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Das Geheimnis des Leuchtturms - Eine Sherlock-Holmes Story

StoryDas Geheimnis des Leuchtturms
Eine Sherlock-Holmes Story

Ausnahmsweise mal keine SF oder Physik von mir im Zauberspiegel. Ich wollte schon immer einmal eine Sherlock-Holmes-Story im klassischen Stil von Sir Arthur Conan Doyle schreiben aber heutzutage tummeln sich mir auf diesem Gebiet einfach zu viele Nachahmer, die mit ganzen Romanen, auch phantastisch verbrämt, daherkommen. Dies hier hingegen  ist eine schlichte, kleine, ganz gewöhnliche Detektivstory und wird vielleicht den einen oder anderen Zauberspiegel-Leser amüsieren oder erfreuen.

Ich möchte meinen Lesern auch dieses kurze Abenteuer von Sherlock Holmes nicht vorenthalten. Es passierte zu der Zeit, als ich zwar meine Praxis wieder eröffnet hatte, aber noch bei Holmes in der Baker Street wohnte.Eine amüsante, kleine Angelegenheit.
Dr. Watson

„Tut mir leid, Dr. Watson liest nur die Times, die Bibel, den Punch und das Kursbuch der britischen Eisenbahn! Medizinische Fachbücher natürlich.Im übrigen ist die Praxis  heute geschlossen!“
Damit schloss Sherlock Holmes die Tür der Praxis des Doktors und wandte sich wieder seinem Freund zu: „Das war nur ein Vertreter für moderne Literatur … modernde Literatur, wie man sagen sollte!Ich habe ihn erfolgreich für sie abgewimmelt, mein Lieber!“ Nachdenklich sog er an seiner Pfeife.  „Ach ja, wo war ich?“ Dr. Watson bewegte sich auf dem schwarzen Ledersessel und hob den Blick von der Zeitung:
„Die Diamanten des Herzogs von   Gloustercher in Lassarnoch!“ erklärte er geduldig. „Sie beschrieben mir gerade, wie diese Glitzersteinchen von Ihnen wiederbeschafft wurden.“ Holmes nickte begeistert.
„Ja, es war in der Residenz des  Earls von Clumsy Manor passiert!“ erwiderte er und sein Blick ging zerstreut durch den Raum. „Eine leichte Sache. Ich erkannte sofort, dass der Butler nicht der Gärtner war und umgekehrt. Damit war der Fall bereits so gut wie gelöst!Sie können ihn ein andermal notieren!“ Damit nahm Holmes natürlich Bezug auf Watson als seinen Chronisten, der die gemeinsam bestandenen Abenteuer   aufschrieb und ab und zu veröffentlichte.

