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Dabeisein ist alles

StoryDabeisein ist alles

Wie immer vor Beginn einer Pressekonferenz war Ralf Mayer nervös. Das änderte sich aber sofort, als er ins Scheinwerferlicht trat. Einen Augenblick blieb er blinzelnd stehen, dann betrat er das Podium und verbeugte sich leicht. Der Zuschauerraum lag im Halbdunkel. Nur die in den ersten Reihen sitzenden Journalisten waren undeutlich zu erkennen.

„Meine Damen und Herren“, sagte der Saalsprecher, „wir stellen Ihnen nun Ralf Mayer vor!“


Als Ralf sich setzte, war er nicht nur beherrscht, sondern auch sofort wieder zu dem leicht dümmlichen Naturburschen aus den Alpen geworden, zu dem ihn die heimischen Medien aufgebaut hatten. Die PR-Leute seines Teams hatten dieses Image noch verstärkt.

„Ralf Mayer ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er hat neun Weltcupren­nen gewonnen und wurde im vergangenen Jahr - als Krönung seiner Amateurlaufbahn - olympischer Abfahrtssieger!“

Der Monitor auf dem Tisch zeigte ihn bei seiner Siegesfahrt, die ihm das olympische Gold und einen lukrativen Profivertrag eingebracht hatte.

Er lächelte leicht, als er sich in Siegerpose dastehen sah, die Arme hochgerissen und den Mund zu einem Freudenschrei geöffnet. Er hatte die Bilder hundertmal gesehen, aber sie gefielen ihm immer wieder.

„Diese Saison wechselte Ralf Mayer zu den Profis über. Er wurde vom ATT-Team engagiert. Seine ersten Profirennen waren nicht ge­rade erfolgreich für ihn.“

Das kann man wohl sagen, stimmte Ralf zu, als er einige seiner Stürze auf dem Bildschirm sah.

„Vor acht Wochen gewann er zwei Gruppe-II-Profiabfahrtsrennen gegen mäßige Gegner, und vor vier Wochen schaffte er die Qualifika­tion für den WM-Lauf, als er den Aspen-Gold-Cup gewann.“

Nun war er wieder als strahlender Sieger zu sehen. Sein blutroter Anzug mit dem ATT-Wappen glänzte in der Sonne. Sein dunkelblon­des Haar war zerrauft, und seine grünblauen Augen blitzten. Trium­phierend hielt er den Goldpokal in der rechten Hand. Mit dem linken Arm umarmte er seinen Trainer.

„Ralf Mayer zog für den morgigen WM-Lauf die ungünstige Start­nummer 9. Bei den englischen Buchmachern rangiert er als letzter Außenseiter. Sein Trainer ist Peter Sullivan, der vor fünf Jahren der erste Profi-WM-Sieger war. Fragen Sie nun Ralf Mayer, liebe Freunde. Nehmen Sie ihn ins Kreuzverhör!“

Und jetzt ist es wieder soweit, dachte Ralf. Jetzt werden sie mich und die Millionen Zuschauer in aller Welt mit den üblichen idiotischen Fragen quälen. Und wie üblich würde er auch die dämlichste Frage so beantworten wie sie seinem Image entsprach: sanft und bescheiden.

Die Scheinwerfer wechselten alle paar Sekunden die Farbe. Den Zuschauerraum konnte er nur mehr als undurchdringliche Schwärze wahrnehmen. Er wußte, daß zumindest eine Kamera auf ihn gerichtet war und sein Gesicht in Großaufnahme zeigte. Die Pressekonferenz wurde live in 39 Länder übertragen.

„He, Ralf, glauben Sie, daß Sie den Zielrichter belästigen werden?“ Einige kicherten. Vergeblich versuchte Ralf den Frager zu erken­nen.

„Ich denke schon“, antwortete er.

„Was war das längste Rennen, das Sie je fuhren?“

„Gröden. Vergangenes Jahr. Es war viertausend Meter lang.“

„Da gab es aber keine Hindernisse. Das morgige Rennen ist neuntausenddreihundertsiebenundsiebzig Meter lang und voll mit den heimtückischsten Fallen. Einige Buchmacher legen es fünfzig zu eins, daß Sie nicht mal den ersten Teil des Rennens schaffen werden.“

„Ich habe mich gewissenhaft vorbereitet. Nie zuvor war ich so in Hochform.“

„Einige Ihrer Konkurrenten behaupten, daß Sie zu weich für den Profisport sind. Sie haben die Umstellung noch nicht verkraftet.“

„Dagegen spricht mein Sieg im Aspen-Gold-Cup.“

„Weshalb fahren Sie für das ATT-Team?“

„Sie machten mir das beste Angebot.“

„Was waren für Sie die größten Umstellungen vom sogenannten Amateur zum Profi?“

Ralf überlegte kurz. „Amateurrennen sind mit Profirennen über­haupt nicht zu vergleichen. Bei den Profis ist alles anders. Der Massenstart aus den Startmaschinen, das gegenseitige Belauern und Behin­dern, und natürlich die Hindernisse.“

„Das wissen wir alle. Aber was war für Sie die größte Umstellung?“ „Die Taktik. Eine gute Position im Rennen zu suchen. Keinen Meter zu verschenken.“

Weitere Fragen prasselten auf ihn ein.

„Der Bursche macht seine Sache großartig“, sagte Bert Zinnemann zufrieden. Er sah genauso aus, wie man sich den erfolgreichen Mana­ger eines großen Konzerns vorstellte.

Peter Sullivan antwortete nicht. Er starrte den Bildschirm an.

„Sie haben vorbildliche Arbeit geleistet, Peter. Unser Umsatz hat sich in den vergangenen Wochen um fast dreißig Prozent erhöht. Das ist nur auf die Erfolge Ralfs zurückzuführen. Wenn er nun die Welt­meisterschaft gewinnt...“

„Er wird sie nicht gewinnen.“

„Ahh ja, jetzt kommen wieder Ihre langweiligen Einwendungen. Er wird verheizt. Er ist noch nicht reif für so ein brutales Rennen. Der Start kommt um ein Jahr zu früh. Er hätte langsamer aufgebaut werden müssen. Das wollen Sie doch sagen?“

„Richtig.“

„Peter, Sie wissen, was gespielt wird. Unser Team braucht einen zugkräftigen Fahrer. Wir steckten ganz schön in den roten Zahlen.“

„Das weiß ich. Trotzdem kommt der Start für Ralf zu früh. Dieses Rennen ist zu schwer für ihn. Ich habe selbst drei Profi-Jahre ge­braucht, bevor ich die WM gewann.“

„Ach was, wenn er nicht gewinnt, ist es auch nicht tragisch. Wichtig ist, daß er überhaupt am WM-Lauf teilnimmt. Diese Reklame ist einfach unbezahlbar.“

„Das schätze ich so an Ihnen, Bert. Sie denken so überaus human. Immer im Interesse des Konzerns unterwegs, immer darauf bedacht, daß die Umsatzziffern steigen.“

„Das ist meine Aufgabe. Ihre ist es, Ralf gut zu trainieren. Seien wir doch mal ehrlich, wir haben alles für den Jungen getan, was wir konnten. Wir haben die besten Leute engagiert: Sie als Trainer; den bekanntesten Konditionstrainer; einen erfolgreichen Sportarzt, einen hervorragenden Masseur und ein optimales technisches Team. Er ist bestens vorbereitet.“

„Bert, Sie sind ein hoffnungsloser Fall. Profiabfahrten sind nicht mit normalen FIS-Abfahrten zu vergleichen. Das sollte auch Ihnen langsam klar geworden sein. Dieser WM-Lauf ist besonders schwierig, etwas Ähnliches hat es nie zuvor gegeben. Bei den Profis setzt sich nur der brutalste, skrupelloseste und härteste Fahrer durch. Das alles trifft auf Ralf nicht zu. Er hat Skrupel. Er wirft nicht einfach einen Gegner um oder drängt ihn aus der Bahn. Er ist noch nicht die Kampfma­schine, die dieser Sport braucht. Vielleicht ist er nächstes Jahr soweit.“

„Mit Ihrem Pessimismus gehen Sie mir auf die Nerven, Peter. Genug davon. Unser Star kommt.“

Ralf kam auf sie zu. Sein Gesicht war ernst. Die Gelassenheit und Ruhe, die er vor der Reportermeute gezeigt hatte, war wie fortgebla­sen. Er sah müde aus.

„Gut gemacht, Ralf“, lobte Zinnemann ihn auf seine schleimige Art.

„Immer die gleichen blöden Fragen“, sagte Ralf und blickte Peter an.

„Und immer die gleichen blöden Antworten. Bert, bringen Sie Ralf auf sein Zimmer. Keine Besucher. Verstanden?“

„Sie kommen nicht mit?“ fragte Zinnemann.

„Später. In einer halben Stunde.“

* * *

Geistesabwesend betrat Peter Sullivan die Hotelbar. Er war breit­schultrig, fünfunddreißig, und das erste Grau zeigte sich in seinem dunklen Haar.

„Das übliche, Mr. Sullivan?“ fragte der Barkeeper.

Sullivan nickte und rutschte auf einen Hocker.

Er nippte an seinem Drink und drehte sich nicht um, als er das Klappern hochhackiger Schuhe hörte, das neben ihm verstummte.

„Darf ich mich zu dir setzen, Peter?“

Unwillkürlich preßte er die Lippen zusammen. Die Stimme hatte er seit fünf Jahren nicht mehr gehört.

„Ja“, sagte er undeutlich.

Das Rascheln von Stoff war zu hören. Langsam drehte er sich um. „Hallo, Carol.“

Sie blickte ihn kurz an und wandte den Kopf dann dem Barkeeper zu.

„Ein Tonic mit viel Eis.“

„Sehr wohl, Miss Wigham.“

Peter musterte sie verstohlen. An ihr war die Zeit offenbar spurlos vorbeigegangen. „Weshalb bist du nicht bei der Pressekonferenz, Carol?“

„Ich habe mir nur Ralf angehört. Die anderen Fahrer interessieren mich nicht. Eigentlich bin ich nur wegen Ralf nach Denver gekom­men.“

„Niemand darf mit ihm sprechen.“

„Ich weiß. Er wird wie ein Gefangener gehalten.“

„Das gehört dazu.“

Sie nickte.

