden konnte.“

„Ach so!“, sagte Christine. Damit war ihr Wissensdurst aber noch immer nicht gestillt. Sie wandte sich Mark zu. „Und warum hat der Bannzauber der Hexe bei dir nicht gewirkt?“, fragte sie ihn.

Mark zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung! Wird wohl daran liegen, dass ich noch nie gemacht habe, was andere wollen.“ Dann lächelte er Christine an und legte ihr den Arm über die Schulter. „Außer ich will es selbst!“

Hinnerk lachte. „Ja, das ist die romantische Version.“ Dann griff er zu Marks Hemdtasche und zog das kleine Leinenkissen heraus, das er ihm vorgestern in die Hand gedrückt hatte. Es schützt dich vor Suggestion, Hypnose, dem bösen Blick und hilft, deine Seele vor den Versuchungen und Einflüsterungen des Bösen zu schützen, hatte er ihm erklärt, woraufhin Mark sich artig bedankt und das Kissen in die Hemdtasche gesteckt hatte.

„Daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht!“, gestand Mark.

„Dass du dem Bann nicht erlegen bist, lag also weniger daran, dass du psychisch so widerstandsfähig bist, als an der Tatsache, dass du dein Hemd seit zwei Tagen nicht gewechselt hast, du Ferkel!“

„Beschimpf mich nicht! Gib mir lieber das Bier, das du kalt stellen wolltest.“

„Das wartet im Helikopter auf dich“, log Hinnerk. „Wir sollten uns beeilen, nicht das Fabio uns alles wegsüffelt!“

 

***

 

Der Verräter lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Finger im Nacken.

Das hatte ja besser geklappt, als er zu hoffen gewagt hatte. Cresmonia Gwscore, dieses berechenbare Weibsstück, hatte genau das getan, was er von ihr erwartet hatte. Und sie dachte, sie hätte ihn benutzt!

Der Verräter lachte laut auf!

Hah! Genau anders herum war es gewesen. Er hatte sie benutzt. Wie eine Marionette hatte er sie geführt und sie hatte es nicht einmal bemerkt.

Und dann war es tatsächlich geschehen. Die Worte des Nazareners hatten sich als die Wahrheit herausgestellt. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt! Der letzte Hüter hatte sein Amt angetreten.

Das hieß, dass der Verräter sich jetzt um das große Ziel kümmern konnte! Es würde noch ein weiter Weg werden, aber der Hüter würde ihm sicherlich dabei helfen. Auch wenn er es nicht ahnte.

Doch zunächst galt es, ihn in die richtige Richtung zu drängen. Und dazu musste der Verräter jetzt erst einmal den Orden etwas durcheinander wirbeln.

Vielleicht sollte er an richtiger Stelle ein paar Worte über die Höhlen im Kyffhäuser verlieren. Oder sollte er lieber ein paar Dämonen auf das Drachenblut ansetzen, dass der Orden in seinem Besitz hatte?

Nun, das würde sich zeigen.

Aber eines war sicher: Die Zukunft der Hölle hatte gerade begonnen. Und es würde eine gute Zukunft werden ...


 

Wird fortgesetzt

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