Als  methodische Geräusche wie von einer gehenden Person vor der Praxis zu hören waren, ging Holmes sofort mit leichten Schritten zum Fenster, hob kurz den Vorhang und äugte vorsichtig hinaus.
„Wir werden vom Innenministerium beehrt!“ verkündete er, beinahe feierlich. „Diese Schritte lassen auf Hochglanzstiefel schließen, eine Schuhart, die man nur in den mittleren Beamtenkreisen verwendet, und auch nur dann, wenn man nicht viel laufen muss. Ergo passt die gestochene Schrittlänge vorzüglich zu einem Beamten, der den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und Formulare bearbeitet.Er ist selten draußen, außer auf seinem Heimweg.Außerdem erkenne ich den klassischen Bowler bereits dort drüben.Wer sonst als ein Beauftragter des Staatsekretärs Knowles vom   Innenministerium kann das also sein. Wahrscheinlich müssen wir England wieder einmal aus der Patsche helfen.Sind wir da? Immerhin haben sie Ihre Praxis heute geschlossen, Doktor! In der Baker Street, so fürchte ich, wird der Laufbursche von Knowles uns auch nicht antreffen.“ Das fügte er  mit beinahe ironischer Liebenswürdigkeit hinzu.
Dr Watson faltete die Zeitung akribisch zusammen und legte sie auf den Beistelltisch. Dann griff er sich eine Zigarre vom bereitstehenden Humidor und zündete sie an.
„Holmes!“ sagte er beinahe vorwurfsvoll. „Sie wollen sich doch nicht hier verkriechen, oder? Ich erkenne doch die Langeweile in ihrem Blick, weil ihre grauen Zellen nicht beschäftigt sind … eine Solistin für ein Violinonzert idt auch gerade nicht in London zu Gast. Deshalb empfehle ich Ihnen als ihr Freund und Ratgeber: nehmen Sie diesen Auftrag an … auch, wenn er vom Innenministerium kommt!“ fügte er etwas spitz hinzu.  „Es geht um ihre seelische Gesundheit, mein Freund! Als Ihr Arzt empfehle ich Ihnen ein kleines Abenteuer!“
Holmes nickte bekümmert. „Sie haben den Blick für seelische Zustände, Doktor!“ bekannte er. „Wenn Sie auch nur ein bisschen Ihre Augen für die physischen Prozesse der wirklichen Welt öffnen könnten …“ Er seufzte. „Nun: wir werden ja gleich informiert sein.Das Individuum hat die Praxistür entdeckt.“ Es klopfte  mehrmals laut und dröhnend. „Da ist er schon. Herein, mein Bester, immer herein! Ja, ich bin Sherlock Holmes und das dort im Ledersessel ist mein Kollege, Dr. Watson.“ Er sog an der Pfeife und eine Wolke Qualm stob durch den Raum. Watson verstärkte den Rauch noch durch seine Zigarre.
Der Mann trat ein, ein Billet in der Hand, das schwer gesiegelt war.
„Für mich? Gut, hier ist ihre Empfangsquittung für Old Knowles. Wie ich sehe, sind sie schon lange verheiratet und hatten Ei zum Frühstück.Außerdem hatten Sie es eilig.“ Der Mann öffnete den Mund und staunte „Wie? ...“ stammelte er.
Ach, mein Bester, das ist doch so einfach!“ erwiderte Holmes freundlich. „Ihr Ehering ist fast ganz vom Fleisch der Hand überwachsen, also tragen sie ihn schon so lange, dass sie ihn nicht mehr losbekommen. Sie haben getrocknetes Ei auf dem Kragen und ihr Bowler ist, mit Verlaub, etwas  beschädigt.Hier an dieser Stelle!“ Er berührte vorsichtig den Hut des Mannes . „Daraus schließe ich, dass es sich hier nur um ihr zweitbestes Stück Hut handelt. Sie hatten es zu eilig, den besten Hut aus dem Schrank zu suchen.Danke jedenfalls  für die Nachricht vom Ministerium. Wir werden sie gebührend zu würdigen wissen und in Angriff nehmen.“ Er komplimentierte den Mann hinaus.
Heiter übergab er Watson das Billet. „Nun, lesen Sie mir mal vor, mein Bester!“ Nachdenkllich sog er an der Pfeife und begann, mit langen Schritten vor dem Kamin hin und her zu gehen.
Watson erbrach das Siegel und löste das Innenblatt aus der Hülle. Dann las er vor:

Lieber  Holmes,

Eine ausländische Gesellschaft oder Gesandtschaft schmuggelt seit einiger Zeit Nachrichten aus dem Roundabout-House, das sie in Limey gemietet hat. Wir wissen aber nicht, wie das vor sich geht. Personenverkehr wird jedenfalls nicht beobachtet über das übliche Maß hinaus und uns ist unverständlich, wie die Botschaften übermittelt werden.Wenn Sie, Holmes, diese Sache untersuchen und uns die Ergebnisse ihrer Nachforschung mitteilen  könnten, wäre das Vaterland Ihnen sehr verbunden.Machen Sie diese Bande  dingfest!

Gezeichnet
 Staatssekretär Knowles


Holmes war gerührt. „Der alte Knowlie. Immer bereit, an seine Freunde zu denken, wenn er mal Hilfe braucht. Nun ...“ Er räusperte sich. „Ich denke, wir sollten mal einen Blick auf dieses berüchtigte, unrühmliche Roundabout-House werfen, meinen Sie nicht?“ fragte er Watson. Dieser sah Holmes scharf ins Gesicht und erkannte, dass der Spürhund aufgewacht war.Wenn Holmes geistig aktiv war, brauchte er kein Kokain und das war Dr. Watson natürlich bewusst.
„Gut!“ entschied Watson. „Ich lasse eine Droschke kommen!“ Damit stand er ächzend und umständlich tuend auf und verließ das Zimmer, noch immer seine Zigarre rauchend, um eine Fahrgelegenheit zu organisieren.