„Ralf hat mir von dir erzählt, Carol.“

Sie trank einen Schluck.

„Nach seinem olympischen Sieg war er eine Woche mit dir zusam­men. Ich glaube, er ist noch immer in dich verliebt.“

„Nein, das glaube ich nicht. Er war nie in mich verliebt. Unsere Beziehung war ganz anders.“

„Du bist die einzige Frau, die ihn je verstanden hat. Das behauptet er.“

„Möglich.“

„Für dich war er einer unter vielen. So wie ich.“

Sie schwieg.

„Ich habe Ralf nichts davon gesagt, daß wir es zwei Tage miteinan­der getrieben haben, nachdem ich Profi-Weltmeister wurde.“

„Und warum hast du es ihm nicht erzählt?“

„Ich wollte ihm seine Illusionen über dich nicht rauben.“

„Er weiß genau über mich Bescheid, Peter. Ich spiele ehrlich. Das weißt du, das wissen alle.“

Peter nickte. „Noch einen“, sagte er und hob das leere Glas.

„Hat dir Ralf erzählt, daß ich es ihm ausreden wollte, Profi zu werden?“

„Ja, das hat er. Er will beweisen, daß er besser ist als du glaubst.“

„Das hätte er mir auf anderen Gebieten beweisen können.“

„Du hältst noch immer nichts von Sportlern.“

„Nichts von Berufssportlern. Ihre Tätigkeit ist so nutzlos, so sinn­los.“

„Und deshalb bist du gekommen. Du wirst wieder einmal einen bissigen Artikel über den Profisport bringen, über seine Sinnlosigkeit, seine von Jahr zu Jahr steigende Brutalität, von seinen Auswüchsen.“

„Richtig, das werde ich tun. Aber ich bin noch aus einem anderen Grund hier.“

„Der ist?“

„Ralf hat mir ein Exklusiv-Interview versprochen, wenn er Welt­meister wird.”

„Ich bezweifle, daß er gewinnen wird.“

„Ich glaube schon. Er ist härter, viel härter als ihr alle glaubt.“

„Wenn ich dir einen Rat geben darf, Carol, dann setz keinen Dollar auf seinen Sieg.“

„Ich wette niemals. Ich finde es scheußlich, daß man wetten darf, wer dieses unmenschliche Rennen gewinnt.“

„Du wirst es nicht ändern. Der Masse gefällt es, und die Masse zählt.“

„Leider hast du recht.“

Wieder starrte er sie an. Sie mußte jetzt etwa achtundzwanzig sein. Wie immer war sie völlig ungeschminkt und nach der neuesten Mode gekleidet. Äußerlich war sie unverändert. Aber ihre Einstel­lung war viel kritischer geworden. Von ihrer unbeschwerten Unbe­kümmertheit war nichts geblieben.„Du bist anders geworden, Carol.“

„Fünf Jahre ändern einen Menschen. Man blickt hinter die Fassaden und beginnt nachzudenken. Und was dabei heraus­kommt, ist wenig erfreulich.“„Bist du noch immer hinter den Prominenten her?“

„Ja. Das ist mein Beruf. Aber es ist anders als früher. Früher wollte ich die Prominenten ins Bett bekommen. Ich war selig, wenn es mir gelang, einen Filmstar, einen Sportler oder einen bekannten Politiker zu verführen. Daran liegt mir nichts mehr.“

„Du wirst doch nicht keusch geworden sein?“

„Du hast dich auch geändert, Peter. Du bist zynisch geworden.“

Er zuckte die Schultern. „Nun gehörst du selbst zu den Prominenten. Vermutlich bist du die bekannteste Journalistin der USA.“

„Nicht vermutlich. Ich bin es.“

Sie grinste und er erwiderte ihr Grinsen.

Carol glitt vom Hocker. „Ich werde Ralf die Daumen drücken. Wo steckt er?“

„In seinem Zimmer. Der Arzt ist bei ihm.“

„Vermutlich stopft er ihn voll mit Schlafmittel?“

„Nicht nur Schlafmittel. Du wirst nicht viel Spaß mit ihm haben, wenn er gewinnen sollte. An Sex ist er im Augenblick nicht interes­siert. Gegen die Fleischeslust gibt es heute auch schon Mittel. Im Augenblick ist er wie ein Eunuch.“

„Ich will nicht mit ihm schlafen. Bis morgen, Peter.“

Er hatte mit vielen Mädchen geschlafen, doch für keines hatte er mehr als sexuelles Verlangen empfunden. Auch Carol hatte ihm nichts bedeutet. Doch die Erinnerung an die zwei Nächte, die er mit ihr verbracht hatte, war durchaus angenehm.

Vor fünf Jahren hatte er selbst im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Doch die Abfahrt, die er damals gewonnen hatte, war ein Kinderspiel im Vergleich zur morgigen. Begonnen hatte alles vor acht Jahren, als einige Abfahrten mit gleichzeitigem Start von fünf und mehr Läufern stattfanden. Das hatte dem Publikum gefal­len. Danach waren Hindernisse in die Strecken eingebaut worden.

Er selbst war ein mäßiger Amateurfahrer gewesen, der kein Weltcuprennen gewonnen und nie an einer Olympiade teilgenom­men hatte. Bei den Profis hatte er sich sofort durchgesetzt, denn bei ihnen konnte man seine Brutalität richtig ausspielen. Auf der Piste war er zum Raubtier geworden, von seinen Gegnern gehaßt und gefürchtet. Nach dem WM-Sieg hatte er noch ein paar kleinere Rennen gewonnen. Ein schwerer Sturz hatte seiner Karriere ein Ende gemacht. Er war Trainer geworden. Über das Angebot der ATT, Ralf Mayer zu trainieren, war er überaus glücklich gewesen. Sein Fixum war hoch, und er bekam 25 Prozent von allen Renngewinnen. Kein schlechtes Geschäft, da die Siegpreise in den meisten Rennen schon mehr als hunderttausend Dollar erreichten. Und morgen ging es um eine Prämie von einer Million!

* * *

Ralf saß vor dem Fernsehapparat, den Ton hatte er abgeschaltet. Im Augenblick war Eraldo Tardelli zu sehen, ein hübscher Bursche mit schwarzgelocktem Haar und Glubschaugen. Einer seiner mor­gigen Gegner, der von der Fachpresse - wie Ralf selbst - als chancenlos eingestuft wurde.

„Für Tardelli sollte die Strecke zu schwer sein“, stellte Helga Gottwald fest, die neben ihm auf der Couch saß.

Ralf brummte etwas Unverständliches. Automatisch setzte er seine Unterschrift auf einer der Werbebroschüren der ATT. Sie schilderte detailliert seinen Lebenslauf und lieferte einen Rückblick auf alle großen Rennen, die er gewonnen hatte. Der Werbeschrift lag eine Platte bei, auf der Ralf einige der immer wieder gestellten Fragen beantwortete. Und natürlich gab es jede Menge Reklame in dem dünnen Heftchen. Für alle Produkte der ATT wurde geworben: Fernseher, Radios, Plattenspieler, Recorder. Auch die Pro­dukte der Firma Universum, die zu 90 Prozent im Besitz der ATT war, wurden angepriesen. Aus ihrer Fabrikation stammte Ralfs gesamte Rennausrüstung.

In den vergangenen Wochen war die Fan-Post gewaltig ange­schwollen. An manchen Tagen hatte er fast tausend Briefe erhalten, die von drei eigens dafür verpflichteten Sekretärinnen bearbeitet wurden.

Nach ein paar Minuten legte Ralf eine Schreibpause ein. Helga trug die bereits signierten Werbeschriften hinaus.

Als sie zurückkam, war Gerard Lacombe zu sehen, der das Podium betrat.

„Er geht wie ein Holzfäller“, sagte Ralf.

„Und er fährt auch so.“

„Er ist ein guter Fahrer. Einer der besten. Hart und zäh. Für mich ist er der Favorit.“

Helga setzte sich. Sie war ein bildhübsches Mädchen, Blond, langbeinig, vollbusig, sexy und überaus anschmiegsam. Und ihre Nähe tat Ralf gut.

Seit sieben Monaten war Helga tagtäglich mit Ralf zusammen. Diese Monate hatten sie beide verändert.

Sie war schon seit drei Jahren für ATT tätig. Bert Zinnemann hatte ihr den Job als Ralfs Betreuerin angeboten, und sie hatte ihn zögernd angenommen.

Es hatte nur wenige Tage gedauert, bis sie erkannt hatte, daß er ganz anders war, als ihn die Presse hinstellte. Er war nicht sanft und schon gar nicht freundlich. Meist war er mürrisch, in sich selbst zurückgezogen und nachdenklich. Seine Fans, Reporter und alte Menschen waren ihm ein Greuel. Parties und kreischende Teenager verabscheute er. Sein Hauptinteresse galt dem Schach. Täglich spielte er mindestens eine Stunde mit einem Computer, und bis vor vier Wochen hatte noch ein bekannter Großmeister zum Betreuer­team gehört. Fernsehen und Kino hatten Ralfs Interesse nie ge­weckt. Dagegen verschlang er alle Bücher über Biologie, die er bekommen konnte. Skifahren beschäftigte ihn nur insoweit, als es seine eigene Person betraf.

Eigentlich war er für seine Umgebung ein völliges Rätsel. Über seine Pläne, Hoffnungen und Wünsche sprach er nur ausweichend. Auf direkte Fragen antwortete er nicht.

Er war allen Menschen gegenüber mißtrauisch. Helga gegenüber war er es besonders lange gewesen. Vor drei Monaten hatten sie zum erstenmal miteinander geschlafen. Seine Beziehung zu ihr kam Helga oft sehr merkwürdig vor. Mal kam sie sich wie seine Mutter vor, dann wieder wie eine alte Freundin, und gelegentlich war sie auch seine Geliebte. Wenn letzteres der Fall war, nahm er sie dermaßen in Anspruch, daß sie anschließend groggy war.

