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Vampire im Nebel (Eine necropolitanische Geschichte)

StoryVampire im Nebel
(Eine necropolitanische Geschichte)

1. Goldfingers Prophezeiung

„I used to think that these things happened for a reason!“
(Sunshine Underground: „Commercial Breakdown“)

Sucht man ein Klischee für den ersten Satz eines Romans, so wird einem als Erstes gewiß die Phrase „Es war eine dunkle und stürmische Nacht“ einfallen. Warum auch nicht? Schließlich wird mittels dieser Wendung nicht nur in aller Knappheit die Atmosphäre geschildert, sie manövriert den Leser auch ohne Umschweife in den Übergangsbereich zwischen der vertrauten Welt und dem Fremden.
Vampire im NebelDenn dunkel ist die Nacht für gewöhnlich dann, wenn man es nicht mitbekommt, weil man sich im seligen Schlummer befindet – Also steht sie für das Unbekannte, das Verborgene. Für die Bereiche, die uns weder das Licht des Tages, noch das des wachen Geistes enthüllen. Das, was wir nicht kennen, fürchten wir, und so war die Finsternis schon zu Anbeginn der Menschheitsgeschichte Heimstatt aller möglichen Schreckgestalten, angefangen bei dem gewöhnlichen Spitzbuben, der seine Untaten lieber im Verborgenen begeht, über die Alpträume, die uns ohnehin im Schlaf, und damit zu Zeiten der Düsternis heimsuchen, bis hin zu den gräßlichsten Wesenheiten, die sich die Phantasie nur auszudenken vermag, wenn uns nicht der Sicherheit und Rettung verheißende Schein der Sonne umgibt.
Aber die Nacht, sie ist ja nicht nur „dunkel“, sondern auch noch „stürmisch“! Der Sturm, jener energische Ausbruch unberechenbarer Elementargewalten, der ganze Bäume umreißt, und das Meer über die Deiche peitscht, er ist nicht nur beunruhigend, sondern zugleich auch aufwühlend. Die Natur ist entfesselt, und dies gilt nicht nur für die der Außenwelt. So mancher wird nur zu schnell mit einbezogen, der sich nicht beizeiten in den Schutz einer Behausung, und damit in die Obhut der Zivilisation begeben hat.
Und hiermit habe ich auch schon eine weitere Funktion des besagten Satzes angedeutet, nämlich den psychologischen Symbolismus. Denn wenn der Autor von einer „stürmischen Nacht“ schreibt, mag er damit durch die Blume sagen wollen, daß sich etwas in dem Protagonisten oder aber in uns selbst bislang Verborgenes mit Gewalt Bahn zu brechen sucht. Daß etwas „stürmisch“ aus den „dunklen“ Tiefen der Seele hervor dringt…
Man sieht also, diese nur scheinbar so belanglos daherkommende Wortkombination hat es in sich. Sie mag eine Erzählung einleiten, in der lichtscheues Gesindel sein Unwesen treibt, aber auch ein Werk, welches die Emotionen, welches das Innenleben der Charaktere selbst zum eigentlichen Thema auserkoren hat.
Wie dem auch sei, diese Geschichte, die ich zu erzählen habe, beginnt genau wie eine andere, deren Schatten immer wieder spürbar sein, und einen Hauch unangenehmer Kühle auf die Handlung werfen wird, mit eben diesem angesprochenen Satz: „Es war eine dunkle und stürmische Nacht.“
Und das war sie auch, ungelogen!
Insbesondere hier draußen in der Wildnis, irgendwo im Niemandsland zwischen den Dörfern, wo die als Koppelgrenzen fungierenden Knicks wenig taten, um den über den weiten, ebenen Feldern auffrischenden Orkan aufzuhalten. Wo es bei weitem mehr Bäume als Menschen gab, und die sporadischen Bauernhöfe von der umstehenden Makroflora fast schon verschluckt wurden.
Auch in der altmodisch eingerichteten Küche des Carstensen- Anwesens war das Jammern und Jaulen deutlich zu vernehmen. Die Böen drückten knirschend gegen die Fensterscheiben und saugten die Wärme aus dem Schlot des Feuerherdes. Die beiden hier anwesenden Damen jedoch schien es nicht weiter zu stören; wer hier draußen wohnt, ist insbesondere gegen Jahresende an derlei Wetterlagen gewöhnt.
Trotzdem kommt von Zeit zu Zeit mal etwas vor, das auch jemanden wie sie, der hier aufgewachsen ist, verwundert aufschauen läßt. Zum Beispiel ein Geräusch, das sich einfach nicht in den vertrauten Kontext fügen will…
„War das Goldfinger?“, wunderte sich Karen und schaute von ihrer Zeitung auf: Sie glaubte, in den Böen etwas vernommen zu haben, das nach dem Krakeelen ihres Hahnes geklungen haben mochte. Die beiden Frauen hatten ihn tatsächlich nach jenem „James Bond“- Film benannt, auch wenn er nicht unbedingt viel Ähnlichkeit mit Gert Fröbe aufwies (Gut, auf seine alten Tage war er etwas fett geworden…). Schließlich hatte sein Krähen die Melodie der Bläsersequenz unmittelbar nach dem von Shirley Bassey gesungenen Titel des Streifens.
„Jetzt?“, reagierte ihre Freundin und Mitbewohnerin Iris irritiert, „Die Sonne ist doch schon längst untergegangen!“
Hühner waren, was die Morgen- und Abenddämmerung anbelangte, wie die meisten Vögel ein Musterbeispiel an Pünktlichkeit und Korrektheit. Vielleicht mochten sie im Norden Skandinaviens zu Zeiten des Mittsommers einmal Fünfe gerade sein lassen, aber hierzulande richtete sich der Schlafrhythmus des Federviehs nach dem Stand des Himmelslichts. Es sei denn, ein Marder oder Wiesel gab um die Geisterstunde herum ein unerwartetes Gastspiel im Stall… Aber in dem Fall wäre ein panisches Gackern aus allen Kehlen gekommen, bis die eine nach der anderen durchgebissen würden. Und das wäre gewiß nicht zu überhören gewesen!
Ohnehin war es einer der für Schleswig- Holstein so typischen Herbstwinde, der um den altehrwürdigen Carstensen- Hof pustete, und dabei nicht nur selbst alle möglichen Spielarten dämonischen Gespenstergeheuls anstimmte, sondern auch noch die zahlreichen Bäume rund um das Anwesen voller Dramatik rauschen ließ. Bei einem derart lautstarken Toben der Naturgewalten war es nicht verwunderlich, daß sich die Altvorderen alle möglichen Geschichte über eine ganze Bandbreite von Spukgestalten erzählt hatten, von einfachen Alpdrücken über Walküren und vielerlei Elfen, Trolle, Riesen und Kobolden bis hin zum wilden Wode , dem es gelang, sich zum Göttervater aufzuschwingen. Und so mancher, der in gepflegter Gesellschaft über den Aberglauben vergangener Jahrhunderte spottete, fühlte sich auf seinem einsamen Heimweg quer durch das nocturne Dunkel auffallend rasch bekehrt… umzingelt von den Silhouetten tuschelnder und zischender Eiben und Eschen, Eichen und Buchen, Birken und Weiden, und bedrängt von der unangenehm körperlich werdenden Brise! Und er tat gut daran zu schaudern, waren herab brechende Äste doch nicht das Einzige, das es zu fürchten galt. Denn was immer sich die Phantasie auch zusammenspinnen mag, zumeist liegt ihren Ranken und Blüten ein ziemlich realer Nährboden zugrunde.
Nirgends konnte man diese unheimliche Stimmung deutlicher fühlen, als hier draußen, weitab von jeder größeren menschlichen Ansiedlung. Eine Handvoll angemessen voneinander entfernter landwirtschaftlicher Betriebe, eine Bushaltestelle, ein Gedenkstein und reichlich Knicks und Weideland – Viel mehr gab es hier eigentlich nicht, wenn man einmal von dem Pfahl mit dem Storchennest absah, der dem Carstensen- Hof genau gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Dem Anwesen, in dem Karen und Iris lebten. Sie waren erst um die achtundzwanzig; man traute ihnen vom Erscheinungsbild her gewiß nicht zu, daß sie eine gemeinsam aufgezogene Tochter hatten, die bereits die Pubertät erreicht hatte. Ebensowenig sah man ihnen an, daß sie ihr täglich Brot auf dem Feld verdienten. Noch weniger freilich mochte man darauf kommen, welcher Beschäftigung sie sonst noch nachgingen…
„Da!“, keuchte Karen halblaut auf, und lugte über den Rand der Brille, die sie erst seit wenigen Monaten zu tragen pflegte, und dann auch nur zum Lesen, „Ich hab‘ es schon wieder gehört.“
Nun schaute auch Iris auf. Sie war gerade damit beschäftigt, die Wäsche zusammenzulegen, die über Nachmittag draußen auf der Leine gehangen hatte. Man gut, sie hatte sie rechtzeitig reingeholt, bevor der Wind so richtig aufgefrischt hatte!
„Hast du den Hühnerstall zugemacht?“, erkundigte sie sich besorgt.
„Ja, gleich nach dem Abendbrot,“ versicherte ihr ihre Freundin.
Sie hatten es beide gehört…
Bangigkeit war ein Fremdwort im Hause Carstensen: Karen legte Gläser und Gazette zur Seite, und Iris ließ die restlichen Kleider auf der Anrichte: Was immer da draußen vor sich ging, es sollte besser in Augenschein genommen werden! Vielleicht lag es an dem Tosen und Jaulen des Herbststurms, daß sie derart schnell auf den Beinen, derart rasch beunruhigt waren, aber da gab es noch einen anderen Grund, der mit ihrer zweiten, nicht bäuerlichen Tätigkeit zu tun hatte. Und dem Wissen, das sie mit sich brachte…
Das Küchenfenster ging nach vorne hinaus, und trotzdem ließ es ein paar düstere Silhouetten der sich unter dem Andruck des Orkans biegenden und fauchenden Bäume in der Düsternis erkennen, als die Zwei in den schmalen Flur preschten, wo ihre Jacken an den Garderobenhaken hingen. Sie nahmen sich noch nicht einmal die Zeit, die Reißverschlüsse zuzumachen, enterten schon die Lohdiele. Jene große, nach aufgewirbeltem Staub riechende Tenne, in der sie den Trecker und den Wagen abzustellen pflegten, sowie die Milchkannen und das eine oder andere Ackergerät… Schon allein die Akustik verriet ihnen, daß sie nicht mehr zu allen Seiten Mauern von der nächtlichen, ungestüm wütenden Wildnis trennten, sondern an manchen Stellen gerade mal dünne Eternitschindeln oder Holz. Der Lärm der Brise wurde hier erst so wirklich unheimlich.
Doch die Zwei hatten es eilig; sie fanden noch nicht einmal die Muße, ein auch noch so kleines Licht zur Orientierung und Beschwichtigung der Nerven anzuknipsen. Schließlich kannten sie den Weg… Hier gab es keine Zwischendecke über ihnen, und das Knirschen des Gebälks unter der Wucht der Böen klang nicht unbedingt vertrauenerweckend. Mehr so, als wäre der wilde Wode selbst ins Gestühl gefahren, und hätte das Dach mit einem eigenen, unheiligen Leben erfüllt, auf daß es sich vom Mauerwerk zu lösen suchte, um als bombastische Monstrosität auf seinen Bohlen über die mondbeschienenen Koppeln zu staksen. Die gruselige Schwärze, die hier herrschte, und das von draußen herein tönende Toben des Sturmes ließen selbst dieses wirre Hirngespinst in den Bereich des Möglichen rücken.
Silhouetten huschten durch die Dunkelheit, nur vage auszumachen als etwas düstereres Schwarz, verglichen mit der Umgebung… Man konnte noch nicht einmal erkennen, ob es sich um Schatten handelte, oder aber um etwas mit eigenen Konturen, das über die gleichfalls von der Finsternis verschluckten Latten und Bohlen huschte.
Karen bekam den rostigen Metallgriff mit der Daumenklinke zu fassen und öffnete die aus Brettern zusammengezimmerte Hintertür – Sie wurde ihr von der Gewalt des Orkans regelrecht aus der Hand gerissen. Werder das Quietschen der Angeln, noch das Knallen gegen die Außenwand waren bei dem ohrenbetäubenden Geheul noch wahrzunehmen. Sofort wurde der Frau das kurze, auffallend braunrote Haar aus dem blassen, spitzen Gesicht geblasen, und die offene Jacke knatterte hinter ihrem Rücken wie ein Kriegswimpel bei der Kavallerieattacke. Viel Polster hatte ihr schmächtiger Leib nicht; sämtliche Körperwärme war mit einem Mal entschwunden. Fort gepustet in die Lichtlosigkeit der Lohdiele hinter ihr. Ihre Physis war auf einen Schlag so ausgekühlt, als wäre ihr die Seele gleich mit entrissen worden.
Da tauchte aber auch schon ihre Gefährtin hinter ihr auf: Iris war zwar auch keine Bodybuilderin, doch hatten aus ihr die langen Jahre als Bauerstochter eine kräftige junge Frau gemacht. Kräftiger als Karen auf jeden Fall, auch wenn man es dem gleichfalls nicht sonderlich hochgewachsenen Fräulein erst auf dem zweiten oder dritten Blick ansah. Zumal sie schon als Kind diese braunen, ewig wehleidig anmutenden Augen unter hoch ansetzenden Brauen hatte, der sie automatisch zierlicher und fragiler aussehen ließ, als sie in Wirklichkeit war.
„Spielen wir Windsbraut?“, zog sie ihre Kameradin auf, die immer noch im Türrahmen stand und sich das Haar aus der Stirn wehen ließ.
Die wahren Windsbräute heulten protestierend um das Anwesen, daß das Gebälk nur so am Knirschen war.
„Nö,“ reagierte die Geneckte schnippisch, „Ich fang‘ nur die Zugluft für dich ab, damit du dir keinen Schnupfen holst.“
Beide mußten sie schreien, um einander überhaupt verstehen zu können.
„Du willst doch nur, daß ich dich wieder aufpäppeln muß, während du ach- so- krank im Bett faulenzt!“ – Iris‘ freche Retourkutsche wurde schon gar nicht mehr vernommen, denn justament trat ihre Gefährtin mit der rotbraunen Frisur ins Freie, und das Tosen des Sturms um ihre Ohren machte sie nahezu taub für alles andere. Ihre Füße waren zu klein, und ihre Augen zu groß für ein Unwetter wie dieses, aber ihre Entschlossenheit hatte schon ganz andere Mankos wieder wett gemacht. Schließlich gab es immer wieder Zeitgenossen, die meinten, leichtes Spiel dabei zu haben, einen zu brechen, nur weil man zierlich aussah – Bisher hatten sie sich alle blutige Nasen geholt! Ein bißchen bewegte Atmosphäre fiel da gar nicht ernst als ernst zu nehmendes Hindernis ins Gewicht…
Vielleicht war es diese Beherztheit, kombiniert mit einer außerordentlichen Zähigkeit, die sie und Iris so eng miteinander verband.
So auch jetzt: Es war keine Frage gewesen, daß sie sich beide aufmachten in den Orkan hinaus. In die nocturne Kälte, um nachzuschauen, welch befremdliche Sachen da im Hühnerstall vor sich gehen mochten. In der Tat erwartete sie eine Nacht, wie sie ein Schriftsteller nicht schlimmer hätte erdenken können. Die düsteren Silhouetten der Schlangen gleich zischenden Baumarmee ragten gewaltig vor ihnen auf. Der Eichen und Weiden, Eschen und Birken, die ihre Äste mit den wippenden Zweigen erhoben, als wären es die klauen- und krallenbewehrten Arme und Tentakel bizarrer, aber riesiger Ungeheuer aus den unerforschten Tiefen des Erdreichs. Gräser, Blätter, Unkraut – Alles war in hektischer Bewegung, wie in panischer Flucht und überstürztem Angriff gleichzeitig. Jeder Zoll Natur hier draußen schien pure Aggression, beseelt von einem wütenden Leben, das keinerlei gesegneten Ursprungs sein konnte. Die steife Brise schleuderte alle möglichen Gegenstände tödlichen Geschossen gleich vor sich her: Vertrautes wie Laub und abgerissenes Zweigwerk, aber auch in dem Schummer nicht zu Identifizierendes, und sogar Dinge, die sich bestenfalls als Schatten mit nicht sicher festgelegten Umrissen beschreiben ließen. Dinge, die sich am ehesten mit den Wolken vergleichen ließen, die in der Lichtlosigkeit kaum erkennbar über den Himmel preschten, und dabei wie fliegende Monsteramöben aus der Verwandtschaft Cthulhus  ihre Form veränderten. Unsichtbare Pranken aus Wind zerrten und rissen an allem, was sie zu fassen bekamen, sei es ein achtlos stehengelassener, laut polternder Blecheimer, oder sei es das, was die beunruhigten Damen am Leibe trugen. Und er schleppte all die ungezählten, furchtbaren Schicksale jener kleinen Tiere mit sich, die dem Wüten und Tosen zum Trotz versucht hatten, ihren Bau zu verlassen. Oder gar, ihre Flügel auszubreiten, und vom Boden abzuheben. Ja, das Jaulen und Jammern des Orkans selbst schien sich zusammenzusetzen aus all den entsetzten und verzweifelten Todesschreien jener unglückseligen Kreaturen, die einfach so zerschmettert worden waren. Oder erschlagen von einem vorbeischießenden Gegenstand. Und sie waren samt und sonders zu Geistern geworden… zu entfesselten Geistern, die hungrig mit dem Sturm tobten und kreischten, über alles Staubgeborene herfielen, als Teil von Wodes wilder Meute.
Der kleine Hof hinter dem Anwesen war normalerweise alles andere als ausgedehnt. Normalerweise… Aber nun, wo das Zurücklegen von Zentimetern schon einem Tagwerk gleichkam, schien er die Dimensionen der Sierra Madre zu haben. Jeder Schritt weiter in die ungemütliche Nacht hinaus ähnelte mehr einem Abtauchen in die unheimlichen Zonen einer unerforschten Tiefsee. Der an sich ganz nahe Hühnerschuppen zeichnete sich gerade mal anhand ein paar vager Umrisse in der undurchdringlich anmutenden Wand aus Kapriolen schlagender Lichtlosigkeit ab. Wirkte unwirklicher vor den Augen, als eine Fata Morgana. Den Augen, welche die Bäuerinnen vor lauter Windstärke kaum offen halten konnten. Ihrer Orientierung in dieser vor Wolken nahezu mondlosen Nacht war dies nicht unbedingt zuträglich. Trotzdem dachte keine der beiden Frauen daran, umzudrehen und eine Taschenlampe zu holen: Wenn ihre Ohren wirklich das vernommen hatten, was sie zu hören geglaubt hatten, hatten sie nicht unbedingt Zeit zu verschenken!
Sie beschleunigten ihren Schritt, hielten sich die dünnen Jacken zu. Es waren nur wenige Meter bis zum anvisierten Verschlag, aber sie kamen ihnen schier endlos vor. Sie, die beide eher grazil von Gestalt waren (Karen noch mehr als die etwas robustere Iris), stemmten sich geradezu im 45°- Winkel gegen die Brise, kämpften sich voran wie durch einen reißenden Wildbach. Haare peitschten um Gesichter; klammes Laub wurde gegen die Kleidung katapultiert und blieb dort haften. Die Damen froren, doch es war gewiß nicht die Kälte der Brise allein, die ihre Kiefer zum Klappern brachte. Zumal sich in dem Heulen immer wieder Laute erahnen ließen, die nicht von dem Unwetter selbst herrühren konnten. Die mal Schreie von Tieren sein mochten, von Eulenvögeln oder fernen Rindern, panisch und verzweifelt, mal aber auch zu grotesk klangen, um noch irgendeiner staubgeborenen Kehle entstammen zu können.
Derweil waren die anfangs eher trügerischen Konturen des Geflügelschobers zunehmend deutlicher auszumachen. Wirkten mehr und mehr wie das Portal nach draußen für jemanden, der von einem von Vampiren verseuchten Friedhof zu flüchten sucht. Auch wenn sich weder bei Iris, noch bei Karen so früh schon ein Gefühl der Erleichterung einstellen mochte: Dafür war die Situation bei weitem noch zu ernst! Zumal das beunruhigende Gefühl, observiert zu werden, von Sekunde zu Sekunde zuzunehmen schien. Observiert von den Bäumen, den Schatten, den Böen selbst. Mehr als einmal schienen die kahlen Zweige nach ihnen auszugreifen, insbesondere wenn sie gerade nicht hinschauten… Just, als hätten die Äste einmal Fleisch getragen, das lediglich im Laufe der untoten Jahre verfault, verwest und verrottet war!
Der Wind schien an Kraft noch zuzunehmen, und trotzdem beschleunigten sich die Schritte der Frauen, als ob mehr und mehr die Panik Macht über sie erlangte. Endlich gelang es Karen, den Griff der Stalltür zu fassen zu bekommen. Sie krallte sich zunächst mehr daran fest, als daß sie wirklich versuchte, die mannshohe Bretterluke zu öffnen. Als sie es dann doch wagte, wurde sie beinahe umgeschmissen und gegen ihre Gefährtin geworfen. Der für dieses Kabuff charakteristische Geruch nach Staub, Küchenabfällen und Gefieder war bei all der verwirbelten Luft des Orkans nicht mehr auszumachen. Ebensowenig jedwedes erstaunte Gackern inmitten des Getöses, das sie praktisch taub machte. Ja, bei all dem Tohuwabohu war eigentlich nur noch auf den Tastsinn verlaß, und genau auf den verließ sich Karen, als sie an der Innenseite der Außenmauer nach dem Lichtschalter suchte. Zuerst allerdings erfühlte sie nur das am Putz entlangführende Kabel, bis sie daran abwärts fahrend das Plastikkästchen mit dem Knopf selbst in die Finger bekam. Das Anschalten war wie ein taktiler Hilfeschrei. Wie das verzweifelte Betätigen der Alarmsirene, wenn der Bankräuber mit gezogenem Revolver vor einem am Tresen steht.
Tatsächlich vermittelte das jäh aufblitzende, orangen getönte Glühbirnenlicht von der Decke her den gefährlich trügerischen Eindruck eines vertrauten Anblicks, einer inselhaften Zone des Alltags inmitten dieser beunruhigend fremdartigen Welt. Der Welt aus Sturm und Schwärze, in der einem keiner der drei wichtigsten Sinne mehr verläßliche Impressionen lieferte.
Die Damen flüchteten sich regelrecht in das Schlafquartier des Federviehs. In die Illusion des Gewohnten… und daß es tatsächlich nur eine Illusion war, wurde ihnen justament mit aller Eindringlichkeit klargemacht: Ohne Vorwarnung fing Goldfinger wieder an zu krähen! Seine drei Töne, die einen so sehr an die Bläsersequenz in der von Shirley Bassey besungenen Filmmusik gemahnten!
Vier braune Pupillen glotzten aus entsetzt aufgerissenen Menschenaugen auf den Hahn – Doch dessen Lider waren geschlossen. Wie auch die der Hennen um ihn herum, die sein lautstarkes Krakeelen gar nicht vernommen zu haben schienen: Sie kauerten nebeneinander auf ihren parallelen Hockstangen wie Würstchen auf dem Grill. Sämtliche Vögel hier befanden sich im Tiefschlaf. Schlummerten derart friedlich vor sich hin, daß sie weder das Toben der Naturgewalten das draußen, noch den nächtlichen Besuch ihrer Herrinnen mitbekamen. Auch das einzige maskuline Exemplar unter ihnen, den noch nicht einmal der eigene Radau nicht wecken konnte. Der eigene Radau, den er genau hier in der Wirklichkeit veranstaltete, obwohl er sich selbst im Reich des Sandmannes befand. War es möglich, daß auch Tiere mondsüchtig werden konnten?
„Ein Männertraum,“ konstatierte Iris trocken.
„Zu Odinswetter,“ fügte ihre Kameradin an.
„Der Traum, der am Himmel tanzt?“
„Ja, der Drache!“
„Und das ist das Zeichen!“
„Dann ist es jetzt wohl soweit.“
Der Volksaberglauben besagt, daß Mädchen mit roten Haaren Hexen sind. Nun ist zwar von diesbezüglichen Massenmorden in Irland nichts bekannt, aber im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hat zu Zeiten des Malleus Maleficarum so manch Unschuldige mit kupferfarbener Frisur aufgrund dieses für bare Münze genommenen Unfugs ihr Leben lassen müssen. Iris‘ schulterlange Mähne war dunkel brünett, eher noch mit einem Stich ins Schwarze, aber das Hellbraun von Karens Pilzkopf ging schon auffällig über in die Tönung lodernder Flammen an eigens für sie zwei errichteten Scheiterhaufen. Denn Hexen waren sie alle beide.
Und sie wußten, daß für sie nun der Tag gekommen war zu handeln.
Als sie den Schober wieder verließen, hatte sich die Welt da draußen spürbar verändert. Nicht dramatisch, aber doch auf eine gewisse Weise beängstigend: Auch wenn einen die drückende Dunkelheit immer noch mehr verbarg, als offenbarte, so war doch zu erkennen, daß sich Sträucher und Bäume nun nahezu synchron zur Brise bewegten. Dabei den Eindruck erweckten, als hätten sie selbst ihr Zischen und Rauschen aufeinander abgestimmt, daß sich eine außerordentlich eigentümliche Atmosphäre breitmachte. Die Vegetation, sie schien sich geradezu parallel zur Hauswand ausgerichtet zu haben, um mit dem Dach andeutungsweise einen Tunnel zu formen. Einen Tunnel, in dem Bewegung war, so daß er mehr an eine gigantische Speiseröhre gemahnte, die sich gerade anschickte, zwei Menschen zu verschlucken. Und doch wirkte dieses befremdliche Bild immer noch so, als handele es sich um ein alltägliches Phänomen, daß überall beim Aufeinandertreffen von Hoch- und Tiefdruckgebieten zu entstehen pflegte.
Auf die Schlieren dagegen traf das ganz und gar nicht zu… Die wabernd nebulösen Zonen größerer Dunkelheit inmitten der Finsternis, die mal wie eine Ansammlung elektrischer Funken wirkten, dann wie kleine Wolken, und die beizeiten sogar verstümmelt menschliche Umrisse annahmen… Schlieren, welche die beiden Bäuerinnen umkreisten, als die zurück in die Nacht hinaus traten. Sie gierig umkreisten wie hungrige Pirañas das blutend in den Amazonas gestürzte Rind. Wo sie waren, schien das Heulen und Wimmern des Sturmes besonders laut und furchteinflößend zu sein… Und wenn man sie zufällig berührte – denn es aus Absicht zu tun, verwehrt einem die instinktive Bangigkeit – war es, als könnte man dort tatsächlich etwas erfühlen. Etwas Kühles und Klammes, als wäre an diesen Stellen just Trockeneis verdampft. Nur, daß einem Trockeneis nicht auf eine dermaßen befremdliche und unheilige Art lebendig vorkam…
Andere Menschen hätten sich jetzt gewiß gewünscht, ihre Pupillen hätten sich weniger gut an die Düsternis angepaßt. So wenig, daß sie die Schemen nicht würden sehen können… Aber die Frauen vom Carstensen- Hof waren schon an ganz anderen Dingen beteiligt gewesen, als daß der Anblick von Phantomen für sie etwas Neues gewesen wäre. Schließlich wußten sie ja, daß sie ständig von derlei Wesenheiten umgeben waren, nur daß sie Lichtverhältnisse nun günstig genug waren, sie auch zu erkennen.
„Es ist Halloween,“ murmelte Iris, als hätte ihr jemand eine diesbezügliche Frage gestellt.
Kaum, daß sie wieder das Haus betreten hatten, wetzte sie in ihr Schlafzimmer. Sie fand es in ein übernatürliches Licht getaucht, das von einem Gegenstand in einem ihrer Vertikos ausging. Einem, der wie die Miniatur eines Eiffelturmes aussah.
„Dann ist es also wahr!“, keuchte sie.

2.
Unheimliche Besucher

„Aber ich will niemals fragen, wo ich war.
Wo war ich, als das wahr war?“

(Wir sind Helden: „Wenn es passiert“)

„Enjoy the view, when I’m out of sight.“
(Ian O‘Brien- Docker: „Totally Alright“)