Fünfzehn Minuten später waren die beiden Männer bereits unterwegs. Ratternd schlugen die Räder auf die Straßen von London und das Klappern der Hufe übertönte beinahe das Gespräch im Inneren.
„Was ist das für ein Gebäude, dieses Roundabout-House?“ fragte Watson.  Holmes antwortete zerstreut, den Blick nach innen gerichtet. „Ein ehemaliger Leuchtturm wohl!“ erwiderte er. „Schon lange außer Betrieb gestellt.“
„Sie meinen, über das Leuchtfeuer kann man die Nachrichten nicht herausschmuggeln?“ wollte Watson wissen. „Richtig!“erwiderte Holmes. „Der Leuchtturm ist schon lange an Altersschwäche eingegangen; das Haus wurde modernisiert und mit Gas- Kraftanlagen versehen, so dass auch die übrigen Räume außer der oberen Insel Licht durch ihre Laternen haben.Natürlich reichen diese nicht so weit, um den Schiffen zu signalisieren. Dann wurde es in Wohnungen umgewandelt. Vorübergehend waren es wohl mehrere Parteien, die dort wohnten, aber es stand eine Weile leer, bis die ausländische Gesellschaft es insgesamt mietete.
„Geheimgänge?“ orakelte Dr. Watson. Holmes musterte ihn, beinahe mitleidig. „Sie wissen selbst, mein Bester, dass derlei nur in billigen Kolportageromanen auftaucht, wie sie als Fortsetzungen in den Zeitungsblättern erscheinen!“ meinte er. „Keine Geheimgänge! Alles fester Steingrund.Ja, das Gebäude steht an der Küste, wie die alten, ehemaligen Leuchttürme das eben  so an sich haben. Aber: solide Felswände und hohe Kliffs, Beste englische Gesteinsarten. Keine Schmugglerhöhlen oder geheime Tunnel!“ Er schüttelte betrübt den Kopf.
Die Kutsche rüttelte kurz und stand dann still. Watson steckte den Kopf aus dem Fenster. „Da sind wir bereits!“ stellte er erfreut fest. Dann nichts wie hin.“ Unternehmungslustig schwang er seinen Spazierstock. Holmes öffnete auf der anderen Seite der Droschke die Tür und stieg aus.
Sie gingen einige Schritte. Weit vor ihnen ragte der alte Leuchtturm aus seiner Klippe empor.Weil es heller Tag war, konnten sie die Umgegend gut erkennen. „Sehen Sie!“ erklärte Holmes und zeigte mit seinem Spazierstock nach vorn. „Rund um den Turm  finden Sie nur flache Gesteinsflächen, dahinter etwas Busch und Gesträuch, dann ein kleines Wäldchen, das ihn von dem Dorf dort drüben abschirmt. Außerdem führt hier ein Wanderweg hindurch.“ Er zeigte erneut mit dem Stock und Watson erkannte einen krummen Pfad, der sich durch das kleine Dickicht zog, das man kaum einen Wald nennen konnte, und in der Ferne verschwand.
Holmes erläuterte weiter. „Der Pfad verbindet Farningham mit Throckmorton und ist insbesondere im Sommer ein beliebter Wanderweg für Oxford-Absolventen.Zu dieser Jahreszeit ist also die Gegend recht belebt und auch im Dorf Altonbury gibt es immerhin einen recht passablen Gasthof, in dem wir uns vielleicht einquartieren müssen, mein Bester!“
Er fuhr fort. „Aber sehen Sie. Rund um den Turm: bester Granitboden. Keine Möglichkeit für geheime Ausgänge. Auch das kleine Gehölz dort vorn ist nicht wirklich geeignet für derlei Mummenschanz. Aber wir werden uns das genauer ansehen.“

Dr. Watson prüfte den Boden rund um den Turm genau. Es war aber, wie Holmes gesagt hatte. Fester Stein und keine Möglichkeiten für Lücken oder Löcher. Keine geheimen Falltüren. Sherlock Holmes suchte derweil die  schmale Ebene ab, die mit Busch und Kräutern, mit Sträuchern und Büschen bewachsen war. Außer einigen Kaninchenlöchern fand er aber auch hier nichts Geheimnisvolles.Dennoch stocherte er zur Sicherheit mit seinem Stock darin herum, um deren Tiefe zu ergründen. Einmal legte er sich platt auf den Boden und erkundete ein Loch mit seiner Lupe. Jedoch erhob er sich enttäuscht. „Nichts!“ sagte er betrübt.Dann erhellte sich sein Gesicht. „Kommen Sie, Watson! Lassen Sie uns die andere Seite erkunden, die Küste!“