Vor fünf Tagen hatte er die letzte Nacht mit ihr verbracht. Danach hatte Dr. Mandel begonnen, ihn mit sextötenden Mitteln zu behandeln. Es hatte sich herausgestellt, daß Ralf im Rennen bessere Leistungen erbrachte, wenn er zuvor sexuell enthaltsam gelebt hatte.

Und in dieser Nacht vor fünf Tagen war er erstmals aus sich herausgegangen und hatte ihr einen Blick in sein Inneres gestattet.

Sie lag eng an ihn geschmiegt. Und wieder hatte sie das Gefühl, daß er mit seinen Gedanken ganz weit fort war, in einer Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte.

„Was wirst du tun, wenn du die WM gewinnst?“

„Ich werde mit dem Skifahren aufhören.“

„Und was wirst du dann tun?“

Sein Gesicht war seltsam leer. „Ich werde mir eine Farm kau­fen“, sagte er fast unhörbar, „und dann werde ich die besten Vollblüter züchten, die es je gegeben hat.“

„Du willst Pferde züchten? Seit wann interessierst du dich für Pferde?“

„Seit zwanzig Jahren.“

Sie sah ihn verwirrt an. Niemand aus seiner Umgebung hatte das auch nur geahnt.

„Mein Vater nahm mich vor zwanzig Jahren zum Galopprennen nach München mit. Ich war sofort fasziniert und lernte reiten. Im Sommer ritt ich, und im Winter fuhr ich Ski. Ich wollte ein zweiter Lester Pigott werden oder ein zweiter Franz Klammer. Aber den Traum von einer Jockeylaufbahn mußte ich begraben, als ich zwölf war. Da war ich fast so groß wie heute und wog sechzig Kilo.“

„Das muß ziemlich bitter für dich gewesen sein.“

„Ich konzentrierte mich dann ganz aufs Skifahren. Ich wollte Olympia-Sieger werden. Und das schaffte ich.“

„Und jetzt willst du Profi-Weltmeister werden.“

Er nickte. „Ich wollte immer so viel Geld verdienen, daß ich den Rest meines Lebens nicht mehr Arbeiten muß. Das habe ich er­reicht.“

Und was wird aus mir, wollte sie fragen. Was wird aus mir, wenn du gewinnst? Aber sie hatte Angst die Frage zu stellen, da sie die Antwort zu wissen glaubte.

Ralf blickte auf, als Peter Sullivan eintrat und sich hinsetzte. „Nervös, Ralf?“

„Nein. Das werde ich erst morgen vor dem Start sein.“

Peter zögerte einen Moment. „Ich habe Carol Wigham getroffen. Sie will dich morgen interviewen.“

„Ich wußte, daß sie kommen würde. Wir sind uns sehr ähnlich. Sie hat ebensowenig Illusionen wie ich. Wir beide kennen die Men­schen. Sie ist eine faszinierende Frau, und einer der wenigen Men­schen, die ich wirklich gern habe.“

„Weshalb haßt du eigentlich die Menschen, Ralf?“

Ralf warf den Kugelschreiber auf den Tisch. Er hörte Helga rasches Atmen.

„Das kann ich dir sagen, Peter. Ich war ziemlich naiv, als ich zum Skizirkus stieß; ein kleiner dummer Junge, für den die Welt noch heil war. Ich war gutgläubig und wollte Spitzenfahrer werden. Doch es dauerte nur wenige Wochen und ich wußte was gespielt wurde. Alle wollten berühmt werden, und alle waren nur hinter dem Geld her. Je öfter sie in der Zeitung standen und von schwach­sinnigen Reportern hochgejubelt wurden, umso glücklicher und eingebildeter wurden sie. In ihrer Armseligkeit waren sie abstoßend und widerlich. Alle. Die Fabrikanten, die hinter den Talenten her waren, die Trainer, die Betreuer, die unfähigen Funktionäre und natürlich auch die Teamgefährten. Intrigen, Lügen, Heuchelei, Verleumdungen, Bösartigkeiten und ein Kampf jeder gegen jeden. Alle waren sie Scheißer, miese Kreaturen!“

Peter und Helga saßen wie erstarrt.

Ralf stand auf. Er ging zum Fernseher und schaltete ihn aus. Dann drehte er sich langsam um.

„Das war aber noch alles nicht so schlimm. Ekelhaft wurde es erst so richtig, als der Patriotismus ins Spiel gebracht wurde, die größte Lüge, die es überhaupt gibt. Für das Vaterland zu siegen, das ist doch das größte, das muß es wohl sein, wenn man nach den vertrottelten Sportreportern geht und dem noch dümmeren Publi­kum, für das man stellvertretend fährt. Für dein Land wirst du das beste geben. Quatsch. Du willst nur für dich selbst gewinnen. Dein Land ist dir herzlich egal. Aber alle schlucken den Unsinn mit der Ehre fürs Vaterland.“

Erschöpft hielt er einen Augenblick inne.

„Ich lernte rasch. Mir wurde ein Image verpaßt, nach dem ich lebte. Ich handelte mir gute Verträge aus. Ich ließ sie alle bluten. Ich verkaufte mich teuer, und ich werde mich teuer verkaufen.“

„Und wie stufst du mich ein?“ fragte Peter.

„Du warst vom ersten Augenblick an ehrlich. Dir geht es um den Erfolg. Ich bin wichtig für dich und deine künftige Laufbahn. Du hast allen bewiesen, daß du aus einem Amateur einen Profi machen kannst. Um deine Zukunft als Trainer ist mir nicht bange.“

Er sah Helga an. In ihren Augen las er die Frage, die sie nicht zu stellen wagte.

„Du willst wissen, was ich von dir halte, Helga?“

Sie nickte zögernd.

„Willst du mich heiraten?“

Mit allem möglichen hatte sie gerechnet, doch mit dieser Frage nicht.

„Ja“, antwortete sie leise.

* * *

Ralf stand um acht Uhr auf. An das bevorstehende Rennen ver­suchte er nicht zu denken.

Frühsport mit dem Konditionstrainer Heini Dönger. Dann ein kräftiges Frühstück. Anschließend eine Massage von Karl Holzer, danach eine kurze ärztliche Untersuchung.

Wieder ins Bett. Doch er konnte nicht schlafen. Nach einer halben Stunde stand er auf, setzte sich an den Tisch und spielte eine Partie gegen den Schach-Computer. Spanisch mit 3.... a 6, die Gambitva­riante. Nach fünfundzwanzig Zügen war der Computer geschlagen.

Ein paar Minuten vor zwölf Uhr rasierte er sich sorgfältig.

Fünf Minuten nach zwölf Uhr begann das Zerren in seinem Magen. Seine Hände wurden feucht. Nervös lief er im Zimmer auf und ab. Er ging auf die Toilette und versuchte zu pinkeln, doch es klappte nicht.

„Verdammte Scheiße“, flüsterte er und stapfte wieder hin und her. Um halb eins holte Peter Sullivan ihn ab.

Alles in Ordnung, Ralf?”

Er lächelte verkrampft. „In meinem Magen hat sich ein Ameisen­volk niedergelassen. Mir ist abwechselnd kalt und warm. Ich fühle mich hundsmiserabel.“

„Dann ist ja alles bestens in Ordnung“, freute sich Peter. „Zieh dir den Pelzmantel an. Und setz dir die Mütze auf. Es ist saukalt.“

Ralf gehorchte.

Mit dem Schnellaufzug fuhren sie zum Hoteldach hinauf, wo bereits der Hubschrauber auf sie wartete.

Es war grimmig kalt. Ein strahlend schöner Tag, aber von den Rocky Mountains her kam ein beißender Wind.

„Die anderen sind schon am Start eingetroffen“, sagte Peter.

Ralf nickte und kletterte in den Helikopter. Peter folgte ihm. Sie schnallten sich an. Der Pilot winkte ihnen zu. Sanft hob er von der Plattform ab.

Mit jeder Minute wurde Ralf nervöser. Sein Gesicht war kreide­bleich. Er konnte die Hände nicht eine Sekunde ruhig halten.

Gelegentlich warf er einen raschen Blick auf Denver. Sie flogen am Stapleton International Airport vorbei, dann über die Innen­stadt mit den unzähligen Wolkenkratzern. Der Hubschrauber folgte der Interstate 70 schnurgerade nach Westen, genau auf die schneebedeckten Gipfel der Rockys zu.

Ralf schloß die Augen. Er wollte die rasch näher kommenden Berge nicht sehen. Um sich abzulenken, und die angespannten Nerven zu beruhigen, konzentrierte er sich auf ein Schachproblem. Innerhalb weniger Sekunden lagen seine Hände ruhig auf seinen Knien.

Peter kannte den Zustand, in dem sich Ralf befand, nur zu gut. Dieses Startfieber war unerläßlich. Sie hatten mit verschiedenen Medikamenten versucht, die Nervenanspannung zu mindern, doch die Ergebnisse waren nicht sehr erfolgreich gewesen. Außerdem gab es nichts zu besprechen. Vierzehn Tage lang hatten sie die WM-Strecke gründlichst studiert. Ralf wußte ganz genau wo die schwierigsten Stellen lagen. Alles war gesagt worden.

Der Hubschrauber landete unweit des Startgebäudes in dreitau­send Meter Höhe. Sie stiegen aus.

Hier oben war es noch kälter. Rasch liefen sie auf das Startgebäude zu und betraten die für das ATT-Team reservierten Räume. Ralf nickte dem rotgesichtigen Stadler, der das technische Team 102 leitete, zu und ging in den Massageraum, wo Holzer und Mandel bereits auf ihn warteten.

Ein Einlaufen vor dem Rennen war allen Läufern verboten. Ralf machte einige Lockerungsübungen, dann ließ er sich massieren.

Nur undeutlich nahm er wahr, was um ihn herum vorging. Er beschäftigte sich noch immer mit seinem Schachproblem.