Tim lag noch lange wach. Das Unwetter draußen vor dem Fenster trug eigentlich keine Schuld daran; vielmehr fiel es ihm generell schwer, Schlaf zu finden. Da half es auch nichts, daß ihn seine Eltern pünktlich zum Ende der Tagesschau in die Federn schickten, quasi mit dem jeweiligen Nachrichtensprecher in der Rolle des Sandmännchens – Na, ob Neil Gaiman wohl Dagmar Berghoff vor Augen gehabt haben mag, als er seine berühmte Comic- Serie ins Leben rief?
Es versteht sich von selbst, daß der Sohn des Hauses mit dieser Regelung alles andere als zufrieden war. Nahezu all seine Freunde pflegten in den großen Pausen von jenen Filmen zu erzählen, die sie am Vorabend gesehen hatte, nur er konnte regelmäßig nicht mitreden! Dabei war er doch schon vierzehn, und der nächste Geburtstag lag auch nur noch ein paar Monate entfernt! Aber wie macht man das Vater und Mutter begreiflich, in deren Augen man immer noch der kleine Steppke ist, der gerade gelernt hat, den Laufstall zu verlassen? Ihnen, deren Leben augenfällig viel schneller verläuft als das eines Teenagers, daß sie gar nicht mitbekommen, welche entscheidenden Veränderungen sich bei ihrem Sprößling schon innerhalb eines Jahres ereignen?
Freilich waren dies nicht die Gedanken, die ihn gerade beschäftigten. Nein, die Phase zwischen dem Schlafen Gehen und dem tatsächlichen Einnicken waren schon seit einer geraumen Ewigkeit für Ninette reserviert. Ninette Voigt, dem Mädchen aus der Nachbarklasse, in das er sich bereits verguckt hatte, als noch keiner seiner Mitschüler schlüpfrige Witze gerissen, und keine der jungen Damen interessante Formen entwickelt hatte. Vermutlich war sie nach jenem Gassenhauer aus den frühen Siebzigern benannt worden, den er allein des Namens wegen zu seiner bevorzugten Mutmachhymne erkoren hatte. Er pfiff sie immer wieder vor sich hin, wenn er die Süße auf dem Pausenhof erspähte, und ihm die Knie den Dienst aufzukündigen drohten.
Ach, ja, Ninette!
Stunden konnte er damit zubringen, sich seine Angebetete einfach nur vorzustellen. Die Augen zu schließen, um die Bilder aus der Erinnerung wachzurufen, die sich ihm jedesmal in sein Gedächtnis prägten, wenn er sie mehr oder weniger zufällig zu Gesicht bekam. Jede einzelne ihrer Gesten war abgespeichert, jedes Wort, das er über die respektvolle Distanz, die er zu ihr hielt, von ihr vernommen hatte. Manchmal allerdings ließ er sie im Geiste auch andere Dinge sagen. Solche, die er nur zu gern von ihr gehört hatte! Dabei sah sie ihn dann immer flehend mit ihren braunen Augen an, die ihn verzaubert hatten, seitdem er sie zum ersten Mal erblickt hatte. In einem Alter, in dem sie für Vieles noch zu jung gewesen waren. Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn sie damals schon zueinander gefunden hätten, und einander haltend durch die Schule geschlendert wären? Ob es nächsten Montag geschehen würde? Jenem magischen Montag?
Beizeiten träumte er auch von ihr, und nicht selten endeten diese nocturnen Phantasien damit, daß ihm sein sehnlichster Wunsch erfüllt wurde, und sie beide Hand in Hand durch eine paradiesische Welt aus goldenem Schein und herzzerreißend schönen Streicherklängen spazierten. Miteinander Abenteuer erlebten, so wie er sie mit seinen Kameraden in Kindertagen gespielt hatte, oder aber einander küßten, ohne daß auch nur einer von den Umstehenden lachte oder zum Lästern ansetzte. Nicht selten erwachte er dann mit Tränen in den Augen.
Als er endlich doch in den Dämmerzustand verfiel, hoffte er, daß ihn der Schlummer auch in dieser Nacht mit dem beschenken würde, was ihm die Realität bislang vorenthalten hatte. Doch es sollte ganz anders kommen! Mag sein, daß das Heulen und Tosen des Sturms draußen vor dem Fenster noch an sein Ohr drang, und in seinem Unterbewußtsein widerhallte; auf jeden Fall durchlebte er einen waschechten Alpdruck. Einen von der Sorte, welche die Mediziner mit dem Fachausdruck „Oneirodynie“ belegt haben!
Dunkelheit umgab ihn darin. Undurchdringliche Dunkelheit, die jedes Geräusch verschluckte, und doch alles andere als leise war! Die ihn von allen Seiten her bedrückte, just als nähme seine Haut, seine Lungen, sein gesamter Körper die verschwundenen Schallwellen als physischen Druck wahr. Druck, der sich eiskalt anfühlte, gerade als hätte man ihn mit nassen Handtüchern aus dem Kühlhaus umwickelt. Er spürte Blicke auf ihm lasten. Furchteinflößende Blicke noch furchteinflößenderer Kreaturen, die keinerlei Widerworte duldeten. Ja, er glaubte gar, die kalt funkelnden Pupillen in den tiefsten Tiefen seiner Seele zu spüren, als wären sie auf der Suche nach etwas.
Den undeutlichen Konturen in der Schwärze zufolge durchschritt er einen Korridor. Etwas auf seiner Haut verriet ihm, daß es hier heller sein mußte, als es seinen Augen nach sein konnte. Er wußte nicht, wo er war, oder was er hier wollte, aber ihm war intuitiv klar, daß er nicht hierher gehörte. Daß er besser früher, als später von hier verschwand. Wenn man ihn entdeckte, wäre es um ihn geschehen…
Die Atmosphäre wurde drückend, als machte sich so das Nahen einer unmittelbaren Bedrohung bemerkbar. Wurde dermaßen aufdringlich, daß sie ihn noch nicht einmal vor Beklemmung zittern ließ. Freilich war dies nicht das einzige, das ihm zu schaffen machte: Etwas Schlaffes, Massiges, unglaublich Schweres war ihm aufgebürdet worden, daß ihm Schulter und Nacken schmerzten. Das Echo seiner stapfenden Schritte hallte mal von engen Wänden wider, um dann ein anderes Mal von etwas verschluckt zu werden, dessen Natur er besser nicht zu ergründen suchte. Irgendwo jaulte etwas, das der Wind sein mochte, aber sehr nach spukenden Phantomen klang. Hier und da knarrten unbekannte Gegenstände, und es kam ihm so vor, als würden seine ohnehin schon angespannten Nervenstränge unangenehm in Schwingungen versetzt. Gerne hätte er vor Entsetzen aufgeschrien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Auch seine Adern schienen weniger durchlässig als sonst, pochte sein Herz doch mit aller Anstrengung.
Endlich verschwand der schmale Gang, und er spürte Weite um sich herum. Nahm hier und da sogar die Konturen von Häusern war. Manche waren direkt neben ihm, aber auf eine verwunschene Weise doch unerreichbar. Er ahnte, daß er nirgendwo Hilfe finden würde. Daß er allein war… und verloren.
Eine Ewigkeit mochte verstrichen sein, doch in seinem Traumbewußtsein war dies mehr eine statistische Information. Ein Plätschern drang an sein vor Trance halb taubes Ohr. Er registrierte, daß seine Füße auf einmal naß wurden, und schlagartig befiel ihn die Angst, er könne ertrinken. Denn es gab keinen Grund unter seinen Sohlen, nur die unergründlich tiefen Fluten. Das Gewicht auf seinem Oberkörper, es ließ jeden seiner Schritte tiefer in das todbringende Naß eintauchen. Schon war es an den Fesseln, an den Waden… Er bekam seine Quanten kaum mehr herausgezogen! Gerne hätte er seine Bürde von sich geschmissen, aber etwas Fremdes in seinem Willen hinderte ihn daran.
Der Wind roch nach Salz, und etwas in der Ferne erinnerte an das Kreischen vor Schreck aufflatternder Seevögel. Am liebsten hätte auch er dem beständig anwachsenden Horror nachgegeben, und sein Heil in der Flucht gesucht, doch er hatte keinen Einfluß auf seine Bewegungen. Er unternahm verzweifelte Anstrengungen, die Herrschaft über seine Anatomie zurück zu erlangen, doch es war vergeblich! Als hätte man ihn im verrottenden Leib eines wandelnden Zombies eingesperrt!
So konnte er es nicht verhindern, daß er unmittelbar auf das schaurigste Gebäude zu spazierte, daß er jemals zu Gesicht bekommen hatte: Es war ein neblig schwarzes Spukschloß, das trotz seiner Düsternis auf jenem kleinen Eiland vor ihm zu schimmern schien. Es war halb durchsichtig, und immer wieder lösten sich Zinnen oder Turmspitzen in wabernde Dunstschwaden auf. Ein sinistres Brummen ging von der Zitadelle aus, das an das Vibrieren des Bodens bei einem Erdbeben gemahnte. Nein, um keinen Preis der Welt wollte Tim dort hin! Doch er war noch nicht einmal in der Lage, die Lider zu schließen, um diesen Hort des Schreckens wenigstens nicht mehr sehen zu müssen. Ja, er mußte sogar mit anschauen, wie von dort monströse Fledermäuse aufstiegen, die über wild vor Angst krakeelende Möwen herfielen, und in die gefiederten Hälse bissen.
Gerade als ihm die Wellen schon bis über die Knie schwappten, spürte er, wie seine Zehen festen, wenn auch schlammigen Grund berührten. Unheimlichen Wesen gleich tauchte ein Schilfgürtel vor ihm in der Dunkelheit auf. Er brach durch den Röhricht, der ihn wie mit Tentakeln zu umfassen suchte.
„Flieh! Flieh!“, wimmerten die Halme in den Böen.
Gerne hätte er es getan. Sein Leben gerettet… Wenn es dafür nicht schon zu spät war! Doch jeder gedankliche Aufruf zur Flucht versandete in ZNS und PNS, ohne jemals auch nur eine einzige Sehne zu erreichen. Allein sein Herz reagierte, und es pochte dermaßen heftig, daß er glaubte, seine Brust würde sich verengen, und der Infarkt drohen.
Eine unnatürliche Eiseskälte bemächtigte sich seiner Glieder. Versteifte seine Gelenke, daß er Frankensteins Monster gleich dem gräßlichen Gemäuer entgegen stakste.
In dem Moment nahmen überall um ihn herum pure Alpdrücke Gestalt an. Zonen aus wallender Schwärze, die ihn beobachteten. Die ihn beschnüffelten. Die eine Boshaftigkeit ausstrahlten, daß er sich vor Muffensausen in die Büxen gestrullt hätte, hätte er noch genug Kontrolle über seine Schließmuskel gehabt, um sie verlieren zu können.
Die Bereiche verdichteten sich, verformten sich zu etwas, das zu menschlich aussah, als das einem nicht vom Anblick allein noch banger zumute wurde. Tausend Schreie formierten sich in der Kehle des Teenagers, doch kein einziger drang ins Freie. Dabei hätten sie die Kraft gehabt, seine Seele mit hinaus zu schleudern!
Klauen griffen nach ihm aus, denen er sich nicht entwinden konnte.
Der Brodem vor ihm lachte hämisch, daß es einem die Haare aufstellte. Wie in gespenstischer Zeitlupe nahm er das Äußere eines vollbärtigen Mannes an, der in die Gewänder eines mittelalterlichen Fürsten gehüllt war. Sein hungriges Grinsen entblößte zwei Paar aufblitzender Fangzähne, doch das Fracksausen, das sie dem Halbwüchsigen einflößten, verblaßte gegen das, was in den grimmig funkelnden Augen des Potentaten auszumachen war. Denn an Stelle von Pupillen zeichnete sich dort eine Szene ab, in der ein pubertierender Jüngling etwas mit einem Mädchen im Grundschulalter tat, für das zumindest die Kleine noch viel zu jung war. Tim war zu verstört, als daß er länger hinein geguckt hätte, um vielleicht Details wie Gesichter oder Frisuren auszumachen. So vergab er sich die Chance zu überprüfen, ob es sich bei dem weiblichen Part eventuell um Ninette in den Armen eines anderen handeln mochte.
„Wir sind gerufen worden!“, ertönte eine rauchige, verrucht klingende Frauenstimme, die sein inneres Schlottern noch verstärkte.
Da fiel das Gewicht von seinen Schultern, und er blickte in das vor Traumatisierung entstellt anmutende Antlitz einer sterbenden Frau.
„Gut gemacht, Nahrung!“, kam es just über die Lefzen des gruseligen Adligen, und ein gieriger Blick erfaßte den Halbstarken, daß das Grauen in dem schlagartig zu seinem Höhepunkt fand. Daß es unvermittelt übermächtig wurde!
„Oooaaahh! OOOAAAAAAH!“ – Die Laute, die aus seiner Kehle explodierten, klangen kaum mehr menschlich. Rissen sein ganzes Ich mit sich.
Immer noch war sein Mund zum Schrei geweitet, als es ihm endlich gelang, die Lider aufzureißen. In die Dunkelheit seiner Kammer zu starren, die ihn fürchten ließ, die Agonie hätte immer noch kein Ende gefunden. Angstschweiß verklebte ihm die Haare auf der Stirn, und auch sein klammer Pyjama pappte ihm auf der Haut. Nicht einmal die drückend schwere Bettdecke vermochte ihn zu wärmen. Und sein Herz, sein panisch pochendes Herz übertönte sogar den Sturm, der jenseits des Fensters laut heulend sein Unwesen trieb.
Als hätte die Oneirodynie nie geendet, strengte er sich voller Bammel an, etwas in der Schwärze auszumachen, die ihm umgab wie der Schlund eines monströsen Ungetüms. Die von Zeit zu Zeit gar so etwas wie Schluckbewegungen zu vollführen schien… Schluckbewegungen, die er über die entblößten Stellen seiner Haut streichen spürte. Doch seine Pupillen brauchten eine geraume Weile, um sich auf die mangelhaften Lichtverhältnisse einzustellen. Eine Weile, in der ihm alles mögliche widerfahren konnte! Sein Körper verfiel ins Schlottern, obwohl er es am liebsten verhindert hätte: Das Klappern seiner Kiefer würde jedes Phantom, jedes Ungeheuer im Raum auf ihn aufmerksam machen (den abscheulichen Fürsten?). Aber immerhin bemerkte er so zum ersten Mal, daß sein Leib nicht mehr in eisige Starre verfallen war.
Endlich nahm er soviel wahr, daß er Bewegungen dort ausmachen konnte, wo sich die Decke befinden mußte. Und an den Stellen dazwischen, inmitten der Luft… Nur nicht allzu lange hingucken! Zumal einige der Schemen direkt auf ihn zu waberten.
Er konnte das Brausen der Esche auf dem Hofplatz vernehmen, welches das der etwas ferneren Apfelbäume im Garten deutlich übertönte. Ihre Zweige klapperten gegeneinander, als würde eine bösartige Zahnfee ihren Beutel voller ausgerissener Beißer hin und her schütteln. Einer Zahnfee, die ihre blutige Zange gewiß noch in manch wimmernden Mund stecken würde, bevor die rettende Sonne aufgehen mochte. Weit und breit gab es kein wehrloseres Opfer, als den in seiner Schlafstatt bibbernden Tim.
„Wir sind gerufen worden“, mochte sie ihm unheilvoll zuraunen…
„Blödsinn! Alles Blödsinn!“, wollte der auf sich selbst einreden, und doch tat er es nur stumm. Schauderte bei der Vorstellung, was alles passieren konnte, wenn ein unbedachtes Wort, ein harmloses Stöhnen oder Räuspern allen eventuell Anwesenden seine Präsenz verraten konnte. Ja, als plötzlich eine Bö knirschend gegen die Scheibe seines Fensters drückte, riß er vor Schreck seinen Mund weit auf, und traute sich doch nicht zu kreischen. Bei Gott, es hatte sich fast so angehört, als hätte irgend etwas von draußen her zu ihm eindringen wollen!
Das Muffensausen peitschte seinen Metabolismus an, daß seine vom Schlaf noch träge Physis nicht so recht nachkam. Seine Lungen pumpten heftig, aber sie schienen nicht genug Sauerstoff aufnehmen zu können. Fühlte sich so das Ersticken an? Seine Gurgel kam ihm vor wie zugeschnürt. Der Horror trieb seinen Puls weiter in die Höhe.
Er war allein hier in der Finsternis. Allein mit allem, was ihn belauern mochte. Selbst das Schlafzimmer seiner Eltern war zu weit entfernt, als daß man ihn dort würde Brüllen hören können. Oder daß es ihm gelingen mochte, sich mit einer tollkühnen Flucht bis dorthin durchzuschlagen, bevor sie ihn geschnappt hatten… Sie, die ihn ausweiden würden, noch bevor der viel zu ferne Morgen anbrach.
Sein optischer Sinn hatte sich unterdessen weiter an die schummrigen Lichtverhältnisse gewöhnt. Er konnte jetzt ausmachen, daß es sich bei dem, was sich da an seiner Zimmerdecke regte, um die Schatten der im Sturm schwankenden Esche handelte, welche ein schwacher Mond durch das Fenster herein warf. Ihre wippenden Äste hatten beunruhigend viel von langsam, aber drohend geschwungenen Fäusten an sich. Oder gierig ausgestreckten Pranken, deren dürre Finger die knorrigen Zweige waren.
Wieder drückte der tobende Wind gegen das Glas, und im Dachgestühl knarrte es, als würde sich gerade ein drachenhaftes Ungeheuer Zutritt verschaffen. Eines, das nach Menschenfleisch gierte! Und der Teenager, er schrumpelte unter seiner Decke zusammen wie eine Pflaume im Ofen. Der Decke, die ihm eher wie eine würgende Schlinge vorkam, denn wie ein schützender Federmantel.
Gewiß würde er morgen früh über alles lachen. Gewi߅ falls es für ihn jemals wieder ein Morgen geben sollte!
Derweil war er in der Lage, die Konturen des Mobiliars vage auszumachen. Die des Schrankes, aus dem es ab und zu unheimlich knackte, obwohl der doch gar nicht dem Unwetter da draußen ausgesetzt war. Die seiner unordentlich über den Stuhl gehängten Klamotten, die sehr viel von einem ihn anstarrenden Gespenst an sich hatten. Die des Tisches, vor dem irgend etwas kaum mehr Sichtbares zu schweben schien, das man besser nicht näher fixierte.
Ja, er spürte sogar, daß das, was er zuerst für die Kontraktionen eines riesigen Monsters gehalten hatte, nur der regelmäßig durch die Ritzen in seine Kammer dringende Luftzug war.
Dennoch hatte er keinerlei Veranlassung zum Aufatmen: Die tanzenden Silhouetten an Wand und Decke, sie rührten inzwischen nicht mehr allein von der sich schaurig gebärdenden Esche her. Es zeichneten sich auch zwei Schemen ab, die unbezweifelbar menschlich wirkten…
Justament pochte es gegen die Scheibe. Es pochte – Das konnte beim besten Willen nicht mehr der Orkan sein!
Der allerdings frischte ein weiteres Mal auf, jaulte wie aus tausend untoten Kehlen, brachte die Bäume zum Fauchen, als wollten sie den armen Halbstarken ermahnen, sich jetzt ja nicht zu rühren. Blätter wurden aufgewirbelt, daß es so wirkte, als würden unzählige Grillen dem Erdboden entsteigen und sich zum Fluge erheben.
Tim atmete so heftig, daß er sich dabei fast verschluckte. Etwas in seinem Innern warnte ihn, daß es nicht mehr viel Sinn haben würde, sich zu verkriechen, weil er längst schon entdeckt war. Das ihn Augen musterten, von denen er nicht wußte, ob sie hungrig dreinblickten. Oh, wäre doch nur schon endlich alles überstanden! Würde der tröstende Schein der frühen Sonne all die beklemmenden, koboldhaften Gestalten verscheuchen!
Doch da klopfte es erneut.
Er hatte den Odem in der Speiseröhre, daß ihm Schlucken und Luftholen gleichermaßen schwer fielen. Gerne hätte er sich weiter tot gestellt, hätte sich an die Hoffnung geklammert, daß man ihn schon wieder vergessen mochte, aber da hatte er sich bereits im Reflex umgedreht. Schaute hin, obwohl er intuitiv schauderte vor dem, was er erblicken mochte.
In der Tat hatten ihn die Schatten an Decke und Tapete nicht getrogen: Dort hinter dem Glas zeichneten sich konkret die Umrisse zweier nicht unbedingt Vertrauen erweckenden Individuen ab. Zweier Individuen, die ihm dermaßen wirklich vorkamen, daß er sogar ihre wild in der Brise wehenden Haare deutlich erkennen konnte, und doch so irreal wie die gesamte Spukkulisse dort draußen. An der Haltung der Köpfe konnte er ausmachen, daß sie die Bewegung seines Hauptes mitbekommen haben mußten. Oh, wäre seine Bettwäsche doch nur eine Schneckenschale, in die er sich zurückziehen könnte! Ein Fuchsbau, in den ihm kein Raubtier zu folgen vermochte!
Aber wenn er jetzt nichts unternahm, würde es die Wesen vielleicht noch extra reizen, wo sie doch wußten, daß er sie registriert hatte. Es blieb ihm gar nichts weiter übrig, als sich zu erheben, hinaus in das Halbdunkel seines Zimmers.
Das Knirschen des Bettenrostes hatte beinahe etwas Lebendiges an sich. Seine Arme und Beine zitterten, daß es ihm fast nicht gelungen wäre, sich abzustützen, als er seinen Oberkörper aufrichtete. Die Fasern des Teppichs kratzten an den Sohlen seiner nackten Füße. Lag es wirklich nur an der frischen, durch die Ritzen eindringenden Zugluft, daß er fröstelte? Natürlich nicht, denn sonst hätte er sich wohl kaum so zögerlich der Klinke seines Fensters genähert, die allein noch zwischen ihm und jenen zwielichtigen Figuren stand. Sorgsam versuchte er durch das Thermopane hindurch Details ihrer Physiognomie auszumachen, doch es war vergeblich, denn sie hatten den Mond im Rücken.
Gewißheit konnte er nur erlangen, wenn er öffnete. Ein schmaler Spalt würde ihn schon nicht in Gefahr bringen, so redete er sich ein.
„Helaya!“, vernahm er da auf einmal das leise Wispern eines Kindes – Es sollte wohl so eine Art Gruß darstellen, ging jedoch im Wüten des Unwetters nahezu unter.
„Moin!“, kam es daraufhin etwas lauter von einem maskulinen Organ, das den Stimmbruch bereits hinter sich hatte.
Der von seinem Lager Geholte war doch ausnehmend erstaunt darüber, wer da bei ihm angeklopft hatte: Es war ein Junge aus Ninettes Klasse, den er nur vom Sehen her kannte. Einer, der erst letztes Schuljahr dazugekommen war, wohl weil er sitzengeblieben war, denn er mußte schon mindestens Fünfzehn sein. Der ernste Blick unter buschigen Brauen und das rebellisch füllige Haar sprachen gleichfalls dafür, daß er schon ein wenig reifer als die Mehrzahl seiner Banknachbarn sein mochte.
Noch skurriler aber war, daß er sich in Gesellschaft eines kleinen Mädchens befand, das höchstens sieben Lenze zählen konnte. Es hatte ein niedliches, nordisch anmutendes Gesicht mit kräftigen Wangenknochen, einem frechen Stuppsnäschen und vollen, roten Lippen, und die tiefliegenden, blauen Augen verschwanden fast unter dem wuchtigen Pony ihrer flachsblonden Mähne.
Sie trugen schwarze Kleidung, just als legten sie Wert darauf, im Dunkeln nicht gesehen zu werden.
„Wohnt Herr Börnsen noch hier?“, wurde Tim auch schon von dem Neuankömmling gefragt, ohne daß der sich vorgestellt hätte.
„Börnsen?“, wunderte sich der Angesprochene, „Hier wohnt kein Börnsen.“
„Nicht?“ – Das Gör an der Seite des mysteriösen Gastes machte einen irritierten Eindruck.
„Ist denn bekannt, wo er hingezogen ist?“, ließ der Unbekannte nicht locker. In den Nachtschatten der hin und her schwankenden Äste und Zweige hatten seine Züge etwas Geheimnisvolles.
In Tim regte sich eine blasse Erinnerung. Ja, der Name „Börnsen“ war ihm schon einmal untergekommen. Seine frühe Kindheit hatte er in Schleswig verbracht, bis seine Eltern gemeint hatten, genug Geld verdient zu haben, um sich einen Wohnsitz auf dem Lande leisten zu können. Er hatte damals kurz vor der Einschulung gestanden, als seine Familie hier in dieses Dorf gezogen war. Das Haus hatten sie von einem Makler erworben, der „van Justen“ oder so ähnlich gehießen hatte; auf jeden Fall sollte es vorher tatsächlich einem Herrn Börnsen gehört haben. Freilich war dies nichts, mit dem er sich Tag und Nacht zu beschäftigen pflegte, so daß es eine kleine Weile gedauert hatte, bis es ihm wieder eingefallen war.
„Keine Ahnung,“ erwiderte er darum wahrheitsgemäß, „Soweit ich weiß, hat hier mal ein Börnsen gewohnt, aber der war schon weg, als wir hierher gekommen sind. Und das ist sieben oder acht Jahre her.“
„Er wird kaum sein Zuhause aufgegeben haben, um sich dann irgendwo in der Nachbarschaft niederzulassen,“ überlegte da die Kleine laut, und ließ damit erkennen, daß sie keinesfalls so kindlich sein konnte, wie sie aussah, „Das heißt, er hat wahrscheinlich nichts zu tun mit dem, was sich hier abspielt. Es ist Halloween; da mögen noch andere ihre Hände im Spiel haben.“ – Hierbei schaute sie sich immer wieder furchtsam um, als befürchtete sie, beobachtet zu werden.
„Ich bin Tim,“ stellte sich der unverhofft Besuchte vor in der Hoffnung, so auch die Namen seiner Gegenüber zu erfahren. Es konnte nicht von Nachteil sein, jemanden aus Ninettes Klasse mit Namen zu kennen. Gewiß, Jasmin, die in der Wildnis unweit des Dorfes lebte, war auch keine Fremde für ihn, aber sie war schließlich auch weiblichen Geschlechts, und damit nicht so einfach anzusprechen, ohne daß sie ihm wer- weiß- was für Absichten unterstellen mochte. Ohnehin hatte er so wenig mit ihr zu tun, daß er auch zu ihrer Geburtstagsfeier letzten September nicht eingeladen gewesen war (und bei der gewiß auch sein Herzblatt vorbeigeschaut hatte).
„Ich bin Harald,“ stellte sich der Kerl auf der anderen Seite des Fensters vor, und seine Begleiterin nannte sich „Witha“. Beide hatte er noch nie im Ort gesehen; sie mußten also von weiter weg gekommen sein.
„Wer ist dieser Herr Börnsen, daß ihr den langen Weg auf euch genommen habt, um mitten in der Nacht bei ihm ans Fenster zu klopfen?“, konfrontierte er sie mit seinen Überlegungen.
Die Zwei schienen in Eile zu sein: Ständig musterten sie die Umgebung, und ihn schienen sie eher peripher zu beachten. Jedes Aufheulen der Böen ließ sie zusammenzucken, und jedes Schwanken in den Baumkronen lenkte ihre Blicke ab.
„Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich,“ kam es da beunruhigend gehetzt von dem zwielichtigen Knaben, „Mach‘ am besten das Fester wieder zu und vergiߑ, daß du uns jemals gesehen hast.“
Das wollte der Sohn des Hauses aber keinesfalls! Harald kam aus Ninettes Klasse; er war für den Bewohner dieser Kammer praktisch das Ticket dazu, seinem Schatz nach all den Jahren einsamen Schmachtens endlich einmal näher zu kommen. Diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen!
Doch ehe er noch etwas sagen konnte, verabschiedeten sie sich auch schon mit einem hastigen „Tschüs!“ und wetzten in die Finsternis davon.
Und er, er schaute ihnen nur ungläubig nach. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken; ohnehin war morgen Sonntag, so daß er da nicht zum Unterricht mußte. Wieso hatten sie erwähnt, daß heute Halloween war? Er hatte davon gehört, daß man in den größeren Städten Deutschlands angefangen hatte, diesen angloamerikanischen Feiertag zu übernehmen, aber hier auf dem flachen Land war davon noch nichts angekommen. Und wenn die beiden tatsächlich unterwegs waren, „Trick or Treat“ zu spielen (War man mit fünfzehn nicht schon zu alt dafür?), warum dann zu dieser späten Stunde und völlig ohne Kostüme?
Er beschloß, sich erst einmal anzuziehen. Immer noch im Halbdunkel, damit kein verräterisches Licht nach draußen auf den Hofplatz fiel. Gewiß, seine Alten hatten ihr Schlafzimmer im ersten Stock, und ihr Fenster ging zum Balkon in Richtung Süden heraus, so daß sie davon kaum etwas mitbekommen dürften, sollten sie zufällig aufwachen. Aber die ängstliche Vorsicht der beiden mysteriösen Gäste hatte ihn angesteckt, und bei dem Getöse, das der Sturm da draußen veranstaltete, war er durchaus geneigt zu vermuten, daß da doch etwas unterwegs sein mochte, dem man sich besser nicht offen zeigte. Zumal die Furcht aus seinem Alpdruck immer noch leicht nachwirkte…
Die Luke hatte er schon wieder geschlossen, aber immer wieder lugte er durch die Scheibe, ob er irgendetwas Ungewöhnliches erkennen konnte. Die Sandfläche vor dem Gebäude kam ihm vor wie eine graue, unregelmäßig aufgespannte Leinwand, auf der die Esche und die Apfelbäume des anschließenden Gartens mit ihren Wipfeln ein gruseliges Schattenspiel aufführten. Die Gräser des Rasens waren in einen bizarren Wellenschlag verfallen, daß sie an die Flimmerhärchen im Darm einer gigantischen Kreatur gemahnten. Wolken schossen am Mond vorbei, daß dessen unirdisch anmutender Schein immer wieder an Intensität gewann oder verlor. Das Gebälk des Dachbodens über ihm knarrte von Zeit zu Zeit bedrohlich, und klang hier und da sogar ein bißchen so, als würde auf dem Speicher jemand Unbefugtes auf und ab gehen. An jeder Ecke heulten die Böen, als wäre diese Nacht tatsächlich jene aus den keltischen Sagen, in denen die Gespenster und Dämonen auf Erden ihr Unwesen trieben. Wie zur Bestätigung seiner Mutmaßungen waren immer wieder undeutliche, halb durchsichtige Schemen auszumachen, die über den Hof geblasen wurden. Er redete sich ein, daß es sich um hundsgewöhnliche Schatten handeln mußte, aber manche von ihnen hatten fast schon menschliche Umrisse…
Er beschloß, erstmal in die Küche zu gehen, und seiner trockenen Kehle auf den Schreck hin einen Schluck Limonade zu gönnen. Er trat in die Waschküche hinaus und wunderte sich über die Stille im Haus, die ihm unnatürlich vorkam. Die drückend auf seinen Trommelfellen zu lasten schien, und von ihm wie ein kaum vernehmbares, hochtöniges Rauschen wahrgenommen wurde, dem begleitenden Ton des Fernseh- Testbildes nicht unähnlich. Der aus einem Mosaik von Steinen bestehende Fußboden schimmerte im gerade wieder hereinfallenden Zwielicht des Erdtrabanten, als würde der Grund von sich aus lumineszieren. Der ganze Raum gewann dadurch etwas bedrückend Verwunschenes.
Die Schritte klangen seltsam dumpf, just als würde irgend etwas hier drinnen das Echo von den gekachelten Wänden her verschlucken. In der Tat hatte Tim das unangenehme Gefühl, daß hier außer ihm noch jemand oder etwas war. Er spürte es nicht nur daran, daß sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv atmete er leiser, und bemühte sich auch sonst, jedes überflüssige Geräusch zu vermeiden. Das Klicken, das die Klinke der Küchentür machte, als er sie herabdrückte, ließ ihn schaudernd zusammenfahren.
Hätte er gehofft, hier in der Kombüse eine angenehmere Atmosphäre vorzufinden, er hätte sich gründlich getäuscht. Der selbe schaurig funkelnde Boden, der selbe Mangel an Hall – Es kam ihm fast so vor, als wäre er gar nicht aufgewacht, und die gräßliche Oneirodynie, aus der ihn sein Aufschrei nur scheinbar errettet hatte, würde noch andauern.
Die Brause hatte in dem unvertrauten Schummer Ähnlichkeit mit einer trüben Brühe, von der man besser die Finger lassen sollte. Das Zischen beim Öffnen des Verschlusses hätte er lieber vermieden. Er trank gleich aus der Flasche, denn hätte er sich erst ein Glas aus dem Schrank geholt, hätte es weitere Geräusche nach sich gezogen. Zum Glück schmeckte wenigstens der Sprudel so erfrischend, wie man es von ihm gewohnt war.
In der Sekunde brausten die Bäume urplötzlich besonders laut auf. Blätter peitschten gegen das Fensterglas, und die Böen jaulten, daß es sich anhörte wie das Kriegsgeheul der Indianer beim Angriff. Die Luft selbst im Raum schien auf den Jugendlichen einzustürzen, daß er schleunigst die Buddel absetzte, dabei gar noch etwas verschüttete, und sich gehetzt umschaute. Der Tisch, der Kühlschrank, der Herd, die Anrichte – Sie alle warfen wandernde Schatten, die zu eigenem Leben erwacht zu sein schienen. Selbst sein eigenes Abbild huschte hin und her, als wäre es von einem Phantom in Besitz genommen worden.
Das war der Moment, in dem er in all dem Tosen und Brausen da draußen ein entsetztes Kreischen vernahm. Es erschütterte ihn bis ins Mark.
Seine Beine reagierten noch schneller als sein Hirn: Prompt ergriff er die Flucht, ohne daß er überhaupt wußte wohin. Denn nirgends in diesem Gemäuer schien es mehr einen sicheren Ort zu geben. Und draußen vor der Tür würde er der drohenden Gefahr erst recht schutzlos ausgeliefert sein!
„Wir sind gerufen worden!“, ertönte da jäh wieder jene rauchige, verrucht klingende Frauenstimme aus seiner Oneirodynie, und sie kam aus nächster Nähe, ja, fast schon von innerhalb seiner Ohren!
Sie mußten bereits eingedrungen sein. Nichts hielt ihn mehr! Fast schon überstürzt drehte er den in der Hintertür steckenden Schlüssel herum und drängte ins Freie. Drückte sich mit dem Rücken gegen die Füllung, als befürchtete er, verfolgt zu werden. Der Wind spielte mit seinen Haaren, machte ihm klar, daß er nun den nicht mehr vorhandenen Schutz der eigenen vier Wände verlassen hatte. Puh, das war erstmal geschafft! Doch wohin sollte er sich nun wenden? Schutz würde er hier draußen gewiß nirgends finden. Egal: Als nächstes galt es, Abstand zu diesem schaurigen Gemäuer zu gewinnen, das er für sein Heim gehalten hatte. Unsicher stapfte er über den Plattenweg, der zwei der Rasenflächen voneinander schied. Nebel umgab ihn, obgleich die tobende Brise doch jeden Anflug von Dunstbildung sofort hätte auseinander blasen müssen. Ja, der Wasen war sogar dicht genug, daß der Halbwüchsige gerade mal vage Konturen der Baumkronen erkennen konnte, die zu allen Seiten unter der Wucht des Sturmes bedrohlich mit ihren Ästen und Zweigen gestikulierten. Selbst ihr formidables Rauschen klang grotesk verfremdet, als wären die Bodenwolken mächtig genug, um ein schwankend vibrierendes Echo hervorzurufen. In der Tat fühlte er sich wie von klammen Fingern berührt, wenn sich eine der gräulich schillernden Schlieren auf eine unbedeckte Stelle seiner Haut legte. Er konnte sich nicht helfen, aber seine Gefahreninstinkte vermeldeten ihm, daß er ihren Einflußbereich besser früher als später verlassen sollte. Fast schon meinte er, mit den Augen verfolgen zu können, wie es sich um ihn herum immer weiter zuzog. Ein Fisch, der zwischen die Tentakel einer Seeanemone geraten war, konnte nicht anders empfinden!
Im ersten Impuls wollte er sich schon wieder zurück ins Haus retten, doch als er sich umwandte, mußte er erkennen, daß die Suppe hinter ihm bereits nahezu opak geworden war, daß er weder Fenster, noch Tür mehr ausmachen konnte. Nun wurde ihm dieses Naturphänomen aber doch unheimlich, und er beschleunigte seine Schritte gerade aus, dorthin, wo die Sicht noch am klarsten war. Versuchte das bizarre Brummen zu ignorieren, daß er durch die Sohlen seiner Schuhe hindurch spürte, als käme es unmittelbar aus dem Erdboden. Und auch die zunehmende Kühle, die rein gar nichts mit den Böen zu tun hatte, die den Brodem kaum mehr durchdrangen. Oder die alarmierende Impression, daß seine Situation allmählich wirklich brenzlig wurde.
Gerne hätte er sich in die Garage geflüchtet, oder in eines der anderen Nebengebäude, die dem Vorbesitzer oder dessen Ahnen einmal zu landwirtschaftlichen Zwecken gedient haben mußten. Aber er wußte, daß sie sein Vater regelmäßig vor dem Schlafengehen absperrte, und sie ihm daher keinerlei Schutz bieten würden. Ihre Mauern wirkten wie die Ruinen archaischer Bollwerke, in denen jetzt die Gespenster umgingen.
Doch er war immer noch zu langsam: Weniger und weniger Details konnte er unterscheiden; mehr und mehr schien sich die Waschküche um ihn zusammenzuziehen. Er watete inzwischen durch hohes Gras, ohne daß das Geräusch seiner Füße mehr die Trommelfelle erreichte. Die Realität selbst schien die Gesetze der Traumwelt angenommen zu haben. Vor ihm tauchte der Wall auf, der das Ende des elterlichen Grundstücks markierte. Kurzentschlossen erklomm er die Böschung, just als wäre er immer noch der abenteuerlustige Grundschüler auf der Suche nach neuen Plätzen zum Spielen. Nur, daß ihm der Sinn ganz und gar nicht nach aufregenden Erlebnissen stand! Er brach sich Bahn durch das Unterholz, das den Knick überwucherte, und die dornigen Brombeerranken suchten ihn festzuhalten. Auf der gegenüberliegenden Seite lag eine Koppel. Ein Stacheldraht behinderte den Zugang, aber der Teenager hatte Glück: Schräg vor ihm befand sich ein einigermaßen stabil aussehender Zaunpfahl, auf den er seinen Fuß setzen, und das Hindernis überspringen konnte. So ersparte er sich das zeitraubende (und schmutzig machende) Manöver, unter dem Metallstrang hindurch rutschen zu müssen. Denn daß er allmählich Grund hatte, sich zu sputen, bemerkte er in der Sekunde, in der er sich mit den Füßen abstieß, und etwas an seinem Pullover zerrte, das nicht pflanzlichen Ursprungs sein konnte…
Kaum war er mit beiden Fersen auf dem Boden der Weide aufgekommen, da nahm er auch schon die Beine in die Hand. Hier gab es keine Hindernisse mehr, nur noch freies Feld. Er achtete nicht auf eventuelle Kuhfladen oder die Unebenheit des Untergrundes, wollte nur so schnell wie möglich diese gruselige Brühe hinter sich lassen. Als sich in den Schwaden mehr und mehr finstere Silhouetten manifestierten, lief er geradezu um sein Leben. Selbst jetzt waren seine Schritte lautlos, und das panische Atmen seiner Lungen klang mehr und mehr fremdartig. Dafür aber drangen zunehmend andere Geräusche an sein Ohr. Geräusche, die dem schaurigen Brummen des Erdreichs zu entstammen schienen, sich im Nebel aber zu gräßlichen Stimmen wandelten. Stimmen in düsteren, nicht im Geringsten menschlichen Tonlagen, die hohnlachten oder aber gierig zu geifern schienen. Weg hier! Nur weg von hier! Er starrte stur gerade aus. Versuchte, die Dinge nicht zu beachten, die er in den Augenwinkeln wahrnahm. Oder nach sich ausgreifen spürte. Nicht ablenken lassen… Ablenken macht langsam! Doch da warfen sich ihm die ersten Phantome auch schon in den Weg. Er schlug Haken, wetzte blindlings in die Richtung, die ihm am sichersten vorkam – Doch von „sicher“ konnte inzwischen nirgendwo mehr die Rede sein! Wohin er auch ausscherte, überall lauerten die Schemen auch schon auf ihn. Tauchten urplötzlich aus den Schwaden auf, als würde der Wasen selbst Gestalt annehmen. Mancher Umrisse waren humanoid, doch andere gemahnten mehr an abscheuliche, bis elefantengroße Monstrositäten mit Fangarmen oder sechsfingrigen Klauen, und sie glitten mehr auf ihn zu, denn daß sie preschten. Ihrer aller Pupillen leuchteten gleißend, und manche gar verfügten über mehr als nur ein Paar. Auch Fangzähne blitzten auf, manche nadelspitz und fein wie chirurgische Instrumente, andere kräftig wie die Hauer eines grotesken Urhuftieres. Entsetzt erkannte Tim, daß sie ihn umzingelt hatten. Daß er in der Falle saß, und sie in einem Anfall von Perversion mit ihm spielten. Ihn vor sich her scheuchten, und dabei immer mehr in die Enge trieben. Er ahnte, würde er von einer dieser Kreaturen mehr als nur die dunkle, vom Dunst umwaberte Silhouette wahrnehmen, er würde vor Grauen ohnmächtig werden. Brach in Panik nach Links aus, direkt auf ein Wesen mit dämonenhaften Schwingen zu. Wußte, daß er damit in seinen Untergang wetzte…
Justament wurde er bei den Achseln gepackt und empor gerissen. Im Schock brüllte er nach Leibeskräften und zappelte mit den Beinen umher. Traf dabei eines der Ungeheuer, dessen Fleisch die Hacke des Knaben wie Schleim zu umfließen suchte. Da aber wurde er auch schon in die Höhe gerissen, daß ihm beinahe übel wurde. Ehe er sich versah, hatte er den Brodem unter sich gelassen, und frischer Nachtwind drang in seine Luftröhre. Immer noch hatte ihn der Horror fest im Griff, daß er die Baumkrone, die auf ihn zu geschossen kam, für eine weitere dieser scheußlichen Kreaturen hielt. Mit Zweigen, die Finger sein mußten, ihn zu umschlingen… Er kreischte auf, als man mit ihm im Geäst landete.
„Ruhig, Tim!“, drang Haralds Stimme in sein vor Verstörung kaum mehr aufnahmefähiges Bewußtsein, „Hier können sie noch nicht rauf. Noch sind sie zu sehr dem Boden verbunden.“
Er hatte Mühe, sich zusammenzureißen. Und zu begreifen, was ihm da gerade widerfahren war. Ungläubig starrte er auf den Kerl aus Ninettes Klasse, der jetzt neben ihm im Laub Platz nahm. Das kleine Mädchen in seiner Begleitung hockte immer noch rittlings auf dem Besen, der allen Naturgesetzen zum Trotz ohne jedwede Verankerung mitten in der Luft schwebte.
„Was… was geht hier vor sich?“, hörte sich der Gerettete stottern, obwohl in seinem Denken noch zuviel durcheinander lief, als daß er sich zu einer wirklichen Konversation in der Lage gefühlt hätte. Furchtsam schaute er den Stamm hinab, wo sich der Wasen Zentimeter um Zentimeter die Borke aufwärts zu arbeiten schien.
„Eine Pforte ist aufgetan worden.“ – Man konnte es Haralds Timbre entnehmen, daß er nicht ganz so ruhig war, wie er sich zu präsentieren suchte – „Das ist kein natürlicher Nebel: So sehen die Begleiterscheinungen aus, wenn sich zwei Sphären überschneiden.“
Kehrwerkzeuge, die flogen! Schreckgespenster, die sich aus Bodenwolken formten! Dimensionen, die einander kreuzten! Tim geriet schon ins Stöhnen, wenn der Lehrer mehr als einen mathematischen Fachausdruck auf einmal in einen seiner Sätze einbaute – Wie sollte er da all diese verwirrenden Zwischenfälle verarbeiten, mit denen er just konfrontiert worden war?
„Du hättest auf mich hören sollen!“, drang ihm erneut die Stimme seines mysteriösen Besuchers von vorhin ins Ohr, „Nun bist du in die Geschichte mit reingezogen worden.“
Na, das waren ja schöne Aussichten! Er befand sich nun ohne Vorwarnung in einer Wirklichkeit gewordenen Oneirodynie, und hatte noch nicht einmal den blassesten Schimmer, wie er ihr jemals wieder entrinnen mochte. Oder womit er es überhaupt zu tun hatte! Bange krallte er sich in die Rinde, auf der er hockte, nur um ja nicht abzurutschen, und hinab in die wallende Brühe da unten zu stürzen. Die Brise, die ihm durchs Haar fuhr, sein Gesicht wieder etwas abkühlte, und ihn spüren ließ, daß er eine Jacke hätte anziehen sollen, sie war so eindringlich real. Machte ihm klar, daß all dies tatsächlich geschah, und ihn diesmal kein Aufreißen der Lider würde erlösen können.
„Was war das, was mich da gejagt hat?“, fühlte er sich endlich in der Lage zu fragen.
Es war die Kleine, die ihm antwortete, während sie sorgenvoll die Koppel überblickte: „Das sind Abkömmlinge des Basilisken. Die verändern gerne mal ihr Äußeres und haben auch eine enge Bindung zum Erdboden – Daran kann man sie erkennen.“
„Das sind… Was?“
„Betrachte sie ganz einfach als Gestalt gewordene Alpträume, denn nichts anderes sind sie.“
„Wie… wie kann ein Alptraum real werden?“
Die Schlieren hatten inzwischen die unteren Äste erreicht. Der Schock saß zu tief, als daß Tim nicht erneut zu schlottern begonnen hätte. Auch wenn sich seine Füße noch längst nicht in Reichweite des Brodems befanden, so zog er doch die Beine ein.
Harald schien ihn nicht unnötig weiter verängstigen zu wollen, doch dessen Begleiterin schien es für angebracht zu halten, den unverhofft mit Betroffenen weiter in die Mysterien einzuweihen: „Sowas ist schon mal passiert. Vor Jahren… und da sind Drachenkräfte im Spiel gewesen.“
„Drachenkräfte?“
„Der Drache, er ist sowas Ähnliches wie der Basilisk, aber längst nicht so übel. Eigentlich ist er kaum noch aktiv, aber in seinen besten Tagen konnte er Sachen scheinbar einfach so aus dem Nichts erschaffen. Und wo der König schwach wird, erstarken die Fürsten: Damals haben zwei Drachensöhne gegeneinander gekämpft. Der eine von ihnen war mit Nachfahren des Basilisken verbündet – Wenn ich mich hier umgucke, kann ich mir schon denken, was er ihnen als Preis für die Allianz gegeben hat. Aber sie hatten auch vorher schon welche mit Drachenblut in ihren Reihen, gerade hier in dieser Gegend. Den Baron, die Schwarze Sylvia, und alle, die von ihnen abstammen…“
Das waren zu viele Informationen auf einmal, als daß sie der immer noch traumatisierte Zuhörer hätte aufnehmen können. Es ging offenbar um irgendwelche Fabelwesen mit besonderen Fähigkeiten, und die Brut des einen verfügte nun wohl über Gaben des anderen, soviel hatte er zumindest kapiert.
„Was hat der Herr Börnsen damit zu tun, wegen dem ihr mich besucht habt?“, versuchte er weiter, Licht ins Dunkel zu bringen, „Wenn ihr auf eurer Flucht extra Zeit verplempert habt, um an mein… an sein Fenster zu klopfen, müßt ihr euch doch Hilfe von ihm erhofft haben.“
„Er war damals an den Auseinandersetzungen beteiligt,“ wurde das bisher so mitteilsame Kind auf einmal ausweichend, so als bereute es, das Interesse des Halbstarken geweckt zu haben. Als es allerdings bemerkte, daß diese vage Andeutung nicht mit Befriedigung aufgenommen worden war, fügte es noch hinzu: „Außerdem hat er meiner toten Schwester sehr nahe gestanden. Er gehört praktisch zur Familie.“
So eng konnten die Beziehungen dann aber doch nicht sein, wenn sie erst heute erfahren hatte, daß er bereits vor einer geraumen Weile unbekannt verzogen war. Die letzten Auskünfte der rätselhaften Kleinen hatten ihn nicht sonderlich weitergebracht.
Zu allem Überfluß beendete Harald die Unterhaltung abrupt: „Wir sollten uns besser wieder aufmachen! Seht mal!“
Er deutete auf die silbrig schillernden Schwaden, die in der Zwischenzeit immer höher aufgestiegen waren. Die sie schon fast erreicht hatten… In der Suppe waren deutlich die Umrisse von Kreaturen auszumachen, die derweil wie Fledermäuse aussahen, aber immer noch über leuchtende Augen verfügten. Sie konnten sichtbar fliegen, auch wenn es ganz den Eindruck machte, als wären sie nicht in der Lage, den Brodem zu verlassen.
„Fledermäuse!“, keuchte Tim, „Wie die Vampire!“
„Ja,“ meinte Witha nur, „Vampire sind sie auch. Kommt besser wieder zurück auf den Besen!“
Das ließen sich die zwei Knaben nicht zweimal sagen. Harald machte einen Satz, und hockte bereits hinter seiner Gefährtin. Tim fehlte die Übung, und so knallte er mit dem Knie gegen die Stange. Rutschte ab – Gerade noch rechtzeitig gelang es den anderen beiden, ihn zu packen und zu sich auf den Feger zu ziehen. Schon gewann der an Höhe, und das keine Sekunde zu früh: Um die Knöchel herum wurde es bereits unangenehm kühl.
„Wie wird man die bloß wieder los?“, keuchte der erneut Gerettete, den seine Begleiter in ihre Mitte genommen hatten, „Hier wohnen doch überall Leute. Die Monster werden ein Blutbad anrichten.“
Er klammerte sich ängstlich an die schmalen Schultern des Mädchens, hatte die begründete Furcht, erneut von ihrem Kehrwerkzeug plumpsen zu können.
„Sie sind nur hinter uns her,“ entgegnete da Ninettes Klassenkamerad, „Frag‘ mich aber nicht warum.“
„Wir waren mal ihre Gegner,“ ergänzte das Kind, das sich konzentriert vorwärts beugte, als würde es ihr Transportmittel auf diese Weise steuern, „Aber das ist lange her, und wirklich wichtig sind wir nie gewesen. Warum sie erst jetzt Jagd auf uns machen, weiß der Teufel!“
„Vielleicht sollten wir ihn mal fragen?“, wagte Harald mit beunruhigt flackernder Stimme einen makabren Scherz, als jäh ein geflügeltes Ungetüm mit Hörnern und Schwanz durch den Brodem auf sie zu schoß, und sie mit seinen Krallen zu fassen suchte. Hastig riß Witha den Stiel nach rechts herum, das Tim beinahe die Balance verlor. Die Klaue durchteilte die Luft so dicht neben ihnen, daß ihre Kleider flatterten.
Da aber machte ihr Verkehrsmittel einen deutlichen Satz in Richtung des schwarzen Firmaments, und sie ließen den Wasen weit unter sich.
„Gibt es überhaupt einen Ort, wo wir vor ihnen sicher sind?“ – Tim machte sich keinerlei Illusionen, daß sein Bibbern den anderen verborgen bleiben mochte.
„Den gibt es immer!“, bemühte sich der Fünfzehnjährige hinter ihm, Zuversicht auszustrahlen, ohne daß es ihm so recht gelingen wollte, „Am besten wäre es, wir würden einen Weg finden, das Portal zwischen den Welten wieder zu schließen.“
„Wie macht man das?“, klammerte sich der in der Mitte Kauernde an dieses kleine Fünkchen Hoffnung.
„Herr Börnsen hat es damals gekonnt,“ seufzte Witha da, „zusammen mit Fettie van Justen und den anderen!“
„Van Justen?“, fuhr Tim da auf, „So hat der Makler gehießen, der meinen Eltern damals das Haus verkauft hat. Ist das nicht ein komischer Zufall?“
„Wenn der seine Finger im Spiel hat, dann gibt es keine Zufälle!“, murmelte Harald.
„Könnte er an allem Schuld sein?“, wagte der unversehens in die Ereignisse Hineingezogene eine Mutmaßung.
„Der ganz bestimmt nicht!“ – Wieder die Kleine – „Aber er muß einen Grund gehabt haben, warum er das Haus gerade deiner Familie verkauft hat.“
„Aber an meiner Familie ist nichts Besonderes,“ wunderte sich der Angesprochene, „Eine Urururgroßmutter ist mal Kammerzofe am Hof des Schleswiger Herzogs, und damit am dänischen Königshof gewesen; ansonsten gibt es da nur Beamte, Bauern und einfache Arbeiter, soweit ich weiß.“
„Damals haben sie Empfangsverstärker benutzt, um die Sphären anzunähern,“ brachte sie Ninettes Mitschüler indes wieder auf den Pfad ihrer ursprünglichen Überlegungen zurück, „Aber bisher haben wir nirgends irgendwelche Konstruktionen gesehen, die wie der Eiffelturm in Paris aussehen.“
„Vielleicht kann uns dieser van Justen weiterhelfen?“, hatte Tim eine Idee, „Wenn er ein Maklerbüro hat, müßte er doch im Telefonbuch stehen.“
„Er ist weitergezogen,“ wurde er da von der vor ihm Sitzenden entmutigt, „Er ist dem Drachen gefolgt, mit unbekanntem Ziel.“
„Aber sein Büro gibt es noch!“, kam es da von ganz hinten auf dem Besen.
Damit war die Diskussion beendet.
„Haltet euch fest!“, rief Witha ihnen noch zu, und brüllte dann ein tollkühnes „He- La- Huuuu!“ – Keinen Augenblick später ging ihr Flugapparat ab wie eine Rakete. Jagte mit einem atemberaubenden Tempo durch die Lüfte, daß der Erdboden tief unter ihnen nur so vorbei raste.