Zehn Minuten später:
Ein Ruderboot durchschnitt die Wellen.An der Seite prangten die stolzen Worte „Britannia“. Dr. Watson sang leise „ Britannia rules the waves!“  Dann verstummte er, denn Holmes legte die Riemen nieder und stand auf. „Lösen Sie mich ein bisschen beim Rudern ab, Watson! Dann kann ich die Küste besser erkunden.Aber loten Sie vorher noch einmal, damit wir hier nicht auf eine Untiefe laufen. Es würde wahrhaft schwer sein, von dieser Steilküste zu Fuß wieder wegzukommen,“ forderte er. Der Seegang war leicht und die Sonne hing noch über dem Horizont.  Vorn war der alte Leuchtturm über der Steinklippe zu sehen, aber je näher sie der Küste kamen, desto weniger konnten sie von dem Turm erkennen. Watson warf das Lot über Bord und maß die Wassertiefe. „Vier Faden und keinen Grund!“ meldete er, beinahe seemännisch. Holmes nickte geistesabwesend, zog sein Taschenfernrohr aus der Jackentasche und musterte die steinerne Kliffküste. Sorgfältig suchte er das Ufer ab. „Nichts!“ machte er enttäuscht und schwenkte den Kieker herum,um die ganze Steilwand abzutasten. Watson hatte inzwischen die Riemen ergriffen und begann, etwas behäbig vorwärts zu rudern. „Sehen Sie dort den schmalen Sandstrand?“ fragte Holmes. „Halten Sie darauf zu!“
Knirschend fuhr das Boot auf den Strand und Holmes sprang behände über das Dollbord.
Hier war die Küste kaum einen Meter breit und der dünne Streifen war nur leicht von Sand bedeckt. Die Länge betrug kaum zehn bis zwanzig Meter, dann  dünnte der Landstrich aus und verschwand in den Klippen und im Wasser.
„Sehen Sie!“meinte Holmes und  deutete auf einige kleinere Kuhlen und Löcher in der Felswand. „Keine Höhlen für Schmuggler. Der Fels ist hart hier und die Erosion noch nicht sehr weit fortgeschritten.Außer diesen flachen  Aushöhlungen gibt es hier nichts. Lasen Sie uns diesen Streifen dennoch genau absuchen.“ Holmes steckte das Fernrohr ein und  bückte sich, um den Boden penibel abzusuchen. Doch es war nichts zu finden.
 Dennoch suchte Holmes ihn sorgfältig ab.Auch Dr. Watson half ihm bei der Suche. „Glauben Sie, jemand wirft Kassiber von der Steinklippe, die dann von einem Boot hier abgeholt-werden?“ Holmes schüttelte verneinend den Kopf. „So einfach ist die Sache nicht. Lestrade hat auch immer ein Wachboot draußen, das aufpasst!“ setzte er erläuternd  hinzu. Watson suchte inzwischen weiter den Boden ab, während er zuhörte.
„Hierher, Holmes!“ rief er, als er an der Felswand zwischen zwei Grasbüscheln einen seltsamen Fleck bemerkte.
Sherlock Holmes beugte sich herunter, ging dann auf die Knie und zog sein Vergrößerungsglas. Damit untersuchte er die verdächtige Stelle genau. „Hm, ein paar Glassplitter. Ah hier, ein Docht. Die Überreste einer Gaslampe, Watson. Aber sie wird hier kaum gestanden haben.Wahrscheinlich ist sie aus dem Turm  gefallen oder gestoßen worden, denn das hohe Gebäude ist genau hier oben über der Klippe. Nanu, zwei Gaslampen, zumindest deren Überreste. Das lässt immerhin auf regen Gebrauch dieser Beleuchtungsart schließen.“ Er deutete hoch. „Aus diesem Sehwinkel können wir den Turm  nicht einpeilen; wir sind sozusagen im toten Winkel, aber es kann nicht anders sein. Kommen Sie, fahren wir. Hier lernen wir nichts Neues. Wir werden anders vorgehen!“ Damit stieg er in das Boot, griff die Riemen und begann, spielerisch in der Luft zu rudern, bis Dr. Watson nachgekommen war. Gemeinsam schoben sie das Boot ins tiefere Wasser und gingen an Bord.