Stadler brachte den blutroten Anzug, den er im Rennen tragen würde. Er bestand aus Kunststoffmaterial, das sich wie eine zweite Haut an den Körper schmiegte. In das hauchdünne Gewebe waren dünne Drähte eingearbeitet, die der medizinischen Überwachung während des Rennens dienten. Mandel schlang ein netzartiges Gebilde um Ralfs Kopf, verknotete es im Nacken und befestigte zwei kleine Apparate hinter seinen Ohren.

Ralf schlüpfte mühsam in den eiskalten Anzug, der sich nach wenigen Sekunden seiner Körperwärme anpaßte.

Dann stülpten sie ihm den Rennhelm über den Kopf. Mit den normalen Helmen hatte er nur wenig Ähnlichkeit. Er sah eher wie ein Taucherhelm aus.

Langsam stapfte Ralf aus dem Massageraum. Im Fernsehraum, der Kommandozentrale des ATT-Teams, ließ er sich auf einen Stuhl fallen.

Stadler klappte die Sichtklappe des Helms herunter, und der Kunststoff paßte sich sofort an die Lichtverhältnisse an. Der Helm hielt alle Geräusche von Ralf fern.

„Sprechprobe“, sagte Peter Sullivan, der auf einem erhöhten Stuhl saß. Ihm gegenüber an der Wand hingen neun nummerierte Bildschirme, die während des Rennens die zu den Nummern gehö­renden Läufer zeigen würden. Auf seinem Tisch befanden sich noch zwei Monitore, die den Lauf so zeigten, wie ihn zigmillionen Fern­sehzuschauer in sechzig Ländern sehen würden. Zwischen den Monitoren befand sich ein Mikrophon, mit dem er während des Rennens mit Ralf in Verbindung treten konnte.

„Ich verstehe dich gut, Peter.“

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs“, sagte Peter Sullivan. Ein Techniker regulierte die Lautstärke.

Dr. Mandel nahm neben Peter Sullivan Platz. Vor sich hatte er eine Art Schaltpult mit Skalen, Knöpfen und Hebeln. Diese Geräte zeigten laufend Ralfs Pulsschlag, seine Körpertemperatur und alle möglichen anderen Dinge an. Von diesem Steuerpult aus konnte der Arzt Ralf ferngesteuert schmerzstillende, aufputschende oder stär­kende Mittel injizieren, die sich in den zwei Apparaturen befanden, die er hinter Ralfs Ohren angebracht hatte. Und natürlich konnte er auch jederzeit die Sauerstoffzufuhr erhöhen, ganz wie es die Situa­tion erforderte. Ein Computer wertete ununterbrochen alle Daten aus, die man ihm über das im Anzug befindliche Netz lieferte.

„Alles OK“, sagte Mandel.

„Bei mir ist auch alles in Ordnung. Noch zehn Minuten bis zum Start.“

Ralf drehte sich nach rechts. Die Schmalseite des Raums nahm ein riesiger Fernsehschirm ein, auf dem das Programm der vereinig­ten US-Stationen zu sehen war. Der Ton war abgeschaltet.

Während ihm Stadler die Schuhe anzog, verfolgte Ralf die Ge­schehnisse auf dem Bildschirm.

Im Augenblick war die Strecke zu sehen.

Gesamtlänge: 9377 Meter.

Die Strecke war in zwei Teile gegliedert.

    Teil

    Start: 3020 m

    Ankunft Sessellift: 1420 m

    Länge: 5109 m

Kurz waren die Schlüsselstellen des ersten Teils zu sehen: die Spirale, der Abgrund, die Brücke.

    Teil

    Start: 2408 m

    Ziel: 1320 m

    Länge: 4268 m

Und auch hier waren die schwierigsten Stellen eingeblendet: Schanze, Tunnel, Labyrinth.

Ralf stand auf und schlüpfte in die Skibindung. Aber sofort sah er wieder zum Bildschirm. Die Namen der Läufer erschienen, ihre Startnummern, die Rennfarben und die Kurse.

1 - Tom Rowe – giftgrün - 30:1

2 - Bob David – rosa - 50:1

3 - Jean Kelly – hellblau - 25:1

4 - Carlo Dettori – orange - 150:1

5 - Steve Paradise - schwarz/rote Streifen - 20:1

6 - Gerard Lacombe – violett - 10:1

7 - Eraldo Tardelli – dottergelb - 160:1

8 - Archie Harper – hellbraun - 40:1

9 - Ralf Mayer – blutrot - 250:1

Noch sechs Minuten bis zum Start. In einer Minute mußte er hinaus ins Freie.

„Wieviel Geld hast du bei dir, Peter?“

„Etwa tausend Dollar.“

„Setz sie für mich auf Sieg!“

„Aber, du hast...“ Peter brach verwirrt ab. Nie zuvor hatte Ralf sich selbst in einem Rennen gespielt. „Wie du meinst. Carsten, kommen Sie her. Da haben Sie tausend Dollar. Beeilen Sie sich.“ Carsten schnappte die tausend Dollar und lief aus dem Zimmer. „Raus mit dir, Ralf.“

Gemächlich fuhr er auf die Startmaschine zu. Sie glich der eines normalen Galopprennens.

Einen Augenblick dachte er an Helga und Carol, die vor dem Fernseher sitzen würden, und wahrscheinlich nicht weniger nervös waren als er.

Die Scheibe seines Helms hatte sich an die andersartigen Licht­verhältnisse in Sekundenbruchteilen angepaßt. Das grelle Schim­mern der schneebedeckten Berge war nun nicht mehr zu erkennen.

Zwei Minuten bis zum Start.

Die Läufer 1 - 7 hatten die Boxen bereits betreten, und die hinteren Klappen waren von den Starthelfern verriegelt worden.

Nun betrat die Nummer 8 die Box. Archie Harper war ein erfahrener Profi. Vergangenes Jahr war er Dritter geworden.

„Hinein mit dir, Ralf“, hörte er Peters ruhige Stimme.

Er stapfte hinein und preßte sich gegen die geschlossenen Vorderklappen, die ihm bis zum Hals reichten. Er spürte einen sanften Druck im Rücken, als die hinteren Klappen geschlossen wurden. „Fünfzig Sekunden noch, Ralf. Entspanne dich.“

Verdammt, dachte Ralf, jetzt könnte ich pinkeln. Aber jetzt geht es nicht mehr.

„Fünfundzwanzig Sekunden. Laß dir mit dem Abspringen Zeit, Ralf.“

Üblicherweise sprang man wie verrückt ab, doch dieses Rennen war in jeder Beziehung anders. Normal stand die Startmaschine vor einem Steilhang, doch dieser Kurs fing harmlos an: mit einer Links­kurve. Da er die äußerste Startnummer hatte, war es für ihn unmöglich, sofort an die Innenseite der Bahn zu kommen. Und er wollte nicht schon kurz nach dem Start in einen eventuellen Mas­sensturz verwickelt werden.

„Zehn Sekunden noch.“

Ralf blickte geradeaus auf die verschneiten Berggipfel, deren Namen er nicht kannte und auch gar nicht kennen wollte.

„Fünf, vier, drei, zwei, los!“

Die Boxentür sprang auf.

„Los, Ralf!“

Er duckte sich und sprang hinaus. Erwartungsgemäß hatten die inneren Startnummern den besten Start erwischt.

Die 9377-Meter-Qual begann.

Er ließ sich ruhig nach links treiben. Die Piste war ohne Buckel und Rillen, völlig glatt. Der Schnee flog hoch.

Vor sich sah er zwei Fahrer. .Ein schwarzer Anzug mit roten Streifen und ein dottergelber. Paradise und Tardelli. Der bullige Amerikaner versuchte den Italiener von der Piste abzudrängen.

Ralf fuhr die Kurve ganz präzise an. Die beiden vor ihm liegen­den Fahrer kämpften noch immer miteinander.

Nun fiel die Strecke etwas steiler ab. Etwa hundert Meter lang war sie schnurgerade.

„Nach rechts, Ralf.“

„Er gehorchte. Während des Rennens würde er blindlings den Anweisungen seines Trainers gehorchen. Sullivan hatte einen viel besseren Überblick.

„Tiefer, geh tiefer in die Hocke. Versuche an Fünf und Sieben vor der Rechtskurve vorbeizukommen.“

Weit vorgebeugt raste er hinunter, fand die Ideallinie, fuhr wie auf Schienen, drückte alle Buckeln durch und raste an den beiden Kämpfenden vorbei, die weiter nach links abgetragen wurden. Er war der Spitzengruppe nähergekommen.

„Gut gemacht, Ralf.“

Auch in der Rechtskurve fand er die Ideallinie. Bis jetzt war das Rennen ein Kinderspiel gewesen. Zwanzig Sekunden würde die Spazierfahrt noch dauern, dann würde es ernst werden.

Er blickte stur geradeaus. Vor ihm lag die Mauer, jene Stelle, von der aus man in einen Flachteil geschleudert wurde.

Den Absprung erwischte er mittelprächtig. Er sprang zu weit ins Flache, setzte aber bombensicher auf.

Einer seiner Konkurrenten hatte den Aufsprung schlecht er­wischt. Der hellblaue Anzug wirbelte durch die Luft. Es war die Nummer 3 — Jean Kelly. Er überschlug sich und raste auf einen der Abfangzäune zu.

Das Flachstück war nur etwa vierhundert Meter lang, dann ging es einen vereisten Steilhang hinab, der voller Fallen war. Auf diesem Stück wurden Geschwindigkeiten bis zu 140 km/h erreicht.

„Fünf und Sieben sind dicht hinter dir, Ralf. Kelly hat den Sturz unverletzt überstanden. Er nimmt das Rennen wieder auf. Er hat einen Rückstand von neunundzwanzig Sekunden.“

Ralf raste das Steilstück hinab. Hier konnte er an Boden gewin­nen. Weit vor sich sah er die Spitzengruppe, die von Tom Rowe angeführt wurde.

Nun bremsten Buckel und Querrillen die rasende Fahrt.