3.
Tage zählen in der Nacht

„Ich… will nicht nur hören, was du hast,
sondern was dich berührt.“

(Fotos: „Giganten“)

 
Die Böen drangen durch die Ritzen der schon etwas morschen Fensterrahmen, und hätten gewiß die eine oder andere Kerzenflamme ausgeblasen. Doch die schummrige Küche des Carstensen- Anwesens wurde von Petroleum- Funzeln erhellt, deren Licht zwar schwach, aber ausreichend war. Zusammen mit dem Heulen des Sturmes verliehen sie dem Raum eine etwas verwunschen anmutende Atmosphäre.
„Es geschieht zu früh!“, murmelte Iris, als sie und Karen sich am Tisch über einen kleinen Taschenkalender beugten, und die an wenigen, aufeinander folgenden Tagen pro Monat notierten Kreuze studierten, „Unser Mädchen ist erst am nächsten Wochenende wieder soweit.“
„Bist du dir da wirklich sicher?“, wollte ihre Lebensgefährtin sicher gehen.
„Ja, ich hab‘ schließlich jeden einzelnen Tampon aufgeschrieben, den ich im Müll gefunden hab‘.“
„Körperlich mag sie bereit sein. Aber auch seelisch?“
„Ich wünschte, sie wäre etwas offener. Dann wüßten wir, wie wir ihr ihre kommenden Aufgaben versüßen. Doch ist da eben das Erbe ihres Vaters, das sie uns verschließt.“
„Auf jeden Fall können all die Zeichen nicht mit ihr zusammen hängen. Denk‘ an Goldfingers Krähen im Schlaf: Das untrügliche Signal für einen Männertraum! Es muß um ihn gehen. Er muß jetzt das Reifestadium erreicht haben, zum Manne werden zu können… Wurde schließlich auch Zeit! Er muß ein Spätentwickler sein.“
„Wenn du recht hast, heißt das aber auch, das alle unsere magischen Warnsignale ausgelöst worden sind, die wir in den letzten Jahren errichtet haben.“
„Und alle Mechanismen in Gang gesetzt: Der Turm ist von selbst angesprungen! Sie wandeln jetzt auf Erden. Eine ganze Woche zu früh!“
„Na, hoffentlich werden sie sich zu benehmen wissen!“, seufzte Iris.
Beide schauten sie durchs Fenster hinaus auf das tobende Unwetter, das nur langsam abzuflauen begann.


4.
Geheimnisse

„In the morning
you know, we won‘t remember a thing.“

(Razorlight: „In The Morning“)


Felder, Wälder, Wege, Straßen, Weiler und ein Dorf – Der Anblick, der sich einem während des Fluges auf dem Kehrwerkzeug bot, war einfach atemberaubend. Tim bereute es schon fast, daß sie schließlich die Stadtgrenze Schleswigs passierten, und dabei allmählich wieder an Höhe verloren.
„Er funktioniert nach Traumgesetzen, weißt du?“, erklärte ihm Witha kieksend, „Stell dir vor, wohin du willst, und er bringt dich dahin.“
Sie schwebten unmittelbar vor der imposanten Eingangstür eines ansonsten eher unauffälligen Gebäudes an der Flensburger Straße. „Bernhard van Justen, Makler und Hausverwaltung“, stand auf einem protzigen Messingschild. Viel war durch die ausgedehnte Glasflächen der Doppelflügel nicht zu erkennen, wohl aber das grüne Leuchten einer Alarmanlage, deren Verschluß heruntergeklappt war, so daß man die Tastatur erkennen konnte.
„Wie kommen wir da rein?“ – Tim sah ihr Vorhaben bereits gescheitert.
„Mit einem Trick und dem da!“ – Witha zückte ein Fernglas und erläuterte Witha den anderen beiden ihren Plan.
Er bestand zunächst darin, aus den Abfallkörben der Umgebung ein paar leere Bierdosen zu sammeln. Sie hatten ziemlich rasch genug zusammen, gab es doch ganz in der Nähe eine Tankstelle, welche die ganze Nacht über geöffnet hatte, und damit immer wieder nach Ladenschluß durstige Kehlen anlockte. Sie plazierten ihre Fundstücke vor der Pforte, die das Grundstück von dem Bürgersteig trennte, daß es so aussah, als hätte sich hier ein Grüppchen Zecher über längere Zeit aufgehalten.
Gewiß, hier handelte es sich um Umweltverschmutzung, aber der nächste Teil ihres Vorhabens war noch unfeiner: Gerade, als kein Auto vorüber fuhr, und weit und breit kein Fußgänger in Sicht war, hockten sie sich auf den Besen und sorgten für festen Halt. Das Mädchen nahm einen Stein und warf ihn mit voller Wucht gegen die rechte Scheibe der Doppeltür. Sie zersplitterte mit einem lauten Krachen, und im selben Moment jaulte die Sirene los. Das war der Augenblick, an dem ihr Flugapparat empor schoß, und das Dach des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite ansteuerte. Sie sprangen von dem Feger herab auf die Schindeln und gingen hinter dem First in Deckung. Legten sich bäuchlings in eine Position, daß sie alles verfolgen konnten, was sich als nächstes auf der Gasse abspielen mochte, ohne selbst gesehen zu werden. Wie oft kommt es schon vor, daß jemand das Trottoir entlang spaziert, und die Schornsteine oder Giebel einer näheren Betrachtung unterzieht? Erst recht, wenn direkt nebenan laut schellend ein Einbruch vermeldet wird?
Schon bald gesellte sich zu dem Lärm das Auf- und Abschwellen eines Martinshorns. Der Peterwagen hielt mit quietschenden Reifen, und die Polizisten sprangen heraus. So klein sie von hier oben aus auch wirken mochten, ihre Entschlossenheit und Hast gaben ihnen etwas Einschüchterndes. Sie stolperten fast über die Blechbüchsen, und durchsuchten mit angeschalteten Taschenlampen das Grundstück. Als sie sich ins Innere wagten, hielt ein weiterer PKW mit der Aufschrift eines Sicherheitsdienstes.
„Jetzt wird es interessant,“ raunte das Mädchen und starrte durch das Okular.
Ein Wachmann entstieg dem Wagen und unterhielt sich mit einem der Beamten, der zur Sicherung zurückgeblieben war. Dann spazierte er auf das schrillende Kästchen hinter der eingeworfenen Tür zu und gab die Kombination an, um die Anlage abzustellen.
Und Witha diktierte: „Zwei… Drei… Sechs… Null… Vier… Eins… Das war‘s!“
Sie hatten nichts zum Schreiben dabei, aber Harald erfand prompt eine Eselsbrücke, damit sie die Kombination nicht wieder vergaßen: „Wir waren zuerst zu zweit, dann zu dritt, aber Sex gab es ab da null, und das Polizeirevier ist jetzt vereinsamt.“
Tim wunderte sich im Stillen darüber, warum sein Komplize extra die beiden Worte „ab da“ mit eingebaut hatte, aber niemand sonst schien sich daran zu stören. Ohnehin war es weitaus wichtiger, das Geschehen gegenüber zu verfolgen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Sicherheitskräfte wieder im Freien versammelt hatten. Man konnte Fetzen ihrer Unterhaltung aufschnappen; es hörte sich ganz danach an, als ob sie den Unrat vor dem Gatter tatsächlich mit dem „Akt blinder Zerstörungswut“ in Verbindung brachten. Also gingen sie jetzt von einem Rudel Besoffener aus, die sofort die Flucht ergriffen hatten. Damit lautete ihre nächste Order, die nähere Umgebung nach verdächtigen Grüppchen abzusuchen. Schon machte man sich zum Aufbruch bereit, und erneut wurde der Alarm scharf geschaltet.
Nur, um sicherzugehen, schaute Witha noch einmal durch ihr Fernglas und flüsterte: „Zwei… Drei… Sechs… Null… Vier… Eins… Ich habe mich nicht verguckt!“
Die Anlasser wurden betätigt, und der Streifenwagen fuhr als erstes davon. Der andere PKW folgte wenig später. Das Brummen der Motoren hallte von den Wänden wider.
„Also weiter im Plan!“, keuchte Witha – Gerade dieser Teil des Vorhabens hing besonders von ihr ab. Und wieder einmal von der Geschwindigkeit… Erneut erklommen sie ihren Feger und warteten ab. Diesmal saß Harald ganz vorne. Als wieder alles auf der Gasse wie ausgestorben anmutete, flogen sie los. Schossen erneut auf die nun beschädigte Tür zu. Kurz vor dem drohenden Zusammenstoß riß der Lenker die Stange nach rechts herum, und seine Gefährtin sprang ab. Gezielt, denn das Loch in der Scheibe war gerade groß genug, daß ein Kind hindurch paßte. Was weiter geschah, bekamen die Kerle nur am Rande mit, denn sie jagten schon wieder in Richtung Dach empor – Diesmal war es das Dach des Maklerbüros. Sie konnten gerade noch hören, wie sich die junge Dame abrollte, und ein halblautes „Wir waren zu zweit…“ brabbelte. Der Fünfzehnjährige am Ruder brachte ihr ungewöhnliches Verkehrsmittel vor dem großen Seitenfenster im ersten Stock zum Halten, das sie sich vorher ausgeguckt hatten. Hier, wo man sie vom Bürgersteig aus nur entdecken konnte, wenn man gezielt in die Schatten linste…
Es verstrichen bange Sekunden des Wartens. Wo blieb ihre Begleiterin nur?
Doch die Anlage blieb still, und endlich klickte es auf der anderen Seite. Schon klappte die Luke auf, und die Halbstarken kletterten hinein. Gewiß, zu Umweltverschmutzung und Vandalismus setzten sie nun auch noch Einbruch auf ihre Liste, aber sie waren gerade den Abkömmlingen des Basilisken entronnen, die sie jederzeit wieder einholen konnten… Es ging um ihr Überleben!
Witha hatte sich auf einen Stuhl gestellt, um die Klinke überhaupt zu erreichen. Kaum waren die anderen im Raum, da führte sie sie auch schon an die Tür mit der Aufschrift „van Justen“, an der sie auf dem Weg vorbeigekommen war. Viel Zeit blieb ihnen wirklich nicht, denn erstens wurde die Umgebung immer noch verschärft observiert, und zweitens gab es bestimmt eine Notrufzentrale, bei der früher oder später das Signal eingehen würde, daß die Apparatur hier ausgeschaltet worden war. Zum Glück hatte man hier nicht extra abgeschlossen! Sie stürmten das Arbeitszimmer. Für die nüchterne Einrichtung hatten sie kein Auge, und das Licht blieb gleichfalls aus. Harald war derjenige von ihnen mit den besten Computerkenntnissen: Er knipste sogleich den Rechner an, während die übrigen Zwei die Schnellhefter im Regal, respektive die Schubladen des Schreibtisches in Angriff nahmen. Mit den Namen der verzeichneten Dateien hielt er sich erst gar nicht auf, sondern ließ sie nach ihrem letzten Änderungsdatum sortieren. Ja, er wußte ganz genau, an welchem Tag in welchem Jahr der Kampf zwischen den beiden Drachensöhnen stattgefunden hatte. Tatsächlich gab es einen hierzu passenden Eintrag: Er markierte diesen und drückte auf „Enter“.
Die Spannung kribbelte ihnen in der Luftröhre.
Was nun auf dem Monitor erschien, war eine Liste knapp formulierter, und im Stil militärisch anmutender Anweisungen, was im Falle des plötzlichen Verschwindens oder Verscheidens des Schreibers zu unternehmen sei. Demnach hatte van Justen das Dokument wirklich selbst verfaßt: Wer sonst hätte mit seinem unerwarteten Ableben gerechnet angesichts eines unmittelbar bevorstehenden, aber geheim gehaltenen Konflikts zweier Sprößlinge eines Fabelwesens? Es wurden mehrere interessante Details über einen „Baron“ erwähnt, und Anweisungen zur Zerstörung verschiedener Gegenstände erteilt, aber über das Schließen magischer Portale fand sich keine Notiz.
Allerdings befand sich dieser Thread in einem Verzeichnis, das noch weitere elektronische Akten enthielt: Gleich die nächste erwies sich schon fast als so etwas wie ein Volltreffer!
Mehrere Kreaturen waren hier aufgelistet, von denen einem nur wenige aus dem Alltag vertraut waren (Eine „Spinne“ war beispielsweise dabei, oder die eigentlich mehr für ihre Krankenpflege bekannten „Johanniter“), die meisten aber ins Reich der Sage gehörten. Auch Basilisk und Drache waren vertreten, Letzterer sogar zuoberst. Es folgte eine Sammlung von Stichpunkten, die wohl Eigenschaften auflisten sollten, die allen gemein waren. Es las sich freilich alles andere als märchenhaft; ständig wurden Begriffe verwendet, die einem eher aus dem Physikunterricht vertraut sind. „Starke, prägende, sich selbst replizierende Frequenzen“ wurden da erwähnt, aber auch „Spuren in Nervenimpulsen und EEG“. Dann allerdings folgte eine kurze Abhandlung über die regionalen Aktivitäten der jeweiligen Abkömmlinge. Drachenkinder und -enkel wurden besonders bedacht, aber auch die Brut des Basilisken war mit Sorge und Sorgfalt betrachtet worden. Zu Letzterer hieß es: „Sie fürchten sich vor ihrem Ahnherren, denn ihrer Mythologie zufolge soll er wie manch anderer regelmäßig auftauchen, wenn seine Amplituden zu schwach geworden sind, um sie durch Reintegration seiner Nachkommenschaft wieder zu stärken. Das würde das Ende seiner Sprößlinge bedeuten. Darum haben sich die hiesigen, so sie über Drachenkräfte verfügen, tief in die Necropolis verkrochen, wo er sie nicht aufspüren kann. Es scheint, daß sie sein baldiges Erscheinen befürchten. Wenigstens geben sie so für ein paar Jährchen Ruhe, daß ich Schleswig erst mal hinter mir lassen kann, um mich dringlicheren Aufgaben zu widmen.“
„Was ist ‚die Necropolis‘?“, wollte Harald wissen.
„Der Teil der Traumwelt, in dem die Toten den Schlafenden begegnen,“ erklärte ihm Witha knapp: Für detailliertere Erläuterungen würden sie später noch ausreichend Muße haben, wenn sie das Haus endlich verlassen hatten.
Darüber, wie man „Durchlässe“ zwischen den Ebenen verschloß, stand freilich auch hier nichts. Und inzwischen mußten sie sich sputen, war von Ferne doch wieder das Herannahen des Martinshorns zu vernehmen. Offenbar war die Gebäudesicherung tatsächlich mit einer Notrufzentrale verbunden.
Aber noch ließ Harald sich nicht beirren, und ging zur nächsten Datei über. Er hatte das Glück, eine Art provisorisches Lexikon übernatürlicher Phänomene zu erwischen. Sie umfaßte allerdings nahezu hundert Seiten. Hastig gab er als Suchbegriff „Portal“ ein, und stieß auf eine Abhandlung zu diesem Thema.
Das Heulen der Sirene kam jetzt unmittelbar von der Straße. Türen knallten.
Auf dem Bildschirm stand zu lesen, daß sich „Brücken“ zwischen den „Frequenzbereichen“ immer dann auftun würden, wenn jemand stürbe – Dies würde dann als Tunnelerlebnis erfahren. Bei dem Tod besonders mächtiger Geschöpfe „mit starker Oszillation“ seien diese Verbindungen besonders intensiv.
Das Gatter quietschte. Eilige Schritte waren von dem Pfad zur Haustür zu vernehmen.
Drachenkräfte könnten die erwähnten Routen beeinflussen, aber man müsse schon ein unmittelbares „Kind“ des Lindwurms sein, um sie stabilisieren oder lenken zu können.
Ein Krachen kam vom Eingangsbereich, dann war Lärm im Flur: Die Ordnungshüter mußten einen Weg gefunden haben, einzudringen!
Von Justen vermutete, „der Baron“ sei ein leibhaftiger Drachensohn, dem die „quantenmechanische Signatur“ des Basilisken „sekundär aufgeprägt“ worden sei, und nannte als dessen letzten bekannten Aufenthaltsort die Möweninsel.
Es standen dort noch weitere Absätze zu lesen, aus denen das Wort „Empfangsverstärker“ hervorstach, doch die unmündigen Einbrecher hatten nicht mehr die Zeit, sie zu studieren: Jäh kam ein Poltern von der Treppe. Die Polizisten preschten herauf in den ersten Stock!
Die Drei nahmen sich nicht mehr die Zeit, den PC herunterzufahren. Gerade mal der „Aus“- Knopf wurde betätigt, da wetzten sie auch schon in Richtung Flur. Erreichten ihn nahezu gleichzeitig mit den Gendarmen.
„Halt! Stehenbleiben!“, ertönte eine einschüchternde Männerstimme.
Sie hetzten über den Korridor. Wurden deutlich hörbar verfolgt.
„Stehenbleiben, oder ich schieße!“
Sie erreichten die Kammer, durch die sie herein gelangt waren. Sprangen auf Stuhl und Tisch – Was, wenn der Besen jetzt weg war? Nein, ein Segen: Er schwebte immer noch auf der anderen Seite des weit geöffneten Fenster.
Justament enterten die Wachtmeister den Raum. Der laute Knall eines Warnschusses betäubte einem die Ohren. Die Drei sprangen gleichzeitig und hatten Dusel genug, daß keiner von ihnen daneben griff. Schon entstoben sie mit ihrem Gefährt in die Lüfte, und ließen ein paar verdutzt hinterdrein glotzende Schutzmänner zurück.
„Wohin jetzt?“, ächzte Tim, der völlig außer Atem war, „Über das Verschließen von Portalen wissen wir immer noch nichts.“
Geschweige denn, daß sie herausgefunden hätten, warum der Makler das Haus des Herrn Börnsen ausgerechnet an seine Familie verkauft hatte.
„Zur Möweninsel!“, kam es da bestimmt von Harald.
Auch hier brauchten sie nicht lange, um zu ihrem Ziel zu gelangen: Das besagte Eiland inmitten der Schlei lag gar nicht weit entfernt. Freilich machte dieser von Schilf und hohem Gras überwucherte Felsen nicht den Eindruck, als würden sich hier irgendwelche übernatürlichen Aktivitäten abspielen. Auch wenn Tim bei seinem Anblick ein flaues Gefühl in der Magengrube verspürte, ohne genau zu wissen warum…
„Kein Empfangsverstärker weit und breit!“, seufzte die Minderjährige in seiner Gesellschaft.
„Aber da!“ – Er hatte etwas gesehen – „Da liegt etwas!“
Sie gingen tiefer. Und tatsächlich: Dort unten, halb verborgen im schattigen Röhricht, waren die Umrisse eines menschlichen Körpers auszumachen.
Die schwarzen Wellen der Schlei plätscherten leise, als sie zwischen den Halmen landeten. Zwei der Vögel, die dieser Klippe ihren Namen verliehen hatten, wurden aufgeschreckt, und flatterten lautstark schimpfend davon. Dann wurde es wieder einigermaßen ruhig, und man konnte den Wind im Reet singen hören.
„Eine Frau,“ stellte das Mädchen fest, die als Erste von ihrem Flugapparat gesprungen war, „Sie sieht ganz so aus, als ob sie schon längere Zeit krank gewesen ist.“
„Was hat sie da an?“, wunderte sich Tim, der ihr zusammen mit dem Dritten im Bunde folgte, und deutete auf das dünne, weiße Baumwollhemdchen, daß den herbstlichen Temperaturen ganz und gar nicht angemessen war.
„Das sind die Kittel, welche die Patienten hier im städtischen Krankenhaus tragen, wenn sie so schnell eingeliefert werden, daß keine Zeit mehr ist, von daheim einen Pyjama mitzunehmen,“ erkannte die Vorausgeeilte, „Ich kenn‘ die Teile; Klaus Börnsen hat so‘n Ding angehabt, als er wegen ‘ner akuten Influenza da eingeliefert worden ist – Am selben Tag, an dem sich meine Schwester umgebracht hat.“
„Er ist wegen ‘ner einfachen Erkältungskrankheit in die Klinik eingeliefert worden?“, wunderte sich Tim.
„Die beiden haben sich sehr nahe gestanden. Er ist genau in der Minute im Unterricht zusammengebrochen, in der sie aus dem Leben geschieden ist. Ich denke, er hat ihren Tod gespürt, und war durch die Grippe schon so geschwächt, daß ihn beides zusammen umgehauen hat. Mitten im Unterricht!“
Harald indes beschäftigten andere Sachen: „Sie hat noch gelebt, als sie hierher gebracht wurde. Ihr Körper ist ja selbst jetzt noch warm.“
„Daß machen die Blutsauger manchmal so, wenn sie kein Aufsehen erregen wollen,“ wußte die kindliche Dame in ihrer Gemeinschaft, „Sie nehmen sich jemanden, der sowieso stirbt. Den bringen sie dann wieder zurück, und kein Arzt würde auf den Gedanken kommen, eine Autopsie zu machen, weil die Krankengeschichte ja schon über Wochen vorher aufgezeichnet worden ist. Wer sucht bei einem Krebskranken voller Einstichen von Spritzen und Infusionsschläuchen noch nach zwei Löchern in der Nähe der Halsschlagader?“
„Nur, daß die hier keine Bißspuren aufweist,“ erkannte Harald unterdessen, „Sie müssen sie für irgendwas anderes gebraucht haben.“
„Wenn sie sie nicht gebissen haben, dann bestimmt nicht, weil sie nicht hungrig gewesen wären,“ erkannte Witha, „Es scheint so, als wollten sie, daß sie noch möglichst lange so eben am Leben bleibt.“
„Die Empfangsverstärker!“, fiel es da ihrem Freund auf, „Wir haben hier weit und breit keinen Empfangsverstärker gefunden, und trotzdem hat es ein Tor gegeben, durch daß sie in die Realität gefunden haben.“
Sie erkannte, worauf er hinaus wollte: „Van Justen hat geschrieben, daß sich immer wieder Brücken ins Jenseits öffnen, wenn jemand stirbt. Sie müssen sich die von dieser armen Frau hier zunutze gemacht haben.“
„Das heißt dann aber, daß sie jemanden haben müssen, der über die Macht eines Drachenkindes verfügt, um deren Brücke so zu verändern, daß sie darüber ihre eigenen Monster in unsere Welt schleusen können.“
„Van Justen hat vermutet, daß irgendein ‚Baron‘ sowas ist,“ erinnerte sich Tim an die Abhandlung auf dem Computerbildschirm.
„Der Baron von Schottersteyn ist in der Tat mächtig,“ pflichtete ihm sein Kamerad bei, „Er bezeichnet sich selbst als ‚Voivod der Necropolis Schleswig‘ – Aber wenn er keine Empfangsverstärker benutzt, sondern im Totenreich hocken bleibt, um da den Verlauf des Portals zu regeln, heißt das, daß er selbst nicht zu uns kommen kann. Die Pforte würde sich wieder ganz auf die Sterbende ausrichten, sobald er aufhört, sich darauf zu konzentrieren, und er könnte sie nicht mehr benutzen.“
„Vielleicht will er sie ja gar nicht selbst benutzen?,“ spekulierte dessen Gefährtin, „Van Justen hat geschrieben, daß die sich alle vor dem Basilisken verkrochen haben. Was, wenn die Gefahr immer noch akut ist, und er deswegen nur seine Untergebenen geschickt hat?“
„Also, im Nebel habe ich mindestens Acht oder Neun von ihnen gezählt,“ setzte ihr Freund den Gedankengang fort, „Die Frau ist inzwischen tot, also ist das Tor nun zu. Aber sie mögen immer noch irgendwo in dieser Ebene sein, mit versperrtem Rückweg. In Sicherheit dürfen wir uns also nicht wiegen.“
„Da muß aber noch jemand anderes sein,“ erkannte Tim abrupt, „Die Leiche! Sie ist doch erst hier gestorben. Jemand muß sie vom Krankenhaus hierher getragen haben, bevor sich die Pforte aufgetan hat. Als sie noch gelebt hat…“
Innerlich betete er darum, daß es keinerlei Zusammenhänge mit seiner Oneirodynie geben mochte. Denn die vor Grauen entgleisten Züge der Bedauernswerten kamen ihm nur zu vertraut vor…
„Sie haben einige Agenten gehabt, damals…“, griff Witha seine Befürchtungen auf, „Drachenenkel mit lebenden Körpern, aber auch Menschen mit ihrem Blut im Leib. Manche haben den Kampf der Drachensöhne nicht überlebt, andere sind weitergezogen… Aber wenn sich der Baron und seine Schergen tief ins Jenseits verkrochen haben, haben sie bestimmt ein paar ‚Entbehrliche‘ zurückgelassen, die hier alles in ihrem Sinne regeln. Schließlich gibt es auch noch andere Kreaturen, die sich gerne mal eine unbewachte Stadt unter den Nagel reißen.“
„Und derjenige, der die Tote hierher gebracht hat, er wird bestimmt zurückkommen,“ sponn Tim die Überlegung mit einem mulmigen Unterton im Timbre weiter, „Sonst fällt es im Krankenhaus noch auf, daß eine Patientin fehlt. Eine, die bestimmt nicht auf eigenen Beinen davon spazieren konnte.“
„Das macht Sinn,“ pflichtete ihm Harald bei.
„Vielleicht sollten wir hier auf ihn warten?“ – Nach ihrem erfolgreich bestandenen Abenteuer in dem Maklerbüro strotzte der andere Bengel in dem Trio nur so vor Tatendrang. Und er hoffte, daß jemand anderer als er selbst erscheinen würde, so daß er sicher sein konnte, nicht selbst originär in die Angelegenheit verstrickt zu sein…
„Besser nicht!“, warnte sie da ihr weibliches Gruppenmitglied, „Es kann genauso sein, daß das die Monster erledigen, die uns gejagt haben. Und sie können Gedanken lesen, und auf die Weise auch unsere Fährte aufnehmen… Für uns ist es das Beste, wenn wir in den nächsten Tagen nicht mehr an sie denken. Dann vergessen sie uns vielleicht, denn sie haben gewiß besseres zu tun. Denn eins ist gewiß: Wenn sie sich seit Jahren in Todesangst verkrochen haben, und jetzt plötzlich zurückkehren, müssen sie wichtige Gründe haben. Gründe, die weitaus wichtiger sind, als drei harmlose Kinder, die ihnen eher zufällig in die Quere gekommen sind. Wenn es ihnen allein um uns gegangen wäre, hätten sie auch abwarten können, bis sie sich gefahrlos aus ihren Verstecken wagen können. Oder sie hätten uns bereits den Garaus gemacht, noch bevor sie ihre Schlupflöcher aufgesucht haben.“
„Aber wie soll das gehen?“, wunderte sich Tim da, „Diese Nacht werde ich mein Lebtag nicht vergessen!“
„Oh, das geht ganz einfach!“, kam es da von ihr, und schlagartig wurde es schwarz um ihn.
Als er wieder zu sich kam, war es Morgen, und er fand sich in seinem Bett wieder. Das grelle Licht der Vormittagssonne fiel durchs Fenster, und blendete seine müden Augen. Die Ereignisse, die er mitgemacht zu haben glaubte, sie spukten immer noch bunt und vital durch sein Gedächtnis. Doch so wahr sie ihm auch vorgekommen waren, jetzt im nüchternen Schein des neuen Tages zweifelte er nicht mehr daran, daß es sich lediglich um einen besonders farbenprächtigen Alp gehandelt haben mußte. Schließlich: Wann hat man es in der Realität schon mal mit Hexenbesen und vampirhaften, von Dunst umwaberten Ungeheuern zu tun?
So gehörten seine Gedanken an diesem einsamen Sonntag wieder einmal überwiegend Ninette, und wie er es anstellen mochte, ihr doch noch seine Gefühle einzugestehen. Zumal der unmittelbar bevorstehende Montag ein ganz besonderer sein würde! Auch wenn seine diesbezüglichen Phantasien kaum wirklichkeitsnäher waren, als das, was er im Schlaf mitgemacht hatte, so hielt er das eine doch für baldige Realität, und das andere für bloße Hirngespinste…
Noch konnte er nicht ahnen, daß ganze zwei Tage ausreichen würden, um seine Sicht der Dinge zu ändern.

5.
Der Tag der Tage

„Ich hab‘s dir schon so oft gesagt
in meiner Phantasie.“

(Die Ärzte: „Wie es geht“)

„Come down!
Come down,
city disappointments!“

(Boy Kill Boy: „Suzie“)