„So, Watson!“ Holmes zeigte auf die drei Katen und die vier Cottages. Mitten drin stand das einzige, zweistöckige Haus. Schmuck und weiß getüncht, war es wesentlich ansehnlicher als die anderen Gebäude des Dorfes. „Hier haben wir Altonbury und den Gasthof „Rolling Thunder“.Die Einwohner werden wohl hauptsächlich Küstenfischer sein, wie der Mann, von dem wir das Boot gemietet hatten.Nur im Sommer kommt es vermehrt zu Einquartierungen auswärtiger Gäste.Wir aber werden jetzt hier einkehren und ein Zimmer mieten. Das heißt, Sie werden das tun; ich selbst werde mich ein wenig „incognito“ umsehen. Sie kennen ja meine Methoden, Watson!“

Watson nickte ergeben und seufzte.
Holmes fuhr unbeirrt fort: „Lassen Sie sich ein Zimmer geben mit Blick auf den Leuchtturm. Dieser sollte über das Gewächs dort vorn von oben aus dem zweiten Stock gut erkennbar sein. Beobachten Sie Tag und Nacht alle Aktivitäten vor Ort und schreiben Sie alles auf. Ich entferne mich jetzt. Wir werden uns dann morgen Abend wiedersehen! Im Notfall ist Lestrade mit einer Abteilung uniformierter Polizisten schnell bei der Hand, um die Bande dort drüben auszuheben. Aber erst brauchen wir Beweise, mein Freund!“

Bericht Dr. Watson:
Ich tat also, wie Holmes mir vorgegeben hatte.Das Zimmer war schnell gemietet und ich konnte es mir aussuchen, denn die Hauptsaison war bereits vorüber.Oben im zweiten Stock gab es eine Empore, die zu einer Terrasse hinaus führte. Hier legte ich meinen Beobachtungsposten an. Von dort konnte ich den geheimnisvollen Leuchtturm gut erkennen.
Es handelt sich dabei um ein altes, rotes Backsteingemäuer. Ich konnte vier Etagen feststellen, dazu die untere Parterreebene; das mussten die ehemaligen Bereiche des Wärters sein, die nun etwas besser ausgebaut waren.  Auf dem Dach befand sich eine Art Sichtschutz aus Draht oder Leichtmetall, der wohl vom Herabfallen schützen sollte. Die ehemaligen Lampen zur Erhellung der See waren längst abmontiert worden. Jedes Stockwerk besaß ein halbrundes, buckliges, kleines Fenster, durch das ich manchmal am Abend eine huschende Bewegung erkennen konnte. Die große Metalltür hingegen war den ganzen Tag verschlossen. Aber definitiv befanden sich Personen in dem Turm, denn nicht nur die bereits erwähnten  Schatten waren erkennbar, sondern die Lichter in den einzelnen Fenstern wurden mitunter angezündet oder erloschen, je nachdem. Da Holmes wünschte, dass ich genau aufpasste, schrieb ich penibel alles auf, was mir auffiel.
Außer der wechselnden Beleuchtung und den vorbeihuschenden Schatten der Gesandschaft gab es aber nichts wirklich Interessantes zu sehen. Einmal begann ich deshalb zu gähnen. Darum ließ ich mir einen Tee von unten kommen. Mit etwas medizinischem Alkohol aus meiner Taschenflasche gewürzt, den ich immer für Notfälle bei mir trage, war der Rest des Abends und der Nacht dann erträglich.