Und schon tauchte die Todesspirale auf. Ein Betonturm, der aus zehn nummerierten Eingangslöchern bestand. Niemand wußte im voraus, welches der Löcher seine Nummer tragen würde. „Dein Loch ist das dritte von links, Ralf!“

„Danke“, keuchte er.

Er bremste weiter die Fahrt. Keinesfalls durfte er zu rasch sein, denn sonst konnte es passieren, daß er einen falschen Eingang erwischte. Das Herübernehmen nach links kostete Kraft.

Rowe und David verschwanden fast gleichzeitig in den Öffnun­gen, dann folgten Lacombe und Dettori.

Ralf riß es die Ski auseinander. Er fixierte Eingang Nummer 9 an.

Harper war nur noch zwei Meter vor ihm. Der Computer hatte ihm den Eingang zugewiesen, der neben dem Ralfs lag.

„Sei vorsichtig, Ralf!“ schrie Sullivan.

Ralf wollte keinesfalls Harper überholen. Der Amerikaner war für seine Brutalität bekannt.

Aber der Teil der Piste, auf dem sich Ralf befand, war buckellos und völlig glatt, während Harpers Bahn große Hindernisse aufwies. Zwangsläufig kam Ralf seinem Gegner immer näher.

Und dann war er neben Harper und fuhr an ihm vorbei.

In diesem Augenblick handelte der Amerikaner. Er besaß die Brutalität, die Ralf fehlte. Denn nach den ungeschriebenen Geset­zen der Profis hätte Ralf ihn behindern und aus der Bahn werfen müssen.

Harper besaß diese Skrupel nicht. Er riß den linken Stock hoch und stieß die Spitze tief in Ralfs rechten Oberschenkel. Blut floß aus der Wunde.

Ralf spürte den Schmerz, doch schon war der Eingang heran.

Er hatte ihn genau erwischt. Sofort wurde er hochgerissen. Die Spirale lief nach links. Fünf Sekunden später stand er auf dem Kopf und die schwindelerregende Fahrt ging weiter, auf und ab. Ralf schlug mit dem Kopf gegen die Decke, doch der Helm milderte den Stoß. Mit dem rechten Ellbogen schlug er gegen eine Wand, dann stand er wieder auf dem Kopf und wurde nach rechts in eine weitere Spirale gerissen. Alles drehte sich vor seinen Augen. Wieder ein Schlag gegen den rechten Arm.

„Was ist mit der Verletzung, Mandel?“ schrie Peter.

„Eine harmlose Fleischwunde. Ich habe die Blutung gestillt.“

Auf dem Bildschirm war nun in Zeitlupe Harpers Angriff auf Ralf zu sehen. Man sah ganz genau, wie sich die Stockspitze in den Oberschenkel bohrte und das Blut hervorquoll. Aber der Angriff hatte Harper kein Glück gebracht. Die Beschäftigung mit seinem Konkurrenten hatte sich nicht ausgezahlt. Er hatte sein Eingangs­loch schlecht angefahren und war mit der linken Skispitze hängen­geblieben. Die Bindung war aufgegangen. Er war nur mit einem Ski in das Labyrinth hineingefahren, war zu Fall gekommen und raste nun, sich endlos überschlagend, durch die Spirale. Bewußtlos kol­lerte er aus dem Labyrinth heraus, rutschte den Abhang hinunter, verfing sich in einem Fangzaun und blieb leblos liegen.

Ralf war wie eine Rakete aus dem Labyrinth geschossen und flog nun förmlich den vereisten Steilhang hinunter, der zum Höllengra­ben führte.

„Wie fühlst du dich, Ralf?“

„Meine Knie schmerzen“, keuchte er.

„Und die Wunde?“

„Spüre ich nicht.“

„Gut. Drück jetzt auf das Tempo.“

Peter hob den Kopf und blickte den Bildschirm an, auf dem Ralf zu sehen war. Links war seine Zeit eingeblendet und rechts die Geschwindigkeit, die er fuhr.

„Du bist mit 152 unterwegs. Tiefer in die Hocke. Du mußt 160 erreichen, sonst schaffst du den Graben nicht.“

Im Fernsehraum war es nun völlig ruhig. Alle starrten die sich ändernden Zahlen an.

155, 157, 159.

„Du schaffst es, Junge, du schaffst es!“

Peter atmete erleichtert auf, als die 162 kam.

Ralf wurde in die Luft geschleudert. Sein Flug war ruhig. Schein­bar schwerelos schwebte er über den Graben, der zehn Meter breit und siebzig Meter tief war. Etwas riß es ihm die Ski auseinander, als er landete, aber er korrigierte sofort.

„Gut, sehr gut, Junge.“

Das Keuchen Ralfs war im Raum zu hören.

„Du liegst gut im Rennen. Harper hat es erwischt.“

Er unterbrach die Verbindung.

„Harper ist tot“, sagte Holzer, der mit Kopfhörern das normale Programm verfolgte. „Er hat sich das Genick gebrochen.“

Es ist nicht schade um ihn, dachte Peter gefühllos.

Acht Läufer waren noch im Rennen. Vier vor Ralf, drei hinter ihm.

„Pulsschlag 192“, sagte der Arzt. „Sonstiger Zustand normal. Ich erhöhe die Sauerstoffzufuhr.“

Rowe und David kämpften um die Führung. Etwa fünfzig Meter dahinter fuhren Lacombe und Dettori, die sich aufmerksam belau­erten. Und zwanzig Meter dahinter lag Ralf.

Kelly war weiterhin ziemlich aus dem Rennen, doch das besagte nicht viel. Sicherlich würde noch der eine oder andere ausscheiden.

Ralfs Knie begannen stärker zu schmerzen, doch nach wenigen Sekunden hörte die Pein auf. Mandel hatte ihn behandelt.

Nun kam die Himmelsbrücke, das letzte schwierige Stück des ersten Teils der Abfahrt.

Die Himmelsbrücke war vierhundertfünfzig Meter lang, drei Meter breit, total vereist und voller Buckel und Rinnen. Zu beiden Seiten ging es fünfzig Meter in die Tiefe. Für jemanden, der da hinunterfiel, war das Rennen aus. Die Himmelsbrücke war eines der gefährlichsten Stücke der schwierigen Piste. Hier mußte man seine Gegner im Auge behalten, zu leicht konnte man in die Tiefe gestoßen werden.

Aber es gab noch eine heimtückische Schwierigkeit. Eine Wind­maschine war auf die Fahrer gerichtet. Der Wind wurde gelegentlich zum Sturm mit Spitzengeschwindigkeiten von hundert Kilo­metern. Und manchmal produzierte die Maschine auch heimtücki­sche Böen, gegen die es keine Rettung gab.

„Laß dich etwas zurückfallen.“

Ralf wurde ordentlich durchgerüttelt, als er die Brücke erreichte. Sofort duckte er sich, um den heranrasenden Windböen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Seine Geschwindigkeit wurde von Sekunde zu Sekunde langsamer. Immer wieder verriß es ihm die Skier.

Ralfs Körper war schweißgebadet. Sein Herz klopfte zum Zer­springen.

Und er hatte Angst, entsetzliche Angst.

„Keine Bange, Junge, du schaffst es“, sagte Sullivan, um ihm Mut zu machen.

Eine heftige Bö traf ihn und wirbelte ihn nach links herum. Die Spitze des linken Skis hing einen Augenblick in der Luft. Er kam in Rückenlage, korrigierte mit letzter Kraft und fuhr stöhnend weiter.

Der Wind wurde stärker, wurde zum tobenden Sturm, der ihn und seine Konkurrenten von der Brücke reißen und in den Ab­grund schleudern wollte.

„Verdammt, das war knapp“, flüsterte Peter.

Er sah auf den Bildschirm, der das normale TV-Bild zeigte. Er war nun viergeteilt. Links oben war der erste Läufer, Tom Rowe, von vorne zu sehen. Rechts oben zeigte Rowe, David und Lacombe von der Seite. Die unteren Viertel zeigten die beiden führenden Läufer in der Halbtotalen.

Der Führende wurde von einer Sturmbö getroffen und zur Seite geschleudert. Verzweifelt versuchte er das Gleichgewicht zu halten. Die Skier bis zu den Bindungen hingen in den Abgrund. Er war zum Stillstand gekommen und versuchte zurück auf die Piste zu kom­men.

Bob David jagte heran. Er fuhr nach rechts, hielt die Skier knapp beisammen.

Dann war er neben Rowe und handelte so, wie er handeln mußte: Er stieß ihn in die Tiefe.

Die Kamera zeigte den Fall das Kanadiers in Zeitlupe. Rowe überschlug sich einmal in der Luft, prallte im Fangnetz auf und blieb bewußtlos liegen. Für ihn war das Rennen zu Ende.

Endlich war die Brücke überwunden. Ralf atmete erleichtert auf. „David hat Rowe ausgeschaltet. Hast du es gesehen?“

„Nein.“

Über viertausend Meter der Strecke hatte er bewältigt. Nun ging es sanft in eine Rechtskurve, an deren Ende die achthundertzwan­zig Meter lange Loipe begann, die steil zu jenem Sessellift hinauf­führte, der ihn zum zweiten Teil der Strecke bringen würde.

Diese achthundertzwanzig Meter waren für Ralf höllisch. Lang­lauf war für ihn immer besonders schwierig gewesen. Und nicht einmal das Spezialtraining eines Langlaufstars hatte ihm besonders viel geholfen.

Auf diesem Stück würde er vermutlich wertvolle Sekunden ein­büßen. Seine Skier - natürlich auch die seiner Gegner - waren für dieses Stück denkbar ungeeignet.

„Kleine schnelle Schritte, Ralf. Vollste Kraftanstrengung. Jetzt gilt es. Zeig, was dir Toni beigebracht hat.“

Für Ralf war es eine Schinderei. Der Schweiß rann ihm in Strö­men übers Gesicht. Etwa hundert Meter bewältigte er mit dem Stampfschritt, dann verstärkte er einfach den Druck der Skier, um eine bessere Haftung der Bretter zu erreichen.

Seine Arme und Beine waren mit Blei gefüllt. Keuchend torkelte er weiter.