Am Frühstückstisch war Tim noch zu übermüdet gewesen, als daß er sich allzusehr der Vorfreude hätte hingeben können. Aber bereits, als er in den Bus stieg, war da dieses Kribbeln in seinem Bauch, das ihn beständig daran erinnerte, daß dieser Montag, der zweite November, kein Tag wie alle anderen war. Einer, der eine Gelegenheit bereithielt, die sich so bald nicht wieder bieten würde.
Er hatte das Glück, einen Fensterplatz zu erwischen, so daß er die nächste halbe Stunde damit verbringen konnte, den noch nicht ganz wachen Kopf gegen die Scheibe zu lehnen, versonnen die Landschaft zu betrachten, und dabei schwärmerischen Spekulationen nachzuhängen. Warm war es hier drinnen nicht, so daß er sich tief in seinem Mantel vergrub.
Schon setzte sich sein Transportmittel in Bewegung, und gondelte gemächlich die Dorfstraße entlang. Zu dieser frühen Stunde war es noch nicht wirklich hell, und die Häuser, an denen er vorbei fuhr, lagen in tiefen Schatten. Sie muteten damit fast ein wenig geheimnisvoll an. Wirkten schon ein bißchen wie kurz vor den Weihnachtsferien, wenn hinter den Vorhängen und Gardinen bereits heimlich Geschenke verpackt wurden. In einem Fenster stand sogar ein erster elektrischer Leuchter und illuminierte das morgendliche Halbdunkel wie ein Versprechen.
Dann ging es an dem Ortsschild vorbei, und kurz darauf wurde die Kreuzung passiert. Von nun an gab es eine ganze Weile nur noch Felder, und von Zeit zu Zeit ein kleines Wäldchen am Horizont. Keine Kuh war mehr auf der Weide, just als hätten die Bauern ihr Vieh rechtzeitig in Sicherheit gebracht vor den unheimlichen Nebeln, die zu Halloween aufziehen mochten. Der Halbstarke wußte nicht, ob er es sich wirklich wünschen sollte, einen Hinweis dafür zu entdecken, daß Träume manchmal wahr werden können.
Zumindest einer hätte sich für ihn aber durchaus erfüllen dürfen… einer, der mit diesem Tag besonders eng verbunden war.
Das Glas war kühl an seiner Schläfe, aber wach hielt es ihn eigentlich nicht. Ebensowenig wie das sonore Brummen des Motors. Auch die eintönige Landschaft, die gemächlich an dem Teenager vorbeizog, bot wenig Anreize, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. So waren seine Phantasien schon bald anderweitig beschäftigt… Ach, Ninette! Allein an sie zu denken, ließ ihn aufseufzen, und es war so schön, einen Anlaß zu haben, um sich in sehnsüchtigen Vorstellungen zu verlieren, in denen sie die Hauptrolle spielte. Ein ganzes, langes Wochenende hatte er seine Liebste nicht zu Gesicht bekommen! Dabei lebte er doch nur von Pause zu Pause, von jeder Gelegenheit, wieder Zeuge ihres Anblicks werden zu dürfen. Ninette mit ihrem süßen Kichern und der Art von großen, braunen Augen, die einem jedes Gefühl mit empfinden lassen, das sich in ihnen widerspiegelt!
Er sah sie wieder vor sich, diesmal in ihrem olivgrünen Winterpullover, an den er sich so gerne gekuschelt hätte. Ihr fahl brünettes Haar band sie sich in letzter Zeit zu einem Pferdeschwanz, wohl damit es ihr beim Binden ihres rostbraunen Schales nicht in die Quere kam. Wenn sie über den Pausenhof sprang, hüpfte ihr der Zopf immer so drollig auf und ab, daß es richtig niedlich aussah. Die frische Herbstluft würde ihr Gesicht gewiß gerötet haben, wenn ihr der Halbwüchsige gegenüber trat. Und er würde nicht ins Stottern geraten, denn er hatte den Satz lange geübt, den er ihr sagen wollte. An manch einsamen Nachmittag, wenn er über den Hausaufgaben gebrütet hatte, und erst recht abends im Bett, wenn er vor lauter Grübeln und leidenschaftlichem Verlangen noch nicht einnicken konnte. Der Lärm der um sie herum tollenden und krakeelenden Altersgenossen würde ihn nicht irritieren, und er würde auch nicht lange herumdrucksen, damit er nicht ihr Interesse verlor. Oder eine ihrer Freundinnen dazwischenfunken konnte. Oder seine Feigheit von neuem Gelegenheit fand, die Oberhand zu gewinnen… Nein, klipp und klar würde er sie ansprechen und sein Sprüchlein aufsagen. Und das Bewußtsein, daß hierfür kein anderer Tag im Jahr in Frage kam, würde ihm jeden feigen Rückzieher unmöglich machen. Kein anderer Tag im Jahr als dieser…
Es war üblich, daß einige Pennäler Sonderfunktionen erfüllten, etwa nach Ende jeder Stunde die Tafel zu wischen, oder das Klassenbuch von einem Unterrichtsraum zum nächsten mitzuschleppen. Dafür durften sie dann auch in den großen Pausen mal drinnen bleiben.
An einem Mittwoch im September hatten sie Chemie gehabt, und als er mit seinen Banknachbarn den Hörsaal betreten hatte, war ihnen sogleich aufgefallen, was da auf dem Pult lag: Ein Klassenbuch! Der mit der Pflege beauftragte Schüler der vorher hier unterwiesenen Klasse mußte es vergessen haben. Das aber war die 8A gewesen. Die 8A, in die sein Schatz ging!
Prompt war Tim mit unter den albernden Halbstarken gewesen, die den Wälzer nach irgendwelchen Eintragungen oder sonstigen Peinlichkeiten durchstöberten, mit denen man jemanden hänseln konnte. Freilich hatten sie auch die Seite mit den persönlichen Daten aufgeschlagen, und seitdem wußte er, wo seine Angebetete wohnte, und wann sie Geburtstag hatte.
Tja, und dieser zweite November war genau heute.
„Ninette!“ – Ein weiteres Mal hauchte der Heranwachsende ganz leise ihren Namen vor sich hin, und die Scheibe beschlug. Er malte mit dem Finger ein kleines Herzchen in die Schicht kondensierten Wassers, wischte es aber sogleich wieder weg, bevor es noch jemand von den anderen Fahrgästen sehen, und sich über ihn lustig machen konnte. Zumal sie bald die Nachbargemeinde erreicht haben würden, wo eine ganze Schar unreifer und vorlauter Kids einzusteigen pflegte. Deren ebenso unwichtiges, wie lärmendes Geplapper einen schon mal aus den schönsten Tagträumen reißen konnte.
So nutzte er die Minuten, die ihm noch verblieben, um sich weiter auszumalen, wie er seiner Angeschmachteten heute endlich näherkommen würde. Er würde ihr einen herzlichen Glückwunsch ausrichten, und wenn ihm Fortuna hold war, würde er ihr sogar die Hand schütteln. Vielleicht wäre sie etwas erstaunt, daß ausgerechnet er ihr gratulierte, aber sie war ein zu quirliges, aber auch sensibles Mädchen, als daß sie ihn einfach abgewiesen hätte. Ja, er stellte sich sogar vor, wie da ein Ausdruck wehmütiger Sympathie in ihrem Blick sein würde. Einer, der ihm verriet, daß auch sie diesen Moment herbeigesehnt hatte. Daß auch sie sich heimlich nach ihm verzehrte. Eventuell würde sie ihm sogar um den Hals fallen, glucksend oder schluchzend vor Glück, und sie würden einander halten, bis es zur nächsten Stunde klingelte. Und sein bisher so tristes und einsames Leben würde sich dann für immer verändert haben!
Die ganzen letzten Tage schon hatte er sich an diese Hoffnung geklammert. Ja, hatte sie manches Mal sogar als Ausrede gebraucht, wenn er sich wieder nicht getraut hatte, sich ihr bemerkbar zu machen, ganz nach dem Motto: Ich habe ja noch Zeit bis nächsten Montag.
Bis heute…
Als er seine Haltestelle erreicht hatte, fühlte er sich wie zwischen Kathode und Anode. Jeder Atemzug ließ es prickeln in seiner Brust und am Zwerchfell. Seine Hand zitterte leicht, als er sich am Geländer festhielt, und den Bus verließ. Die Kinder, die ebenfalls ausstiegen und sich an ihm vorbei drängelten, nahm er kaum wahr. Auch Jasmin nicht, die ja immerhin in die Klasse seines Schwarms ging – Aber die pflegte ihn ja auch nie zu beachten. Selbst die frische Herbstluft, die ihm unangenehm unter die Kleider drang, schaffte es kaum, ihn in die Realität zurückzuholen. Er hatte noch eine kurze Strecke zu Fuß bis zur Lehranstalt zurückzulegen. Den Lollfuß entlang, eine mittelbreite Gasse, die zu beiden Seiten flankiert wurde von hohen, altehrwürdigen Häusern, kleineren Geschäften, dem Landestheater, dem städtischen Gericht, einer Kirche und einer langen Steintreppe. Es waren alles in allem malerische Bauten, die dem architektonisch interessierten Bummler einen kurzweiligen Spaziergang beschert hätten. Tim aber hatte hierfür kein Auge; ihm kam es gerade so vor, als wäre er ein unbedeutender Ritter, der beim Wein zu laut geprahlt hatte, und sich nun auf dem Weg in die Höhle des Lindwurms machte. Und wie der immer wieder den Sitz seines Schwertes überprüft, um sich zu versichern, daß er es nicht neben seinem Lager vergessen hat, so brabbelte der Jüngling zigmal halblaut sein Mantra vor sich hin: „Ich wollte dir nur zum Geburtstag gratulieren. Ich wollte dir nur zum Geburtstag gratulieren.“
Jeder Schritt schien ihn tiefer in eine Gewitterwolke zu führen, und ihn weiter aufzuladen, mit einer brodelnden Mischung aus gespannter Erwartung und Unsicherheit. Es würde heute sein… Es mußte heute sein!
Inzwischen war er dermaßen nervös geworden, daß er sich nicht mehr auf sein Sätzlein konzentrieren konnte, und so verfiel er darauf, leise „Mademoiselle Ninette“ vor sich hin zu pfeifen. Es sollte ihm Mut machen, aber bald schon war sein Mund zu trocken, und die Puste blieb ihm aus. Sein Herz schlug ohnehin außer Takt.
Trotzdem hörte er nicht auf, sich einzureden, daß ihm sein Vorhaben schon gelingen würde. Auch wenn er bei der Vorstellung schlotterte, sein Schatz würde ihm justament auf dem Marsch zum Klassenzimmer begegnen. Eventuell sogar in Begleitung ihrer Freundinnen? Nein, der Kelch mochte besser an ihm vorüber ziehen! Noch fühlte er sich nicht in der nervlichen Verfassung, „es“ zu tun.
Doch er hatte Schwein: Weder auf dem Hof, noch im Treppenhaus oder im Flur wurde er ihrer ansichtig. Er verkroch sich in seinem Unterrichtsraum, und versteckte sich vor den Selbstvorwürfen. Blieb bange auf seiner Bank hocken, bis es schließlich läutete und der Pauker hereinkam. Nun hatten sie Deutsch.
Durchgenommen wurde das wirre Geschreibsel eines untalentierten Autors, der vergeblich versucht hatte, seine ohne wirklichen Zusammenhang aneinander gereihten Handlungsfetzen mit den abrupt und nahezu ohne vorherige Andeutung geschilderten Leiden seines Protagonisten eine gefühlsbetontere Note zu verpassen. Es wäre müßig zu vermuten, der Halbstarke hätte ausreichend Konzentration aufgebracht, um dem Lehrstoff zu folgen. Just als hätte er nicht ein weiteres Mal versagt, schwelgte er in Tagträumen, in denen er sein Herzblatt doch zufällig auf dem Gang getroffen und beglückwünscht hatte. In denen sie einander vor aller Augen herzten, daß das Schellen der Glocke keine Erlösung, sondern das grausame Signal zu einem herzzerreißenden Abschied für volle zwei Schulstunden gewesen wäre. Und nur das böse Schicksal trüge schuld daran, daß es doch nicht so gekommen war!
Erst das Klingeln zur ersten großen Pause belehrte ihn eines Besseren.
Er war gekommen, der Zeitpunkt des Showdowns. In den nächsten fünfzehn Minuten hatte es zu passieren! Der seit so langem ausgeklügelte Plan mußte ausgeführt werden.
Wer nur hatte Tim die Knochen aus den Beinen geklaut? Es gelang ihm kaum, sich von seinem Platz zu erheben. Er stützte sich auf der Tischplatte ab, aber auch seine Ellenbogen schienen aus Marmelade zu bestehen. Sein Gesichtsfeld verengte sich, und das Rummeln seines Pulses wurde lauter als das Lachen und Schwatzen seiner Kameraden. Fast schon kam er sich vor, als würde jetzt schon alles über ihn spotten, obwohl eigentlich niemand in seine Richtung schaute. Er gewann einen vagen Eindruck davon, wie ein Autist die Welt wahrnehmen mußte, denn sein Innenleben übertönte immer mehr das von außen Kommende. Eher motorisch steuerte er die Tür hinaus auf den Korridor an, und sie mutete ihm an wie eine Guillotine. Er schaute nicht nach links oder rechts, als er in den Flur trat, aus Furcht, er könne sie erblicken, wie sie ebenfalls ihr Klassenzimmer verließ. Hastig erfand er eine Ausrede für sich selbst, daß dies hier nicht der rechte Ort und nicht die rechte Zeit sei. All ihre Banknachbarn waren hier, auf dem Weg nach draußen, und in dem Gedränge würde die Ausführung seines Manövers zuviel Aufmerksamkeit erregen. Sein Schwarm würde auch keine Muße für ihn haben, hatten doch alle das Gebäude auf schnellstem Wege zu verlassen.
Also gewann er einen Aufschub von einer Minute, die es brauchte, bis er im Strom der übrigen Pennäler ins Freie gelangt war. Ein kühler, grauer Herbsttag empfing ihn.
Er stellte sich zu seinen Kumpels – So sehr, wie bei ihm der Frack (beziehungsweise die Jacke) am Sausen war, brauchte er die Nähe der anderen, um sich nicht ganz so verloren zu fühlen. Sascha und Mirko, ihre unbeschwerten Scherze würden ihn schon soweit von seiner Beklemmung ablenken, daß er die nötige Gelassenheit wiederfand, seine Strategie in Angriff zu nehmen! Ninette zu… Ninette zu… Erst mal sammeln! Ja, vorläufig war es das Wichtigste, sich erst einmal zu sammeln.
„Bah, endlich raus aus der Schlange!“, schüttelte sich Ersterer gerade gespielt angewidert, als Tim sich zu ihnen gesellte, „Ich hatte die ganze Zeit über Sabrina vor mir, und irgendwer hat mich die ganze Zeit über von hinten gegen sie geschubst.“
Bei Sabrina handelte es sich um eine etwas pummeligere Mitschülerin der Drei.
„Und wo du ihren Arsch an deiner Schlange gespürt hast, ist es dir da ‚endlich rausgekommen‘, was?“, verfiel Mirko nach gewohnter Manier ins Lästern.
„Besser eine Schlange in der Hose, als du mit deinem Aal, der nach Fisch stinkt!“, reagierte Sascha prompt, und schon wurde unbeschwert drauf los geulkt. An anderen Tagen hätte ihr frisch dazu getretener Gefährte auch fröhlich mit Zoten gerissen, aber heute war er aus verständlichen Gründen viel zu unruhig dafür. Immer wieder ließ er seine Blicke schweifen…
„Der stinkt nur deswegen nach Fisch, weil Ute letzte Nacht ihre Möse nicht gewaschen hatte.“ – Ute war die anerkannte Schönheit ihrer Klasse, und ging dazu noch mit der allseits bewunderten, und darum recht überheblichen Sportskanone Stefan, so daß Mirkos Behauptung mehr als absurd war.
„Hat sie dir auf den Schwanz gepißt, nur damit du ihn nicht reinsteckst, oder was?“, setzte Sascha prompt das amüsante Wortgefecht fort.
Da war sie! Nicht weit von dem Kabäuschen des Hausmeisters entfernt stand Ninette, zusammen mit ihren Freundinnen – Na, das hätte Tim sich ja auch denken können, daß sie sich hier kaum allein herumtreiben würde! Die eine mit dem Bubikopf und den abgeklärt wirkenden Zügen hieß Marie, soweit er wußte, die andere mit der kurzen Nase und dem blonden Haar kannte er nicht mit Namen. Sie standen einfach nur in der Gegend herum und schnackten. Eigentlich könnte man jetzt einfach so in ihre Richtung schlendern und sie ansprechen…
Sein Herz spielte Tekkno, daß es ihm selbst in der Gurgel vibrierte. Das Blut schoß ihm heiß in den Kopf, daß er befürchtete, rot zu werden. Wenn bloß seine beiden Kameraden nichts davon mitbekamen! Und auch nichts davon, daß ihm vor Lampenfieber die Kontrolle über seine Knie entglitten war, die nun unbeherrscht ins Bibbern verfielen.
Doch die waren weiter miteinander beschäftigt: „Wenn du schon dein erstes Mal gehabt hättest, wüßtest du, daß beim Orgasmus nicht geschifft wird,“ alberte Mirko jetzt.
„Ach, nicht? Wenn du vorm Pißbecken stehst, grabbelst du doch immer so lange an deinem Pimmel rum, daß man glaubt, du wärst am Wichsen, und dann kommt doch nur Lulu dabei raus,“ konterte Sascha prompt.
Warum war Ninette nur so süß? Wieder trug sie ihren Pferdeschwanz, der so drollig auf und ab wippte, als sie sich gerade so lebhaft unterhielt, daß sie auf ihren Zehen wippte. Ja, sie hatte sogar ihren olivgrünen Winterpullover und den rostbraunen Schal an, genau wie in der Phantasie des Jünglings heute morgen im Bus! Alles, was noch fehlte, um dieses Bild zu komplettieren, war eben ihr heimlicher Verehrer, der furchtlos auf sie zu marschiert kam, um ihr seinen so lange einstudierten Spruch aufzusagen.
Der allerdings hatte gerade aufgehört, der Klasse der Wirbeltiere anzugehören. Meinte, noch nicht einmal mehr Knorpel im Leib zu haben, zitterte er doch wie eine Scheibenqualle in der Klospülung. Selbst sein Denken hatte sich mehr auf das Rückenmark verlagert, denn in seinem Schädel kollidierten just zwei Sturmfronten, von denen die eine „Tu es! Egal wie!“ hieß, und die andere „Angst“. Zusammen machten sie jede noch so unbedeutende Hirnfunktion unmöglich.
„Ich brauch‘ keine Finger, um an meinem Lümmel zu rubbeln; dazu hab‘ ich ja Utes Votze.“
„Aber nur solange, bis du aufwachst, und dann brauchst du deine Finger dazu, um deinen Pyjama wieder sauber zu machen.“
Die pubertären Witze drangen gar nicht mehr zu ihm vor. Nichts nahm er mehr wahr als das, was ihm seine Pupillen über Ninette zu berichten wußten, während in ihm weiter die Orkane wüteten. Wollte ihr nicht eine ihrer Begleiterinnen die Hand schütteln? Das wäre dann das Signal, das er hätte anführen können, um sich selbst davon zu überzeugen, daß er nun in der Pflicht stünde, es auch zu tun. Zumindest meinte er, daß seine zaudernde Seite schon darauf hören würde, denn bei dem emotionalen Tohuwabohu, das in ihm tobte, war er sich bei nichts mehr sicher, das ihn selbst betraf.
Ach, Ninette! Sie war zu niedlich, als daß er es jemals fertiggebracht hätte, sie anzuschauen, ohne sogleich in Konfusion zu verfallen!
„Woher weißt du, daß Ute meine Pyjamas trägt?“
„Die trägt sie höchstens zum Mülleimer, so doll, wie die stinken, wenn du sie nur einmal angehabt hast.“
Justament kreuzte Jasmin auf. Schritt auf das Damengrüppchen zu. Na, sie würde der ab heute Vierzehnjährigen doch wenigstens die Flosse schütteln, oder?
Tim machte sich bereit, seine Kumpels notfalls abrupt zu unterbrechen. Die gesamte letzte Woche hindurch hatte er sich immer wieder ausgemalt, „ganz zufällig“ mitzubekommen, wie sie irgendeiner ihrer Klassenkameraden zum neuen Lebensjahr beglückwünschte, um dann – vielleicht begleitet von ein paar albernen Banknachbarn – hinzu zu stürzen, und das Selbige zu tun. Sascha und Mirko waren dafür genau die richtigen Kandidaten! Diese Art von Scherz war im letzten Schuljahr kurz nach den Osterferien recht populär gewesen, und so manch verdutzter Pennäler hatte sich plötzlich von einer ganzen Traube ihm unbekannter, aber übertrieben breit grienender und überschwenglich gestikulierender Jungen und Mädchen umgeben gesehen. Freilich lag das nunmehr ein halbes Jahr zurück, und es stand zu bezweifeln, ob jetzt noch wer bei diesem schon etwas angestaubten Ulk mitmachen wollte. Und ob er ganz allein den nötigen Mut aufbringen würde, auf sie zu zu gehen, wagte er zu bezweifeln. Auch wenn es sich nur um einen Gag, und nicht um das Eingestehen seiner wahren Gefühle handelte.
„Und im Mülleimer hockst du dann und holst dir einen runter, wenn sie sich über dich beugt, und ihr die Titten raushängen.“
„Nö, ich steh‘ dann hinter ihr, und besorg ‘s ihr doggy style.“
Jasmin tat ihm den Gefallen nicht. Stellte sich einfach nur zu Ninette, Marie und der anderen, und schloß sich dem Gespräch an. Jetzt erst ging dem armen Romeo auf, daß sie sich ja schon heute Morgen gesehen, und ihre Grüße wahrscheinlich gleich beim ersten Zusammentreffen ausgetauscht hatten! Na, da konnte er hier auf eine günstige Gelegenheit warten, bis er schwärzer wurde als Edmund Stoiber! Es blieb ihm wohl oder übel nichts weiter übrig, als selbst die Initiative zu ergreifen…
Erneut schwabbelte da eine Meduse in der Toilettenschüssel.
„Reicht dein Taschengeld denn für die Hundesteuer?“
„Du meinst sowas wie das, was deine Eltern dem Finanzamt bezahlen, damit sie dich behalten dürfen?“
Jäh geschah etwas, das Tim ein unsichtbares Messer in die Kehle jagte: Nils gesellte sich ebenfalls zu den vier Backfischen. Der Angeber Nils, der zu allem Überfluß auch noch so gut in Sport war, daß er in der Schulmannschaft Fußball spielte! Gewiß, er ging in Ninettes Klasse, aber berechtigte ihn das, als Junge so einfach auf die Mädchen zu zu stolzieren? Und dann war es auch noch Ninette selbst, an die er sich wandte! Ganz unbefangen mit ihr plauderte, just als wären da nicht auch noch drei andere Weiber, an die er sich hätte wenden können! Ja, er betatschte sie nun auch noch an der Schulter! Konnte sie denn nicht erkennen, mit was für einem tolldreisten und gewissenlosen Aufreißer sie es zu tun hatte? Der heimliche Beobachter wußte, daß sie sich ganz gerne recht kindlich gab, aber konnte sie wirklich so naiv sein? Oder gefiel es ihr sogar? Schließlich lächelte sie ihn an, und in ihren Augen blitzte es fröhlich…
„Mehr das, was Ute bei mir abliefern muß, damit sie mit mir ficken darf.“
„Ihre Großmutter in Strapsen, du Perversling?“
Nein, ihre Hand schüttelte auch der rücksichtslose Anbaggerer nicht – Und wenn, dann hätte es der schüchterne Beobachter bei dieser Wendung der Dinge nicht mehr als Vorwand ausnützen können, es dem schamlosen Wüstling gleichzutun! Oh, wie verzweifelt Tim war! Ohnmächtig mußte er mit ansehen, wie Nils unverfroren zu Werke ging. Wie er ihr mit ihrer Visage ganz nahe kam, daß sie seinen Odem in ihrem haben mußte. Wie er sie immer wieder berührte, mal neckisch mit ihrem Zopf spielte, und mal seine Pranke längere Zeit auf ihrem Oberarm ruhen ließ. Und ihr dabei ohne jede Scheu auf die Oberweite glotzte.
„Ne! Penunzen natürlich!“
„Ich hab‘ doch schon immer gewußt, daß du ‘ne Nutte bist!“
Letzten Sommer hatte sie mal einen weißen, kurzen Faltenmini getragen, daß es weithin aufgefallen war, was für hübsche Beine sie hatte. Und doch war es Tim auch damals nicht in den Sinn gekommen, sie als Sexobjekt zu betrachten; zu rein und aufrichtig war das, was er für sie empfand!
Nils aber war von einem ganz anderen Kaliber; es war im ganzen Jahrgang bekannt, daß er bereits zwei Freundinnen verschlissen hatte. Die Erste hatte er wegen der Zweiten einfach sitzenlassen, und die wiederum hatte ihn verlassen, weil sie ihm beim Knutschen mit einer Dritten ertappt hatte. Ein Wüstling, der erst mit dem Jungen, der im Traum „Harald“ gehießen hatte, in Ninettes Klasse gekommen war, ebenfalls als Sitzenbleiber, und der keinen Hehl daraus machte, daß er sich für einen tollen Hecht hielt! Dem aufgeregten Geflüster mancher von Tims Mitschülerinnen zufolge, stand er mit dieser Meinung nicht allein.
Justament beugte sich der Don Juan vor, als wollte er dem Geburtstagskind einen Bussi auf die Lippen drücken.
„Mit Nutten kennst du dich aus, oder wie?“
„Klar, ich hab‘ alle Nutten aus unserer Klasse durchgepimpert!“
Der verstohlene Zuschauer wollte nicht hingucken, doch er mußte es. Mußte es, denn er hatte nur die Wahl zwischen Marter und Folter. Die Ungewißheit würde ihn nur stärker quälen als das Entsetzen, den Sinn seines Lebens just in diesen Sekunden für alle Zeiten zu verlieren!
Dabei drohten auf einmal die Tränen zu verhindern, daß er weiter alles mit ansehen konnte. Er biß sich auf die Unterlippe, damit nur ja keine Zähre ins Freie drang, und ihn vielleicht auch noch vor seinen Gefährten blamierte. Besser einen Schnupfen vortäuschen, und sich ein paarmal zu oft die Nase schneuzen, als vor aller Augen als Heulsuse dazustehen!
Dadurch für Sekundenbruchteile abgelenkt, hatte er gar nicht mitbekommen, wie da plötzlich dieser Typ mit den ungepflegten Haaren aufgetaucht war, der einer Anekdote zufolge „Hans“ heißen mußte. Auf jeden Fall plapperte er Nils unverhofft von der Seite an, und wenn der vorgehabt hätte, sein Opfer zu küssen, so kam er auf jeden Fall nicht mehr dazu. Aber aufgeschoben war nicht aufgehoben…
Tim spürte, wie er vor panischem Aktionismus zu zerplatzen drohte, aber es war ihm verboten einzugreifen. Sein Schwarm und der dreiste Weiberheld, sie kannten einander schließlich, waren Banknachbarn! Und er… Er war nur ein Unbekannter, der keinerlei Rechte vorweisen konnte. Wo im Grundgesetz findet sich schon ein Paragraph, der die Unverletzlichkeit der Seele garantiert?
„Moment mal! Ich geh‘ in deine Klasse, und du hast mich auch gerade als Nutte bezeichnet. Willst du damit sagen, du hast auch mich genagelt?“
„Was meinst du, woher ich weiß, daß deine Pyjamas so stinken?“
Jetzt entfernte sich die Gruppe aus inzwischen vier Frauen und zwei Typen auch noch! Schlenderte in Richtung der Fahrradkeller davon, wo sich weniger Pennäler herumtrieben, und die Atmosphäre etwas intimer war. Manch Pärchen nutzte das Dunkel der Abstellräume, um unbeobachtet miteinander zu knutschen (auch wenn die Zahl der heimlichen Raucher dort größer war).
Tim hielt es nicht mehr bei seinen Freunden. Denen fiel es ohnehin kaum auf, als er ohne Vorankündigung davonstiefelte. Zu allem Überfluß verließ jetzt auch noch eine Klasse aus der Unterstufe die Sporthalle, und kreuzte als dicht gedrängte Meute den Pausenhof. Damit verlor er nicht nur den Blickkontakt zu seinem Herzblatt, er mußte auch noch einen Weg durch sie hindurch finden, was sein Fortkommen gefährlich verzögerte. Als er sie endlich hinter sich gelassen hatte, war von den Verfolgten nichts mehr zu sehen. Hastig preschte er in Richtung der Drahtesel- Grüfte. Gab nichts mehr darauf, was die Umstehenden von seiner jähen Eile denken mochten. Schoß um die Kurve, hielt an, um sich umzuschauen. Hyperventilierte dabei, nicht weil er außer Puste gewesen wäre, sondern aus purer Angst um seine Liebe. Immer noch waren die Gesuchten nirgends auszumachen. Hinab in die Fahrradkeller… Das Läuten zur nächsten Stunde kam viel zu früh!
Für die nächsten zwei mal 45 Minuten war er ein kleines Häufchen Elend, auch wenn er es niemanden anmerken ließ. In den fünf Minuten der kurzen Pause gar zerfleischte er sich in Phantasien, wie Nils die Gelegenheit nutzte, Ninette doch noch einen Schmatzer zu verpassen. Falls er es nicht längst schon getan hatte in der Spanne, in welcher der unglückliche Romeo ihre Spur verloren hatte.
Es kam die zweite große Pause, und diesmal verschenkte er keine wertvollen Minuten damit, die Gesellschaft von Kameraden zu suchen. Völlig aufgelöst lief er hin und her, kaum daß er wieder draußen war, doch diesmal waren weder Ninette, noch Nils irgendwo aufzuspüren. Ja, als er Jasmin, Marie und die Namenlose entdeckte, ohne Begleitung der beiden, wertete er das als Indiz dafür, daß nun alles zu spät war.
Um das Unglück perfekt zu machen, hatte deren Klasse heute nach fünf Stunden Schluß, und seine erst nach sechs. Damit war ihm auch die letzte, zumindest theoretische Chance genommen, seinen Schatz noch einmal anzusprechen.
Als endlich auch für ihn der Unterricht zu Ende war, hatte er keine Eile, seine Sachen zusammen zu räumen. Ihm war jeglicher Lebensmut genommen, und es störte ihn auch nicht mehr, daß es noch einen öffentliches Verkehrsmittel gab, das er erwischen mußte. Nein, eigentlich blieb ihm nur noch eines zu tun: Wenn ihm schon kein vielversprechender Anfang beschieden war, dann wollte er wenigstens einen grandiosen Abgang haben!
Als außer ihm niemand mehr im Raum war, holte er ein Blatt Papier aus seinem Geographie- Hefter und schrieb darauf:
„Liebe Glückwünsche zum Geburtstag!“
Den Punkt des Ausrufezeichens gestaltete er in der Form jenes Herzens, das er heute morgen an das Busfenster gemalt hatte. Seinen Namen fügte er nicht hinzu; dazu war er dann doch zu schüchtern.
Als nächstes faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn sich in die hintere Hosentasche. Bereits jetzt war sein Puls spürbar beschleunigt; schließlich konnte jeden Moment einer seiner Banknachbarn zurückkehren, weil er etwas vergessen hatte, und ihn fragen, was er da mache.
Der nächste Teil seines Planes führte ihn freilich noch tiefer in verbotene Gefilde, oder – genauer gesagt – unmittelbar in die Höhle des Löwen. Denn hier in seinem Klassenzimmer durfte er sich zumindest solange aufhalten, bis die Putzkolonne kam. Um aber das von Ninette zu betreten, dazu hatte er keinerlei Berechtigung! Genau dahin allerdings würde ihn sein Weg führen…
Auf dem Gang war es menschenleer. Selbst vom Treppenhaus her war kein Laut zu vernehmen. Trotzdem spähte er sorgsam nach links und rechts, und trat betont leise auf, als er sein Ziel ansteuerte. Schon hatte er die Tür vor sich… Er zögerte, nach der Klinke auszugreifen. In seinem Traum hatte er sogar die Courage besessen, in ein Maklerbüro einzubrechen, doch da hatte er ja auch zwei Mitstreiter gehabt, und dies war die Realität. Erneut musterte er die Umgebung, ob er auch wirklich allein war. Dann lehnte er sein Ohr gegen die Füllung, ob er von Drinnen vielleicht Geräusche oder Stimmen vernehmen mochte. Leider schlug sein Herz dermaßen laut, daß er zu keinem verläßlichen Ergebnis kam.
Also raffte er alles zusammen, was ihm noch an Schneid verblieben war, und öffnete den Eingang einen Spalt. Seine Beinmuskulatur war angespannt; er war bereit, stehenden Fußes davonzulaufen, sobald er einer Reaktion aus dem Inneren des Raumes gewahr wurde. Indes, alles blieb still.
Dennoch lugte er erst einmal vorsichtig hinein: Es war tatsächlich niemand mehr da. Freilich kam er sich immer noch vor wie ein Vampir vor dem Kirchenportal, und er verschaffte zunächst einen Überblick. Die Luft roch frisch; die Fenster waren auf Kipp gestellt. An der Wand rechts vor ihm war der Stoff der letzten Stunde nur schlampig abgewischt worden. Dafür waren links von ihm überall die Stühle mit der Sitzfläche nach unten auf die Tische gestellt, wie es sich gehörte, um dem Reinigungsdienst die Arbeit zu erleichtern. Nichts wirkte auch nur im mindesten ungewöhnlich… Der Nebel in seinem Alpdruck freilich war ihm auch solange harmlos vorgekommen, bis es für ihn aus eigener Kraft kein Entrinnen mehr gegeben hatte.
Als er sich endlich getraute, die Schwelle zu überschreiten, schlich er wie auf Katzenpfoten. War dermaßen nervös, daß jetzt kein Stück Kreide von der an der Tafel angebrachten Schiene fallen durfte. Ja, er wußte, wo seine Liebste saß. Hatte es in den letzten Schuljahren fast immer schon in den ersten Tagen des Unterrichts durch einen „zufälligen“ Blick durch die geöffnete Tür herausbekommen, wenn er einen Vorwand gefunden hatte, daran vorbei zu schlendern. Schritt vor Schritt… Hatte es jemals einen Tag in seinem Dasein gegeben, an dem er so oft ins Bibbern geraten war wie heute? Ihr Platz! Er stand unmittelbar an ihrem Platz! Mit einem leisen Seufzer streichelte er die Holzfläche, auf die sie an jedem Wochentag ihre Ellenbogen abstützte.
Plötzlich war ihm, als hätte er ein Geräusch vom Korridor her gehört. Im Reflex ging er in die Knie: Wenn man ihn hier entdeckte, würde man ihn für einen Dieb halten! Die nächsten Sekunden verbrachte er damit, bange in Richtung Flur zu stieren. Erst ganz allmählich wurde ihm bewußt, daß er gerade das Fach ihrer Bank unmittelbar vor sich hatte. Eine Orangenschale und die leere Verpackung einer Schokolade lagen darin. Seine Angebetete war also ein Leckermäulchen… Oh, warum mußte sie nur so süß sein? Es hätte alles viel weniger weh getan, wenn er sich einfach hätte einreden können, sie wäre seiner Gefühle sowieso nicht wert gewesen.
Wieder vernahm er etwas vom Gang Kommendes. Als hätte irgendwer eine Luke zugeschlagen. Hastig griff er sich in die Hosentasche, und der Zettel rutschte vor Schreck ihm auch noch aus den Fingern. Fast schon in Panik langte er nach dem Papier aus, und stopfte es eiligst zu Obstrest und Pappschachtel. Er brauchte seinen Beinen erst gar nicht den Befehl zu geben, sich zu sputen: Das geschah ganz automatisch! Er wetzte zwischen den Tischen hindurch, stieß an, rannte hinaus auf den Flur – Und dort sah er dann, was ihm so sehr Muffensausen bereitet hatte: Auf dem Hinweg hatte er vor lauter Furcht, ertappt zu werden, ganz vergessen, die Tür zu seinem eigenen Klassenraum hinter sich zu schließen. Sie klapperte nun im Zug.
Aber er hatte wenigstens diese Mission erfüllt, wenn ihm auch die andere, ungleich wichtigere gründlich in die Hose gegangen war!
Jetzt blieb ihm eigentlich nur noch, daheim anzurufen und seiner Mutter zu beichten, daß er den Bus verpaßt hatte. Sie würde gewiß alles andere als erfreut sein, aber nach dem, was er heute hatte durchmachen müssen, konnten ihm ihre bösen Worte auch nicht sonderlich mehr Schaden zufügen.

6.
Erkenntnisse

„Solange ich mich erinnern kann,
fängt das Wünschen immer wieder von vorne an.“

(Sportfreunde Stiller: „Siehst du das genauso?“)

„Die Erinnerungssplitter liegen herum.
Ich tret‘ rein.“

(Kettcar: „Landungsbrücken raus“)

„Ich denke oft zurück.
Wir hatten soviel zu verlieren!“

(Boytronic: „Wie ein Blitz“
)

Versteht hier einer die Liebe? Es ist doch nicht zu fassen, was da mit Tim geschehen ist! Gestern noch war er am Boden zerstört, und heute war er schon wieder ganz Ninette verfallen. Klammerte sich vollends an die Hoffnung, daß da zwischen ihr und Nils schon nichts vorgefallen war. Schließlich hatten sie sich ja nicht geküßt, oder? Zumindest hatte er nichts davon mitbekommen. Das war doch fast so gut wie die Vorstellung, daß es den gestrigen Tag niemals gegeben hatte, oder? Und das bedeutete doch, das er einfach so weitermachen konnte wie bisher, oder? Sich von Wunsch zu Wunsch zu hangeln, daß genau dieser neue Tag derjenige sein würde, an dem sich endlich die so lange herbeigesehnte Gelegenheit ergab, ihr seine Empfindungen einzugestehen. Er brauchte es. Er brauchte die Zuversicht, das sein Herzblatt noch nicht vergeben war, hatte er doch nichts anderes! Wenn er sie verlor, würde er in ein tiefes, schwarzes Loch stürzen, aus dem ihm nichts und niemand mehr würde herausholen können.
Aber das war nicht das einzige, das ihn an diesem Dienstag Vormittag beschäftigte. Denn gestern Nachmittag hatte er vor lauter Melancholie nichts mit sich anzufangen gewußt, so daß er sogar den Lokalteil der Tageszeitung gelesen hatte, die seine Eltern abonniert hatten. Es gab darin doch tatsächlich einen Artikel, der von einem „Einbruch betrunkener und randalierender Jugendlicher“ in einem „Maklerbüro in der Flensburger Straße“ in der Nacht zum Sonntag berichtete! Konnte das Zufall sein?
Der Heranwachsende war längst nicht mehr in dem Alter, in dem man vorbehaltlos an fliegende Hexenbesen und Vampire im Nebel glaubt, aber was, wenn sein Traum doch kein Traum gewesen war? Wenn es das Wunderbare irgendwo und irgendwie wirklich gab? Das Wunderbare, das ihn vielleicht doch noch zu seiner Angeschmachteten führen mochte? Wo das Alltägliche versagte, konnte das Heil nur noch im Übernatürlichen liegen.
In der ersten großen Pause hatte er noch den vagen Plan, ihr zumindest verspätet zu gratulieren, aber er sah sie nur ganz kurz in Gesellschaft von Jasmin und der kurznasigen Blondine, deren Namen er nicht kannte. Nichts ließ erkennen, ob sie seine anonyme Botschaft denn nun gefunden, und wie sie sie interpretiert haben mochte.
In der zweiten großen Pause dann geschah etwas Unverhofftes. Er hatte kurz zuvor zu fürchten begonnen, sein gestriges Betragen wäre seine Kumpels aufgefallen, und so war er nun eifrig damit beschäftigt, eventuelle Verdächtigungen zu zerstreuen, und mit Mirko und Sascha zu scherzen, just als hätte ihm niemals jemand weh getan. Es ging gerade um den Zusammenhang zwischen Erbsensuppe und Windhosen, als sie den Unterrichtsraum verließen, um sich Richtung Treppenhaus zu wenden, und er war zu abgelenkt, um darauf zu achten, was sich gerade um sie herum abspielte. Dementsprechend unvorbereitet war er, als plötzlich der Kerl aus seinem Alp in seinem Gesichtskreis auftauchte. Seine sonst so chronische Unsicherheit hatte gar nicht die Zeit, die Kontrollstellen zu besetzen, als sich schon ein „Harald?“ über seine Lippen gestohlen hatte.
Der Angesprochene hatte ihn ebenfalls nicht bemerkt, und drehte sich irritiert um – Offenkundig war dies tatsächlich sein Vorname!
„Was machst du hier fremde Kerle an, du kleiner Schäker?“, lästerte Sascha auch schon.
„Ja, so heiße ich,“ kam es unterdessen zögerlich von dem unvermittelt Angequatschten, „Was ist?“
Die nur schlecht verhohlene Furcht in seinem Blick verriet, daß er die Antwort bereits kannte, aber um jeden Preis vermeiden wollte.
Und Tim fand sich unvermittelt in der Situation wieder, schnell reagieren zu müssen, ohne sich zu blamieren. Denn wenn er ihr gemeinsames, schon in der Andeutung unglaubwürdig klingende Erlebnis erwähnte, würde sein Gegenüber gewiß alles abstreiten. Und seine Kameraden hätten erst recht einen Grund, sich über sein Verhalten Gedanken zu machen. In der Eile fiel ihm nichts anderes ein als: „Wie geht es Witha?“
„Witha? Du hast sie gesehen?“ – Nun war es aber nicht Tims Benehmen, das zur Sorge Anlaß gab!
„Ja?“, erwiderte er verwundert.
Da winkte ihn die unverhoffte Zufallsbekanntschaft zur Seite und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Der Aufgeforderte rief seinen nicht minder verblüfften Freunden noch ein „Bis gleich!“ zu, und hängte sich an den mysteriösen Jüngling. Es ging den Korridor entlang, vorbei an mehreren Unterrichtsräumen und auch dem anderen, weiter entfernt gelegenen Treppenhaus. Nach unten marschierten sie freilich auch hier nicht, obwohl die Pennäler in den großen Pausen doch den kürzesten Weg nach draußen zu nehmen hatten. Ja, sie steuerten sogar das Lehrerzimmer an! Tim wurde zunehmend mulmiger zumute: Immer weniger andere Halbwüchsige waren zu sehen; wenn sie jetzt einem der Pauker begegneten, riskierten sie einen Eintrag ins Klassenbuch. Und deren Hauptquartier schien just ihr Ziel zu sein…
Nein, nicht ganz! Kurz zuvor bog sein geheimnisvoller Führer nach links ab und erklomm die alte, gewundene Treppe zum Dachboden. Ja, hatte der Kerl den zuviel Michael Ende gelesen? Der Ort war den Schülern verboten, wenn sie nicht gerade in die Oberstufe gingen, und in der Abgeschiedenheit der dortigen Kammern eine mehrstündige Klausur zu schreiben hatten. Schon wenn man die beiden auf den Stufen ertappte, wäre es um das „Verhalten: einwandfrei“ im Halbjahrszeugnis geschehen! Harald jedoch stapfte sie einfach hinauf, daß das alte Holz nur so knarrte. Sein Begleiter jedoch hatte von den Aufregungen des Vortags noch genug, als daß er sich jetzt so ohne weiteres der Gefahr neuer Scherereien aussetzen mochte.
Doch andererseits: Er hatte schon eine für ihn wichtige Gelegenheit aus purer Feigheit verstreichen lassen. Wenn er das hier nun ebenfalls verbockte, aus reiner Befangenheit heraus, würde er sich nie wieder im Spiegel anschauen können!
Also lugte er sich vorsichtig um, ob irgendwo einer der Pädagogen auszumachen war. Nein, sehen konnte er keinen. Aber direkt um die Ecke, wo es zu dem besagten Lehrerzimmer ging, konnte er zwei von ihnen reden hören. Einen älteren Oberstudienrat und eine junge Referendarin – Ersterer schien Probleme damit zu haben, Letztere von den ihm anvertrauten Zöglingen zu unterscheiden, redete er doch auf sie ein, als wollte er ihr eintrichtern, wie man sich seiner Ansicht nach an einer traditionsreichen Einrichtung wie dieser zu betragen habe. Daß sie ihm nicht beipflichtete, brachte ihn offenkundig in Rage.
Es stand nicht zu erwarten, daß die beiden allzu sehr darauf achtgeben würden, was sich in ihrer Umgebung abspielte. Das allerdings mochte sich bald ändern, oder aber jemand anderes von den Zuchtmeistern aufkreuzen. Tim hielt die Luft an und sprintete los. Die Treppe hoch! Er versuchte, schnell und geräuschlos zugleich zu sein – Ein Unterfangen, das ihn beinahe über eine der Stufen stolpern ließ. Es gab ein Poltern… Horch! War sein Mißgeschick vernommen worden? Tatsächlich waren die beiden miteinander Streitenden auf einmal verstummt… Jetzt hieß es: Weg von der Stiege! Doch er war schon zu weit oben, als daß er rasch genug wieder unten gewesen wäre. Überstürzt preschte er die restlichen Trittflächen aufwärts und stürzte sich geradezu in den Flur, der sich vor ihm auftat. Stürzte sich in die Schatten hinein in der Hoffnung, von unten nicht gesehen worden zu sein.
Es roch nach Staub. Nach Dingen, die schon ein gewisses Alter aufwiesen…
Harald wartete auf ihn in einem der nur zu Klausurzwecken genutzten Klassenzimmer. Tim schloß die Tür hinter sich für den Fall, daß er doch bemerkt worden war, und ihm nun die zwei Unterrichtskräfte nachspürten.
„Du hast Witha also gesehen,“ kam der auf ihn Wartende auch schon gleich zur Sache.
„Ja!“ – Der frisch Hereingekommene nahm Platz auf einem der Tische und ließ die Beine baumeln – „Letzten Sonnabend… oder Sonntag! Auf jeden Fall die Nacht von Halloween.“
Sein Gegenüber wurde kreidebleich.
„Witha…“ – Er machte eine dramatische Pause, in der er hörbar Luft holte – „… ist schon lange tot. Seit vielen Jahren inzwischen.“
„Aber wie kann das sein?“, wunderte sich Tim, ganz als wären fliegende Kehrwerkzeuge und Brodemmonster dagegen etwas ganz Natürliches, „Wir sind doch alle drei zusammen unterwegs gewesen!“
„Und ich hab‘ geglaubt, das wäre nur ein Traum gewesen!“, stöhnte sein Gesprächspartner.
„Ich zuerst auch!“, räumte Ninettes heimlicher Verehrer ein, „Aber dann hab‘ ich den Artikel in der Zeitung gelesen. Von dem Einbruch in dem Maklerbüro.“
„An was kannst du dich erinnern?“, wurde ihm prompt entgegen geworfen.
„Ihr habt an mein Fenster geklopft und mich nach Herrn Börnsen gefragt. Ihr habt mich vor den Viechern im Nebel gerettet. Wir sind auf dem Hexenbesen nach Schleswig gedüst, und in das Büro von dem Makler eingebrochen, der meinen Eltern damals das Haus von Herrn Börnsen verkauft hat. Wir haben in seinem Computer nach einem Hinweis gesucht, wie man das magische Portal wieder schließt, durch das die Ungeheuer in unsere Welt gekommen sind. Und wir haben auf der Möweninsel die tote Frau aus dem Krankenhaus gefunden.“ – Der Gefragte wußte selbst, wie unglaubwürdig sich sein Gefasel anhören mußte, aber er verließ sich auf seinen Trumpf in der Hinterhand, das Ganze im Zweifelsfall als nicht ernst gemeinten Scherz hinzustellen.
Der Halbstarke aus der Parallelklasse machte allerdings nicht den Eindruck, als ob ihm zum Lachen zumute wäre.
„Weißt du, daß ich nicht nur einmal, sondern zweimal sitzengeblieben bin?“, setzte er schließlich zaudernd an, just als wollte er das Thema wechseln. Offenbar machte ihn die ganze Angelegenheit etwas verlegen, so daß er etwas übertrieben weit ausholte.
Sein Gefährte verneinte dies.
„Einmal in der Grundschule, und das andere Mal letztes Jahr. Dabei war ich eigentlich nie schlecht im Unterricht. Ja, auch jetzt bin ich eigentlich mit der Jasmin zusammen der Klassenbeste in Mathematik. Ich hab‘ mir sogar eine Theorie zur geometrischen Winkelunterteilung ausgedacht, auf die noch niemand vor mir gekommen ist – Ich hab‘ das überprüft.“
„Wie kommt es dann, daß du zweimal eine Ehrenrunde gedreht hast?“
„Das in der Grundschule ist wegen meinen Alpträumen gewesen,“ druckste er herum, und schaute dabei verlegen zu Boden, „Ich war damals in der ersten Klasse… und ich bin früh eingeschult worden, schon mit Fünf, weil der Arzt gemeint hat, ich wäre ziemlich reif für mein Alter. Aber ich hab‘ mich schlau gemacht: Bis Sieben befinden sich Kinder noch in der ‚mystischen Phase‘, in der sie nicht so genau zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden können. Ich hatte damals eine ganze Reihe solcher Nachtgesichte, wenn ich mich recht entsinne, wo ich mir am nächsten Morgen fast sicher war, sie tatsächlich erlebt zu haben. Ja, manche spukten mir noch über Wochen im Kopf herum, daß ich einmal gar in die Bücherei gegangen bin, um ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Auf jeden Fall haben all diese Alps inhaltlich miteinander zusammengehangen: Wir wohnen in der Waldmühle, weißt du? Direkt am Forstrand, und in all diesen Schlafabenteuern kamen Kinder vor, mit denen ich im Gehölz gespielt hab‘. Ich weiß nicht mehr, ob sie irgendwem ähnlich gesehen haben, den ich kannte, aber bei einem von den Mädchen meinte ich, ich hätte es schon mal vom Bus aus auf der Bank einer Haltestelle liegen sehen. Irgendeine, die ich nicht kannte, aber genau die ist es gewesen, die von all meinen nächtlichen Spielkameraden am wichtigsten geworden ist. Eine Hellblonde mit Stuppsnäschen, kaum älter als ich… eben Witha! Aber es kamen auch solche Monster vor, wie du sie am Halloween selbst erlebt hast – Und das hat mir noch Alpdrücke beschert, als schon längst alles vorüber gewesen ist. Der Kinderpsychologe hat gemeint, das würde daran liegen, daß ich überfordert wäre, weil man mich eben doch zu früh eingeschult hätte. Also durfte ich die erste Klasse wiederholen.“
„Und wie ging es weiter?“
„Die Traumserie hatte schlagartig zu einem Ende gefunden, aber auch danach war es immer wieder mal vorgekommen, daß ich geglaubt hatte, ich würde Witha irgendwo in der Realität sehen. Ja, sie war für mich so etwas wie eine eingebildete Freundin – Auch eine Sache, die für einen Knirps von fünf, sechs Lenzen noch nichts Ungewöhnliches ist. Dann zumindest, wenn sie mit zunehmendem Alter allmählich verschwindet. Aber sie ist geblieben, wie ein Traumbild, das man aus Versehen beim Erwachen mit sich in die Wirklichkeit genommen hat“
„Heißt das, du hast sie ständig irgendwo gesehen?“
„Nein, wahnsinnig war ich nicht.“ – Man sah es ihm an, wie unangenehm ihm dieses Thema war, gerade weil er darüber immer wieder Gefahr lief, für geisteskrank gehalten zu werden – „Es war mehr so, daß ich sie mir vorgestellt hab‘, wenn ich nichts anderes zu tun hatte. Oder wenn ich traurig war… Das heißt, wenn ich mich recht erinnere, schlich sie sich eigentlich immer von selbst in meine Tagträume. Vielleicht nicht von Anfang an, aber irgendwann brauchte ich nur irgendwo hin zu gucken, und schon hat sich mein Hirn ausgemalt, wie sie vor mir herumturnt und -albert, nur um mich zum Lachen zu bringen. Ich weiß noch, wie ich mit meinen Eltern mal nach Hamburg gefahren bin, und die Tour dauerte so endlos lange… Da hab‘ ich aus dem Autofenster geschaut und mir wissentlich eingebildet, sie würde neben dem Wagen her durch die Landschaft toben, und dabei akrobatische Kunststückchen vollführen, wie man sie sonst nur von Comicfiguren her kennt. Ja, wenn ich‘s recht bedenke, konnte sie schon von Anfang an fliegen, wie ein Gespenst… Ich mein‘, in einem jener Alps hat sie mir sogar mal eingestanden, sowas wie ein Geist zu sein.“
„Und das geht bis heute so?“
„Leider nicht! Über die Jahre bin ich immer älter geworden, während sie das Kind geblieben ist. Allmählich kam sie immer seltener in meinen Träumen vor. Und je länger unsere gemeinsame Zeit zurücklag, um so öfter ertappte ich mich dabei, daß ich sie mir in manchen Posen nicht mehr so recht vorstellen konnte. Oder Teile von ihr… Da kam es dann manchmal vor, daß sie wie Kylie Minogue guckte, oder die Beine von einer hatte, die mir vor Kurzem erst in der Schule aufgefallen ist.“
„Die Beine?“
„Meinetwegen auch irgendwas anderes!“ – Er geriet ins Stottern, als ihm bewußt wurde, daß er gerade ausgeplappert hatte, daß ihn die Reize des anderen Geschlechts nicht so kalt ließen, wie es sich gehörte. Zumindest für einen Jungen seines Alters, der Wert darauf legte, nicht von seinen Kameraden gehänselt zu werden.
Dann allerdings fuhr er wieder fort im Thema: „Weißt du, ich war es nicht gewohnt, ohne sie zu sein. Ich habe mich auf einmal einsam und verloren gefühlt. Überall habe ich nach ihr Ausschau gehalten, bin nachts durch den Wald spaziert, in dem wir in meinen Kinderträumen gespielt haben. Ohne Ergebnis! Auch zu dem Totenacker, wo sie liegt, bin ich ein paar mal geradelt – Ebenso ohne Resultat! Ich bin darüber so mutlos geworden, daß sich das auch in meinen schulischen Leistungen niedergeschlagen hat. Darum bin ich zum zweiten Mal sitzengeblieben.“
„Aber letztes Wochenende seid ihr doch wieder zusammen gewesen.“
„Ja, ich weiß nicht warum, aber vielleicht hat sie irgendwie mitgekriegt, wie betrübt ich gewesen bin. Als ich wieder mal zu ihrem Friedhof unterwegs war, und gerade besonders kräftig in die Pedale trat, da war sie auf einmal wieder neben mir. Sie tat gerade so, als wäre sie mitten in der Luft am Surfen. Hatte sogar ein Brett unter ihren nackten Füßen, auf dem sie in wagemutigen Posen hin und her balancierte. Aber plötzlich wurde aus dem Brett ein Grabstein, und sie sah ganz und gar nicht mehr so fröhlich aus. Ja, sie wurde auf einmal richtig ängstlich! Ihr Mund, ihre Augen, ihr Zittern – Alles an ihr drückte aus, daß sie es nicht wollte, was da mit ihr geschah, aber sie konnte es nicht verhindern. Plötzlich mutete ihr Körper nicht mehr lebendig an, wirkte steif, wächsern und aufgequollen wie der einer Wasserleiche. Und dann verweste sie innerhalb von Sekunden, vor meinen Augen, bis nichts mehr von ihr geblieben war. Noch nicht einmal der Grabstein, auf dem sie zuletzt gesurft hatte! Und es war so traurig, denn sie hatte doch nicht gehen wollen! Sie wollte doch bleiben!“ – Bei den letzten Worten flackerte ihm bereits die Stimme, und seine Pupillen umgab ein feuchter Schimmer.
„Das war der Moment gewesen, wo ich feststellte, daß ich vor Erstaunen glatt an der Pforte zum Kirchhof vorbei geradelt war.“
„Und seitdem siehst du sie wieder öfter?“
„Ja, und in der Schule bin ich dadurch auch wieder besser geworden. Eigentlich taucht sie immer dann auf, wenn es mir gerade nicht so gut geht, um mich aufzuheitern, weißt du? Einer ihrer Ulks ist es zum Beispiel, ihr Gesicht von hinten durch ein Verkehrsschild zu stecken, daß es so aussieht, als sollte vor ihr gewarnt werden. Wenn sie ihren Kopf dann wieder zurückzieht, ist sie mit dem Rest vom Kopf schneller wieder draußen, als mit ihren langen Haaren, und dann sieht es auf dem Schild immer so aus, als würden dort ein paar blonde Strähnen durch zwei auf mysteriöse Weise unsichtbare Löcher gezogen.“
Während er dies erzählte, schimmerte es entrückt in seinem Blick, und er lächelte versonnen.
„Aber mir war bewußt, daß sie außer mir niemand sehen konnte, denn sonst hätte es ja ein Verkehrschaos gegeben. Also hab‘ ich niemandem von ihr erzählt – Meine Erfahrungen mit dem Kinderpsychiater damals reichen mir! Und auch die Träume, in denen sie nun wieder vorgekommen ist, hab‘ ich nur für Träume gehalten… Zumal der von Halloween mit ihr… ääh… eher altersgemäß angefangen hat, bis wir mittendrin einen Hahn haben krähen hören, und plötzlich der Nebel auftauchte. Ich hab‘ wirklich geglaubt, es wäre alles nur eine pubertäre Phan… ich mein‘, eine bloße Phantasie gewesen. Bis du gerade eben auf mich zu getreten bist, und mir erzählt hast, daß du ihn ebenfalls erlebt hast.“
Er atmete erleichtert auf, als wäre ihm just eine Last von der Seele genommen worden.
Tim war sich dessen bewußt, daß man ihm gerade etwas ganz Intimes offenbart hatte. Ja, das Harald augenfällig froh darüber war, endlich jemanden gefunden zu haben, dem er sein so lange behütetes Geheimnis hatte anvertrauen können. Jenes Geheimnis, das ihn in den falschen Ohren in die Anstalt bringen konnte…
Der so unversehens Eingeweihte sah sich in der Pflicht, etwas von sich selbst preiszugeben, von dem sonst niemand Kenntnis hatte. Ansonsten mochte es sein Gesprächspartner vielleicht bereuen, so offenherzig gewesen zu sein. Würde ihn im schlimmsten Falle sogar meiden aus Furcht, sein Geständnis könne gegen ihn verwandt werden.
Vertrauen schafft Vertrauen, und so gab sich Tim einen Ruck: „Auch bei mir gibt es was, von dem niemand etwas wissen darf. Es ist vielleicht nicht so ungewöhnlich wie deine Sache, aber ich könnte mich auch nirgends mehr blicken lassen, wenn was davon durchsickert. Ich… Ich bin nämlich in Ninette verknallt.“
„Ninette?“, wunderte sich da deren Mitschüler, „Ninette Voigt aus meiner Klasse?“
Nun bereute der unglückliche Romeo schon fast sein Bekenntnis. Verlegen überprüfte er den Sitz seiner Schnürsenkel.
„Da würde ich mich aber ranhalten,“ fuhr der Ältere von beiden unterdessen fort, „Denn Nils ist auch scharf auf sie, und der ist normalerweise nicht besonders zimperlich.“
„Heißt das, die beiden sind noch nicht zusammen?“ – Tim hatte ganz vergessen, daß da draußen auf dem Korridor möglicherweise noch ein Oberstudienrat oder eine Referendarin patrouillierte.
„Noch nicht! Aber er hat ihr schon einen Zettel mit Herzchen unter die Bank gelegt.“
„Er hat was?“
„Sie hat gestern Geburtstag gehabt, und da hat er ihr eigentlich schon gratuliert – Er ist nämlich scharf auf sie, seitdem sie letzten Sommer mal im Minirock zum Unterricht gekommen ist. Aber da ist er ja noch mit seiner zweiten Tussi zusammen gewesen.
Auf jeden Fall hat Ninette heute Morgen so‘n Papier in ihrem Tisch entdeckt, auf dem ihr noch mal Glückwünsche ausgerichtet worden sind, aber diesmal mit Herzchen. Ich hab‘ es mitgekriegt, weil mein Platz schräg hinter ihrem ist, direkt hinter Jasmin. Auf jeden Fall sitzt Nils genau hinter deiner Kleinen, und wie die sich ganz verdattert umguckt, meint er zu ihr, daß er das geschrieben hat. Ich glaub‘, es hat ihr geschmeichelt.“
Der wahre Verfasser dieser Botschaft ohrfeigte sich innerlich für seine Eselei, die nun so ganz andere Auswirkungen gehabt hatte, als er sich erhofft hatte. Und dann Nils für dessen skrupellose Dreistigkeit. Auch wenn dies alles nur im Geiste geschah, so liefen seine Lauscher doch rot an. Seine Gesichtshaut erklärte sich solidarisch.
„Nils und du… Seid ihr Freunde?“, setzte er schließlich vorsichtig an.
„Eigentlich nur Kumpel!“, kam es zurück, „So wie man eben automatisch zusammengeschweißt wird, wenn man gleichzeitig in eine Klasse kommt, wo sich alle anderen schon seit Jahren kennen. Ich laߑ ihn manchmal bei mir abschreiben, und er zieht dafür mit Hans und mir durch die Gegend.“
„Aber du würdest ihn nie verraten… Ich mein‘, jemand anderem ein paar Tips geben zu einem Mädchen, hinter dem er selbst her ist?“ – Die linke Schlaufe des rechten Schnürsenkels war um eine Spur zu lang geraten.
Harald aber lachte auf. Er war sichtlich froh darüber, nicht mehr länger über sein eigenes Problem zu reden, und engagierte sich darum um so mehr: „Nils? Iwo! Der kennt doch ohnehin keine Freunde mehr, wenn es um Weiber geht. Die Letzte hat er sich sogar nur deswegen angelacht, weil Hans auf sie spitz war. Das bei Hans‘ Vater seitdem immer wieder mal ein paar Flaschen im Keller fehlen, hat ihn bisher noch nicht im geringsten gestört.“
„Kannst… kannst du ihr… ich mein‘, Ninette… kannst du ihr ausrichten, daß der Zettel von mir gewesen ist?“ – Der linke Schnürsenkel dagegen saß auffallend locker. Er verdiente es eigentlich, neu verknotet zu werden. Doch dazu hätte Tim die Hände benutzen müssen, auf die er sich gesetzt hatte, damit es nicht so offensichtlich wurde, daß sie zitterten.
Sein Gegenüber feixte: „Warum sagst du es ihr nicht selbst?“
„Ich bin nicht in eurer Klasse,“ räumte der mit diesem Vorschlag Konfrontierte kleinmütig ein, „Sie kennt mich doch nicht einmal!“
„Wie soll sich das denn jemals ändern, wenn du noch nicht mal mit ihr reden willst?“
„Wollen schon… nur nicht können!“ – Schuhe binden lenkte nicht wirklich von der eigenen Nervosität ab – „Ich weiß, bei dem, was du mir erzählt haßt, muß es dir wie Kinkerlitzchen vorkommen!“
„Was liegt weiter nördlich? Der Nordpol oder der Nordstern?“
„Wie... was?“
„Oder anders formuliert: Wenn wir beide am Nordpol stehen, und ich auf eine Leiter steige, bin ich weiter vom Südpol entfernt als du. Aber bin ich deswegen auch weiter nördlich?“
„Nein!“ – Tim wußte immer noch nicht, worauf sein Gefährte hinaus wollte.
„Wir leiden beide,“ erklärte der schlußendlich seine kryptischen Gleichnisse, „Und der Schmerz ist immer Schmerz, egal ob man aus dem achtzehnten Stock fällt, oder ‚nur‘ aus dem achten.“
Schließlich machte er einen vielversprechenden Vorschlag: „Weißt du, es sieht so aus, als sitzen wir seit der Sache an Halloween im selben Boot. Damit sind wir also sowas wie Gefährten, ob wir es nun wollen oder nicht. Also kann ich dich auch zu Ninettes Party mitschleppen.“
„Ninettes… was?“ – Kann man glühenden Ohren trauen?
„Ich hab‘ dir doch gesagt, daß sie gestern Geburtstag gehabt hat… Ach, das hast du ja auch schon vorher gewußt! Auf jeden Fall feiert sie dieses Wochenende; sie weiß nur noch nicht wo. Kann sogar sein, daß die Sause bei euch im Ort steigt… oder zumindest ganz in der Nähe. Jasmin hat sich nämlich angeboten, das Fest auszurichten. Die hat nämlich Platz zuhause, notfalls sogar im Stall. Ich weiߑ es, weil ich letzten September auf ihrer Geburtstagsparty gewesen bin.“
„Heißt das, Ninette hat dich eingeladen?“
„Nicht direkt, aber sie hat Nils gesagt, alle aus unserer Klasse könnten kommen, und sie dürften auch Leute mitbringen. Sie wußte halt nur noch nicht, wo das Ganze steigen soll.“
Da schellte es auch schon zur fünften Stunde. Jetzt hieß es, sich schnell zu entscheiden.
Tim brauchte ohnehin nicht groß zu überlegen: Wenn man nicht unmittelbar mit der Situation konfrontiert wird, fällt es einem leicht, mutig zu sein.
„Ich bin dabei!“, kam es prompt aus seinem Mund.
Gewiß erhoffte er sich dabei, eine Entscheidung getroffen zu haben, die sein Leben verändern würde. Doch noch konnte er nicht erahnen, wie folgenreich sie wirklich sein würde!