Als ich am nächsten Morgen aus dem Gasthof trat, um frische Luft zu schnappen, kam mir ein alter Mann entgegen. Humpelnd zog er ein Bein nach. Eine verschmutzte Fischermütze war über sein verstrubbeltes Haar gezogen. Vielleicht ein ehemaliger Fischer, der einen Arbeitsunfall gehabt hatte, und nun nicht mehr die Küste verlassen konnte. Ein Priem steckte zwischen seinen dunklen Zähnen, den er mit einer Mundbewegung hin und her zwirbelte.Er kam zielgerichtet auf mich zu und ich sah ihn fragend an. Vielleicht hatte Holmes ihm ja eine Botschaft für mich mirgegeben. Plötzlich aber richtete er sich aus seiner gebückten Haltung auf, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, und als er die Mütze abnahm,  erkannte ich ihn: Sherlock Holmes in einer seiner Masken! „By Godfrey!“ entfuhr es mir. „Was haben Sie mich erschreckt, Holmes!“
„Guten Morgen, Watson!“ meinte er, missmutig doch nicht unfreundlich. „Diese Verschwörer im Roundabout-House sind verflixt schwierig zu knacken. Verschlossen wie die Auster an der Küste.Aber lassen Sie uns hineingehen. Ich möchte mich reinigen und ein gutes Frühstück käme auch gelegen.Ich erzähle Ihnen dann Näheres. Hoffentlich haben wenigstens Sie eine Spur gefunden.“
„Nun!“ erwiderte ich,“selbstverständlich habe ich meine Aufzeichnungen gemacht, wie sie mir aufgetragen hatten.“ Holmes lächelte bereits wieder.“Sehr gut!“ meinte er. „Lassen Sie uns diese Nachrichten dann nach dem Frühstück durchgehen.Aber jetzt zu Toast und Tee, bitte!“

Ende Bericht Dr. Watson.


Holmes kaute und schluckte. Er trank drei Tassen Tee. Zwischendurch erzählte er Watson, was er erfahren hatte. „Siebzehn Trawler liegen dort draußen!“ erklärte er. „Dreizehn davon konnten die Fischer, mit denen ich sprach identifizieren. Drei weitere stammen aus einigen Nachbardörfern hier herum. Aber definitiv ein Schiff ist unbekannt. Keiner der Schiffer hier weiß, wo dieses Fischerboot herkommt.Also haben wir bereits eine unbekannte Größe. Der Turm selbst ist hingegen eine Niete. Eine regelrechte Festung. Dreimal habe ich versucht, hineinzukommen, aber die schwere Tür ist immer von innen bewacht und fest geschlossen. Die Fenster sind zum „Einsteigen“ zu klein.Andere Zugänge gibt es nicht, das hatten wir ja schon festgestellt. Jetzt bin ich auf Ihre Beobachtungen angewiesen, alter Junge, sonst sind wir mit unserem Latein am Ende!“
Die beiden Detektive gingen nach oben. Watson übergab Sherlock Holmes seine Aufzeichnungen. Dieser setzte sich in einen Sessel und studierte die Bemerkungen des Doktors fast zwei Stunden lang.Zuerst krauste er die Stirn. Er rauchte eine Pfeife, dann eine zweite. Dann legte er den Zettel aus der Hand, stand auf und ging stumm hin und her, immer hin und her, durch den kleinen Raum der Stube.Endlich  hob er den Kopf, brach das Schweigen der Überlegung und sah Dr. Watson an.
„Ich glaube, ich habe das Problem gelöst.Schauen Sie sich Ihre Liste an. Sie haben sehr schön notiert, welche Lampen in welchem Stockwerk an waren und wann. Das ist eine Codierung.“ Er wies auf die Liste mit den Zahlenkolonnen, die Dr. Watson akribisch erstellt hatte.

Auf dem Zettel war notiert:
 
                                      Lichter in den einzelnen Stockwerken

   Mittags                            Abends                                      Nachts
       3                                     1/1                                            4-3-1
   4-3-2-1                            4-2-1                                        4-3-2-1
5-2-1/5-2-1                        4-3-2-1                                        5-2
       4-1                           4-3-1/4-3-1                                    3-2-1
       3-1                                  5-3                                               3-1
       5-2                                                                                     4-3-2
Schatten am 1. Fenster,  Schatten am 1, Fenster,    Schatten am 5.Fenster

Bemerkung von Dr. Watson: Die Zahlen stehen für je eine Lampe im betreffenden Stockwerk.