Aber Carlo Dettori schien es noch schlechter zu ergehen, denn Ralf kam ihm immer näher.

„Grätenschritt, Ralf.“

Wieder gehorchte er willig. Seine Skier waren nach außen gewin­kelt, auf die Innenkanten gestellt und die Knie nach innen gedrückt. Seine Stockschübe wurden immer kraftvoller.

Hat denn diese Qual noch immer kein Ende, dachte er verzwei­felt. Ich kann nicht mehr, verdammt noch mal, ich bin am Ende.

„Paß auf, Ralf? Stehenbleiben!“

Er rang nach Luft.

Dettori war die Anstrengung zu groß geworden. Der Italiener fiel auf den Bauch und rutschte den Abhang hinunter - genau auf Ralf zu. Ralf wirbelt herum und fuhr ein Stück zurück. Dann nach rechts. „Treppenschritt nach rechts!“

Sofort drückte er die Knie in Richtung Hang, stellte den Bergski eine halbe Fußlänge nach vorn, riß ihn hoch und setzte den Talski nach.

Dettori rutschte an ihm vorbei in die Tiefe. Er versuchte sich mit den Händen festzukrallen, konnte die immer schneller werdende Fahrt jedoch nicht bremsen.

„Weiter, Ralf.“

Einen Augenblick sah Ralf dem Italiener nach. Dettori stieß mit Eraldo Tardelli zusammen und riß den Schweizer mit sich.

„Schau nicht hinunter!“ brüllte Peter. „Los, Bewegung. Reiß dich zusammen!“

Ralfs Körper schmerzte. Jede Bewegung tat ihm weh. Seine Hände brannten vom Druck der Stockschlaufen.

Die Qual ging weiter. Im Grätenschritt stieg er weiter hoch. Vor seinen Augen drehte sich alles.

„Nur noch ein kurzes Stück, Ralf, dann hast du es geschafft.“

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als er endlich das Flachstück erreichte, das zum Sessellift führte. Mit ein paar klassischen Lang­laufschritten hatte er ihn erreicht.

„Jetzt haben Sie einige Minuten Zeit, um Ralf wieder aufzubauen, Mandel.“

„Er ist total erschöpft“, brummte der Arzt und hantierte an seinen Geräten herum.

Ralf hatte sich angeschnallt. Seine Augen waren geschlossen. Langsam begannen die Mittel zu wirken, die Mandel injizierte. Sein Atem wurde ruhig, der Pulsschlag war innerhalb von wenigen Minuten völlig normal.

Während das Fernsehen die aufregendsten Szenen des Rennens wiederholte, verschaffte sich Peter einen Überblick über Ralfs Konkurrenten.

Bob David führte überlegen mit einem Vorsprung von fast zehn Sekunden vor Gerard Lacombe, hinter dem Ralf mit etwa sechs Sekunden folgte. Nur wenige Sekunden trennten ihn von Steve Paradise und Jean Kelly, der seinen enormen Rückstand inzwi­schen wettgemacht hatte. Eraldo Tardelli hatte noch immer nicht den Sessellift erreicht. Sein Rückstand betrug fast eine halbe Mi­nute. Carlo Dettori hatte aufgegeben. Ihm war der Langlauf zu schwierig gewesen.

Sechs Läufer waren noch im Rennen. Harper war tot. Rowe hatte schwere innere Verletzungen davongetragen. Und Carlo Det­tori hatte das Handtuch geworfen.

Ralfs Chancen waren gar nicht übel, stellte Peter Sullivan fest. Der zweite Teil der Stecke lag ihm außerdem besser. Wenn alles glattging, dann war ein dritter Platz durchaus möglich.

* * *

Helga Gottwald hatte sich zusammen mit Bert Zinnemann den ersten Teil der Abfahrt angesehen.

Die hysterischen Anfälle, die der Manager während der Übertra­gung bekommen hatte, trieben sie allerdings in ihr eigenes Zimmer zurück.

Sie wollte allein sein.

Helga steckte sich eine Zigarette an und drückte sie schon nach drei Zügen wieder aus.

Sie schaltete den Fernseher ein.

Ihr wurde übel, als sie die Wiederholung von Harpers Todessturz sah.

„Das hätte auch Ralf sein können“, flüsterte sie.

Obwohl sie wegzusehen versuchte, trieb es sie zurück zum Fern­seher und dem mörderischen Rennen, das noch mindestens fünf Minuten dauern würde. Fünf Minuten. Eine Ewigkeit.

„Herr im Himmel, laß ihn durchkommen.“

„Das Rennen geht weiter!“ brüllte der Fernsehkommentator. „Bob David stürzt sich in die Tiefe!“

Sie wandte sich ab, wollte nicht hinsehen.

„Das ist der steilste Hang, der je in einem Abfahrtsrennen gefah­ren wurde. Dagegen ist die Streif eine Vergnügungsstrecke.“ Helga blickte wieder hin und hielt den Atem an.

Die vereiste Piste fiel fast senkrecht ab. Wer hier zum Sturz kam, war ein toter Mann.

„Im Augenblick ist David mit Tempo 170 unterwegs“, kreischte der Sprecher. „Verfolgen Sie die Zahlen am unteren Ende des Bildschirms. Wird er 200 schaffen?“

190.

„Und nun hat auch Gerard Lacombe das Rennen aufgenom­men!“

Der Bildschirm war nun in zwei Hälften geteilt. Auf der linken Seite sah man Lacombe im violetten Anzug. Auf der rechten Seite der rosa Anzug Davids, der ein dahinrasender Blitz zu sein schien. 195. 196.

„Ja, David schafft es. Zweihundert!

Helga setzte sich.

„Und nun greift auch Ralf Mayer ins Geschehen ein.“

Sie biß die Zähne zusammen. Ihre rechte Hand verkrallte sich im Polster.

Und da war er schon. Der Bildschirm nun dreigeteilt.

Ein blutrotes Schemen, die Stöcke unter die Arme geklemmt, tief in der Hocke, immer schneller werdend.

Sie wollte nicht hinsehen, doch sie konnte den Blick nicht abwen­den...

* * *

Ralf fühlte sich wie neugeboren. Fortgeblasen waren die Schmer­zen und die Müdigkeit. Nichts mehr war von seiner Erschöpfung geblieben. Mandels Zaubermittel hatten wieder einmal gewirkt.

Der Steilhang kam seinen Fähigkeiten entgegen. Hier konnte er Furchtlosigkeit und technisches Können beweisen.

Weit vor sich sah er einen violetten Punkt, der langsam grö­ßer wurde. Er kam Lacombe immer näher. Ralf konnte David nicht sehen. Der Amerikaner mußte bereits den Engpaß erreicht haben.

Ralf blieb in der Hocke. Voller Schuß!

Und der violette Punkt vor ihm wurde groß wie ein Tennisball, dann fußballgroß.

„Um Himmels willen, Ralf, nicht so schnell!“

Er war nur noch etwa hundert Meter hinter Lacombe, als er mit Tempo 140 auf den Engpaß zuschoß. Die Piste wurde schlechter und seine Fahrt langsamer.

Nun war schon die zwei Meter breite Durchfahrt zu erkennen, die zum Engpaß führte.

Lacombe schoß zwischen den Stangen hindurch, und Ralf hatte dicht aufgeschlossen.

„Nicht so nahe! Du rammst ihn ja.“

Ralf richtete sich etwas auf und hielt den Abstand zu Lacombe konstant.

„Er kann es schaffen“, sagte Peter. „Er kann es schaffen.“

Fünf Läufer hatten den Steilhang genommen und fuhren den Engpaß entlang.

Eraldo Tardelli schaffte es nicht.

Peter hatte schon viele Stürze gesehen, aber so einen noch nie.

Tardelli überschlug sich zehnmal, wurde auf ein Flachstück geschleudert und sprang zweimal wie ein Gummiball auf.

„Den hat es zerrissen“, flüsterte Holzer.

„Nur noch fünf sind im Rennen, Ralf. Eben ist Tardelli gestürzt. Laß dich weiter zurückfallen, verdammt noch mal. Jetzt kommt gleich die Schanze!“

Bob David hatte bereits die Anlaufspur erreicht. Er ging in die Hocke und raste die achtzig Meter hinab, die zum Schanzentisch führten. Es war eine Normalschanze, auf der ein guter Skispringer etwa achtzig Meter weit springen konnte. Aber hier sprangen Ab­fahrtsläufer, die diese Disziplin natürlich alle geübt hatten. Hier kam es darauf an, möglichst weit zu springen, da es nach dem Auslauf sofort in einen Steilhang ging.

David kam zu früh ab. Sein Flug war alles andere als schön. Er mußte korrigieren, ruderte herum, landete ziemlich unsanft und fiel hin.

„Wieder einer weniger“, sagte Peter.

Aber David war ein zäher Bursche. Er stand sofort auf und stapfte unverdrossen den Auslauf hoch.

Und da war auch schon Lacombe heran. Auch sein Absprung war nicht perfekt und seine Haltung alles andere als schön. Aber mit Abfahrtsskiern und Stöcken sprang es sich nun einmal nicht besonders gut. Er zischte den Auslauf hoch und schaffte es, den dahinterliegenden Steilhang zu erreichen.

Diese verdammten Stöcke, dachte Ralf, als er die Anlaufspur herunterschoß.

Aber an viel mehr konnte er nicht denken, denn da war schon der Schanzentisch heran.

Als die Skispitzen den Schanzentisch verließen, drückte er sich weg und schnellte den Körper aus dem Kniegelenk in die Luft. Die Skier lagen eng nebeneinander. Die Stöcke hielt er mit den Armen an seinen Körper gepreßt.

Der Flug war ruhig und weit.

Aber nun kam das schwierigste: der Aufsprung.

Er hielt die weite Vorlage bei. Die Knie zog er etwas hoch. Skier und Knie hielt er fest zusammen. Er landete ohne Schwierigkeiten, schoß den Auslauf hoch, und Sekunden später ging es wieder einen Steilhang hinunter.

„Gut, gut, sehr gut, Ralf.”