7.
Nils und Ninette

„When everything is made to be broken,
I just want you to know who I am.“

(Goo Goo Dolls [fide Ronan Keating]: „Iris“)

„He doesn‘t look a thing like Jesus,
but more than you‘ll ever know.“

(Killers: „When You Were Young“)


Nils suchte in den folgenden Tagen auffallend oft die Gesellschaft der von ihm anvisierten Beute. Er machte kein Geheimnis daraus, daß er es kaum mehr bis zum kommenden Wochenende abwarten konnte.
Gerne wäre Tim ihm in den Karren gefahren, doch welche Berechtigung hätte er dazu gehabt? Blieb ihm als nicht Einbezogenem doch nur die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers! Dabei war es ihm in seiner anwachsenden Unruhe zunehmend egal, ob er irgendwelche Banknachbarn vorfand, aus deren Deckung heraus er beobachten konnte, was sich zwischen den beiden auf dem Pausenhof abspielte. Manchmal tat Harald ihn den Gefallen, und schnackte mit ihm in einer Position, in der er seinen Schwarm im Blickfeld hatte. Mehr aber war er vor Sonnabend nicht bereit zu tun, wollte er doch nicht so offen gegen seinen Kameraden Nils vorgehen. Außerdem berief er sich auf den Standpunkt: „Was zwischen zwei Leuten passieren soll, soll auch nur zwischen zwei Leuten passieren. Jemand Drittes macht da eher was kaputt, als daß er nützlich sein kann.“
Ohnehin hatte er nun, da er von der Wirklichkeit seiner Träume erfahren hatte (und von der realen Bedrohung, die somit von den Monstern im Nebel ausging), andere Dinge zu tun, über die er seinen Gefährten auffallend im Unklaren ließ. Wenn er ihm tatsächlich mal etwas erzählte, dann ging es zumeist um die Theorie zur geometrischen Winkelunterteilung, die er selbst erarbeitet hatte.
Ohnehin wiederholten sich die Alpdrücke nicht, und Tim hatte die Muße, mit zunehmender Besorgnis aufzupassen, welche Fortschritte sein Kontrahent bei seinem Schatz machte. Von Tag zu Tag unterhielten sich die beiden sichtbar gelöster miteinander… Es war nurmehr eine Frage der Zeit, bis aus Vertrautheit Vertraulichkeit erwuchs!
Er hatte immer mehr Schwierigkeiten damit, bis zum nächsten Wochenende durchzuhalten, und als es schließlich Freitag war, und die zweite große Pause anbrach, redete er sich zitternd ein, daß es nur noch diese zehn Minuten gut gehen müsse, und dann hätte er alles überstanden. Zehn Minuten nur…
Doch kaum hatte er im Treppenhaus den untersten Absatz erreicht, da wurde er unvermittelt von Harald angesprochen: „Ninettes Geburtstagsfete steigt morgen bei Carstensens, draußen bei deinem Dorf. Da haben sie Platz und eine sturmfreie Bude.“
„Bist du dir sicher?“, hakte der frisch Informierte ungläubig nach.
„Ich hab‘ es gerade von Nils erfahren, und der muß es wissen,“ kam es zurück, „Er hat sich da für morgen mit mir verabredet. Er meinte, wir könnten nicht zusammen hin, weil er extra früh dort sein wollte – Ich kann mir schon denken, warum!“
„Er will möglichst viel Zeit mit ihr allein verbringen!“, keuchte Tim.
„Das heißt, wir müssen selbst beide möglichst früh los,“ raunte sein Verbündeter, „Ich werd‘ aber selbst erst mit dem Fahrrad von Schleswig kommen müssen, weil mein Mofa kaputt ist. Was meinst du, willst du nicht schon vorher zu ihr fahren, und wir treffen uns dort?“
Gerne hätte der Angesprochene den Vorschlag aufgegriffen, doch dazu kannte er sich selbst dann doch zu gut, und hatte außerdem noch einen berechtigten Einwand: „Sie wird mich nicht rein lassen; sie kennt mich ja noch nicht mal. Und wenn sie mich einmal rausgeschmissen hat, wird es mir auch nichts mehr nützen, wenn du vorbei kommst, und mich als Freund von dir vorstellst.“
„Das macht Sinn,“ geriet Harald ins Grübeln, „Aber ich werde so früh nicht aufkreuzen können; ich hab‘ schließlich noch eine Strecke zu radeln.“
„Nils doch auch!“
„Ja, aber ich hab‘ Sonnabends Pflichten daheim. Es kann sein, daß es schon dunkel wird, wenn ich bei dir eintreff‘.“
„Hoffentlich können wir das Risiko eingehen!“, entfuhr es tonlos Tims Kehle.
„Apropos Risiko,“ kam es da mit einem leise warnenden Unterton zurück, der Ungutes argwöhnen ließ, „Nils ist just zu deiner Herzallerliebsten gestiefelt, um noch mal mit ihr über Morgen zu reden. Du weißt ja, er nützt jeden Vorwand.“
Doch sein Gegenüber schien ihn nicht zu verstehen, und so wurde er etwas deutlicher: „Er scheint es eilig zu haben. Offenbar rechnet er mit Konkurrenz; schließlich weiß er ja, daß er den Zettel unter ihrer Bank nicht von ihm selbst stammt. Ich kann‘ mir vorstellen, daß er glaubt, daß jener anonyme Schreiberling morgen auch auf der Party sein wird, und da will er lieber früher, als später vollendete Tatsachen schaffen.“
Da erst erkannte Tim den Zaunpfahl, mit dem ihm gewunken wurde! Er fand nicht einmal mehr die Muße, sich zu verabschieden. Stehenden Fußes machte er sich auf in die Richtung, die ihm der Blick seines Informanten wies. Seine Beine wetzten fast so schnell, wie sein Herz schlug. Der Pausenhof kam ihm vor wie eine Vorhölle, als er mit unverhohlener Panik nach seinem Schatz Ausschau hielt. Die Hölle selbst, sie mochte ihn erwarten, wenn er ihrer tatsächlich ansichtig wurde, zusammen mit seinem Rivalen.
Letzteren erblickte er zuerst. Nils überprüfte vor der sich spiegelnden Fensterscheibe unweit des Ausgangs noch einmal den Sitz seiner Frisur, und konnte sich nicht entscheiden, ob er lieber seine coole, oder seine „süßer Schelm“- Miene aufsetzen sollte. Nach dem zynischen Motto: „Kleine Mädchen stehen auf entweder auf Hengste, oder auf Teddybären!“ Über mehr Gesichtsausdrücke schien er nicht zu verfügen; er hätte als Double für Lee Majors auftreten können.
Er entschied sich für die Letztere, und stolzierte dann in einem Gang nach Rechts davon, der einen argwöhnen ließ, er habe heute Morgen das Deo vergessen, und wollte nun seine Achselhöhlen lüften. Er drückte das Kreuz durch, daß es so wirkte, als würde er den aufrechten Gang nur beherrschen, wenn er alle Konzentration zusammennahm.
Tim war sein – zugegebenermaßen etwas weit entfernter – Schatten, aber er war zu sehr auf sein Ziel (und den aufrechten Gang?) fixiert, als daß ihm aufgefallen wäre, daß man ihn observierte. Er steuerte ohne Zaudern auf eine Schülerin zu, die ihn noch nicht bemerkt hatte: Ninette! Ninette, die sich gerade von Jasmin verabschiedete, und das auch noch mit den Worten: „Nils will was von mir!“
Ja, was würde der schon von ihr wollen? Bestimmt kein Stück von der Schokolade, die sie eventuell wieder unter ihrer Bank liegen hatte! Aber mit „Naschen“ mochte es schon zu tun haben… Der verstohlen hinter dem Don Juan her Schleichende hätte auf jeden Fall keinen Bissen herunter bekommen, steckte ihm doch ein Kloß im Hals.
Das Fräulein Voigt, es schaute immer noch zur Freundin zurück, so daß es völlig unvorbereitet gegen die Brust des Casanovas lief.
Der allerdings war besser präpariert, und schloß sie auch schon in die Arme.
Der heimliche Zuschauer spürte seinen Puls im ganzen Leib rasen.
„Hallo, Ninilein!“, säuselte der dreiste Nebenbuhler und lehnte seinen Kopf soweit vor, daß er den seiner Banknachbarin beinahe an der Stirn berührte, „Das find‘ ich aber lieb, daß du mich so begrüßt.“
Zuerst machte es den Eindruck, als wollte sie sich seinem Griff dezent entziehen, ohne ihn zu kränken.
Er aber schien um die Schwäche guter Erziehung zu wissen, niemanden verletzen zu wollen, und nutzte sie schamlos aus: „Och, sei doch kein Spielverderber!“
Er schob sein Becken leicht vor, daß sie es bei der geringsten Regung mit ihrem Schoß berühren mußte. Auch spannte er den Bizeps an, damit ihr auffiel, wie gut er gebaut war.
Sie setzte an, sich von ihm abzuwenden, aber gerade, als sie sich soweit gedreht hatte, daß der sofort zu Boden guckende Tim in ihrem Blickfeld aufgetaucht sein mußte, überlegte sie es sich anders und stellte sich ihrem Mitschüler.
„Komm an mein Herz!“, versuchte der es auf die plumpe Tour, so als wolle er einfach nur einen alten Kameraden wie zur Begrüßung drücken.
„Was soll ich da?“, alberte sie, „Ist doch viel zu eng da drinnen!“ – Es mochte ein Scherz sein, aber sonderlich abwehrend klang er eigentlich nicht. Zwar entzog sie sich seinen Pranken nun, aber sie tat es feixend. Mit einer Koketterie im Blick, als wollte sie ihn ermutigen, ruhig einen nächsten Versuch zu wagen. Sich einmal seinen Flossen zu entwinden, gebot die Schicklichkeit, aber wer wollte ihr einen Vorwurf machen, wenn sie beim zweiten Mal nicht mehr die nötige Standfestigkeit aufbrachte?
„Ooh!“, karikierte er derweil einen Enttäuschten, „Du bist aber nie nett, Ninette!“
Das Wortspiel brachte sie zum Gickeln; offenbar imponierte es ihr, mit Phantasie umworben zu werden. Damit war er auf dem besten Wege, ihren letzten Widerstand im Sturm zu nehmen…
Tim konnte nicht anders, als hinzuschauen. Mit einem Masochismus, wie ihn nur der unglücklich Verliebte kennt.
„Soll ich ein paar von meinen CD‘s mitbringen?“, mimte der andere, weit weniger scheue Verehrer unterdessen den Fürsorglichen, „Ich würde dir gerne mal meine Hip Hop- Sachen vorspielen; ich kann mir vorstellen, daß dir das gefällt.“
Was war nur aus der guten, alten Briefmarkensammlung aus Großvaters Zeiten geworden? Na, zumindest würde der Schülerin dann nirgendwo eine blaue Mauritius auf der Pobacke kleben, wenn sie am nächsten Morgen wieder heimkehrte. Allerhöchstens ein Cover mit einem grinsenden Puff Daddy (Puffmutter?) oder Snoop Doggy Dogg drauf.
„In letzter Zeit höre ich ganz oft ‚Your Decision‘ von ‚Deine Lakaien‘,“ gestand sie ihm ein.
Der heimliche Lauscher machte sich in Gedanken eine Notiz, in den Plattenläden nach diesem Lied Ausschau zu halten, und sich die CD so lange reservieren zu lassen, bis sein Taschengeld dafür ausreichte. Seine letzten Reserven würden schließlich für das Geburtstagsgeschenk draufgehen, das Harald und er zu ihrer Party mitzubringen gedachten. Auch das mochte nun mit dieser Combo zu tun haben…
Ihr Begleiter kannte weder das Lied, noch die Band.
„Das ist Independent,“ erläuterte sie ihm schließlich, und er tat so, als würde er an ihren Lippen hängen.
„Wenn Mädchen Independent hören, dann ist es meistens sowas wie Lenny Kravitz oder die Red Hot Chili Peppers,“ gab er sich daraufhin altklug, „Nicht, weil euch die Musik gefallen würde, sondern weil die Sänger so männlich klingen. Und wenn jemand Pogo tanzt, dann denkt ihr nicht daran, daß da jemand seiner Wildheit freie Bahn läßt, sondern haltet das Ganze für eine Art Brunftritual zu euren Ehren. Bei euch werden ganz andere Hormone freigesetzt, als bei uns.“
Zuerst glaubte Tim, Nils wäre nicht recht bei Sinnen und würde sich nun sämtliche Chancen verspielen. Aber Tim hatte ja auch keinerlei Erfahrung im Aufreißen, und erkannte damit nicht, welch perfide Strategie sein Kontrahent verfolgte. Genauso wenig wie das ahnungslose Opfer, das prompt auf die Provokation ansprang: „Gar nicht wahr! Das ist ein süßes Lied, und es hätte ebenso gut von einer Frau gesungen werden können. Du bist ein Macho!“
Schon ging der Nebenbuhler zum nächsten Schritt über, und er setzte dabei einen Schlafzimmerblick auf, der zu plötzlich kam, um echt zu sein: „Das tut mir weh, Ninilein! Kennst du mich wirklich so schlecht, daß du mich für einen Macho hältst? Ich wünschte, du würdest mich verstehen. Was tief in mir drinnen vorgeht, immer dann, wenn du bei mir bist.“
Na, so „tief drinnen“ in seinem Leib waren seine Genitalien doch nicht!
„Und noch viel schlimmer, wenn du nicht bei mir bist!“ – Er baute sich jetzt unmittelbar vor ihr auf, strich ihr ohne jede Scheu durchs Haar und musterte sie wie eine verliebte Kreuzotter. Und sie, sie wich nicht zurück. Grinste ihn auf ihre infantile Art an, daß man es durchaus als einladend interpretieren mochte.
„Nein! Nein!“, wimmerte der verstohlene Beobachter der beiden, daß es schon beinahe hörbar zwischen seinen Lippen hervor drang, „Fall‘ nicht darauf rein!“
„Warum soll ich dich verstehen?“, führte sie die Konversation in einem fast schon flirtend anmutenden Tonfall fort, „Damit bist du selbst doch schon vollauf beschäftigt. Brauchst du dabei vielleicht Hilfe?“
Er schien ihr nur mit halbem Ohr zugehört zu haben, ja, vermutlich waren ihre Worte für sein Vorgehen ohnehin unerheblich, denn er fuhr ganz einfach fort, und strich ihr inzwischen schon über die Wange: „Ich brauche dich!“, seufzte er in einem Timbre, das etwas von einem aufdringlichen Brummer an sich hatte.
„So wie deine letzten Freundinnen?“ – Immer noch wich sie keinen Schritt zurück. Glaubte eventuell, auf diese Weise Stärke zu demonstrierten, aber er interpretierte es augenfällig als Signal, daß sie sich noch nicht von ihm lösen wollte. Es ermutigte ihn sichtlich.
Also bearbeitete er sie weiter: „Das mit uns, das ist anders. Ich hab‘ mich geändert seitdem. Warum gibst du mir nicht eine Chance, es dir zu beweisen?“
Jetzt schimmerte es auch in ihren Augen mitfühlend. Das… Das durfte doch nicht sein! Sie würde dem Unhold doch nicht auf dem Leim gehen? Wahre Liebe kommt nicht so unverschämt, so respektlos daher! Wahre Liebe bedient sich keiner Tricks! Sie geht auf den anderen ein, statt ihn erobern, übertölpeln zu wollen!
Nie hatte Tim das Läuten der Schulglocke aufatmender begrüßt, als in diesem Moment. Aber erlöst war er noch nicht, denn die beiden spazierten gemeinsam ins Unterrichtsgebäude. Gerade, als sie in der Tür waren, ergriff Nils die Hand seiner Beute, und sie machte keinerlei Anstalten, sich von ihm zu lösen. Was sich weiter abspielte, konnte der schockierte Beobachter nicht mehr verfolgen, denn andere Pennäler verdeckten ihm den Blick, und schließlich bogen die Zwei ab in Richtung Treppenhaus.
Damit sollte er sie für den Rest des Tages nicht mehr wiedersehen. Nicht in der Stunde, die sie zusammen haben würden, nicht bei Schulschluß, wo der Don Juan unverfroren weitermachen konnte, und auch nicht in der freien Zeit danach, wo sie wer- weiß- was miteinander anstellen mochten. Tim fühlte sich für den Rest des Tages so elend wie an jenem Montag, wo er auch schon geglaubt hatte, ihm wären sämtliche Felle von dannen geschwommen.

8.
Schnapp- und andere Schüsse

„I lost my way.
That‘s what she said.“

(Albert Hammond, jr. : „101“)


Von den beiden im Verborgenen hexenden Bäuerinnen des Carstensen- Anwesens war Iris eindeutig diejenige mit der größeren nostalgischen Veranlagung. Wenn es um alte Spielsachen ging, Erinnerungsstücke oder Souvenirs einer längst vergangenen Ära ihres Lebens, konnte man davon ausgehen, daß sie davon zumindest ein oder zwei Gegenstände aufbewahrt hatte. Würde jemand beispielsweise ihre Sammlung zerlesener Bücher oder nicht unbedingt mehr passender Kleider sichten, könnte er ihr eine Begabung als Archivarin nicht absprechen. Doch wo einem ihr für all dies viel zu kleine Zimmer schon wie ein Kuriositätenkabinett anmuten mag, vollgestellt mit Anrichten, Schränken und Vertikos, da erweckte der Dachboden gar den Eindruck eines respektablen Flohmarktes (Gut, hieran war Karen dann doch nicht ganz unbeteiligt…), und ein paar größere und robustere Gegenstände wurden gar draußen im Stall gelagert, in jenem abgetrennten Raum, der keine Kuh und kein Huhn mehr beherbergte.
Da war klar, daß ihr bei der vielen Arbeit, die ein landwirtschaftlicher Betrieb so mit sich bringt, kaum mehr die Zeit blieb, ihr Sammelsurium abzustauben oder neu zu ordnen. Die späten Herbst- und die Wintermonate allerdings brachten es mit sich, daß auf den Feldern draußen nur selten etwas zu verrichten war, und sich das Tagwerk dementsprechend in Grenzen hielt. Das erklärte freilich nicht, warum sie sich jetzt gerade die alten Fotoalben auserkoren hatte, und heute Abend Lichtbilder einsortierte, die vermutlich schon Jahre in Kuverts und gefalteten Papiertäschchen verbracht hatten.
Daß Karen ihr assistierte, war hierbei besonders ungewöhnlich. Normalerweise führten die beiden ihre eigenen Mappen, auch wenn diese dann über ganze Seiten hinweg die selben Schnappschüsse enthielten. Aber nun hockten die beiden einträchtig nebeneinander am Küchentisch. Dabei gab es eigentlich nur drei oder vier Sammelbücher, die sie gemeinsam führten, und die enthielten allesamt Abzüge ihrer gemeinsam aufgezogenen Tochter Jasmin.
Und die linste justament neugierig durch den Spalt ihrer Zimmertür. Aus irgendeinem Grund hatte sie nicht schlafen können. In ihrem Bauch hatte sich ein beständiges Kribbeln breitgemacht, aber die Blase war es nicht, denn das WC hatte sie in den letzten drei Stunden schon öfter aufgesucht als nötig. Nein, es schien sich mehr um eine Form von Neugier zu handeln, die in der Lage war, sich physisch zu manifestieren. Eine, die einen daran denken ließ, durch die Kammer zu tanzen, sobald man im Bett lag und das Licht gelöscht hatte. So als hätte sie am nächsten Tag Geburtstag und wüßte, daß nebenan gerade ihre Geschenke eingepackt würden. Oder als hätte sie ihren großen Schwarm durch das offene Fenster draußen auf der Straße mit jemandem sprechen gesehen. Aber sie war erst im letzten September Vierzehn geworden, Weihnachten lag noch knappe zwei Monate entfernt, und sie wohnten dermaßen abgelegen, daß sich kaum ein Junge, den sie kannte, in diese Einöde verirren würde. Nein, der Zusammenhang war ein ganz anderer: Morgen abend würde sie mit Ninette deren Geburtstag feiern. Ninette, die zusammen mit Marie und Conny zu ihren besten Freundinnen in der Klasse gehörte! Sie würden auch zusammen übernachten, und gewiß so viel zu bequatschen haben, daß der Sonnenaufgang noch vor dem Sandmann kommen mochte. Aber als ob das noch nicht Anlaß genug zur Vorfreude war: Zu der Sause waren auch Jungs eingeladen. Nicht, daß Ninette auf dem Lolita- Trip gewesen wäre, aber manche ihrer Banknachbarinnen wollten ihre Freunde mitbringen, und die wiederum deren Kumpane – Es war eine aufregende Vorstellung, sich auszumalen, daß auch der eine oder andere von ihnen eventuell bis zum frühen Morgen blieb. Von Nils wußte sie, daß er auf das Geburtstagskind scharf war, aber auch der würde gewiß seine Spießgesellen mitbringen, etwa Hans und vielleicht auch Harald… Den hübschen, mysteriösen Harald, der sich für keine Frau zu interessieren schien! Besonders der Gedanke an ihn ließ es nur so kitzeln in ihrer Anatomie. Es bestand also durchaus Grund, sich Hoffnungen auf einen nicht nur spaßigen, sondern auch spannenden Abend zu machen. Und wer weiß, vielleicht würde sie am nächsten Morgen nicht mehr als Jungfrau aufwachen?
Freilich waren dies eher phantastische Spekulationen, als realistische Planungen, aber wenn man in so einer abgeschiedenen Gegend aufgewachsen ist, und die Kameradinnen zumeist nur am Vormittag zu Gesicht bekommt, neigt man schon mal dazu, sich Hirngespinsten hinzugeben, was alles sein könnte. Insbesondere, wenn man so ein anregendes Kribbeln im Leib verspürt!
Und dieses Kribbeln war es, daß sie nun doch wieder dazu trieb, in Richtung Badezimmer zu spazieren! Barfuß und im Pyjama, wie sie war. Der gekachelte Küchenfußboden war kalt, und sie fröstelte ein wenig auf dem Weg. Ihre beiden Frau Mamas schauten nur kurz auf, als sie vorüber schritt, dann hatte sie auch schon die Klinke der Waschraumtür in der Hand. Sie knipste die nackte Glühbirne an der Decke an, sperrte hinter sich ab und nahm Platz auf der Toilette. Auch diesmal wollte nichts kommen, obwohl ihre Blase dem Jucken zufolge doch bis oben hin gefüllt sein mußte. Mehr der Ordnung halber zog sie an der altmodischen Kette, welche die Spülung betätigte, und wusch sich die Hände. Begutachtete dabei mit kritischen Augen ihr Spiegelbild. Daß sie Karens und nicht Iris‘ Tochter sein mußte, war ihr schon vor Jahren klar geworden, auch wenn ihre Mütter darum ein großes Geheimnis machten. Denn sie hatte nicht Iris‘ hoch in der Stirn liegende Brauen, wohl aber Karens fast schon blendend rotes Kupferhaar, wie auch deren blasses, spitzes Gesicht mit der schwachen Neigung zu Sommersprossen. Wenn sie lächelte, machte sich bei ihr die selbe Tendenz spürbar, sich auf die Unterlippe zu beißen, und der zierliche Körper mit den viel zu dünnen Knien zählte ebenfalls zu diesem genetischen Erbe. Wenigstens ihre braunen Augen waren groß und braun, und von Zeit zu Zeit, wenn sie unbeobachtet war, posierte sie ein wenig vor dem reflektierendem Glas, um sich ein wenig den Audrey- Hepburn- Blick anzutrainieren. Schließlich mußte sie ja etwas Attraktives an sich haben, womit sie die Kerle von ihrer noch unterentwickelten Anatome mit den kleinen Brüsten ablenken konnte! Doch was sie auch anstellte, so richtig zufrieden war sie mit ihrer Mimik nie. Es war zum verzweifeln! Ninette war in vielem noch so kindlich, und hinter der war so ein Mordstyp wie Nils her! Sie jedoch konnte keinen einzigen Verehrer aufweisen… Es konnte doch nicht ihr Schicksal sein, daß sie hier draußen in der Einsamkeit versauerte, und das Dasein ihrer Mütter als wunderliches und verschrobenes Weib fortzusetzen hatte! Sie, die am liebsten in der Großstadt wohnen würde, wo man jeden Nachmittag mit seinen Freundinnen shoppen gehen konnte, und die nächste Disco gerade einmal zwei Häuserblocks entfernt lag! Nein, wie Iris und Karen wollte sie keinesfalls werden.
Als sie das Bad wieder verließ, konnte sie die Zwei miteinander flüstern hören.
„Wird sie sich erinnern?“, wisperte diejenige von beiden, die sie nicht geboren haben konnte, „Das ist schließlich kein Hexenschuß im medizinischen Sinne!“
„Wenn, dann wird sie glauben, es selbst gewollt zu haben,“ raunte die andere, „und einfach nur vom Pfade der Tugend abgekommen zu sein.“
Die Erwachsenen verstummten, als sie sich wieder in der Küche zeigte, und beschäftigten sich erneut mit ihrem Werk. Sie spürte es an dem fortgesetzten Kribbeln in ihrem Bauch, daß sie so bald noch nicht würde einnicken können, und so schlenderte sie zu ihnen, um ihrem Treiben eine kleine Weile zuzuschauen. Die allerdings waren so sehr mit dem Sichten und Sortieren der Aufnahmen beschäftigt, daß sie ihre Tochter zunächst gar nicht beachteten.
„Ist da auch irgendwo ein Bild von Papa dabei?“, stellte die schließlich wieder einmal eine Variante der Frage, die ihr bisher schon nie beantwortet worden war.
„Wir haben keine Fotos von ihm,“ erwiderte Iris wie nebenbei, als ginge es um nichts Relevantes.
„Wie hat er denn ausgesehen?“, ließ die Halbwüchsige nicht locker, „Hab‘ ich ein bißchen Ähnlichkeit mit ihm?“
Natürlich war sie das genaue Ebenbild ihrer Frau Mama, aber vielleicht gab es ja den einen oder anderen Hinweis, den man den beiden Frauen entlocken konnte?
„Du hast seine Neugier,“ kam es schnippisch von Karen zurück, „Er hat sich auch immer in Dinge eingemischt, die er besser hätte belassen sollen, wie sie waren.“
Die Heranwachsende war schon immer gut im Rechnen gewesen, und zusammen mit Harald die Klassenbeste in Mathematik. Da brauchte sie sich gar nicht groß anzustrengen, um herauszufinden, daß ihre Mütter in dem November/ Dezember, in dem sie gezeugt worden sein mußte, kaum älter gewesen sein konnten, als sie jetzt. Iris war wohl schon Vierzehn gewesen – Sie hatte Mitte Oktober Geburtstag – aber Karen? In Deutschland darf man als Frau bereits mit Sechzehn heiraten, sofern das Einverständnis der Eltern vorliegt – Selbst bis dahin hätten sie noch zwei Jahre warten müssen, und wenn der Vater genauso jung wie sie gewesen wäre, noch zwei Jahre länger bis zu dessen Volljährigkeit. Falls der sich in seiner Jugend überhaupt reif genug für die Pflichten der Ehe gefühlt hätte.
Jasmin konnte sich vorstellen, daß eine dermaßen frühe Schwangerschaft in einer ländlich konservativen Gegend wie dieser für einen handfesten Skandal gesorgt haben mußte.
So zielte ihre nächste Frage just in diese Richtung: „Hat er euch im Stich gelassen, weil ihr alle Drei noch zu jung gewesen seid?“
„Kleines, er konnte uns gar nicht im Stich lassen, weil er nichts von dir weiß,“ wurde sie von ihrer leiblichen Erzeugerin abgespeist.
„Heißt das, ich bin das Ergebnis von einem One Night Stand? Wenn er mit euch zur Schule gegangen wäre, hätte er doch bestimmt mitgekriegt, wie dein… wie der Bauch von einer von euch immer dicker geworden ist.“
„Kleines, es war kein One Night Stand, so wie du es vielleicht verstehen magst. Wir haben ihn uns beide erwählt, und eine Nacht zu Dritt verbracht, an die er sich wahrscheinlich noch nicht mal erinnert. Höchstens an die Erkältung, die er sich dabei geholt haben muß! Du weißt, daß wir die eine oder andere Fähigkeit haben, die den meisten Menschen fremd ist… Auf jeden Fall wollten wir das Beste für unser Kind, aber einen Mann an unserer Seite konnten wir wirklich nicht gebrauchen.“
Jetzt würde bestimmt wieder die Kassette folgen, wie besser ihr Dasein doch als Frauen- WG sei, und daß es dadurch keinen Haustyrannen gab, der sie in Küche und Schlafzimmer zu verbannen trachtete. Aber darauf wollte sich die Tochter des Hauses nicht einlassen: „Was ist denn ‚das Beste‘, daß ihr ausgerechnet ihn ausgesucht habt? Ist er vielleicht besonders süß gewesen? Oder reich?“
„Er war etwas, das du zu deinem eigenen Besten nicht zu wissen brauchst,“ kam es da mit einem Tonfall von Karen, der deutlich machte, daß sie sich auf keine weiteren Diskussionen zu diesem Thema einlassen würde.
So schwieg die Jugendliche erst einmal, und während sie überlegte, mit welcher Strategie sie eventuell doch noch zu der einen oder anderen Antwort gelangen mochte, warf sie eine Blick auf das aufgeschlagene Album und die vielen Schnappschüsse, die in verschiedene Stapel gruppiert, kreuz und quer auf der Tafel verteilt lagen. Etwas irritiert stellte sie fest, daß die beiden eines der jüngeren Lichtbilder aussortiert hatten. Sie wirkten regelmäßig bei der Organisation der Kinderfeste im nächsten Dorf mit, und hatten ihre Erfahrung auch mit eingebracht, als sie ihren vierzehnten Geburtstag letzten September ausgerichtet hatten. Mit Mühe und Not hatte sie ihnen solch alberne Baby- Spielchen wie Topfschlagen und Reise nach Jerusalem ausreden können, um stattdessen eine improvisierte Disco durchzusetzen. Aber statt die Teenager allein und ungestört feiern zu lassen, waren sie ständig um die Gäste herumscharwenzelt, hatten Getränke nachgefüllt, Kuchen gebracht und Fotos geschossen, daß Jasmin sich in Grund und Boden geschämt hatte. Keiner der Anwesenden hatte es bei dieser ständigen Präsenz von Erwachsenen gewagt, zu einem der Lieder zu tanzen, oder auch nur einen schlüpfrigen Witz zu reißen. Solch eine Feier wollte sie nie wieder erleben müssen!
Von just dieser Fete aber stammte der besagte Schnappschuß. Er zeigte sie selbst, wie sie sich gerade mit Harald unterhielt, jenem Klassenkameraden, der ihre Phantasie besonders reizte. Freilich hatte sie niemandem je davon erzählt, so daß keinerlei Anlaß bestand, die Aufnahme gesondert auszusortieren.
Und aussortiert hatten sie ihre Mütter gewiß, lag es doch wie millimetergenau unter einem Gestell, das die Halbwüchsige bisher für ein billiges Souvenir gehalten hatte, das Iris mit ihrer berüchtigten Sammelleidenschaft von einer Reise nach Paris vor Jahren mitgebracht hatte. Denn diese Apparatur erinnerte am ehesten an eine Miniatur des Eiffelturmes, wenn auch mit einem seltsamen Pendel an der Front, das in eine Art kupfernen Halbmond mündete. Dazu befand sich an der Spitze ein Kügelchen aus Glas, das mit einer goldgelben, fluoreszierenden Flüssigkeit gefüllt war, in der es träge und beinahe funkelnd sprudelte. Die mit kleinen Rädchen ausstaffierten vier Füße der Konstruktion waren genau so ausgerichtet, daß jeder eine Ecke des Bildes bedeckte. Das schimmernde Goldgelb der nicht ganz irdisch anmutenden Brühe spiegelte sich auf dem Foto, daß es ganz so aussah, als hätten die beiden darauf festgehaltenen Teenager ihre Konversation in einer bizarr flirrenden Wunderwelt geführt.
„Was ist das?“, setzte die Heranwachsende auch schon an, sich den fremdartigen Gegenstand zu schnappen, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Da aber fuhr ihr Karen dazwischen, mit einem energischen „Laß das, Kleines! Das ist kostbar und zerbrechlich.“
Als wäre die Tochter noch ein Balg von vier Jahren, das alles fallen ließ, was es in die Finger bekam! Hatten die beiden Frauen die letzten zehn Jahre denn mit Schlafen verbracht? Und wenn das blöde Ding wirklich so wertvoll und fragil war, wieso hatten sie es denn nicht in der Vitrine in Iris‘ Zimmer stehen gelassen, sondern hier auf dem wackeligen Küchentisch aufgestellt?
Aber da wurde Jasmin auch schon mahnend daran erinnert, daß sie schon längst in ihren Federn liegen und schlafen sollte. Schmollend zog sie sich in ihre Kammer zurück, warf aber noch einmal einen mißbilligenden Blick auf die sich ach so überlegen dünkenden Erwachsenen und ihre auf der Tafel ausgebreiteten Utensilien. Sie hatte gehofft, mit ihrer Trotzreaktion Eindruck zu erwecken, aber da fiel ihr etwas auf, das für ein außerordentlich flaues Gefühl in ihrer Magengrube sorgte: Das Brodeln in der aurealen Tinktur an der Turmspitze korrespondierte wie abgestimmt mit dem Prickeln in ihrem Unterbauch.