Watson zuckte die Achseln. „Außer diesen wechselnden Lichterscheinngen in den Fenstern und den Schatten der Bewohner war ja nichts zu sehen. Das habe ich allerdings  alles notiert.Sehen Sie in den Schatten eine Bedeutung?“
Holmes lächelte überlegen. „Die Kombinationen der Lichter bilden die Botschaft!“ meinte er frohlockend. „Die Schatten hingegen melden, dass die Information noch weiter erfolgt … oder beendet ist.Einige Male wurden zweimal hintereinander die gleichen Lampen in den gleichen Stockwerken entzündet. Das lässt auf Doppelbuchstaben schließen.“
Er kniff die Augen zusammen.Dann schien er zu überlegen. „Ja, ich habe den Code entschlüsselt! Die Sache ist getan! Lassen Sie uns Lestrade rufen. Er kann mit seinen Männern das Agentennest  jetzt ausräuchern!“
Watson nickte, ging zum Fenster und trat auf die Terrasse. Dort hob er die Pfeife vom Hals, die er immer trug und pfiff hinein. Laut und durchdringend ertönte der Pfeifton und erschallte in der ganzen Gegend des Dorfes.Fünf Minuten später wimmelte der Vorplatz von den blauen Uniformen der Polizei von Scotland Yard. Wie immer kam Lestrade vornweg, von Holmes öfter spöttisch als der „beste Mann von allen Schlechten der Londoner Polizei“ bezeichnet.Die Männer hatten bereits einen Rammbock mitgebracht und  bestürmten das eiserne Tor der feindlichen Festung.
Holmes sah nur kurz zu: „Gehen wir, Watson.“sagte er. „Unsere Arbeit ist getan … der Rest ist Routine für Scotland Yard. - Außerdem ist Madam Feodorovna in der Stadt. Sie gibt ein Violinkonzert von Haydn. Lassen Sie uns in  die Royal-Albert Hall gehen.


Später, vor  dem Konzert  in der Baker Street.
Watson lag im Sessel und paffte eine Zigarre. Holmes kratzte selbst etwas gedankenverloren auf seiner Violine herum.
„Sicher wollen Sie jetzt wissen, wie ich den Code entschlüsselt habe!“ meinte er, fast träumerisch. „Ja, natürlich, Holmes!“ bekräftigte  Dr.Watson „.Das interessiert mich schon!“
„Ja!“ machte Holmes genüsslich. „Das können sie ja dann auch später lang und breit ihren Lesern erklären.Im Grunde genommen war es einfach. Dennoch habe ich zwei Pfeifen gebraucht, bis ich sicher war.“
Watson räusperte sich: „Nun spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!“ grollte er.
„.Na gut!“ machte Holmes. „Es handelte  sich um eine einfachen Dualkodierung.Sie bestand aus Zweierpotenzen und war einfach den Buchstaben des abendländischen Alphabets zugeordnet. Licht im ersten Stockwerk etwa stand für „Zwei hoch Null“. Das ist Eins und bedeutet „A“.Licht in der zweiten Etage des Turms steht dann für „Zwei hoch Eins“, also zwei selbst. Das wäre der Buchstabe „B“.Mit Hilfe dieser Methode habe ich den Text entschlüsselt. Die Dopplungen stehen wirklich für zwei Buchstaben nacheinander.Da haben sie die Lampe wohl wieder ausgelöscht und zweimal entzündet. Sie hatten den Text nicht einmal inhaltlich überschlüsselt, so sicher waren sie ihrer Sache in dieser fremden Gesandschaft. Sie können das selbst nachprüfen, wenn sie wollen.Aus den obigen Notationen, die sie so wunderbar genau vorgenommen haben, ergibt sich der Text:
                                             DOSSIER AA KOMMT MORGEN
Wobei AA zweifellos unser auswärtiges Amt in der Downing Street meint. Irgend eine gestohlene oder heimlich kopierte Depesche, zweifellos. Diese Leute  müssen auch dort noch einen Maulwurf sitzen haben. Aber das ist jetzt nicht unser Problem.Kommen Sie, Watson, ein Violinkonzert wartet auf uns!“

ENDE

© 2019 by Holger Döring

Kommentare  

#1 AARN MUNRO 2019-09-19 09:34
Statt "INTRA" im Vorwort muss es natürlich "Zauberspiegel-Leser" heißen, Ich hatte diese Geschichte nämlich auch an ein gedrucktes Fanzine geschickt (ja, sowas gibt es noch ... geringfügig), das "INTRAVENÖS", abgekürzt "INTRA". Es wurde aber von mir vergessen, die Korrektur für hier im Titel vorzunehmen.Das wird jetzt in Echtzeit nachgeholt. ;-)
#2 Harantor 2019-09-19 09:40
Hat er ...
#3 AARN MUNRO 2019-09-19 09:55
zitiere Harantor:
Hat er ...



Danke! Habe auch noch ein paar Tippfehler korrigiert.

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