Ralf grinste. Skispringen hatte ihm schon immer Spaß gemacht. Jetzt ging es durch Tiefschnee. Er folgte der Spur, die Lacombe gezogen hatte.

Nur noch der Tunnel, der relativ harmlos war. Dann das heim­tückische Labyrinth, in dem man leicht die langsamste Spur erwi­schen konnte - und dann der Zielschuß. Dann hatte er es geschafft. Aber es waren noch fast zweitausend Meter bis zum Ziel, da konnte noch viel geschehen.

„Er liegt gut im Rennen“, murmelte Peter. Viel besser, als ich erwartet hätte, setzte er in Gedanken hinzu.

„Das kann nicht gutgehen“, schrie Stadler.

Peter hob den Kopf.

Steve Paradise hetzte den Anlauf hinunter, und nur wenige Me­ter hinter ihm war Jean Kelly.

„Kelly ist total übergeschnappt“, knurrte Holzer. „Er will Para­dise in der Luft erledigen!“

Paradise schoß in die Luft. Kelly war dicht hinter ihm. Doch der Franzose hatte den Absprung viel besser erwischt.

Die beiden hingen nebeneinander in der Luft. Paradise war der schlechtere Skispringer, und das nutzte Kelly brutal aus.

Er stieß mit seinem Skistock nach der Bindung von Paradises rechtem Ski, einmal, zweimal, dreimal.

„Wahnsinn, Wahnsinn“, keuchte Peter.

Die Bindung öffnete sich. Der Ski fiel in die Tiefe. Da griff Paradise zu. Er erwischte Kellys linken Skistock und klammerte sich daran fest.

Verzweifelt versuchte sich Kelly zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er versuchte seine Flughaltung zu korrigieren, doch auch damit hatte er kein Glück.

Paradise, der genau wußte, daß seine Chance vorbei war, wollte Kelly mit ins Unglück reißen. Und zumindest damit hatte er Erfolg.

Die beiden fielen trudelnd zu Boden. Paradise fiel auf den Rücken und kippte zur Seite. In diesem Augenblick landete Kelly. Sein linker Skistock bohrte sich in Paradises Bauch.

Paradises Ski stellte sich auf. Die Spitze knallte mit voller Wucht zwischen Kellys Beine.

„Verdammt, verdammt“, sagte Peter und blickte den Bildschirm an, auf dem Ralf zu sehen war.

Bob David hatte sich auf die Verfolgung gemacht. Sein Rück­stand zu Ralf betrug genau 41 Sekunden.

„Nur noch drei sind im Rennen, Ralf. Lacombe ist fünf Sekunden vor dir. David einundvierzig hinter dir. Kein Risiko eingehen, verstanden? Der zweite Platz ist dir ziemlich sicher. Fahr locker.“

Das werde ich auch tun, dachte Ralf.

Da war auch schon die vereiste Rechtskurve da, die zum Tunnel führte, in dem bequem drei Läufer nebeneinander fahren konnten.

Nun waren auch die ersten Zuschauer zu sehen. Die anderen Teile der Strecke waren hermetisch abgeschirmt worden.

Ralf hörte das Brüllen der Massen nicht. Er nahm die Leute nur undeutlich, wie verwaschene Farbflecken, wahr. Zwischen den Zu­schauern standen Bäume.

Die Piste war miserabel. Wenig Schnee. Viele Wurzeln und Buckel, alles sehr kräfteraubend.

„Lacombe hat den Vorsprung auf sieben Sekunden ausgebaut. David ist neununddreißig Sekunden hinter dir.“

Zum Teufel damit. Wenn ich nicht gewinne, dann bekomme ich für den zweiten Platz noch fünfhunderttausend Dollar. Auch nicht schlecht.

Der Tunnel war zu sehen.

Ralf ließ die Skier ruhig laufen.

Er fuhr in den Tunnel ein, der steil in die Tiefe führte. Vom Training her wußte er, daß die rechte Spur die schnellste war. Die nahm er auch.

Lichter blitzten auf, wurden greller, änderten die Farbe und schläferten seine Aufmerksamkeit ein.

Der Tunnel lag hinter ihm. Zu beiden Seiten tobten die Zuschauer. Ich schaffe es, ich schaffe es, ich schaffe es.

Nur daran dachte er.

Mechanisch wie ein Roboter legte er sich in die sanfte Rechts­kurve, die zum Labyrinth führte. Dort konnte er, falls er die richtige Einfahrt wählte, viel Zeit herausholen.

Das Labyrinth war - wie die Todesspirale - aus Beton gebaut. Es gab fünf Eingänge, die in einer hallenartigen Kuppel zusammenlie­fen und auf zwanzig Öffnungen zuführten, von denen er eine wählen konnte. Einige davon mündeten in schmale Gänge, die ins Freie führten, andere hingegen waren Sackgassen. Erwischte man eine solche, mußte man zurückgehen und war hoffnungslos abgeschla­gen. Einige der Gänge waren schneller, gerader.

„Zum Teufel, Ralf. Fahr schneller. Lacombe ist elf Sekunden vor dir! Und David fünfunddreißig hinter dir. Drück aufs Tempo!“

Gut gesagt, Peter. Drück aufs Tempo. Ich bin froh, daß ich überhaupt noch im Rennen bin. Froh, daß diese Schinderei bald ein Ende hat.

Nun konnten ihm auch Mandels Wundermittel nicht mehr viel helfen. Sein Körper war ausgepumpt. Er war völlig groggy.

Er konnte zwar den flachgestreckten Labyrinthbau sehen, nicht jedoch Lacombe.

Ralf fuhr auf die mittlere Labyrinthöffnung zu. Hier gab es weder Buckel noch Bodenwellen, die ihm die Skier hätten ausein­anderschlagen können.

Endlich hatte er die Öffnung erreicht. Ein paar Sekunden war es dunkel, dann wurde es hell. Die Halle war rot erleuchtet.

Zwanzig mannshohe, kreisrunde Öffnungen lagen vor ihm. Wel­che sollte er wählen?

Der Boden war funkelndes Eis. Spiegelglatt und steil abfallend. Ralf preßte die Skier mehr zusammen und richtete sich auf.

Er ließ sich einfach auf die Eingänge zutreiben. Noch immer hatte er sich nicht entschieden, welchen Ausgang er nehmen sollte.

Zum Teufel damit, ich lasse mich weiter treiben...

Er wurde nach rechts abgetrieben. Seine Fahrt wurde schneller. Die Skier trieben ihn auf den vierten Ausgang zu. Willig fuhr er hindurch.

„Lacombe hat einen schlechten Gang gewählt“, frohlockte Sul­livan. „Er wird einige Sekunden verlieren.“

Der funkelnde Gang wurde niedriger. Ralf ging in die Hocke. Sein rechter Knöchel begann zu schmerzen. Arme und Beine waren gefühllos.

„Bursche, du hast ein verdammtes Glück!“ schrie Peter. „Dein Gang ist schnurgerade. Jetzt gilt es! Du kannst Lacombe noch einholen!“

Ralf war bereits so abgestumpft, daß er sich über diese Nachricht nicht freuen konnte.

Bald ist alles vorbei, dachte er. Lacombe verlor immer mehr Zeit. Sein Gang verlief in Zickzackkurven.

„Sein Vorsprung beträgt nur noch drei Sekunden!“ jubelte Peter. „Sie müssen das Labyrinth fast gleichzeitig verlassen“, sagte Stadler aufgeregt.

„Zwei Sekunden Vorsprung.“

Ein Blick zu Bob David. Er war langsamer geworden. Fünfund­vierzig Sekunden lag er hinter Ralf.

„Eine Sekunde. Ralf und Gerard sind nur mehr eine Sekunde auseinander.“

„Ralf, du hast Lacombe fast eingeholt. Rascher, fahr rascher, du schaffst es, Junge! Denk an die Million! Denk an deine Wette! Zweihundertfünfzigtausend noch dazu. Mach schon! Komm!“

„Sie sind zeitgleich!“

Peter massierte sich das Kinn. Seine Augen brannten. Vor ihm die beiden Bildschirme. Auf dem einen Ralf, auf dem anderen Gerard Lacombe.

Und darüber ein dritter Bildschirm, auf dem die Ausfahrt des Labyrinths zu sehen war.

Jeden Augenblick mußten die beiden herauskommen. Dann war nur noch der Zielschuß zu überwinden.

Fast gleichzeitig wurden die beiden aus dem Labyrinth geschleu­dert.

Lacombe landete auf dem linken Ski, Ralf fast im selben Augen­blick auf beiden.

„Nein!“ schrie Peter und sprang hoch.

Die beiden rasten aufeinander zu!

Ralf versuchte auszuweichen. Lacombe kämpfte noch immer mit dem Gleichgewicht.

Und da prallten sie zusammen!

Peter schloß die Augen, stöhnte auf und ließ sich auf den Stuhl fallen.

„Scheiße, Scheiße“, fauchte Stadler.

Ralfs Augen waren weit aufgerissen, als er auf Lacombe zuraste. Er versuchte zu bremsen, eine andere Spur zu finden, doch eine Boden­welle schob ihn weiter an Lacombe heran.

Der Zusammenstoß war unvermeidlich Er rammte den Franzosen, der zur Seite flog, stürzte und sich einmal überschlug.

Ralf kam in Rückenlage, sein rechter Ski wurde hochgerissen. Dann sah er alles nur noch wie durch einen Schleier.

Er krachte auf eine Eisplatte. Sein rechter Fuß verdrehte sich. Schmerz. Schock. Einmal war er in der Luft, dann wieder auf der Piste. Die Schmerzen wurden unerträglich. Sein Bein verdreht. Das Schien­bein ein feuriges Schwert. Blut im Mund. Schmerz in der linken Schulter. Wieder ein Aufschlag, brutal und durch nichts gemildert.

Schwärze. Stimmen. Bewußtlosigkeit.