9.
Die aureale Sphäre

„Don‘t waste your time on me,
you‘re already the voice inside my head.“

(Blink- 182: „I Miss You“)

„The sky over our head –
We can reach it from our bed…
Oh, can‘t you see, what the love has done?“

(U 2: „Window In The Skies“)


Tim war wieder mit Ninette zusammen. Auf dem Pausenhof seiner Schule. Er vermeinte kurz, eine Vision zweier Frauen zu haben, die ihm von irgendwo her bekannt vorkamen, und die über einem merkwürdigen Turm brüteten… aber dann war da nur noch sie. All die anderen Halbwüchsigen, sie waren nicht mehr wichtig. Die allseits beliebten Sportskanonen wie Nils und Stefan nicht, von denen eine einzige abfällige Bemerkung reichte, um einen vor allen Banknachbarn unmöglich zu machen. Und auch die Lästermäuler wie Sascha und Mirko nicht, welche die Athleten oftmals erst auf ihre potentiellen Opfer aufmerksam machten. Sämtliche Alltagsängste verloren ihre Macht über den heimlichen Romeo, und machten seinen wahren Empfindungen Platz. Seine Füße steuerten automatisch in die Richtung seines Schwarms, als gäbe es für ihn nichts sonst mehr auf der Welt zu tun.
Kaum drei Sekunden später schon stand er seiner Angebeteten Auge in Auge gegenüber, aber diesmal verspürte er nicht das übermächtige Muffensausen daß in der Realität immer jeden Annäherungsversuch torpediert hatte. Nichts als Liebe war in ihm, daß er ihr gar mit aller Selbstverständlichkeit in die Augen schauen konnte. Was er erblickte, hatte nichts mit der Ablehnung zu tun, die er sonst immer aus ihren Zügen zu lesen befürchtete. Ihre großen, braunen Pupillen spiegelten eine Mischung aus Freude und wehmütiger Sehnsucht wider, und ihr Mund trug das unbefangene Lächeln, das sie sonst nur in Gesellschaft ihrer besten Freundinnen aufzusetzen pflegte. Der leichte, warme Wind streichelte sanft ihr seidenes Haar, als wolle er den Knaben dazu auffordern, es ihm gleichzutun. Ihr leiser Seufzer schien die selbe Sprache zu sprechen, als sie ihr Haupt leicht schräg legte.
Es war immer noch der zweite November, und er wußte, daß sie Geburtstag hatte. Aber nichts um sie herum sprach dafür, daß gerade der kühle und stürmische Herbst sein grimmiges Regiment ausübte. Zu allen Seiten zwitscherten die Vögel in den Bäumen, und ihr betörender Gesang wurde untermalt von einem hohen, vom fernen Horizont her kommenden Ton, der mal an das Aufspielen eines Orchesters gemahnte, dann mehr an das Zirpen balzender Grillen, und schließlich an den Ton, der das im Fernsehen ausgestrahlte Testbild begleitet. Ein Flirren war in der lauen Sommerluft, als würde es Goldstaub schneien. Vom Himmel herab, der selbst in das flammende Rot der Leidenschaft getaucht war. Jeder Atemzug schien die Essenz der Liebe zu beinhalten, und sorgte für ein anregendes Kribbeln in den Lungenflügeln.
Der Halbstarke, er spürte, daß es keinen Grund mehr gab, bange zu sein. Und er erinnerte sich an all die Sätze, die er sich in jenen Nächten ausgedacht hatte, bevor der Schlaf ihn gefunden hatte. Die Sätze, die er seinem Schatz schon immer hatte sagen wollen, und mit denen er doch regelmäßig wegen seiner Feigheit Schiffbruch erlitten hatte.
„Ich wollte dir nur zu deinem Geburtstag gratulieren,“ lautete natürlich der erste davon. Letztes Mal war es daran gescheitert, daß er auf jemand anderen gehofft hatte, der ihr zuerst Glückwünsche ausrichtete, damit er sich nicht zu genieren brauchte, wenn er es als Fremder auch tat. Jetzt aber brauchte er eine solch komplizierte Vorgeschichte mit all ihren Unwägbarkeiten nicht mehr: Er sagte sein Sprüchlein auf, und das ohne eine Spur von Stottern oder Stammeln. Seine Hand zitterte auch nicht, als er sie ihr reichte. Beider Finger berührten sich, und es war wie ein Vorgeschmack auf die Zärtlichkeiten, die sie eigentlich miteinander austauschen wollten. Dabei guckten sie sich tief in die Augen, und vergaßen darüber glatt, die Gliedmaße des anderen auch zu schütteln. Ja, sie ließen einander noch nicht einmal mehr los, just als hätten sie vergessen, daß ihr Körper da von der Schulter an noch weiterging.
„Danke!“, kam es von seiner Angeschmachteten, und sie strahlte dabei, daß sich ihre Wangen zu süßen Kullerbäckchen formten. Keine Miene konnte einladender sein!
Schon hatte er den Zweiten seiner Sätze auf den Lippen, der eigentlich zu einem ganz anderen Kontext gehörte: „Ihr habt doch auch Erdkunde bei Frau Schulze. Wir schreiben bald eine Arbeit bei ihr und wissen nicht genau, was sie rannehmen könnte. Ihr habt eure doch schon hinter euch – Was hat sie bei euch abgefragt?“
Dies waren eindeutig zu viele Worte, als daß er sie im wirklichen Leben ohne Probleme artikuliert bekommen hätte. Dazu war es hier notwendig, daß diese Klausuren auch wirklich gerade in dem entsprechenden Abstand geschrieben wurden, und er mußte auch noch einen Grund finden, warum er ausgerechnet sie deswegen ansprach (oder belästigte). Gewiß, er konnte anführen, ihm wäre zu Ohren gekommen, daß sie in diesem Fach zu den Klassenbesten gehörte, aber damit hätte er eingestanden, daß er hier und da bereits Informationen über sie eingezogen hätte. Und natürlich gab es auch bei dieser Vorgehensweise das Manko, daß er überhaupt erst einmal auf sie zugehen mußte…
Aber sie antwortete freimütig, es wäre um die ökonomische Bedeutung der Mondkühe und ihrer Fruchtbarkeitszyklen für die Weidewirtschaft der Marsianer gegangen  (Ja, dies konnte nur ein Traum sein!). Und dann schlug sie ihm gar noch vor, daß sie sich nach Schulschluß zusammensetzen könnten, um den Stoff gemeinsam durchzugehen (Etwas, das er sich niemals zu erbitten getraut hätte!).
Wäre er ganz bei der Sache gewesen, er hätte jetzt begeistert zustimmen, und damit das Fundament zu einer engeren Bekanntschaft legen können. Aber er war zu bezaubert von ihrem Anblick, und so kam ihm nichts Besseres in den Sinn, als die nächste Phrase abzuspulen, die ihm gerade am Vorabend erst eingefallen war: „Du bist doch mit Harald in einer Klasse. Kannst Du ihm etwas von mir ausrichten?“
Welche Mitteilung sie für ihn weiterleiten sollte, wußte er noch nicht, weil der anbrechende Schlaf sämtliche weiterführenden Überlegungen unterbunden hatte. Dazu bestand die Gefahr, daß sie sich von ihm als Botenjunge (bzw. -mädchen) ausgenutzt fühlen mochte. Und selbst wenn nicht, so würden diese beiden viel zu unverfänglichen Sätze gewiß keinen intensiveren Kontakt zu ihr nach sich ziehen.
Schlußendlich war sie es, welche die entscheidenden Worte aussprach, und dabei ohne bösen Willen die Sinnlosigkeit seiner Ausflüchte zutage treten ließ: „Warum sprichst du mich an, wenn du nicht sagst, was du denkst und empfindest? Meinst du, ich wäre deiner Gefühle wert, wenn ich sie mit Füßen treten würde? Du hast mir so lange verstohlene Blicke geschickt, du kennst mich doch fast so gut wie meine besten Freundinnen. Wenn du mich immer noch willst, nachdem du all meine Schwächen und Fehler mitbekommen hast, müssen wir uns doch ähnlich sein. Du würdest keinen auslachen, wenn er dir sagt, daß er dich mag, weil du den Schmerz selbst viel zu gut kennst. Wieso glaubst du dann, ich würde es tun? Ich bin ja kein Unbeteiligter, der seine Witze darüber reißen mag, nur weil er neidisch ist. Nein, ich würde mich höchstens erstmal schüchtern zurückziehen und überlegen, was ausgerechnet jemand an mir findet, den ich nur vom Sehen her kenne. Aber du wärst dann schon in meinem Kopf, und nichts macht einen Menschen so schön wie die Sehnsucht, die er für einen empfindet.“
„Ich liebe dich,“ brach sich da endlich seine Seele über die Kehle Bahn.
„Sag‘ lieber ‚Ich mag dich‘,“ korrigierte sie ein letztes Mal, „Liebe ist so ein großes Wort, daß es einem Angst macht, die Erwartungen nicht zu erfüllen. Ich bin kein Engel, nur ein Mensch wie du und alle anderen auch. Ich habe meine Fehler, und ich werde mich ihrer schämen, wenn ich ständig glaube, aufpassen zu müssen, daß ich dich nicht enttäusche. Laß uns lieber von ihr sprechen, wenn wir uns so gut kennen, daß wir wissen, daß wir einander blind vertrauen können. Daß wir uns so mögen, wie wir sind, und nicht, wie wir uns vorstellen oder haben wollen.“
Dann allerdings fügte sie noch hinzu: „Aber wenn es dich tröstet: Ich liebe dich auch.“
Da erst erkannte er, daß auch sie ihres gewöhnlich so unbefangenen Auftretens zum Trotz nicht frei von Komplexen war. Weshalb sonst stellte sie ihre Gefühle so dar, als würde sie ihn lediglich „trösten“ wollen? Und damit wurde ihm bewußt, daß sie niemals zueinander finden würden, wenn er nicht den ersten Schritt tat, ob im Traum oder in der Realität, wo sie doch die selben Beklemmungen quälten wie ihn. Wie vielleicht jeden Schüler hier auf dem Pausenhof!
So drückte er sie an sich, ganz einfach, weil alles gesagt war, und die Stimmbänder für die weitere Kommunikation nicht mehr erforderlich waren. Was hätte ihre Zunge auch schon formulieren können, wo sie doch bereits in seinem Kopf und seiner Seele war. Wo sie ihm dort Dinge verkündete, die zu herrlich waren, als daß sie selbst so ein süßer Mund wie der ihre hätte artikulieren können.
Sie hauchte ihm ins Ohr, und die Wärme ihrer Wange an der seinen machte ihm klar, daß sich gerade sein Herzenswunsch erfüllt hatte. Seine Finger strichen ihr sacht über den schmalen Rücken, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Sie gurrte wie ein kleines Kätzchen, als sie ihren Kopf kurz zurückzog, und dabei mit dem Näschen das seine streifte. Es geschah wie von selbst, daß sich ihre Lippen fanden, und ihr Kuß kam ihm vor wie der schönste Moment seines bisherigen Lebens.
Dabei erhaschte er allerdings einen Blick auf seine Umgebung, und er stellte fest, daß ihr zueinander Finden auch bei all den anderen das Eis gebrochen hatte. Ein Teenager nach dem nächsten gestand der Person seiner Träume ein, was er für sie empfand, und selbst diejenigen, die sonst mit ihrer Häme und ihren Witzen für eine Atmosphäre der Paranoia gesorgt hatten, entpuppten sich auf einmal als zartfühlende Romantiker. Die Welt bestand aus nichts mehr, als schillerndem Goldgelb, seelenanrührend sublimen Klängen und Gestalt werdender Sehnsucht.
„Tim! Tim! Komm zu dir!“, vernahm er da eine Stimme, „Das stammt nicht aus dir!“
Er wußte nicht, ob sie ihm bekannt vorkam. Es scherte ihn aber auch nicht sonderlich, denn alles, was in sein Bewußtsein drang, war die physische und psychische Nähe seines Schatzes. War die Vereinigung ihrer beider Sehnsucht füreinander, die von der flirrenden, klirrenden, prickelnden Sphäre um sie herum noch hundertfach verstärkt wurde. Es war so, wie es immer hätte sein sollen, ohne Nils und ohne Komplexe. Wenn es einen Augenblick geben sollte, der niemals enden möge, dann wäre es dieser.
„Tim! Das sind sie! Sie haben ein weiteres Portal geöffnet. Diesmal zur aurealen Ebene!“
Hände rissen an ihm, aber er ignorierte sie. Ging vollständig auf in der trauten Zweisamkeit, die alles war, was er sich jemals erträumt hatte. Das goldene Glitzern, der flammende Zenit, die zauberhafte Weise, das Kribbeln in der Atemluft, der liebliche Blütenduft – All dies hallte in seiner Anatomie wieder, als wäre er selbst ein Geschöpf dieser wunderbaren Welt.
Da wurde ihm Ninette abrupt entrissen, und er wußte nicht, wie ihm geschah. Verwirrt schaute er sich um, und erkannte erst nach mehreren Sekunden die Gesichter von Witha und Harald, die sein Herzblatt mit vereinter Anstrengung zurückhalten, sich zurück in seine Arme zu kuscheln.
„Was tut ihr da?“, fragte er sie entrüstet, und schickte sich schon an, sich selbst wieder an den Hals seines Schatzes zu werfen.
Doch deren Mitschüler stellte sich ihm in den Weg: „Komm‘ zu dir, Tim! Was hier geschieht, ist nicht natürlich. Ja, es geht noch nicht mal um dich; es hat dich nur als ersten befallen!“
Doch was waren schon Worte gegen das Verlangen, das ihn erfüllte? Nun, wo er endlich die Kraft gefunden hatte, zu seinen Emotionen zu stehen? Er versuchte, sich an seinem Kumpel vorbei zu drängeln.
Da machte Witha jäh eine Handbewegung, und auf einmal öffnete sich inmitten des Bildes von seinem vertrauten Pausenhof eine andere Szenerie, so als hätte sie einen bis auf den Monitor unsichtbaren Fernseher angeschaltet. Dort aber erkannte er wieder die zwei von irgendwo her bekannten Frauen, die über den verkleinerten Turm brüteten. An dessen Spitze funkelte es genauso berauschend, wie überall um ihn herum. Er erkannte schlagartig, daß sie die Urheberinnen dieses Phänomens sein mußten. Die Erkenntnis, manipuliert worden zu sein, ernüchterte ihn unvermittelt.
„Was… was tun die da?“, hörte er sich irritiert fragen, während er immer noch damit beschäftigt war, die Selbstkontrolle zurück zu erlangen.
„Sie versuchen, Harald zu kriegen,“ kam es von dem kleinen Mädchen, das wieder alle Hände voll zu tun hatte, daß ihr die weiterhin traumverlorene Ninette nicht entglitt.
„Sie hätten es auch fast geschafft,“ fügte der namentlich Erwähnte an, „Wenn wir nicht vorgewarnt gewesen wären, weil du lange vor mir befallen worden bist. Und weil Witha bei mir gewesen ist.“
„Du hättest ihn mal sehen sollen,“ konnte es sich dessen Gefährtin nicht verkneifen, ein wenig zu frotzeln, „Er hat mich so verknallt angestiert wie letzten Sonnabend, als sich seine Hormone gemeldet haben… Kurz bevor der Hahn gekräht hat, und der Nebel gekommen ist… Naja, nicht nur der Nebel, aber ‚trübe, milchige Suppe‘ trifft beides ganz gut!“
Diese Anspielung schien Harald augenfällig ziemlich peinlich zu sein, und so lenkte er auf Tim ab: „Dich hat es von allen, die hier auf dem Schulhof stehen, mit Abstand als Ersten erfaßt… und das hat dein Geheimnis enthüllt.“
„Mein Geheimnis? Aber du weißt doch, daß ich Ninette liebe!“ – Der so unerwartet Verdächtigte wußte nicht, worauf sein Gegenüber hinaus wollte, aber er fühlte sich instinktiv beunruhigt.
„Nicht das Geheimnis mein‘ ich… sondern jenes, von dem du selbst keine Ahnung hast!“
„Mein… Was… Wovon redest du?“
„Wir wissen jetzt, warum van Justen gerade deine Familie ausgesucht hat, um in Klaus Börnsens Haus einzuziehen.“
Er verstand nur, daß es um einen spanischen Bahnhof in irgendwelchen böhmischen Dörfern inmitten der Walachei gehen mußte.
„Du hast Basiliskenblut in deinen Adern, Tim!“, wurde sein Kumpel aus Ninettes Klasse da deutlicher.
„Ich habe… was?“
„Hast du nicht gesagt, deine Urururgroßmutter wäre Kammerfrau beim Herzog von Schleswig, und damit am dänischen Königshof gewesen? Unter deinen Ahnen müssen Diener des Barons gewesen sein. Van Justen hat es wohl herausgefunden, und euch das Haus deswegen verkauft. Er muß geahnt haben, daß wir als erstes dort Nachforschungen anstellen würden, wenn was Ungewöhnliches passiert.“
„Was… Was hab‘ ich damit zu tun, wenn irgendwelche von meinen Vorfahren für die Monster gearbeitet haben. Erst recht, wenn das vor so vielen Generationen gewesen ist?“
„Die Spuren sind jetzt noch in deinen Adern vorhanden… Wir können nicht ausschließen, daß du selbst es gewesen bist, der die Patientin aus dem Krankenhaus entführt hat.“
„Aber… Ich bin kein Verräter!“
„Das glauben wir auch nicht. Aber wenn du es getan hast, dann bist du besessen gewesen. Von dem Baron selbst, oder aber einem seiner Schergen.“
„Heißt das, daß ihr mir nicht mehr vertrauen könnt?“
„Dann könnten wir niemandem mehr vertrauen. Aber du bist besonders anfällig, wenn sie versuchen, jemanden zu kontrollieren.“
„Das heißt, ich bin ein Risiko für euch.“
„Das heißt nur, daß du besonders kritisch darauf achten mußt, was du gerade tust. Es hat allerdings auch seine Vorteile: Du hast ihr Blut in den Adern. Damit wirst du sie bemerken, wenn sie in deinen Geist kriechen. Bei den meisten Sterblichen müssen sie sich mehr Mühe geben, aber dafür kriegen die auch nicht mit, was ihnen widerfährt. Und wenn doch, dann glauben sie, es selbst gewollt zu haben. Oder sie meinen, sie hätten einfach nur einer Laune nachgegeben.“
„Und… Wenn sie dann doch stärker sind als ich?“
„Dann werden wir in der Nähe sein und es bemerken. Und vorgewarnt sein, daß sie gerade wieder zu etwas Neuem ansetzen.“
„Aber… dann bin ich ja in erhöhter Gefahr,“ erkannte Tim entsetzt, „Wie soll ich selbst denn da überhaupt Vorkehrungen treffen können, wenn ich noch nicht mal weiß, worum es geht?“
„Wir können dir nicht zuviel verraten,“ war Witha ehrlich zu ihm, „Denn was du weißt, können der Baron und alle anderen Nachfahren des Basilisken leichter herausfinden, als bei jedem anderen. Du würdest unsere Pläne ausplappern, ohne es überhaupt mitzubekommen.“
„Ich muß mich doch schützen!“, insistierte er.
Die anderen beiden schauten sich fragend an, und kamen wohl stumm miteinander überein, daß er es verdient hätte, zumindest in einen Teil des Geheimnisses eingeweiht zu werden.
„Die beiden Frauen, sie wollen Drachenkräfte,“ rückte sie schließlich zögerlich raus.
„Ihr erzählt mir hier andauernd was über Drachen und Basilisken,“ ereiferte sich der immer noch Unwissende, „Worum geht es hier überhaupt? Wollt ihr vielleicht behaupten, unser Leben ist nur irgendein schlechter Fantasy- Roman, in dem Einhörner durch die Gegend spazieren, sich munter mit irgendwelchen holden Jungfern fortpflanzen, und die Kinder kann man dann an ihrem Pferdegebiß erkennen?“
„Nicht ganz,“ entgegnete Harald, „Es geht hier nicht um Sagengestalten. Nach denen hat man sie nur benannt, weil einem nichts Treffenderes eingefallen ist, weil ihr wahrer Anblick mit menschlichen Sinnen so schwer zu erfassen ist.“
Seine geisterhafte Freundin wurde noch etwas konkreter: „Der Drache, das ist nur ein Name; es gab ihn schon, bevor es überhaupt mehrzelliges Leben auf der Erde gab, geschweige denn Wirbeltiere. Er gehört zu den ersten Geschöpfen überhaupt auf diesem Planeten. Aber ‚Geschöpfe‘ ist vielleicht das falsche Wort, denn sie waren nichts weiter, als bestimmte Frequenzen, die sich subatomarer Teilchen bemächtigt haben, gleich ob Molekül, Elektron oder Photon. Ihre Spuren sind in jedem Gedanken, in jedem Nervenimpuls noch vorhanden, und je näher man ihnen ist, um so stärker sind sie. Hätten sie nicht die in der Ursuppe herumschwimmenden Kettenmoleküle ‚beseelt‘ und Kopien ihrer selbst hinterlassen, die Welt wäre wüst und leer geblieben. Ob sie nun die Kräfte irgendeines Gottes gewesen sind, oder einfach nur die Ausgeburten irgendwelcher explodierenden Sterne, weiß ich nicht, aber es hat mal ziemlich viele von ihnen gegeben. Bei den meisten sind die Amplituden mit der Zeit immer mehr verflacht, bis sie einfach nicht mehr existierten, aber von den wenigen, die geblieben sind, sind viele immer noch mächtig. Kommandieren Vampire und andere schreckliche Monster – Aber auch sie sind in ständiger Gefahr zu vergehen, und versuchen darum, sich gegenseitig auszubeuten. Der Drache ist seit Jahrhunderten schon ziemlich schwach, und da versuchen der Basilisk und der Phönix, sich an ihm gütlich zu tun – Beide gehören zu den Wesen, die sich ein Gefolge von Untoten halten, das sie von Zeit zu Zeit auffressen, um sich ein neues zu schaffen. Aber der Phönix ist selbst nicht mehr der Mächtigste; ihn braucht man eigentlich nicht mehr zu fürchten. Der andere allerdings, der ist in letzter Zeit wieder beunruhigend aktiv geworden – Er kann die Kräfte des Drachen bestimmt ganz gut gebrauchen.“
„Was für Kräfte sind das denn?“, hakte Tim nach, der trotz seines automatisch verstehenden Traumbewußtseins nicht die Hälfte von dem kapierte, das ihm das Geistermädchen erzählte.
„Er ist einer der Ersten, die für die Schöpfungskraft stehen. Ständig erfindet er etwas, und seien es auch nur dumme Spinnereien. Wenn man ihn zu kontrollieren versucht, gleiten die Befehle einfach ab, und werden mit dem nächsten Schub neuer Ideen zurückgeworfen. Man muß sich schon was einfallen lassen, um ihn zu beherrschen. Außerdem hat er die Gabe, zu Erkenntnissen zu kommen, die vorher noch niemand gehabt hat – Ohne Wesen wie ihn hätte es vielleicht nie eine Menschheit gegeben, von Kultur und Zivilisation einmal ganz abgesehen. Als er noch gewaltig war, konnte er sogar einfach so Dinge erdenken und wirklich werden lassen. Stell dir mal vor, wie mächtig jemand ist, der seine Vampire ganz einfach aus den Träumen in die Wirklichkeit schlüpfen lassen kann und wieder zurück!“
„Aber wieso konnte die Sphäre hier dann Harald und mich beeinflussen, aber dich nicht?“ – Tims Bemühungen, den hinter allem verborgenen Sinn aufzuspüren, waren wirklich rührend.
„Ich hab‘ ein bißchen Spinne in mir – Nicht viel, aber doch genug, daß mich nicht alles und jeder hin und her schubsen kann, wie er gerade lustig ist. Sie haben nur mit den Fähigkeiten des Drachen gerechnet, und wie man ganz spezifisch die außer Gefecht setzt. Mich haben sie dabei ganz übersehen – Den Fehler werden sie kein zweites Mal machen.“
Er machte jetzt nicht den Fehler, sie nach den Besonderheiten dieser ominösen „Spinne“ auszufragen; ihre bisherigen Informationen hatten ihn bereits vollends überfordert, und er wagte es zu bezweifelt, daß nach dem Erwachen noch viel davon in seinem Gedächtnis verblieben sein würde.
Und das Erwachen, das nahte unweigerlich, wurde es am Rande seines Sichtfeldes doch schon schwarz und taub.
Als er die Augen aufschlug, wurde er sich schlagartig wieder bewußt, welch besonderer Tag nun für ihn angebrochen war. Und daß entscheidende Weichen in seinem Leben gestellt sein würden, bevor er wieder Gelegenheit finden würde, sich erneut schlafen zu legen.

10.
Gespannte Erwartungen und unerwartete Spannungen

„… That it‘s only smiles away,
and you have an easy day!“

(Bananafishbones: „Easy Day“)


Harald kam in der Tat spät. So spät, daß Tim schon gar nicht mehr mitgezählt hatte, wie oft er aus purer Nervosität pinkeln gegangen war. Wie oft er sich das längst schon perfekt sitzende Haar noch einmal durchgekämmt, und das Gesicht im Spiegel vergeblich nach verunstaltenden Pickeln abgesucht? Sich seine Sonntagsschuhe geputzt und den Sitz seiner Kleidung überprüft? Seine Mutter hatte schon geargwöhnt, er hätte sich für ein Mädchen „schmuck“ gemacht aber er hatte abgewiegelt, es ginge einfach nur um eine Party. Von Ninette brauchte sie nichts zu wissen: In seinem Liebesleben hatten seine Alten nichts verloren!
Ohnehin kam es ihm ganz gelegen, daß sie selbst heute Abend eingeladen waren, und erst spät heimkehren würden. So brauchte er wenigstens nicht zu befürchten, daß sie noch aufbleiben und besorgt auf die Uhr schauen würden, wann ihr Stammhalter denn endlich nach Hause käme. Und morgen früh würde er schon in seinen Federn liegen, wie es sich gehörte… Sie dürften nur nicht auf die Idee kommen, noch einmal nach ihm zu sehen, wenn sie zurückkehrten und sich zu Bett begaben! Schließlich hatte er noch keine Ahnung, ob er gegen Mitternacht schon wieder daheim wäre. Er hoffte, daß dies nicht der Fall sein mochte.
Auf jeden Fall beruhigte es den weiblichen Part seiner Eltern, daß die Feier bei den Carstensens unweit des Ortes stattfand. Auch wenn „die süße Jasmin“ ein uneheliches Kind war, so waren deren Mütter doch so engagiert, was die Organisation der Kinderfeste anging, und außerdem war sie so gut in Mathematik, daß sie gewiß einmal Karriere machen würde. Die Frau Mama machte kein Geheimnis daraus, daß sie bereits die Hochzeitsglocken läuten hörte.
Mindestens ebenso nervtötend war allerdings ihre Neugier, was den ihr unbekannten „Freund“ ihres Sprößlings anging. Kam er aus gutem Hause? War er gut in der Schule? Bohrte er in der Nase?
Der auf diese Art geplagte Teenager schwankte, ob er ihr nun weismachen sollte, daß sein Kumpel regelmäßig am Sonntag Morgen in die Kirche ginge, oder daß er dem großen und mächtigen Sabberlatz in jeder Vollmondnacht schwarze Katzen opfern würde.
Es war schon fast dunkel, als der erwartete Gast endlich eingetroffen war.
„Es ist ziemlich stürmisch geworden,“ entschuldigte er sich.
In der Tat hatte draußen ein ziemlich ordentliches Lüftchen aufgefrischt.
Auch er hatte sich in Schale geworfen, so daß die Erwachsenen zumindest sein erster Eindruck etwas beruhigte. Zumindest soweit, daß sie die beiden Halbstarken allein ließen, um sich selbst zurecht zu machen.
Harald nutzte die Gelegenheit sogleich, um seinem Kameraden zu zeigen, was er mitgebracht hatte. Er griff in die Satteltasche seines Drahtesels und zückte ein sorgfältig in Weihnachtspapier verpacktes, und mit einem Schleifchen verziertes Geschenk, das die Umrisse eindeutig als Compact Disc entlarvten.
„Deine Lakaien! Wie du mir am Telefon gesagt hast. ‚Your Decision‘ ist nicht drauf, damit sie die Scheibe nicht doppelt hat.“
Er steckte das Mitbringsel zurück in den Seitentornister seines Gefährts, und für kurze Zeit wurde auch der Hals einer noch ungeöffneten Flasche sichtbar. Eine, von deren Existenz die alten Herrschaften besser nichts erfuhren!
Die beiden Halbwüchsigen hatten keine Minute zu verschenken: Nils mochte schon seit Stunden auf dem Fest sein. Es stand zu befürchten, daß er jetzt schon das Stadium des Händchen Haltens mit dem Geburtstagskind hinter sich gelassen hatte. Im großer Eile holte Tim sein Fahrrad aus der Garage. Bibberte vor Aufregung, daß ihm glatt der Dynamo aus den Fingern rutschte. Daß sein Kamerad gerade wieder über sein Lieblingsthema parlierte (die geometrische Winkelunterteilung), überhörte er sogar.
Der Vater ermahnte die Heranwachsenden noch, ja um Zehn wieder zurück zu sein. Er hielt es wohl für eine großzügige Geste, seinen Filius so lange aufbleiben zu lassen, wo er ihn doch sonst pünktlich nach der Tagesschau schlafen schickte. Daß der – Hin- und Rückfahrt mit eingerechnet – dann gerade mal die Zeit haben würde, sämtlichen auf der Fete Anwesenden „Hallo!“ zu sagen, daran dachte er gar nicht.
Die Zwei rasten in die anbrechende Nacht davon. Sausten den geteerten Wohnweg entlang, als jagten sie den Teufel selbst. Bogen in die Dorfstraße ein, daß in diesem Moment kein Pkw hätte kommen dürfen. Die Häuser links und rechts schossen nur so an ihnen vorbei. Die Häuser, die ihnen noch einen gewissen Wetterschutz boten.
Sie verloren ihn, als sie sich dem Ortsausgang näherten: Urplötzlich schlug ihnen die heftige Brise ins Gesicht! Immer mühsamer wurde ihr Vorwärtskommen, und als die letzten Bauten der Gemeinde der freien Natur gewichen waren, sahen sie sich den ungehemmt wütenden Elementen ausgesetzt. Der Wind brauste ihnen nur so um die Ohren, daß eine Verständigung von Drahtesel zu Drahtesel nahezu unmöglich geworden war. Aber ihnen war ohnehin immer weniger nach Reden zumute, mußten sie doch alle Kraft zusammennehmen, um bei den Böen weiter ihre Geschwindigkeit zu halten. Den Böen, die so laut tosten, daß sie das Motorengebrumm des Lastwagens viel zu spät wahrnahmen – Erst ein lautes Hupen ermahnte sie, nicht auf der Straßenmitte zu radeln. Vor Schreck fuhren sie rechts ran und hielten, während der Truck an ihnen vorbei jagte. Sie konnten gerade noch die Rücklichter und das Kieler Nummernschild des Kolosses erkennen.
„Was hat der denn hier zu suchen?“, wunderte sich Harald, der hörbar außer Atem war, „Hier ist doch weit und breit keine Autobahn!“
Sein Kumpel, der hier naturgemäß etwas ortskundiger war, wußte die Antwort: „Die Lkws nehmen die Strecke gerne mal als Abkürzung. Die größeren Straßen verlaufen hier in Schleswig- Holstein alle in Nord- Süd-, oder in Ost- West- Richtung. Wenn da jemand von Südost nach Nordwest will, muß er große Umwege in Kauf nehmen – Da kürzen die Laster schon gerne mal ab, und nehmen Schleichwege wie diesen, wenn sie nach Husum oder Niebüll wollen. Gerade nachts, wenn hier sonst nicht mehr so viel Verkehr ist!“
Na, das waren ja schöne Aussichten! Sie mußten sich nicht nur sputen, sie hatten auch noch aufzupassen, nicht von einem der PS- Monster auf die Hörner genommen zu werden, dessen Fahrer die offiziellen Route über die A 7 und die Bundesstraße zu lang war, der also in Eile war – Er würde gewiß auch auf schmalen Straßen nicht langsam durch die Landschaft gondeln, und zu dieser späten Stunde außerdem nicht mit übermäßig viel anderen Verkehrsteilnehmern rechneten. Also hieß es für die Knaben, erhöhte Vorsicht walten zu lassen – Und das, wo sie doch keine Sekunde zu verschenken hatten!
Schon traten sie wieder in die Pedale, stehend, um rascher wieder an Tempo zu gewinnen. Tatsächlich wurden sie bald schon von einem weiteren Mehrtonner überholt, diesmal von einem mit Rendsburger Kennzeichen. Dann allerdings waren sie gänzlich allein auf der weiten, leeren Straße, an die kein Haus, kein Hof mehr angrenzte. Nur hier und da mündete links oder rechts ein ungepflasterter Feldweg, und unterbrach damit die von Unkraut, Sträuchern und Büschen überwucherten Knicks, welche zu beiden Seiten die Bankette abschlossen. Deren Vegetation bei der konstant ansteigenden Windstärke lauter und lauter rauschte, als würde sie die zwei Teenager ganzen Schlangennestern gleich drohend anzischen.
Die allerdings hatten ganz andere Sorgen, als sich einen Kopf um die zunehmend gruseligere Atmosphäre der Landschaft um sie herum zu machen! Beide waren sie es gewohnt, jeden Tag mit dem Zweirad zu fahren, aber bei dem Sturm geriet ihre Kondition schon bald an die Grenzen. Zwischen den Knicks, die beiderseits der schmalen Teerstraße die schlimmsten Böen laut rauschend und zischend abhielten, kamen sie noch einigermaßen gut voran, aber sobald sich zwischen den Wällen eine Lücke auftat, warf sich ihnen die volle Wucht des Unwetters entgegen. Die Koppeln waren flach und weiträumig, so daß der Wind Platz genug hatte, um Anlauf zu nehmen. Sich den Halbstarken mit aller Macht entgegen zu stemmen, daß sie in anderen Situationen gewiß abgestiegen wären, und ihre Drahtesel geschoben hätten.
Doch dazu fehlte ihnen die Muße.
Sie legten sich ins Zeug, traten in die Pedale, als würde hinter ihnen gerade eine Atombombe vom Himmel fallen. Blätter wurden ihnen ins Gesicht gepeitscht; Insekten prallten ihnen Geschossen gleich gegen die Haut – Sie ignorierten es. Wie auch das beunruhigende Schattenspiel der Äste und Zweige links und rechts, die offenbar die furchteinflößenden Gesten und Bewegungen aus gräßlichen Horrorfilmen bekannter Monstren zu imitieren suchten. Und das Fauchen in den Kronen der Sträucher und verkrüppelten Bäume, das Wimmern der Gräser und des Unkrauts, das in seiner ganzen Kakophonie so sehr nach einem Chor der Gespenster klang! Gespenster, die mit der wilden Brise über die Landschaft jagten, und deren Jaulen auf den Nervenbahnen selbst sein Echo fand!
Ihre Haare flatterten wie Wimpel um ihre Häupter; die Jacken knatterten, als würden die Knaben von einem leibhaftigen Donner verfolgt. Alles um sie herum schien sie in Angst und Schrecken versetzen zu wollen, doch sie hatten nur ihre Wegstrecke vor Augen. Die düstere Allee, die kein Mondschein erhellte. Auch die Lampen ihrer Räder warfen nur einen schwachen Lichtkegel auf den Asphalt, war die Leistung der Dynamos doch davon abhängig, wie schnell sich die Reifen drehten. So steuerten sie mehr oder weniger in die Schwärze hinein, und konnten manches Mal nicht ausmachen, wo die Fahrbahn endete, und wo die Bankette begann. So konnten sie auch nicht erkennen, was sich da vor ihnen inmitten der Finsternis zu regen schien. Etwas Nebulöses, wie Schatten inmitten der Schatten. Etwas, das sich am ehesten als Flattern beschreiben ließe…
Aber auch das Rascheln, das von Zeit zu Zeit von beiden Seiten zu vernehmen, klang nicht unbedingt so, als würde es von dem Orkan verursacht.
Da lichtete sich auf einmal die Dunkelheit vor den Jungen, und ein freier Platz markierte die Kreuzung, wo ihr geteerter Feldweg in einen anderen mündete. Links von ihnen zeichneten sich die Umrisse einer hölzernen Bushaltestelle ab, zusammen mit einer Straßenlaterne, die aus unbekannten Gründen nicht funktionierte. Auch die Häuser, die sie nun passierten, versprachen keinerlei Schutz, denn nirgends war auch nur ein Fenster erleuchtet. Es machte fast den Eindruck, als ob sich alles, was hier draußen in der Einöde wohnte, in den eigenen vier Wänden verbarrikadiert hätte, und würde nichts und niemandem die Tür öffnen aus Furcht, damit das namenlose Grauen selbst einzulassen.
So ragten die Gebäude düsteren Monumenten einer untergegangenen Kultur gleich neben den Teenagern auf, finster und mit ausladenden Konturen, die sich nur undeutlich von dem nicht minder schwarzen Hintergrund abzeichneten. Mit toten Fenstern, welche die beiden vorüber Brausenden aufmerksam zu mustern schienen. Mit einem Ausdruck der Verschlagenheit…
Und überall standen hier Bäume... nicht die kümmerlichen Exemplare auf den Knicks, sondern voll ausgewachsene Titanen, welche die defekten Straßenlampen und die Höfe deutlich überragten, und an eine Rasse außerirdischer Riesenpolypen gemahnten, die von diesem unwirtlichen Ort aus die Erde zu unterwerfen trachteten. Mit laut im Wind rauschenden Wipfeln, die Tentakeln gleich im lichtlosen Firmament nach argloser Beute zu fischen schienen.
Vorwärts! Vorwärts! Keine Sekunde verlieren! Tim und Harald brausten um die Kurve, ohne sich umzuschauen. Legten sich dabei so schräg, daß sie unweigerlich gestürzt wären, hätten ihre Reifen die Bodenhaftung verloren. Ohnehin brachte sie jede neue Bö in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren – Sie mußten alle Konzentration aufbringen, um weiter vorwärts gekommen. Hätten gar nicht die nötige Aufmerksamkeit aufbringen können für all das, was sie an Unheimlichem am Rande ihrer Gesichtskreise wahrzunehmen glaubten. Bewegungen, Silhouetten, kurzes Funkeln wie von Augen…
Langsam, aber sicher ließen sie den etwas dichter besiedelten Bereich schon wieder hinter sich. Nur noch hier und da fand sich links oder rechts der Allee ein landwirtschaftlicher Betrieb, dessen schlammige Hofplatz- Zufahrt die erneut dominierende Wildnis aus ungebändigt wuchernder Vegetation unterbrach. Gerade mal ein Gebäude unmittelbar links an einer Biegung nach rechts ragte nahe genug an die Chaussee heran, daß man in der Düsternis das Mauerwerk ausmachen konnte. Es war unverputzt und wirkte verfallen, als hätte hier seit Generationen niemand mehr gelebt.
Da hatten sie aber auch schon das Anwesen der Carstensens vor Augen. Im selben Moment, als die Wolkendecke über ihnen aufriß, und den violetten silbernen Schein des Mondes bis zum Erdboden durchließ. Den Schein, der mehr von der gruseligen Illumination in einer Geisterbahn an sich hatte, als daß er ein Gefühl von wenigstens vorübergehender Sicherheit vermittelt hätte, so wie es das warme und goldene Leuchten der Sonne zu bieten vermochte. Links die ausgedehnte, sumpfige Weide, deren Anblick kein Wall verdeckte, glitzerte beinahe auf eine unerklärliche Weise in diesem unirdisch anmutenden Schummer, just als hätte das ungemähte Gras zu fluoreszieren begonnen. Ein vereinzelter, etwas morsch aussehender Pfahl, der ein verlassenes Storchennest trug, knarrte unter dem Andruck des Sturmes, als drohte er, jeden Moment umzuknicken, und berstend auf die zwei Teenager herab zu krachen.
Der Hof selbst jedoch, er hatte in der schaurigen Helligkeit nur zu viel von einem Spukschloß an sich! Umstanden von einer ganzen Gruppe gewaltiger Laubbäume, wirkte es ausgesprochen verwunschen, so als hätte es jemand mitten in das Dickicht hinein gebaut, und jederzeit könne ein Vorhang aus Blättern und Zweigen vor die Hausfront gezogen werden, um es den Blicken allzu neugieriger Passanten zu entziehen. Oder das Verschwinden des ganzen Betriebes in eine andere Dimension zu tarnen…
Der Wohnkomplex hinter dem grauen Hofplatz stammte aus einer längst verstrichenen Zeit. Die Wände waren aus groben Steinen errichtet, und die Fenster klein, mit Fensterkreuzen, welche die einzelnen Butzenscheiben voneinander abtrennten. Das Dach war vorne zwar mit Eternitschindeln gedeckt, aber im rückwärtigen Bereich schlossen sich traditionelle Reetbündel an. Die Lampe neben der Eingangstür schien noch mit Petroleum zu funktionieren. Ganz rechts markierte ein monumentales Holztor den Eingang zur Lohdiele. Hier setzte der Wirtschaftstrakt an, der parallel zu einem kleinen Feldweg verlief, welcher rechts von dem Komplex in die Linkskurve unmittelbar vor dem Gut mündete.
Nirgends waren Anzeichen dafür auszumachen, daß hier tatsächlich eine Party im Gange war; auch war keine der Räumlichkeiten erkennbar erleuchtet. Stattdessen kam immer wieder der Eindruck auf, als würden draußen vor dem Gemäuer schwarze Gestalten hin und her huschen. Schwarze Gestalten, die beizeiten beunruhigend menschliche Umrisse zu haben schienen, und die sich beim näheren Hingucken doch immer wieder als Nebelfetzen, wandernde Schatten oder optische Täuschungen entpuppten.
Die Knaben verstanden zu wenig von Meteorologie, als daß ihnen klar geworden wäre, daß sich Dunstschwaden bei einem Unwetter wie diesem nur selten halten konnten. Dennoch wurde ihnen zunehmend mulmiger zumute, auch wenn sie zunächst noch keinen konkreten Grund hierfür anzuführen wußten.
Wenn diese Gegend doch nur nicht so abgelegen wäre!
Jäh ebbte das Tosen der Brise ab, und eine gespenstische Stille legte sich über die Landschaft. Das Rattern und Klappern ihrer Drahtesel, als sie auf den Hofplatz fuhren, das Knirschen von Sand und Kies unter den Reifen, es erschreckte die beiden regelrecht mit seiner plötzlichen Lautstärke. Zitternde Beine bewerkstelligten es, die Ständer auszuklappen. Tim wollte sein Gefährt noch abschließen, aber es waren nicht seine schlotternden Hände, die ihn davon abhielten. Irgendein sonst eher unbekannter Gefahreninstinkt riet ihm, die Kette besser zu lassen, wo sie war: Es mochte sein, daß sie unvermittelt würden flüchten müssen, und da würden ihm beim Entriegeln der Sicherung wertvolle Sekunden verloren gehen! Falls er sie in der Eile überhaupt aufbekommen sollte…
„Hallo? Ist da jemand zuhause?“, versuchte Harald indes zaghaft, sich bemerkbar zu machen. Ein bizarrer Hall warf seine Worte von den Mauern zurück, und sie klangen dumpf, just als wäre da etwas in der Luft, die sie umgab, daß sich von Schall ernährte.
Die Bäume, sie ließen ihre Äste tief herab hängen wie Fischernetze. Ja, es machte ein bißchen den Eindruck, als würden sie die Knaben belauern, beschleichen, auf einen günstigen Moment warten, um dann abrupt zuzuschlagen. Kein noch so leises Wispern war in ihren Kronen, so wie auch die hungrige Katze vor der ahnungslosen Maus nicht miaut.
Und Tim, er fröstelte urplötzlich, als er meinte, irgend etwas Kühles habe ihn gestreift.
Harald hatte die Klingel erreicht und schellte. Allein, es war kein Laut zu vernehmen. Er probierte es ein zweites Mal. Betätigte dann den Knauf, doch es war abgesperrt.
„Vielleicht sollten wir um das Gebäude herumgehen?“, schlug er mit seltsam gedämpfter Stimme vor, „Wenn sie wirklich sturmfreie Bude hat, ist es kein Wunder, daß hier niemand ist. Ich kann mir vorstellen, daß sie hinten im Stall feiern. Ich meine mich vom letzten September her zu erinnern, daß die da einen Raum haben, in dem schon lange kein Vieh mehr gehalten wird.“
Es klang mehr danach, als hätte er gerade seinem Kumpel unterbreitet, daß sie doch besser wieder ihre Drahtesel besteigen, und Fersengeld geben sollten.
So allerdings ließen sie ihre Gefährte an Ort und Stelle, und hofften, auf weitere Zweiräder zu stoßen, wenn sie nur um die Ecke bogen. Und auf vage Fetzen von Musik, die ihnen verrieten, daß sie endlich auf die ersehnte Fete, auf rettende menschliche Gesellschaft gestoßen waren…
Unterdessen frischte die Brise langsam wieder auf. Diesmal jedoch wirkte es weniger wie das beständige Tosen, daß sie bei ihrer Herfahrt behindert hatte, sondern mehr wie die Ouvertüre zu etwas Schrecklichem, das nun unmittelbar bevorstand. Dabei wurde immer noch alles von dem überirdischen Schein des Mondes illuminiert, gleichsam als hätte sich inmitten der Realität ein waschechter Dracula- Film manifestiert. Es tauchte die zwei Besucher in ein bleiches Licht, daß sie selbst ein wenig wie wandelnde Leichen aussahen. Die überstehenden Kanten des Reetdaches warfen die Mauer entlang abwärts tiefe Schatten, welche die beiden einfach verschluckten, als sie darin eintauchten. Es dauerte eine kleine Weile, bis sich ihre Pupillen an die plötzliche Finsternis gewöhnt hatten, und so entging ihnen, daß die Fenster zu ihrer Linken inzwischen eindeutig nicht mehr dem Wohnbereich zuzuordnen waren. Mehr oder weniger tasteten sie sich an den rauhen Steinen entlang, aus denen die Witterung mehrerer Jahrzehnte bereits große Teile des Mörtels ausgewaschen hatte.
Doch auch, als sich ihre optischen Sinne einigermaßen geschärft hatten, war nirgends ein Hinweis dafür auszumachen, daß irgendwo hier in diesem verlassenen Gemäuer gerade eine Sause steigen würde… Das heißt, so ganz stimmte dieser Eindruck nicht! Denn auch wenn hinter den staubigen Butzenscheiben außer Schwärze nicht viel zu erkennen war, so meinte doch mal der eine, mal der andere Junge, hinter einer von ihnen andeutungsweise eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Sie lagen zu hoch, als daß hierfür eventuell im Stall untergebrachte Kühe oder Schweine verantwortlich zu machen waren.
Freilich bedeutete dies noch lange nicht, daß es sich bei denen, die sich da im Innern des Wirtschaftstraktes regten, auch wirklich um Partygäste handeln mochte…
Harald, der vorangegangen war, hatte inzwischen eine schäbig anmutende, in einer undefinierbaren Farbe gestrichene Brettertür erreicht. Er setzte zum Klopfen an, hielt aber ohne erkennbaren Anlaß plötzlich inne.
„Laß es! Laß es!“, schrie es in Tims Schädel, aber seine Stimmbänder versagten ihm.
Und da war es dann auch schon geschehen: Haralds Knöchel schlugen gegen das Holz, und ein paar abblätternde Fetzen alten Lackes rieselten herab. Dumpf hallte das Pochen aus den Tiefen des Gemäuers wider, just als befänden sich dort keine Viehkoben, sondern ein weitläufiger Rittersaal.
Es öffnete ihnen niemand.
Harald startete einen zweiten Versuch. Diesmal allerdings berührte seine Faust die Bohlen eher zaghaft, so als wollte er es eigentlich gar nicht, daß da drinnen jemand auf die unverhofften Gäste aufmerksam wurde.
Und doch schien es so, als würde hierauf eine Reaktion erfolgen, wenn auch von unerwarteter Seite: Ohne Vorwarnung brauste der bislang eher verhalten zischelnde Nachtwind wieder auf und peitschte den beiden einen Schwall unangenehm frischer Landluft gegen den Leib, daß auch die Kleidung nicht mehr zu wärmen vermochte. Die Gräser heulten auf, die Bäume rauschten, als wäre in unmittelbarer Nähe ein Deich gebrochen, und die ganze Welt schien auf einmal von gruseligen Phantomen bevölkert. Schräg über ihnen knarrte und knurrte das Gebälk wie ein exotisches Reptil in Angriffshaltung, und irgendwo auf der anderen Seite des Anbaus knallte eine Luke auf.
Das war der Augenblick, in dem sie beide so etwas wie ein Schaben an dem rostigen Klappverschluß dieses Eingangs vernahmen. Mit fast schon ungläubigen Blicken verfolgten sie, wie sich der Riegel langsam, beinahe in Zeitlupe hob, und sich auf einmal ein Spalt auftat.
Doch weder Harald, noch Tim brachten den Schneid auf, sie weiter zu öffnen. Und wer immer ihnen dort drinnen aufgemacht hatte, er schien keinerlei Notwendigkeit zu verspüren, dies für sie zu erledigen. Es war eine plötzliche Bö, die in die Bresche sprang, und die Tür mit unerwarteter Wucht gegen die Außenwand krachen ließ.
Die viereckige Öffnung vor ihnen gemahnte an einen schwarzen, gähnenden Schlund; keine Spur von der fröhlichen Geburtstagsfeier, die sie sich hier erhofft hatten!
„Was immer jetzt passiert, wir sollten besser zusammen bleiben!“ – Haralds geflüsterte Bemerkung war mehr als überflüssig, und diente wohl mehr dazu, seine eigenen Nerven zu beruhigen.
„Eine Taschenlampe wäre jetzt ganz nützlich!“ – Auch Tims Kommentar war nicht unbedingt sinnvoll, ließ sich an dieser Tatsache doch nun nichts mehr ändern. Allerdings tat es ganz gut, an einem schaurigen Ort wie diesem so etwas Reales wie die eigene Stimme zu hören.
„Die Lichter an unseren Fahrrädern?“ – Haralds Einfall mutete nur bei der ersten, flüchtigen Betrachtung als etwas abstrus an. Denn wenn sie ihre Fahrräder bei sich hatten, konnten sie um so schneller die Flucht ergreifen!
Allein, sie kamen nicht mehr dazu, diese Idee aufzugreifen. Justament drang ein Tuscheln an ihr Ohr, das ziemlich eindeutig nach den Organen weiblicher Teenager klang. Und auf einmal sprach sie eine gleichfalls jung und feminin wirkende Stimme aus der Dunkelheit aus an: „Kommt herein!“
Es war keine, die ihnen bekannt vorkam.
Gewiß, es hatte ganz den Anschein, als hätten die zwei Halbstarken nun endlich die Party gefunden, nach der sie so lange Ausschau gehalten hatten, und doch zögerten sie, einzutreten… Es war nicht die Vernunft, die ihnen davon abriet, sondern die Intuition, die sich auf längst verschüttet geglaubte Gefahreninstinke aus Zeiten berief, da der Australopithecus noch den lauernden Säbelzahntiger zu fürchten hatte. Und doch bewegten sich ihre Füße. Bewegten sich wie in Trance über die Schwelle, ohne daß sich auch nur einer von beiden Kerlen entsinnen konnte, ihnen einen entsprechenden Gedankenbefehl gesendet zu haben. Wie Schlafwandler stapften sie mitten in die Finsternis hinein, und erst das laute Knallen der hinter ihnen ins Schloß fallenden Tür riß sie mit einem Schock aus ihrer unerklärlichen Selbstversunkenheit. Da wurde ihnen bewußt, daß sie gerade in eine Falle getappt waren…
Zu allen Seiten kam auf einmal Bewegung in die Schwärze, und Geräusche waren zu vernehmen, als würden auf dem nackten Zementboden bloße Füße auf sie zu schreiten. Seltsamerweise aber war nur das Atmen zweier Personen zu vernehmen, nämlich das der beiden gerade Eingetretenen.
Das zynisch intonierte „Spielzeug!“, das vorne rechts vor ihnen gemurmelt wurde, trug nicht unbedingt dazu bei, ihre Selbstsicherheit wiederherzustellen.
„Kinder, es zeugt nicht von guten Manieren, mit dem Essen zu spielen!“, kam es da von vorne links, mit einer tiefen Frauenstimme, deren rauchig verruchtes und abgeklärtes Timbre eindeutig zu reif klang, um noch einem Backfisch zugeordnet werden zu können, „Wo ist eure gute Erziehung geblieben? Wir sollten uns zumindest erst einmal unseren Gästen vorstellen!“
Tim erkannte sie sofort wieder, auch ohne daß sie den verhängnisvollen Satz „Wir sind gerufen worden!“ von sich gegeben hatte! Schlagartig verfiel er ins Frösteln.
Nein, ihm und Harald war ganz und gar nicht danach, die hier anwesenden Damen kennenzulernen. Genau genommen, wären sie lieber weit, weit weg von hier, an einem Ort mit ausreichender Beleuchtung und zwei nicht besetzten Toiletten. Hätten sie gewußt, wohin sie hätten Reißaus nehmen können, sie hätten keinen Sekundenbruchteil länger hier verweilt!
Doch da trat auch schon das Weib aus den Schatten, das vorhin noch die anderen zur Zurückhaltung ermahnt hatte. Ein Vamp mit wallenden, schwarzen Locken und einem schmalen Gesicht, daß man als attraktiv hätte bezeichnen können, hätte in den finsteren Augen unter schweren, lang bewimperten Lidern nicht ein beständiger Ausdruck der Verachtung gelegen. Gleiches drückte der schmale Mund mit der etwas wulstigen und herabhängenden Unterlippe aus, die zu düster war, um nicht geschminkt zu sein. Von ihrem ganzen Erscheinungsbild her erinnerte sie – abgesehen von der Haarfarbe – an die Magenta aus der „Rocky Horror Picture Show“, und sie verstand es auch, sich ähnlich lasziv zu bewegen. Ihr Körper war schlank und eher hoch gewachsen; sie trug zu einer Art schwarzem Cape eine äußerst unschickliche Kombination aus Dessous und Strapsen in der selben Farbe. Nein, ein Teenager war sie gewiß nicht mehr, aber doch so voller femininer Reize, daß es – vor allem hier in diesem Schummer – unmöglich war, ihr Alter abzuschätzen. Hätten die beiden Knaben gewußt, was ein Sukkubus ist, sie hätten sie gewiß als solchen eingestuft!
„Darf ich mich vorstellen?“, trat sie ihnen auch schon selbstbewußt entgegen, „Man nennt mich die ‚Schwarze Sylvia‘, und die Geschöpfe, die von meiner Macht und Stellung wissen, bringen mir für gewöhnlich ehrerbietigen Respekt entgegen.“
Sie streckte ihnen mit einer offenbar über Jahre hinweg perfektionierten Anmut die Hand entgegen, an der ein mit einem Edelstein besetzter Ring prangte. Keinem der Jünglinge war danach, in irgendeiner Form darauf zu reagieren – Ihre Füße drängten danach, wegzulaufen, bevor das zunehmende Schlottern ihrer Knie dieses Vorhaben unmöglich machte. Doch erneut fühlte sich zumindest Tim wie mondsüchtig und konnte nur ungläubig beobachten, wie ihre Körper scheinbar unabhängig agierten. Er war der erste, und allem Muffensausen zum Trotz erstaunte es ihn, daß er die hingehaltene Pranke nicht schüttelte, sondern vor ihr niederkniete, und den Klunker an ihrem Finger küßte. Harald rechts neben ihm tat daraufhin das selbe. Daß sich ihre Visagen dabei unmittelbar vor dem Slip ihrer „Gastgeberin“ befanden, schien nicht ohne Absicht geschehen zu sein.
Indes traten die acht anderen Anwesenden aus den Schatten heraus, und wenn es sich bei ihnen diesmal auch ausnahmslos um Teenager handelte, so war doch niemand unter ihnen, den Tim schon einmal gesehen hatte. Zumal sie allesamt ein oder zwei Jahrgangsstufen über ihm gehen, und den sechzehnten Geburtstag bereits hinter sich gebracht haben mußten!
„Und hier haben wir die sogenannte ‚Brut‘ meines lieben Freundes, des Barons von Schottersteyn,“ fuhr ihre unheimliche Gesprächspartnerin mit der Vorstellung fort, „Sie wurde eigentlich zu einem anderen Zweck erschaffen, als hier das Jagen zu erlernen, aber manchmal ändern sich die Pläne, und da muß man sich eben pragmatisch zeigen. Am besten, ich führe sie der Reihe nach ein und beginne mit meiner Namenskusine zu meiner unmittelbaren Linken.“
Eine kurzhaarige Blondine mit ernstem Blick, fast schon negroiden Lippen und stämmigen Unterschenkeln lächelte die Neuankömmlinge an. Beiderseits der breiten Vorderzähne ihres Oberkiefers wurde dabei ein paar nadelspitzer Beißer sichtbar, wie man sie sonst nur aus Vampirfilmen kennt.
„Und dann haben wir hier die süße Natalie!“
Untote gelten allgemein als bleich und blutleer, aber dieses Fräulein schien – soweit es in dem Zwielicht auszumachen war – über einen ausgesprochen gesunden und rosigen Teint zu verfügen. Wohl brünettes Haar wallte sich um auffallend rote und eine Spur zu große Ohren. Fröhliche, runde Bernsteinaugen unter zumeist geraden, sich feenhaft weit über den Schläfenknochen erstreckenden Brauen beherrschten ein flach V- förmiges, etwas infantiles Antlitz mit vorspringender Schnauzpartie. In gewisser Hinsicht sah sie Ninette nicht unähnlich, und auch ihre Physis mit den langen, schmalen Beinen hatte etwas ausgesprochen Appetitliches. Beim Grinsen entblößte sie nicht nur ihr Zahnfleisch, sondern ebenfalls deutliche Merkmale eines Kindes der Nacht.
„Dann haben wir noch die wilde Sarah!“
Ob diese viel zu übertrieben geschminkte und mit Schmuck und etwas Piercings ausstaffierte Dame nun echtes oder künstliches Blond in ihrer mit Spray fixierten Frisur hatte, war bei den mangelhaften Lichtverhältnissen nicht zu erkennen, auch wenn ein anderes Detail eher für Ersteres sprach. Allerdings schien ihr etwas breit angelegtes Stuppsnäschen Spuren von Sommersprossen aufzuweisen. Ihre Lippen formten ein rotes Dreieck, als sie feixte, und auch ihre Zähne waren nicht die einer Sterblichen.
„Kommen wir schließlich zur stillen Bente!“ – Damit trat eine langhaarige Blondine ins Halblicht, deren auffallendste Merkmale die ausladenden Hüft- und Wangenknochen waren. Die niedrig gelegenen, eventuell grünen Augen und das scheue Grienen sprachen tatsächlich für Schüchternheit – Nur zaghaft ragten die Spitzen ihrer Kaninen zwischen den wulstigen, aufeinander gepreßten Lippen hervor.
„Auf sie folgt die sportliche Muggie!“ – Diesmal hatte die Vorgestellte langes, brünettes Haar, dessen gepflegter Pony die Schläfen frei ließ.
„Und natürlich unsere Exotin Bibi!“ – Hier zeigte sich ein Backfisch, dessen Äußeres für eine indische Herkunft sprach, aber auch viel von den Wandmalereien der alten Ägypter an sich hatte. Ihre weiblichen Formen waren zu voller Pracht erblüht.
„Endlich kommen wir zur Grazie in Person, unserer eleganten Lara!“ – Die Angesprochene strahlte in der Tat eine natürliche Anmut aus. In den Bewegungen ihres blassen, schmalen und langbeinigen Körpers ebenso, wie in der Haltung ihres von einer roten, föhngewellten Mähne umkränzten Kopfes. Das schmale Näschen wie die Oberlippe ihres kleinen Mundes wiesen aufwärts, und lange Wimpern bildeten einen Kranz um ihre Augen, die nur aus brauner Pupille zu bestehen schienen.
„Und last, but not least, haben wir hier die kleine Wadi!“ – Bei der Achten der „Brut“ handelte es sich tatsächlich um ein klein und zierlich gewachsenes Persönchen, dessen Kopf durch die wuchtige Heuhaufenfrisur in undefinierbarer Farbe noch verstärkt wurde. Ihr Lächeln, wie die beständig aufwärts weisenden Brauen hatten etwas Keilförmiges, so daß ihre Miene den Eindruck erweckte, sie wäre von permanenter Schwermut erfüllt.
Sie alle trugen – von Sarahs Geschmeide einmal abgesehen – keinen Fetzen Stoff am Leib.
„Jede von ihnen hat ein reales Vorbild, mit dem sie den Vornamen teilt, doch mein lieber Baron mit seiner Vorliebe für Kreativität und Perfektion, er hat aus ihnen wahre Meisterwerke erschaffen. Kein degeneriertes Gen, kein noch so unbedeutender Makel beeinträchtigt ihr Äußeres, und ihr Intelligenzquotient bewegt sich in Gefilden, die sich ein einfacher Staubgeborener wie ihr noch nicht einmal vorzustellen vermag. Nur an ihren Manieren müssen wir noch ein wenig arbeiten, aber schließlich lernen sie ja noch… Sagt selbst: Ist es da nicht eine unfaßbare Ehre für euch zwei kleine Hürzelchen, daß ihr ihnen als Nahrung dienen dürft?“
Gewiß, es ist der Traum so manches Halbstarken, daß mehrere unbekleidete Schöne über ihn herfallen, und der Biß eines Vampirs gilt allgemein als ein unbeschreiblich ekstatisches Erlebnis. Dennoch war es Tim nicht danach, dieser „unfaßbaren Ehre“ nachzukommen! Sie sollten hier getötet werden, leergesaugt bis zum letzten Tropfen! Jede einzelne Faser seines Leibes war erfüllt von purem Entsetzen, und die Muskeln, ja, die Nerven selbst zuckten vor lauter Impulsen, schleunigst aufzuspringen und los zu sprinten, egal in welche Richtung. Nur weg von hier, überall hin, wo es einigermaßen sicher zu sein versprach!
Doch so sehr er sich auch abmühte, diesem Grauen zu entrinnen, er verharrte unbeweglich an Ort und Stelle. Konnte sich nicht rühren! Ja, obwohl ihnen jede der Acht nur kurz vorgestellt worden war, und er in seiner Panik alles andere im Kopf hatten, als sich Namen zu merken, brannten sich deren Identitäten mehr und mehr in seine Gehirnwindungen. Denn er spürte, daß die untoten Hübschen in seinem Geist waren. Daß es zu deren Schulung gehörte, den Willen des Opfers zu kontrollieren, es zu mesmerisieren… und sie taten es alle gemeinsam. Acht fremde Puppenspielerinnen im Schädel – Es war ihm nicht möglich, sich dagegen zur Wehr zu setzen! Zumal jeder Fluchtplan sogleich von der „Brut“ in den Grauen Zellen gelesen werden würde, noch ehe überhaupt eine Chance zur Ausführung bestand! Und selbst wenn er es auf irgendeine unbekannte Weise bewerkstelligen sollte, war da immer noch ihre Herrin, die „Schwarze Sylvia“, die es zu überwinden galt!
Draußen vor den vor Staub halb blinden Fenstern mußten wieder Wolken vor den Mond gezogen sein, denn es wurde deutlich düsterer hier drinnen; was an Zwielicht den Anblick der schönen Monster offenbart hatte, verschwand nun endgültig. Dafür phosphoreszierten ihre Augen, und daran war zu erkennen, daß sie auf ihre wehrlose Beute zu schritten, denn sie taten es mit gekonnter Lautlosigkeit.
Was konnte Vampire aufhalten? Kruzifixe, Holzpflöcke, Knoblauch, Weißdorn, fließendes Wasser, Sonnenlicht… Selbst wenn Tim auch nur eines dieser Utensilien mit sich geführt hätte, er wäre mit seinen starren Gliedern nicht in der Lage gewesen, sie einzusetzen! Das hämische Kichern der Untoten verriet ihm, daß dieser Einfall seinen Häscherinnen nicht unverborgen geblieben war.
Die Furcht der Knaben, sie war beinahe greifbar geworden, doch nur die Böen, die um die Ecken des Hofes heulten und das Dachgestühl zum Knirschen brachten, konnten an ihrer Statt schreien. Und ein unbekannter Vogel, der irgendwo draußen, jenseits dieser das drohende Verhängnis umgebenden Mauern aufflatterte und Töne von sich gab, die nur für das pure Grauen stehen konnten.
„Ein Drachenenkel also!“, murmelte da auf einmal süffisant die Schwarze Sylvia, und Tim registrierte es an ihrer Präsenz in seinem Denken, daß sie auf ein Geheimnis Haralds gestoßen war.
Das hieß, daß er in einem gewissen Maße auch in der Lage war, mitzubekommen, was in den Ungeheuern vorging, solange sie sich in seinem Kopf herumtrieben… Er konnte sie nicht überraschen, aber sie ihn auch nicht! Freilich hatten sie das auch nicht nötig, fingen sie doch wieder an, „mit ihrem Essen zu spielen“! Denn daß ihm auf einmal ihre körperlichen Vorzüge durch den Schädel spukten und eindeutige physische Reaktionen hervorriefen, entstammte gewiß nicht seiner eigenen Libido! Es schien so, daß ihnen der Sinn noch nach ein bißchen anderen Vergnügungen stand, bevor sie sich über seine Venen und Arterien herzumachen gedachten. Ja, sie schienen sogar so etwas wie einen kurzweiligen Konkurrenzkampf gegeneinander auszutragen, wer von ihnen am meisten Eindruck hinterlassen und das stärkste Verlangen hervorrufen könnte.
Aber Tim war verliebt. Und just als sich gerade Natalie in seinen Vorstellungen breit machte, daß es ihm nur so prickelte zwischen Gurgel und Oberschenkel, da mußte er wieder daran denken, daß sie ihn ein bißchen an Ninette erinnert hatte. Ninette! Ja, auch ihre Beine hatte er einmal nackt gesehen, letzten Sommer, als sie diesen weißen Faltenmini getragen hatte! Aber seine Gefühle für sie waren alles andere als bloße Begierde – Sie liebte er wie ein kleines Kind, das man hält und vor allen Unbillen der Welt beschützen möchte! Wie einen Freund, auf den man sich verlassen kann, und der einen nie im Stich läßt! Wie sein zweites Ich, mit dem man sich austauscht und ergänzt, wenn etwas zu viel oder zu wenig in der eigenen Persönlichkeit ist! Wie einen Engel auf Erden, der anbetungswürdig, und doch zutiefst menschlich ist! Für den man sterben, aber noch viel lieber leben möchte! Ja, er konnte sich sogar vorstellen, das Gelübde des Zölibats abzulegen, wenn er dafür nur auf ewig an ihrer Seite weilen dürfte!
An sie wollte er denken jetzt, wo die letzten Minuten seines Lebens angebrochen waren. An das Wunderbarste, was ihm jemals widerfahren war. Dann würde es wenigstens ein schöner Tod werden… All die Tage, an denen er sie hatte erschauen dürfen, all die Nächte, in denen er ihr Bild vor Augen gehabt hatte, manifestierten sich nun in seiner Phantasie, und er sah sie bei geschlossenen Lidern so leibhaftig vor sich, als wäre sie mit den mörderischen Grazien hier im Raum. Ihr runden Rehaugen, die ihn in ihren Bann zogen, gleich ob sie fröhlich oder melancholisch waren! Ihr ansteckendes Feixen, das ihm Prickeln machte in seiner Brust! Ihre drolligen, fast runden Ohren, um das die langen, hellbraunen Strähnen ihrer Haare im Wind wehten!
Die schwülen Verlockungen der Acht, sie strömten immer noch in sein Lustzentrum, doch dort stießen sie nur auf die übermächtige Inkarnation seiner Sehnsucht, und nahmen die Gestalt jener Schülerin aus Haralds Klasse an. Ob Lara, ob Natalie, Bibi oder Bente – Sie alle wurden in Tims Denken und Hoffen zu Ninette. Ninette, wie sie lachte, daß ihm das Herz einen Sprung tat! Ninette, wie sie betrübt war, und er sie so gerne getröstet hätte! Ninette, wie sie aufgeregt war, weil sie in der nächsten Stunde eine Arbeit schrieb! Ninette, wie sie mit ihren Freundinnen alberte!
Und plötzlich geschah etwas, mit dem er niemals gerechnet hätte: Die „Brut“, die sich in seinem Hirn austobte, bekam all seine intensiven Gefühle mit, und wurde offenbar damit infiziert. Wadi war die erste, die seufzte, dann auch Lara und Natalie… Schließlich kamen von allen Seiten Laute emotionaler Rührung. Vielleicht lag es daran, daß sie junge Vampire waren, die noch „lernen“ mußten, so daß sie sich noch an diese Art von Leidenschaft erinnerten. Schließlich verfügten sie ja auch immer noch über einen Spieltrieb! Binnen Sekunden waren sie selbst von diesem wehmütigen Verlangen erfaßt worden, das sie zu lange nicht mehr gekannt hatten, um sich dagegen zur Wehr setzen zu können.
Auf jeden Fall ließ ihre Konzentration spürbar nach, und ehe er sich versah, war da nur noch die Schwarze Sylvia in seinen Gedanken, und die schien mehr damit beschäftigt, sich über das Versagen ihrer Zöglinge zu wundern, als die Herrschaft über seine Hirnfunktionen weiter aufrecht zu erhalten.
So war sie völlig irritiert, als er abrupt die Kontrolle über Geist und Körper zurück erlangte – Er hatte keinen Augenblick zu verschenken! Sprang auf, noch ehe jemand eine Gelegenheit hatte, zu reagieren! Gerade mal am Rande seines Sichtfeldes bekam er mit, daß sein Kumpel ihn hochschnellen sah, und ebenfalls die Gunst der Stunde erkannte. Da schleuderte sich Tim aber auch schon herum und rannte los in die Richtung, in der er die Tür vermutete. Prallte gegen einen weichen, kalten Leib, der nach Mädchen roch, doch seine Gegnerin war zu verblüfft, um ihm Widerstand entgegen zu setzen. Er schob sich in aller Hast seitlich an ihr vorbei, setzte schon wieder zum Sprint an. Konnte in all der Schwärze nichts erkennen und knallte gegen die Tür, daß sie von selbst aufsprang. Schmerzen! Das Pochen an seiner Stirn würde bald zu einer veritablen Beule anschwellen – Er hatte nicht die Muße, sich darum zu kümmern! Schrammte mit der Schulter voran an den Brettern entlang ins Freie. Der Mond war immer noch von Wolken verdeckt, und die Kulisse mit ihrer schattigen Vegetation keinen Deut weniger unheimlich geworden, doch immerhin war es hier draußen hell genug, daß er sich wieder orientieren konnte. Er warf sich nach rechts, in die Richtung des Hofplatzes, wo sich ihre Fahrräder befanden. Rennen! Rennen! Er hoffte, daß seine Beine nicht vorher schlappmachten, so weich, wie seine Knie waren!
Hinter ihm war ein boshaftes Zischen zu vernehmen, doch da war es auch Harald schon gelungen, dem Stall zu entfliehen, und er schlug die Tür hinter sich zu. Brach geistesgegenwärtig einen Zweig von dem nächsten der vielen Bäume, und steckte ihn in die Aussparungen des Klappriegels, daß er den Öffnungsmechanismus blockierte, und die Untoten drinnen einsperrte. Trotzdem nahm auch er sogleich wieder die Beine in die Hand, und stieß dabei fast mit Tim zusammen. Ein berstendes Krachen in ihrem Rücken verriet ihnen nur zu eindringlich, daß immer noch höchste Eile geboten war. Kein Blick zurück, wer da die übermenschliche Stärke aufgebracht hatte, die Bohlen zu zertrümmern: Jede Verzögerung mochte sie das Leben kosten! Nur laufen! Die Büsche links, die Mauer rechts schossen nur so an ihnen vorbei. Indes wurde es hinter den Gejagten laut, und der Lärm kam entsetzlich rasch näher. Viel Platz war hier nicht, um nebeneinander zu wetzen, aber sonderlich Hoffnung machten sie sich nicht, daß sich die Monster bei der Verfolgung gegenseitig behindern würden. Eine Einzige, die zu ihnen aufschloß, reichte aus, ihnen den Garaus zu bereiten… Nicht denken! Nicht denken! Denken hält auf! Spurten! Voran! Voran!
Dabei spürte Tim, wie sehr der Gegenwind auf der Herfahrt an seinen Kräften gezehrt hatten. Seine Muskeln taten ihm weh, die Milz protestierte stechend, und seine Lungen kamen mit der Sauerstoffversorgung nicht nach, obwohl ihm der Wind nur so in Mund und Kehle peitschte. Nicht aufgeben! Nicht langsamer werden! Sein Blick war starr auf die Hausecke gerichtet, hinter welcher der Hofplatz begann... Los! Dorthin mußte er! Doch seine Optik fing an zu verschwimmen. Einem tauben Braun Platz zu machen, in dem bunten Glühwürmchen gleich die Farben tanzten. Fühlte sich so die Ohnmacht an? Nicht denken! Nicht denken! Rennen!
Irgendwas huschte über seinen Kopf hinweg… und noch etwas! Warfen sie nach ihm? Er suchte, sich nicht beirren zu lassen. Gab sein Letztes! Stolperte beinahe, als er viel zu eng um die Biegung preschte, und mit dem Fuß gegen die Regenrinne stieß. Fing sich gerade noch, taumelte vorwärts… und verlor dadurch an Geschwindigkeit. Schon spürte er, wie sich jemand an seine Jacke krallte – So nahe waren sie schon? So wenig Geräusche verursachten sie auf der Hatz? Ein Schrei des Entsetzens riß ihm die Kiefer auf. Mit der Macht der Verzweiflung gelang es ihm, sich loszureißen. Keinen Gedanken verschwendete er daran, ob seine Garderobe dabei Schaden genommen hatte. Raste über den Platz, daß er selbst die großmäuligen Sportskanonen seiner Klasse weit hinter sich gelassen hätte! Der Boden war hier ebener, als gerade eben noch an der Seite des Bauernhofs. Doch der Sand war locker; jeder Schritt rutschte leicht ab und wirbelte Staub auf. Verlangsamte das Vorwärtskommen. Und ganz am anderen Ende der Fläche erst standen sie, ihre treuen Drahtesel! So weit noch entfernt…
Die wilde Brise ließ die Büsche und Baumkrüppel auf den Knicks der Straße singen wie einen wahren Totenchor. Ließ die Kronen der Eschen und Erlen, der Birken und Weiden rascheln, als hockten tausend tollwütige Katzen fauchend im Geäst. Drückte und zerrte an den Leibern und den Klamotten der Fliehenden, als wollte sie die Ungeheuer tatkräftig unterstützen. Jammerte so grauenvoll, daß einem das Mark gefror.
Wieder langte jemand nach Tim aus – Instinktiv machte er einen Satz nach rechts. Verlor dadurch einen wertvollen Sekundenbruchteil: Schon sah er jemanden links von sich. Jemanden, der nicht Harald war. Mit wehendem, rötlich braunem Haar: Muggie, die „Sportliche“! Er spürte, wie ihm für einen Moment der Puls aussetzte: Er war eingeholt!
Justament wurde er der riesigen Fledermäuse gewahr, die sich vor ihm auf den Zweirädern niederließen. Fledermäuse, die sich jäh verformten, daß einem vom bloßen Anblick übel werden konnte: Augen wanderten quer über den Schädel, Streben in der Flughaut wandelten sich zu dürren, unnatürlich langen Menschenfingern, Fell zog sich in nackte Haut zurück – Dann kauerte dort die Schwarze Sylvia in Person, umgeben von ihrer Namenskusine, Wadi und Natalie. Klar, sie hatten die Abkürzung durch die Luft gewählt, sich vielleicht sogar von den Böen tragen lassen! Er wußte nun, daß es keine Wurfgeschosse gewesen waren, die über sein Haupt hinweg geflogen waren… und daß der Tritt in die Pedale den Jugendlichen auch keine Rettung mehr bringen würde!
Damit war guter Rat teuer: Nirgends bot sich mehr ein Ausweg. Nicht das Haupthaus mit der verschlossenen Eingangstür, nicht das Dickicht der Knicks, in dem man sich höchstens verbergen konnte, wenn einem die Jäger nicht so dicht an den Hacken klebten!
Da nahm er in den Augenwinkeln wahr, wie Harald auf die Straße zu sprintete. Die Straße, na klar! Hinter der nächsten Kurve gab es Häuser, und an der Kreuzung sogar eine ganze Ansammlung davon. Es war mehr als zweifelhaft, ob sie es bis dorthin schaffen würden, und ob es ihnen überhaupt etwas nützte, da sie dort bei der Herfahrt schon kein einziges Licht hatten brennen sehen. Aber eine schwache Hoffnung war besser als gar keine!
Freilich fehlte Tim die Muße zu eingehenderen strategischen Überlegungen: Schon schnappte Muggie nach ihm! Überstürzt ging er in die Knie – Bei der Wucht, mit der sie sich auf ihn stürzte, stolperte sie über ihn, strauchelte, war erst mal damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten. Sekunden, die er nicht ungenutzt verstreichen ließ! Jäh katapultierte er sich wieder in die Höhe, sprang vorwärts, daß er mehr zu fallen, denn zu pesen schien. Doch er erreichte die Allee, und der feste Asphalt unter seinen Sohlen beschleunigte seinen Schritt. Panik… für Panik war später noch Zeit genug! Nun hatte er sich auf seine Flucht zu konzentrieren. Hatte nichts weiter vor Augen zu haben, als die Biegung der Chaussee, die es zu erreichen galt! War so selbstversunken darüber, daß ihn der plötzliche Eiseshauch in seinem Nacken erzittern ließ: Natürlich! Sie konnten sich ja in Fledermäuse verwandeln! Waren damit weitaus schneller als er… Schon bohrte sich etwas Spitzes in sein Genick – Er konnte nicht ausmachen, ob es Krallen, oder schon spitze Zähne waren. Er rüttelte mit den Achseln, schlug rückwärts aus, doch er bekam die Kreatur nicht abgeschüttelt. Ja, sie verkeilte sich noch fester an ihm, und an dem zunehmenden Gewicht bemerkte er, daß sie erneut menschliche Gestalt anzunehmen begann. Ehe er sich versah, drückte ihn Bibis volle Auflast auf die Schultern – Der schlagartig erhöhte Schwerpunkt brachte ihn aus der Balance; er plumpste vorwärts auf die Schnauze. Konnte gerade noch die Unterarme schützend vors Gesicht halten, aber Fäuste, Knie und Ellenbogen bekamen die volle Wucht des Aufpralls ab. Die Benommenheit langte nach ihm aus, aber er ignorierte sie. Prügelte blind um sich in der Hoffnung, sich befreien zu können. Doch inzwischen war es nicht mehr nur Bibi, die sich auf ihn geworfen hatte: Weitere Verfolgerinnen warfen sich auf ihn, als wäre er der Ball beim Rugby. Nur, daß der Ball das Spiel für gewöhnlich einigermaßen heil überstand! Sie hielten ihn fest am Grund fixiert, daß er kein Glied mehr rühren konnte. Daß ihm jedwede Gegenwehr unmöglich gemacht wurde. So konnte er es nicht mehr verhindern, daß die ersten spitzen Zähne seinen Hals berührten, beängstigend nahe an der vor Herzrasen nur so pochenden Schlagader.
Er war verloren!
In dem Augenblick geschah etwas, mit dem keiner der Anwesenden gerechnet hatte: Bei dem ganzen Gerangel hatte niemand das langsam anschwellende Geräusch bemerkt, daß eindeutig nichts mit dem Tosen des Orkans zu tun hatte. Als der Lastkraftwagen um die Kurve geschossen kam, hatte er ein eindeutig zu hohes Tempo drauf, glauben manche Verkehrsteilnehmer doch, Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten nur vor Sonnenuntergang. Unvermittelt wurde die gesamte Gruppe in den blendenden Schein des grellen Fernlichtes getaucht, und das laute Quietschen der Reifen riß sie alle in die Realität zurück. Tim, er konnte nichts tun, vermochte er sich doch unter seinen Häscherinnen begraben, nicht mehr zu bewegen. So rief er nur wieder Ninettes Bild in sein Gedächtnis zurück, um sie vor Augen zu haben, wenn ihm wieder einmal das Ende nahte, wenn auch diesmal in der profaneren Gestalt eines Trucks.
Er konnte es nicht glauben, daß er ausgerechnet dadurch gerettet wurde, daß man ihn hier so brutal zu Boden drückte. Plötzlich knallte über ihm Blech gegen Fleisch und Knochen, und das Gewicht der Untoten auf ihm verschwand mit einem Mal. Der Lärm zog mit einem kräftigen Luftzug über ihn hinweg, der nach Diesel stank – Er konnte von Glück sagen, daß ihn keiner der massigen Reifen erfaßte! Lediglich einer der Kotfänger aus Gummi patschte kurz gegen seine linke Achsel. Er hustete, als er die Auspuffgase einatmete, und das Vehikel mit der Hinterachse oberhalb seines Steißbeins zum Stehen kam. Irgendwo knallte eine Tür, und das Geräusch von auf den Asphalt springenden Schuhen war zu vernehmen.
„Mein Gott, ist Ihnen etwas geschehen?“ – Tim war noch zu durcheinander, als daß es ihm gelungen wäre, die neue Situation vollends zu erfassen. Eher instinktiv krabbelte er unter dem Gefährt hervor, und nahm am Rande das totenbleiche Gesicht eines Mannes wahr, den er nicht kannte.
„Das ist mir ja noch nie passiert!“, stotterte der Fremde vor sich hin, „Ich fahr‘ sonst immer ganz vorschriftsmäßig. Ich hab‘ noch nicht einmal Punkte in Flensburg.“
Es war ein Mann in den Vierzigern, mit Bartstoppeln und leicht ergrautem Haar. Er trug schlampig anmutende Arbeitshosen und ein kariertes Hemd aus dickem Stoff.
„Der Fahrer!“, erkannte der beinahe Überrollte endlich, der immer noch unter Schock stand, und kaum mitbekam, daß er sich gerade wieder aufrichtete, mit der Hand an der Rückseite des Mehrtonners abgestützt.
„Soll ich Sie zum Krankenhaus fahren?“ – Auch der Kapitän der Landstraße hatte die Situation sichtlich nicht ohne einen gehörigen Schrecken überstanden – „Ich habe Sie nicht gesehen, aber dem Knall nach müssen Sie sich mindestens etwas gebrochen haben.“
Das nächste Krankenhaus lag in Schleswig – Für den Kraftfahrer wäre es mit Gewißheit ein Umweg. Aber es war klar, daß er befürchtete, die Polizei könne hinzugezogen, und sein Tempo auf der Scheibe des Fahrtenschreibers überprüft werden.
Und in Tims Kopf begann es auf eine Weise zu arbeiten, wie es wohl nur mit den gerade erlittenen Traumata zu erklären ist: In Schleswig wohnte Ninette. Sie wollte heute Nacht zusammen mit Jasmin ihren Geburtstag feiern – Wenn die Party nicht bei Carstensens stieg, konnte sie nur bei ihr daheim stattfinden. Also mußte er eben dort hin!
„Mein Vater ist Arzt; der würde mich umsonst untersuchen,“ flunkerte er darum wild drauf los, immer darauf spekulierend, daß er sich auf seinen verwirrten Geisteszustand würde berufen können, sollte man ihn bei einer Unwahrheit ertappen, „Es wäre nett, wenn Sie uns heim fahren könnten.“
Damit meinte er nicht sein wirkliches Zuhause, wo derzeit keine Menschenseele war. Nicht nur, weil er nach der Konfrontation mit den Vampiren nirgends verweilen wollte, wo er allein war: Er mußte schleunigst auf Ninettes Fete, egal wie! Deshalb log er unverfroren weiter: „Voigt heißt mein Vater. Doktor med. Michael Voigt!“
Es war eine durchaus angenehme Vorstellung, den Nachnamen seiner Liebsten im Munde zu führen. Und jemanden als seinen Vater zu bezeichnen, den er sich als zukünftigen Schwiegervater wünschte, ließ es ihm geradezu kribbeln in seiner Brust. Er nannte dem Kraftfahrer auch noch die Gasse, in der sein Herzblatt wohnte.
Unterdessen ließ sich auch Harald wieder sehen, der beim Versuch, dem Truck auszuweichen, wohl in den Knick gesprungen war. Zumindest hatte er Blätter und ein paar abgebrochene Zweige auf der Kleidung und im Haar. Er hielt etwas in der Hand, aber was es war, konnte Tim zunächst nicht genau erkennen.
„Ist Ihnen etwas passiert?“, wurde er auch schon gleich von dem Mittvierziger gefragt, wohl in der Annahme, die Kollision mit dem Lkw hätte ihn in die Vegetation katapultiert.
„Es geht,“ meinte der Angesprochene nur mit verhaltener Stimme, und ließ sogleich erkennen, daß ihm der bisherige Verlauf der Konversation nicht entgangen war: „Tims Vater wird mich schon mit untersuchen. Tim Voigts Vater!“
„Soll ich euch beim Einsteigen helfen?“ – Die Fürsorge des Fernfahrers war wirklich rührend!
„Das geht schon!“ – Haralds Mangel an Eloquenz ließ deutlich erkennen, daß auch er die Hatz der Untoten nicht ganz ohne seelischen Schaden überstanden hatte.
Die Zeit, die sie brauchten, um zur Beifahrerseite zu gehen und dort einzusteigen, bereitete den beiden Halbstarken ein paar Sekunden Privatsphäre.
„Ist das alles wirklich passiert?“, hörte Tim sich fragen.
An Stelle einer Antwort hielt ihm sein Kumpel nur jenen Gegenstand entgegen, den er zwischen seinen Fingern hielt: Es war ein Armreif, just von der Sorte, wie ihn die mit Schmuck überladene Sarah getragen hatte. Sarah, die zu den Acht aus der „Brut“ gehörte. So etwas kann einem schon mal abhanden kommen, wenn man durch die Luft geschleudert wird…
„Wir sollten dem Kerl Dampf machen,“ raunte er, „Lastwagen gehören nicht gerade zu den klassischen Mitteln, um Blutsauger zu vernichten. Ich kann mir vorstellen, daß sie der Zusammenstoß nur betäubt hat, und sie irgendwo in der Nähe rumliegen – Vielleicht rappeln sie sich just in diesem Moment wieder auf und bereiten einen neuen Angriff vor.“
Da machte ihnen der Unfallverursacher aber auch schon von innen die Tür auf, und sie stiegen wortlos ein. Schauten sich bereits furchtsam um, als sie noch damit beschäftigt waren, die Sicherheitsgurte anzulegen. Die finsteren Büsche und Gräser draußen schwankten immer noch im Nachtwind – Da war es nahezu unmöglich auszumachen, ob der eine oder andere Strauch eventuell von einer sich anschleichenden Person bewegt wurde. Oder die Halme dort nicht in Wirklichkeit von den Böen zerzauste Haare waren…