Zwei Sekunden lang starrte Peter Bildschirm Nummer 9 an. Ralf lag auf dem Bauch. Die Bindungen seiner Skier waren nicht aufge­gangen, denn sie waren so eingestellt, daß sie nicht aufgehen konn­ten. Ralf war den Zielschuß hinuntergeflogen, hatte sich unzählige Male überschlagen und war genau zweiundzwanzig Meter vor dem Ziel bewußtlos liegengeblieben.

„Zweiundzwanzig Meter!“ brüllte Peter auf. „Wie schwer ist er verletzt, Mandel?“

„Innere Verletzungen unbestimmten Grades. Schwerste Prellun­gen. Das rechte Bein ist dreimal gebrochen. Totale Zertrümmerung des Schienbeins und der Ferse. Oberschenkelfraktur. Aus, es ist aus. Ich verständige die Streckensanitäter.“

„Warten Sie, Mandel, warten Sie! Geben Sie Ralf eine schmerz­stillende Injektion.“

„Schon geschehen.“

Peter blickte auf Bildschirm sechs. Lacombe hing bewußtlos in einem Fangnetz. Bildschirm zwei. Bob David lag noch immer fünfunddreißig Sekunden hinter Ralf zurück.

„Keine Sanitäter, Mandel.“

„Sind Sie übergeschnappt, Sullivan?“

„Wir haben noch dreißig Sekunden, Mandel. Dreißig Sekunden. Wecken Sie Ralf auf.“

„Nein, das werde ich nicht tun.“

„Zweiundzwanzig Meter, Mandel. Wecken Sie ihn auf. Er soll selbst entscheiden.“

„Auf Ihre Verantwortung, Sullivan.“

„Auf meine Verantwortung!“

Fünfundzwanzig Sekunden noch.

Lacombe bewegte sich. David war im Labyrinth verschwunden. Ein Druck auf den Mikrophonknopf.

„Hörst du mich, Ralf?“

Keine Antwort.

„Verflucht, hörst du mich, Scheißer?“

Keine Antwort.

* * *

Helga war zusammengesackt. Ihre Augen waren leer. Wie eine Verrückte starrte sie den Bildschirm an.

Er ist tot, er ist tot. Tot. TOT.

Die Tür wurde aufgerissen, und Zinnemann stürzte herein. Er sah wie eine wandelnde Leiche aus.

Das Fernsehen wiederholte gerade in Zeitlupe den Zusammen­stoß.

„Unfaßbar, einfach unfaßbar.“

Und wieder sah sie es. Aufprall, hochgerissen, Aufprall, hochge­rissen, und immer weiter, immer weiter...

„So kurz vor dem Ziel mußte das geschehen! Ralf wäre sicher Zweiter geworden...“

„Halten Sie den Mund!“

Helga sprang auf und sprang Zinnemann wie eine Furie an. „Halten Sie Ihren gottverdammten Mund!“

„Ralf Mayer bewegt sich!“ schrie der Kommentator.

Helga wirbelte herum.

Tatsächlich. Ralf hatte sich bewegt.

„Er lebt. Er ist nicht tot.“

Sie rannte auf den Fernseher zu und fiel auf die Knie.

„Er lebt, er lebt. Zinnemann, er lebt!“

* * *

Stimmen. Weit entfernt.

„Hörst du mich, du verdammtes Arschloch?“

„Ich höre dich.“

Ralf schlug die Augen auf. Er spürte nichts. Er war nur müde, unendlich müde.

„Dein rechtes Bein ist kaputt. Du wirst nie mehr Ski fahren können. Lacombe ist aufgewacht. Du hast einen Vorsprung von zwanzig Sekunden vor David. Du liegst zweiundzwanzig Meter vor der Ziellinie. Steh auf, belaste das rechte Bein nicht und fahr auf dem linken durchs Ziel!“

Ich kann nicht aufstehen.”

„Verdammt, Ralf. Denk an die Million. Denk an die zweihundertfünfzigtausend. Du kannst es schaffen. Beweise es dir, beweise uns allen, daß du kein dummer Junge bist. Beweise, daß du ein Mann bist, ein Profi. Beweise es!“

Ralf drehte den Kopf zur Seite. Deutlich konnte er das Ziel erkennen. Es war ganz nahe.

Zweiundzwanzig Meter.

„Du hast noch fünfzehn Sekunden Zeit. Los, steh auf.“

Mein rechtes Bein ist gebrochen? Ich spüre keine Schmerzen. Mandels Mittel.

Die Pferde, die er züchten wollte. Die Million. Helga. Ruhm. Er würde ein Krüppel sein.

„Zehn Sekunden noch.“

Ralf zog das linke Bein an. Die Entscheidung war gefallen.

„Laß dir Zeit, Ralf, laß dir Zeit. David ist in einen toten Gang gefahren. Er verliert dadurch mindestens eine Minute. Nur ruhig. Er winkelte das linke Bein an. Dann verlagerte er sein Gewicht auf das gesunde Bein.

„Verdammt, Ralf, du hast doch nicht viel Zeit. Lacombe hat das Rennen wieder aufgenommen. Er hat beide Arme gebrochen. Du hast noch zehn Sekunden.

Zehn Sekunden.

Ralf rammte den rechten Skistock in die Piste, dann den linken. „Mach schon, beeil dich!“ schrie Sullivan.

Er stemmte sich hoch. Unendlich langsam. Wie in Zeitlupe. Nur nicht das rechte Bein belasten. Ruhig bleiben.

„Sieben Sekunden noch!“

Ich weiß, ich weiß. Ruhig bleiben.

Ralf stand jetzt auf dem linken Bein. Das rechte war seltsam verdreht. Er hielt sich an den Stöcken fest, hob das linke Bein und brachte den Ski in die richtige Stellung. Er wies genau auf das Ziel.

„Gut, prächtig, du bist ein Held.“

Ich bin kein Held. Eine Million. Der Werbevertrag.

Langsam fuhr er los.

Noch fünfzehn Meter.

„Fünf Sekunden noch.“ Peters Stimme zitterte.

Fünf Sekunden für fünfzehn Meter.

Zehn Meter. Fünf Meter.

Noch einmal mit den Stöcken stoßen. Alle Kraft in diesen Stoß legen. Alle Kraft.

Zwei Meter.

Das linke Bein will nicht. Das Knie gibt nach.

Neunzig Zentimeter.

„Er ist hinter dir, Ralf!“

Er sieht nichts. Schwärze. Sein Gehirn ist leer.

Fünfzehn Zentimeter.

Stimmen, undeutlich, weit fort. Gedanken, verwischt und un­deutlich.

Jeder Zentimeter eine Ewigkeit.

Wieder wurde Ralf bewußtlos.

„Du bist Weltmeister, Ralf. Du bist Weltmeister! Hörst du mich?“

Schweigen. Nur röchelndes Atmen, seltsam flach und erstickt. „Ralf, hörst du mich?“

Vier Tage lang war er bewußlos. Vier Tage, an denen sie an ihm herumoperierten.

Als er erwachte, hatten sie ihm ein Bein abgenommen. Es roch nach Spital. Er wagte nicht die Augen zu öffnen.

Nur ein paar Sekunden war er wach, dann schlief er wieder ein. Es war Nacht, als er wieder erwachte.

Diesmal schlug er die Augen auf.

Die Schwester war kurz hinausgegangen.

Drei Minuten und dreiunddreißig Sekunden war er unbeaufsich­tigt.

Ralf schlug die Decke zur Seite, und schrie auf.

Er starrte den verbundenen Stumpf an, das, was von seinem rechten Bein übriggeblieben war.

UND WIEDER SCHRIE ER.

„Eine Million und zweihundertfünfzigtausend Dollar für ein Bein!“

Sie waren alle gekommen, das ganze Team. Alle seltsam verlegen. Das amputierte Bein wurde nicht erwähnt. Ralf verjagte sie alle, mit Ausnahme von Peter Sullivan und Helga.

„Ich wollte aufhören. Nun muß ich aufhören.“

Helgas Augen waren feucht. Peters Gesicht eine Maske.

„So sagt doch endlich etwas. Ich wußte, worauf ich mich einließ. Mir war das Risiko klar. Ich habe nur ein Bein verloren - andere das Leben.“

Helga und Peter schwiegen.

„Verdammt noch mal, Peter, du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Du und ich, wir haben richtig gehandelt. Mein Bein war sowieso schon beim Teufel.“

Peter zuckte die Schultern. „Was wird aus deinen Plänen, Ralf?“

„Vermutlich wird es lange dauern, bis ich mich an die Prothese gewöhne, aber ich werde es schaffen. Ich bleibe bei meinen Plänen. Ich werde mir eine Farm kaufen und Pferde züchten.“ Er sah Helga an. „Ich weiß nicht, ob du mich auch nur mit einem Bein willst, Helga.“

„Ich will“, sagte sie lächelnd.

„Dann ist es gut“, flüsterte er. „Laßt mich bitte allein, ich bin müde."

© by Kurt Luif 1980 & 2016

Kommentare  

#1 Hermes 2016-04-21 10:14
Diese Fassung kenne ich noch von früher.
#2 Schnabel 2016-04-21 19:51
zitiere Hermes:
Diese Fassung kenne ich noch von früher.

Dann hast du wohl die Anthologie...
#3 Hermes 2016-04-21 19:55
Ja Moewig SF 3527 aus dem Jahre 1980

Mit folgenden Geschichten:
•Karl Michael Armer: Es ist kein Erdbeben, ihnen zittern nur die Knie
•Karl-Ulrich Burgdorf: Ein Tag im Zentrum
•Herbert W. Franke: Schaukampf
•Ronald M. Hahn: Die Stimme der Imagination
•Helmuth Horowitz: Willkommen in der Stadt der Angst
•Joachim Koerber: Flammenmeer
•Joerg von Liebenfels: Das Monument der Harmonie
•Hendrik P. Linckens: Cruise-Missile-Effekt
•Kurt Luif: Dabeisein ist alles
•Horst Pukallus: Held des Universums
•Joerg E. Weigand: Immer am Ball
•Thomas Ziegler: Artefakt 5578
#4 Hermes 2016-04-22 13:27
Titel des Bandes:

Ronald M. Hahn, Gemischte Gefühle

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