11.
Dornröschenschlaf

„God bless your soul, girl,
now you got  the whole world.
I‘m on my way now.
I‘ll get there somehow…
Have you ever seen the light?
Don‘t you wonder where I hide…“

(Subways: „Oh, Yeah!“)


Zur selben Zeit gab es noch ein anderes Gefährt, das von Tims Heimatort aus Schleswig ansteuerte. Ja, auch hier hatte man das Haus der Voigts als Ziel anvisiert. Freilich nahm dieser rote Opel Corsa eine andere, kürzere Route, als sie der Brummi einschlagen sollte.
Iris saß am Steuer. Sie war nicht unbedingt die schnellste Fahrerin, aber bei der kurvigen Strecke war es auch nicht unbedingt angeraten, zu sehr aufs Gaspedal zu treten. Wenn sie das Abblendlicht eingeschaltet hatte, sorgten die Scheinwerfer für ein quantenmechanisch interessantes Interferenzmuster auf der schmalen Fahrbahn, und die Büsche und Bäume auf den Wällen am Straßenrand schossen Phantomen gleich aus der Dunkelheit hervor. Beim Fernlicht dagegen erstrahlte die Vegetation in einem gespenstischen Licht. Der Wagen passierte schattige Haine und weite Koppeln, und hier und da wurden sogar eine ehemalige, nun von Unkraut überwucherte Müllkippe und einige geheimnisvoll anmutende Hünengräber sichtbar. Die Gegend mußte einem bereits bei hellstem Tageslicht nicht so recht geheuer vorkommen. Äste winkten der Frau am Lenkrad zu im Sturm, als wollten sie jeden Staubgeborenen darauf hinweisen, in welch verwunschene Landschaft er hier geraten war. Und daß die Nacht heute magisch war… beseelt von übernatürlichen Kräften, daß es angeraten schien, die eigenen vier Wände besser nicht ohne entsprechende Schutzvorkehrungen zu verlassen.
„Unsere süße, kleine Prinzessin!“ – Karen saß im Fond und bettete den Kopf ihres Töchterleins auf ihrem Schoß. Sie streichelte das Haar der Schlummernden, dessen Farbe so sehr verriet, wer ihre leibliche Mutter war.
„Meinst du, sie haben den Drachenenkel schon eingefangen?“, kam es vom Fahrersitz her.
„Bestimmt!“, erwiderte die Gefragte, „Falls er auf den Neandertaler gehört hat.“
„Er ist sein bester Freund; warum sollte er nicht auf Nils hören?“
„Weil Nils nur sich und seine Gelüste im Kopf hat; ein brünstiger Rothirsch wäre schwerer zu beeinflussen gewesen. Es ging mir zu einfach! Wenn der Drachenenkel dessen bester Freund ist, weiß er doch, daß er sich mit jemandem abgibt, der aus freiem Willen das Attribut ‚Homo sapiens‘ abgelegt hat. Er müßte wissen, daß so einem Primitivling alles zuzutrauen ist.“
„Er ist ein Mann, Iris, vergiß das nicht.“
„Auch Männer können manchmal einen Geistesblitz haben, ganz besonders, wenn sie das Erbe des Lindwurms in sich tragen.“
„Nicht, wenn sie sich so einen Halbaffen zum Freund aussuchen! Wußtest du, daß der Nils Hip Hop und Gangsta Rap hört?“
„Du meinst die Art von Musik, bei der man irgendeinem gelangweilten Zurückgebliebenen mit Minderwertigkeitskomplexen beim Wichsen zuhört?“
„Und das alles zu einem lahmen und monotonen Rhythmusgerät, genau. Testosteron pur! Für Leute, die eine Melodie schon geistig und emotional überfordert. Stell‘ dir vor, der Nils glaubt doch tatsächlich, in einem Ghetto zu leben, nur weil er sich den Hintern selber abputzen muß!“
„Sowas gibt es aber auch für Frauen! Das nennt sich dann Katzensoul, weil die Sängerinnen sich planlos durch sämtliche Tonlagen wimmern, als würden bei ihnen jede Nacht läufige Kater vor dem Fenster maunzen.“
Das Geläster der beiden Hexen wurde unterbrochen, als Jasmin ein leises Stöhnen von sich gab.
„Sie wird bald wach,“ hauchte Karen liebevoll, und kraulte ihrem Kind noch einmal das Haar, „Meinst du, ihre Freundinnen werden sauer sein, daß sie erst jetzt zur Party erscheint?“
„Die werden andere Sorgen haben,“ wiegelte ihre Lebensgefährtin ab, „Wenn sie wie verabredet erscheinen, den Drachenenkel abzuliefern, werden sie hungrig sein.“
„Ach, es wäre so einfach gewesen, wenn wir alles wie geplant bei uns daheim hätten abwickeln können!“
„So ist es eben, wenn man sich mit den Nachkommen des Basilisken abgibt! Umsonst machen die nichts.“
„Ich hoffe, der Preis ist nicht zu hoch,“ seufzte Karen, „Aber wenn alles vorüber ist, dann wird unser kleiner Liebling hier eine Königin sein.“
Wieder schaute sie voll aufrichtiger Mutterliebe auf die Vierzehnjährige, deren Haupt auf ihren Oberschenkeln ruhte.
„Eine Königin, ja! Nichts Geringeres hat sie verdient,“ hauchte sie.
Aus dem Kofferraum kam ein goldgelbes Funkeln, das eine Konstruktion umgab, die am ehesten an eine Miniatur des Pariser Eiffelturmes erinnerte.

12.
Die Party

„So close now!
So close now …
This is what I am:
I am a man…
You‘re the only one I ever want.“

(Franz Ferdinand: „Michael“)

„My decision is
your decision is
my decision is
your decision is
love!“

(Deine Lakaien: „Your Decision“)


Tim und Harald sie brauchten ihrem unverhofften Chauffeur gar nicht erst „Dampf“ zu machen. Es mochte sein, daß er seinen engen Zeitplan trotz dieses Zwischenfalls immer noch einzuhalten gedachte, daß er immer noch unter Schock stand, oder es einfach gewohnt war, mit einem Affenzahn zu fahren; auf jeden Fall fuhr er bereits rasant an, und bretterte über die schmale Chaussee, daß er die nächsten unerwarteten Passanten sicherlich auch noch auf der Stoßstange mitgenommen hätte. Dabei nahm er einen kleinen Umweg in Kauf, gab es hier draußen in der Wildnis doch kaum eine Wendemöglichkeit für sein wuchtiges Gefährt. Freilich hatte er in seinem Ungetüm auch weniger zu befürchten, als etwa der Lenker eines Pkws, von einem völlig ungeschützten Radfahrer einmal ganz abgesehen! So schossen sie um die Kurven, nahmen eine Kreuzung, ohne sich wirklich umzuschauen („Wenn da einer kommt, dann hat er auch Licht an.“), und drosselten die Geschwindigkeit auch nicht, als links und rechts schon wieder Häuser und Laternen standen. Endlich ging es auf die B 201, und wenn auch hier ein paar Dörfer auf der Route lagen, deren Tempolimits ein klein wenig „großzügig“ ausgelegt wurden, so war die Strecke doch breiter, gerader und übersichtlicher – Man brauchte sich weniger Sorgen um mögliche weitere Intermezzos machen. Zumal die beiden Jungs ganz andere Dinge beschäftigten: Immer wieder guckten sie unruhig aus dem Fenster, ob sie vielleicht von Fledermäusen begleitet wurden. Oder ob da möglicherweise Geräusche vom Wagendach her kamen, die darauf hindeuten mochten, daß es einen oder mehrere blinde Passagiere auf dem Mehrtonner gab. Sie konnten keinerlei Hinweise entdecken, die für eine weitere Verfolgung sprachen, aber das Grauen steckte ihnen noch zu tief in den Knochen, als daß sie die Paranoia so einfach hätten abschütteln können. Ja, als sie Schuby erreichten, ließ sie der Anblick eines hundsgewöhnlichen Fußgängers erzittern! In dem orangegelben Schein einer Natriumdampflampe sah er aber auch wirklich ein bißchen geisterhaft aus. Zum Glück waren die Bahnschranken oben, so daß es von dieser Seite her keine Verzögerungen gab.
Es mag nicht verwundern, daß die Teenager im Verlauf der Fahrt nicht sonderlich gesprächig waren. Dafür plapperte der Mann am Steuer um so mehr, wohl um seine ganz persönliche Beklommenheit zu verarbeiten. Mehrfach entschuldigte er sich für seine Unaufmerksamkeit, lieferte Beispiele dafür, wie zuverlässig und rücksichtsvoll er normalerweise sei, und nannte ihnen Namen und Adresse für den Fall, daß bei ihnen doch der eine oder andere körperliche Schaden festgestellt werden sollte. Schließlich brauchte es nicht viel, um sich ein Schleudertrauma zuzuziehen! Er berichtete auch, daß er Familienvater sei, und sich lieber gar nicht erst vorstellen mochte, was passieren würde, sollte eines seiner Kinder gerade auf der Straße sein, wenn ein Truck um die Kurve geschossen kam.
Die Knaben aber, sie hörten nur mit halbem Ohr hin. Nickten oder brummten von Zeit zu Zeit, um Aufmerksamkeit vorzutäuschen, während sie weiter bange die Umgebung beäugten. Mehr und mehr aber wurden sie von einer neuen Unruhe erfaßt, die exponentiell anstieg, als sie die Stadtgrenze Schleswigs passiert hatten: Würden sie noch rechtzeitig auf der Fete eintreffen? Sie waren viel zu spät dran, und die Chancen standen nicht unbedingt günstig. Hätten sie sich doch nur nicht in die Irre führen lassen und den Carstensen- Hof aufgesucht!
Und wer hatte sie dort hin gelotst? Natürlich Nils, der offenbar Harald in Verdacht gehabt hatte, Verfasser des anonymen Zettels gewesen zu sein. Nils, der seinen Kumpel auf die falsche Fährte gelockt, und dadurch jetzt mindestens zwei oder drei Stunden freie Bahn gehabt hatte! Nils und Ninette – Sie paßten schon dem Namen nach wunderbar zusammen! Und bei Tim biß sich sogar das Sternzeichen mit dem seiner Angebeteten, wenn die Horoskopbeilage der Fernsehzeitschrift recht hatte! Das Schicksal selbst mußte etwas dagegen haben, daß er zu seinem Glück fand. War vermutlich immer auf der gegnerischen Seite gewesen, denn wie war es sonst zu erklären, daß er nicht schon längst mit ihr zusammen war, so wie es der Logik der an Sonntag Nachmittagen ausgestrahlten Liebesfilme zufolge gar nicht anders sein dürfte? Schließlich waren sie beide füreinander bestimmt, das spürte er tief in seinem Innersten, und so etwas konnte, so etwas durfte nur zu einem Happy End führen – Alles andere würde den Gesetzen Hollywoods widersprechen! Da Tim mit der erwiderten Liebe in der Realität noch keine großen Erfahrungen hatte, blieb ihm zum Vergleich keine andere Bezugsquelle. Die Vorstellung, es könne doch alles anders laufen, und er allein zurückbleiben, fühlte sich an wie der Pflock im Herzen, den er sich bei den Untoten gewünscht hatte. Schließlich wußte Ninette ja noch nicht einmal was von seinen Gefühlen, und nur in seinen Träumen und Phantasien war es ihm gelungen, sie wirklich daraufhin anzusprechen. Damit wäre sie sogar gänzlich unschuldig, wenn sie dem Drängen ihres Klassenkameraden arglos und geschmeichelt nachgab! Allerdings bezweifelte Tim, ob er auch im anderen Falle überhaupt jemals in der Lage gewesen wäre, ihr nur den geringsten Vorwurf zu machen (Schließlich fand er ja sogar ihre großen, runden Ohren süß!). Nur sich selbst könnte er schelten, für seine Feigheit und seine Unfähigkeit, zu den eigenen Emotionen zu stehen! So fing er jetzt schon damit an, sich zu zerfleischen, obwohl das Schicksal seiner Liebsten noch so ungewiß war wie das von Schrödingers Katze. Aber immer wieder wurden seine Kümmernisse durchsetzt von wildem Herzrasen und dem Drang, irgend etwas zu unternehmen, egal was. Ruhig auf dem Beifahrersitz eines Lkws hocken zu bleiben und abzuwarten, war das Letzte, wozu er sich berufen fühlte!
Endlich hatte der Mehrtonner die Gasse erreicht, in der sein Herzblatt wohnte! Mit den Hausnummern kannte sich der Fernfahrer aus verständlichen Gründen nicht aus, aber Tim war zu oft in so mancher Freistunde hier entlang spaziert, um zu gucken, wo sein Schwarm wohnte, als daß er das Gebäude nicht automatisch gefunden hätte. Es wäre ja auch ausgesprochen peinlich gewesen, wenn der angebliche Sohn des Doktor med. Voigt noch nicht einmal gewußt hätte, wo er zuhause war!
Die beiden Jungs ließen sich nicht allzu viel Muße mit dem Ausstiegen. Sie bedankten sich rasch bei ihrem Chauffeur, der ihnen noch einmal Name und Adresse hinterher rief, und winkten ihm zum Abschied.
Der Sturm tobte weiter mit aller Gewalt, als hätte sich das hormonelle Chaos eines verliebten Teenagers physisch manifestiert. Frostige Wirbel umspülten ihnen die Gliedmaßen wie Strudel tückischen Wassers. Ein Aufenthalt im Freien war ohne Fahrtenschwimmer wirklich lebensgefährlich! Etwas wie Silhouetten oder düstere Wolken huschte vom Wind getrieben über den unebenen Grund, daß man kaum mehr die eigenen Füße sehen konnte, und als ob der Gleichgewichtssinn nicht schon genügend Probleme hätte, brachte einen jede unerwartete Bodenwelle in Gefahr zu straucheln. Zu stürzen, und sich Haut und Knochen aufzuschlagen an etwas, das sich lauernd unter dem Schleier der Finsternis verborgen hielt.
Aus den geöffneten Fenstern des Gebäudes, vor dem man sie abgesetzt hatte, drangen die Klänge eines aus den aktuellen Charts vertrauten Pop- Stückes – Es war bei all dem Getöse kaum zu vernehmen. Hier wurde ziemlich eindeutig gefeiert… Sie hatten ihr Ziel erreicht! Aber auch noch zur rechten Zeit?
Jetzt hieß es, auf die Party zu gelangen. Ein niedriges Mäuerchen trennte den Garten der Voigts vom Trottoir. Es war Harald, der das kleine Eisengatter öffnete. Daran schloß ein schmaler Pflasterweg an, der genau vor den Stufen zur Eingangstür führte.
„Komm!“, raunte er.
Doch Tim, er verspürte schlagartig wieder die Beklemmungen, die ihm schon auf dem Pausenhof jedweden Kontakt mit seinem Herzblatt unmöglich gemacht hatten. Während hinter ihm der Lastwagen davon brauste, wurde er sich bewußt, daß er justament vor dem Heim seiner Angebeteten stand. Daß er drauf und dran war, sich auf ihr Grundstück zu begeben – Dorthin, wo er als völlig Fremder überhaupt nichts zu suchen hatte! Geschweige denn auf ihrer ganz privaten Geburtstagsfeier… Wie würde sie darauf reagieren? Mit Befremden, gewiß! Sie würde ihn rausschmeißen, für immer böse auf ihn sein ob seiner Unverfrorenheit. Alle Chancen, die er jemals bei ihr gehabt hätte, würden auf ewig den Bach herunter geflossen sein. Ja, er mochte sie damit Nils sogar unmittelbar in die Arme treiben! Und der würde sich die Gelegenheit bestimmt nicht entgehen lassen, sie an sich zu drücken, um sie vor derlei „Belästigungen“ zu beschützen.
„Komm!“, wiederholte Tims Gefährte seine Aufforderung, diesmal eine Spur lauter.
Der Angesprochene handelte wie in Trance. Leistete dem Befehl mehr Folge aus genereller Angst, jemanden zu verstimmen (so wie gleich Ninette?), als daß er seinem eigenen Willen gehorchte. Denn der war bei all dem Durcheinander unterschiedlichster, aber allesamt von Leidenschaft durchtränkter Impulse, das sein Denken unter Wasser setzte, kaum mehr existent. Gerade mal eine Art Notprogramm lief, dessen oberstes Ziel es war, niemandem etwas von dem merken zu lassen, was sich da im Schädel des Halbwüchsigen abspielte. Ein Notprogramm, geschult in all den Jahren, in denen er sich vor den Hänseleien seiner Klassenkameraden in Acht zu nehmen hatte, die aufmerksam nach jeder Schwachstelle Ausschau gehalten hatten! Und doch vermochte es kaum, die Fluchtinstinkte im Zaum zu halten.
Selbst die Konturen der Bäume im Garten zeichneten sich in der mit den Böen kommenden Finsternis nur unscharf von dem umgebenden Schummer ab, und kamen einem damit wie Gespenster vor, die ohne Vorwarnung aus dem Dunkel erscheinen. Einige reflektierten noch schwach das vom Haus her kommende Licht auf der Borke, was sie nur noch unheimlicher wirken ließ. Andere waren nurmehr schwarz inmitten der Schwärze, wie im Verborgenen lauernde Ungeheuer, doch alle griffen mit ihren knochigen Zweigen nach allem aus, was der Wind auf sie zu jagte. Fauchten mit ihren finsteren Wipfeln wie gräßlich mutierte Monsterkatzen mit weit geöffneten Rachen. Das Unkraut um ihre Stämme herum winkte schaurig mit den Blättern, als wollte es jeden ahnungslosen Wanderer unter die Erde zu ihren Wurzeln locken.
Tim nahm den Klang seiner Schritte auf den Wegplatten kaum wahr. Er hatte es getan! Hatte die Schutz versprechende Anonymität des Bürgersteiges verlassen und fremden Besitz betreten. Obwohl die Elemente an ihm zerrten, als wollten sie ihn auf die Gasse zurück scheuchen. Wenn man ihn hier ertappte, würde es ihm nicht mehr ganz so leicht fallen, sich herauszureden. Welchen Grund hätte er auch nennen können, würde ihn jemand nach dem Grund seiner Anwesenheit fragen? Auf jeden Fall nicht den wahren…
Er versuchte, sich notdürftig damit zu trösten, daß er immer noch umkehren könne. Das Hasenpanier ergreifen, sobald unvermittelt jemand aus dem Fenster lugen, oder um die Ecke biegen sollte. Dies galt selbst für Nachbarn oder zufällig vorbei schlendernde Passanten. Im Schutz der Dunkelheit würde man ihn eventuell sogar nicht erkennen, wenn er nur schnell genug davon peste? Auch wenn ihm das Laufen bei den schlotternden Knien möglicherweise gar nicht so leicht fallen würde…
So traute er sich zumindest schon mal bis unmittelbar vor die drei steinernen Stufen, die zur Haustür empor führten. Dieser Bereich allerdings wurde von einer kleinen Wandlaterne illuminiert, und die Visage seines Kumpels, der sich bereits bis hierher vorgewagt hatte, war weithin zu erkennen.
In dem Jaulen der Böen schienen inzwischen Worte zu stecken. Worte, so artikuliert wie die verstörten Hilferufe eines im Alptraum Sterbenden. Andere dagegen klangen mehr wie die von Frankensteins Kreatur nach seinem ersten Blick in den Spiegel. Und wieder andere hatten gar nichts Menschliches an sich; schienen am ehesten den Lauten im Rudel jagender und hetzender Wölfe verwandt. Aber es waren nicht nur Geräusche: Auch, wenn die Vernunft keine verläßlichen Indizien hierfür finden konnte, so kam es einem doch so vor, als hätte dieser Orkan Pupillen, daß man sich mit jedem Windstoß aufs Neue beobachtet fühlte. Als wäre er kein natürliches Phänomen, sondern die Ausgeburt sämtlicher abscheulicher Oneirodynien, welche die Schlafenden in der ganzen Stadt heimsuchen mußten.
Tim spürte auf einmal wieder seine Blase, als seine Hand von dem Lichtkegel erfaßt wurde. Doch hier einfach so in den Garten seiner Angebeteten zu strullen, kam nicht in Frage! Auch wenn ihm das ein paar weitere Sekunden verschafft hätte, um sich innerlich zu sammeln.
Freilich mochten das auch die entscheidenden Sekunden sein, die er dann zu spät kommen würde, um sie noch vor den lüsternen Trieben eines Nils zu retten!
Es mußte sein! Es mußte sein! Er biß sich auf die Unterlippe, hielt die Luft an und tat den Schritt in die Helligkeit hinein, mit einer Entschlossenheit, die allein der Selbsttäuschung diente. Doch sein Körper, er ließ sich nicht so einfach übertölpeln! Zitterte und klapperte so ungeniert, daß auch das Notprogramm nicht mehr ausreichte, um vor Harald die eigene Unsicherheit zu verbergen. Und das, wo er die alles verbergende Finsternis gerade hinter sich gelassen hatte! Wo der Schein der Lampe jede seiner Regungen mit unbarmherziger Deutlichkeit enthüllte! Wenn er jetzt davor zurückschreckte, die Treppe zu erklimmen, würde er sich ihm gegenüber endgültig als Memme blamieren.
Also nahm er die erste Stufe, und war es auch nur, um das Bibbern seines Leibes als optische Täuschung erscheinen zu lassen. Innerlich aber war er ganz woanders. Er gab sich der irrigen Hoffnung hin, das heute Nacht schon nichts passieren würde, und er am nächsten Schultag Gelegenheit genug haben würde, seinen Schwarm anzusprechen. Oder am übernächsten… Schließlich war es in seiner Phantasie ja so einfach! Warum er gerade dann den nötigen Schneid haben sollte, wo ihm bisher doch immer regelmäßig die Courage verlassen hatte, daran wollte er lieber nicht denken. Bei dem Muffensausen, das ihn vom Scheitel bis zur Sohle erfaßt hatte, war ihm ganz und gar nicht nach komplexeren Überlegungen.
Die zweite Stufe!
Er wußte nicht, welcher Teil seiner selbst die Füße dirigierte. Die Haustür schwebte auf ihn zu wie im Traum. Alles um sie herum schien zu verschwimmen, an Realität zu verlieren. Fast kam es ihm so vor, als würde er sich erneut dem Stall der Carstensens nähern, in dem die Untoten auf ihn lauerten.
Heute Nacht würde nichts geschehen… nächste große Pause… ganz bestimmt!
Die dritte Stufe… die letzte!
Jetzt stand er unmittelbar vor dem Eingang, zu allem Überfluß auch noch auf der linken Seite, wo sich die Klingel befand. Noch war Gelegenheit, auf dem Absatz kehrt zu machen, und auf eine spätere, auf eine scheinbar bessere Gelegenheit zu spekulieren…
„Letztes Mal hab‘ ich geschellt. Jetzt bist Du dran!“ – Harald mit seiner entwaffnenden Logik! Just als würde er wieder einmal über seine Theorie zur geometrischen Winkelunterteilung plaudern! Konnte er es denn nicht sehen, wie es um seinen Freund bestellt war? Nun stand Tim in der Pflicht, just als hätte ihm daheim gerade der Vater befohlen, den Rasen zu mähen. Würde er jetzt noch damit anfangen, alles auf einen späteren Termin zu verschieben, er würde seinem Gefährten nicht mehr unter die Augen treten können.
Also streckte er den Finger aus. Den zitternden Zeigefinger. Fixierte den Druckknopf wie ein kleiner Bengel den knurrenden Kettenhund… und empfand auch ganz ähnlich! In seinem Leib prickelte es, als hätte jemand eine Sektflasche entkorkt. Sein Zeitsinn setzte aus, auch wenn da so etwas wie das Pendel einer monströsen Turmuhr in seinem Schädel hin und her schlug. War schon eine Minute verstrichen, oder noch nicht einmal eine Sekunde? Auf jeden Fall hatte er den Schalter immer noch nicht berührt; der entscheidende Moment lag weiterhin vor ihm. Hätte er es doch nur schon hinter sich gebracht!
Doch auch nach der nächsten scheinbar ewigen Phase banger Geistesabwesenheit hatte sich seine Flosse gerade mal um wenige Zentimeter der Klingel genähert.
Er glaubte, Haralds ungeduldige Blicke auf der Haut seiner rechten Wange zu spüren, und so gewann ganz kurzfristig wieder seine Furcht, als Angsthase dazustehen, die Oberhand. Was war schon dabei, wenn er den Arm ein wenig weiter vorstreckte?
Freilich steckte er sich dabei vor lauter Fracksausen allzu linkisch an: Ein instinktives Zucken durchfuhr ihn, als er das kalte Plastik an seiner Fingerkuppe spürte. Ein Impuls, der ihn eigentlich die Hand hatte zurückziehen lassen wollen, just als hätte ihn eine Wespe gestochen – Doch er bibberte so sehr, daß er seine Griffel nicht ruhig halten konnte, und so war es sein Zittern, das die Schelle läuten ließ. Mehrmals hintereinander und jeweils auffallend kurz, ganz im Rhythmus seines Schlotterns.
„Hoffentlich ist keiner da! Hoffentlich ist keiner da!“, redete er innerlich auf sich ein, und verdrängte dabei ganz, daß da ja Musik aus dem geöffneten Fenster über ihm kam.
Doch alles Wünschen war vergebens: Durch das opake Glas der Haustür war auszumachen, wie sich ein Schatten auf sie zu bewegte. Sie waren also gehört worden. Schon senkte sich die Klinke. Mit lautem Knirschen. Seine gesamte Anatomie verfiel in Schreckensstarre. Rien ne vas plus!
Die Tür öffnete sich wie der Rachen eines Komodowarans. Gab Zoll um Zoll den Anblick eines blonden Mädchens mit kurzem Näschen preis – Es war dasjenige, das er schon einige Male in der Gesellschaft seiner Angebeteten gesehen hatte, ohne ihren Namen zu wissen.
„Moin, Conny!“, sprang sein Kumpane da in die Bresche, „Besser zu spät als nie, nicht wahr? Ich hab‘ einen Kumpel mitgebracht… Das ist Tim aus der Parallelklasse. Tim, das ist Conny aus meiner Klasse.“
Der Vorgestellte fühlte sich wie ein Marionettenspieler seiner selbst, dessen Fäden sich rettungslos miteinander vertütelt hatten. Er konnte nur hoffen, daß er schon das Richtige tat, wenn er an dem einen oder anderen Strang zog. Immerhin gehorchte ihm seine Pranke, als er sie der nur flüchtig Bekannten entgegen hielt, und seine trockene Kehle würgte sogar etwas zwischen den tauben Kiefern hervor, daß sich mit etwas gutem Willen als „Hallo!“ interpretieren ließ. Tatsächlich aber war er immer noch nicht ganz bei der Sache, starrte er doch aus bange geweiteten Pupillen auf die Mimik der Pennälerin. War da nicht eine Spur des Mißtrauens in ihrem Blick? Gar eine Nuance des Abscheus? Nach dem Motto: „Was will der denn hier?“
Doch wenn dem so war, aussprechen tat sie es auf jeden Fall nicht. Sie schüttelte seine Flosse, wie es der Anstand gebot, um sich sogleich wieder an seinen Gefährten zu wenden: „Das Geschenk könnt ihr oben in Ninettes Zimmer auf dem Tisch zu den anderen stellen. Ihr habt doch an ein Geschenk gedacht, oder?“
Das Geschenk! Tim hatte es doch gewußt, daß er hier in peinliche Situationen geraten würde! Natürlich hatten sie daran gedacht: Die CD befand sich geschmackvoll verpackt in der Satteltasche von Haralds Fahrrad, und das stand immer noch auf dem Hofplatz der Carstensens, viele Kilometer weit weg von hier. Damit war alles verpatzt! Er sah es schon vor sich, wie ihnen die Tür vor den Riechkolben zugeschlagen wurde.
Da allerdings zückte sein Gefährte den Armreif, den er unweit des Knicks gefunden hatte, in den er beim Herannahen des Lkws gesprungen war. Der einer Vampirin gehört hatte… Nicht unbedingt ein übliches Mitbringsel für eine Vierzehnjährige, aber besser als nichts.
„Mensch, sieht das teuer aus!“, staunte die Empfangsdame, „Wollt ihr euch mit Ninette verloben, oder was?“
„Iwo!“, griente Harald, und fing sogleich an, schamlos zu flunkern: „Den haben wir auf dem Flohmarkt entdeckt. War aber immerhin teuer genug, daß wir beide unser Taschengeld zusammenlegen mußten. Darum sind wir auch zu zweit hier.“
Conny konnte es nicht lassen, sich das Schmuckstück probeweise einmal umzulegen, und mimte mit einem schelmischen Feixen im Gesicht das Model auf dem Laufsteg. Als ein paar zufällig über den Flur schlendernde Gäste männlichen Geschlechts dazu johlten, und einer gar „Ausziehen!“ brüllte, streckte sie ihnen ihre rote Zunge entgegen, und gab Harald die Pretiose zurück.
„So, jetzt habe ich den Ring ausgezogen,“ gab sie den Lästerern burschikos Paroli, „Seit ihr jetzt zufrieden?“
„Scheiß Peepshow!“, flachste da einer von ihnen, „Ich will mein Geld zurück!“
„Weiß dein Papa eigentlich, wofür du dein Taschengeld ausgibst?“
„Weiß deine Mama eigentlich, daß ich sie mit meinem Taschengeld regelmäßig angucken kann?“
„Ja, durchs Küchenfenster!“
„Ihr strippt bei euch in der Küche?“
„Wovon träumst du eigentlich nachts?“
Die beiden Neuankömmlinge waren auf jeden Fall erst einmal vergessen.
Sie schlossen die Tür hinter sich, und schauderten leicht, als es ihnen so vorkam, als würden die wütenden Böen, deren Tosen nun fast wie ein überlautes, menschliches Hauchen klang, so etwas wie nebelhafte Schlieren in den Garten blasen. Schlieren, deren Konturen an Arme, Beine und Köpfe gemahnten… Sie sperrten sie aus.
„Dann laß uns man hochgehen und dem Geburtstagskind unsere Aufwartung machen,“ kam es aus Haralds Mund, ganz als wäre es das Natürlichste auf der Welt, Ninette Auge in Auge gegenüberzutreten. Natürlich! Er hatte ja jeden Tag mit ihr zu tun, und verknallt in sie war er auch nicht! Für ihn würde es nicht viel anders sein, als würde er sie irgendwann vor Unterrichtsbeginn fragen, ob er die Hausaufgaben von ihr abschreiben dürfe. Aber für Tim? Der befand sich auf ungewohntem Terrain, und die Aussicht, daß unter den hier Feiernden jemand ihm Bekanntes war, war dem ersten Eindruck nach eher gering. Dabei schien hier jeder den anderen zu kennen, und er hatte nur die Gesellschaft seines Freundes, in die er sich flüchten konnte. Seines Freundes, der dazu noch seine ganz eigenen Interessen hatte, um hier auf der Sause aufzukreuzen! Und der gewiß auch mit dem einen oder anderen Klassenkameraden über Dinge plaudern mochte, bei denen sein Begleiter nicht würde mitreden können!
Sie durchquerten den Flur, direkt auf eine hölzerne Wendeltreppe zu. Links davon befand sich eine offenstehende Tür, hinter der Teile eines in rosa eingerichteten Badezimmers sichtbar wurden. Dem kitzelnden Druck in seiner Blase nach, würde Tim diese Lokalität im weiteren Verlauf des Abends gewiß nicht nur einmal aufsuchen. Doch erst einmal ging es die mit einer Art Teppich ausgelegte Treppe aufwärts, der Musik und der allgemeinen Geräuschkulisse entgegen. Er versuchte, die anschwellende Befangenheit ein wenig zu verdrängen, indem er kaum hörbar „Mademoiselle Ninette“ vor sich hin summte – Um es zu pfeifen, dazu war sein Mund zu trocken.
Ein Langhaariger aus Haralds Klasse torkelte ihnen entgegen – Er hieß „Hans“, das wußte Tim von einer Anekdote her. Es wurde nämlich erzählt, einer der berüchtigtsten Lehrer seiner Schule wäre eines Tages in den Unterrichtsraum gekommen und hätte gemotzt: „Das stinkt ja hier wie im Puff!“ Der breit feixende Hans hätte da ziemlich penetrant nach dem Haarwasser seines Vaters geduftet, das er des Alkohols wegen zum Frühstück getrunken hätte.
Nun, die Flasche, die er Harald zur Begrüßung entgegen hielt, enthielt auf jeden Fall nichts, das für die Frisur bestimmt war. Aber es schmeckte ganz so: Als Tim die auch ihm gereichte Flasche ansetzte, brannte es ihm sogleich in Mund und Hals.
„Ist Absinth,“ griente der Spender da, „Fünfundsiebzig Umdrehungen! Erst seit kurzem wieder legal... nur für Volljährige, versteht sich!“
Wie er da an eine Buddel gekommen war, verschwieg er freilich. Aber zumindest Harald schien es nicht zu interessieren, denn sein Kommentar ging in eine ganz andere Richtung: „Eins A Mutmacher! Komm, Tim, du kannst bestimmt auch noch ein oder zwei Schlücke vertragen.“
Immer dieser Gruppenzwang! Dem Angesprochenen war ganz und gar nicht danach, seinen Rachen ein weiteres Mal dieser Tortur auszusetzen. Also nahm er sich vor, die Flasche recht martialisch anzusetzen, daß der Boden in Richtung Decke wies, in Wirklichkeit aber die Luft anzuhalten, und damit auch die Speiseröhre zu verschließen. Es würde schon niemandem auffallen, daß sich der Pegel des Gesöffs dann um keinen Millimeter senkte… Das war zumindest der Plan. Doch mit der Ausführung von Plänen hatte es bei ihm schon immer unvorhergesehene Probleme gegeben…
Gerade, als er das Glas zwischen den Lippen, und den Kopf im Nacken hatte, drängte ein kleines Grüppchen von Leuten die Stiege herunter. Er wurde versehentlich angerempelt, und dabei atmete er erschreckt durch die Nase ein. Die Gurgel öffnete sich, und gleich ein ganzer Schwall Absinth schoß ihm die Kehle abwärts. Hastig wollte er absetzen, aber er wurde wieder angestoßen, daß sein Ellenbogen erst nach mehreren Sekunden Raum genug fand, um sich wieder zu senken. Nur zu gerne hätte er alles wieder ausgespuckt, aber er befand sich ja im Heim seiner Liebsten, und da konnte er nicht einfach auf den Teppichläufer speien. Also schluckte er widerwillig alles runter, mit einer Miene, als wären ihm links und rechts kleine Haken in die Gesichtshaut gedrungen, an denen jemand zog. Sein Magen revoltierte sofort, und nur ein hastiges Luftschnappen hielt ihn davon ab, sich an Ort und Stelle zu übergeben.
Als er sich wieder soweit unter Kontrolle hatte, schaute er in zwei Paar weit aufgerissene Augen, und hätte er über das nötige Fachwissen verfügt, hätte er Hans wie Harald bei ihren offenen Mündern eine komplette zahnmedizinische Diagnose liefern können.
„Einen Mutmacher brauchst du jetzt auf jeden Fall nicht mehr,“ kam es schließlich tonlos von seinem Kumpel.
„Aber ich!“, lautete Hans‘ Reaktion, der sich auf den Anblick hin selbst ein paar Zentiliter auf einmal gönnte.
„Ihr seid echt in Ordnung,“ lallte er schließlich, „Echt in Ordnung!“
Dabei torkelte er allerdings abwärts, und kurz darauf war das Geräusch der sich schließenden Waschraumtür zu vernehmen.
Zu dem Zeitpunkt allerdings hatte sich Harald schon wieder auf den Weg weiter nach oben gemacht, und seinem Begleiter blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, obwohl ihm immer noch alles andere als wohl zumute war. Der Lärm nahm mit jedem Schritt zu, und es stank sogar ein bißchen nach Zigarettenqualm. Dafür wurde es zunehmend düsterer: Hatten im Flur noch die Lampen gebrannt, so war der gesamte erste Stock in Stile einer Diskothek ausstaffiert. Eine bunte Lichterkette zierte die Wand des oberen Korridors, und in der Kammer zur Rechten, aus der die Musik dröhnte, war das Leuchten einer weiteren zu erkennen. Die beiden Freunde traten ein und erblickten gleich eine ganze Meute in dem Schummer nahezu gesichtsloser Feiernder. Die meisten hockten mit dem Rücken zur Wand, teils auf einem Bett, das Ninette gehören mußte, teils auf eigens auf dem Boden ausgebreiteten Matratzenteilen. Der angesprochene Gabentisch war leicht auszumachen; er stand unmittelbar neben der Stereoanlage und dem CD- Rack. Ein paar Gestalten waren aber auch in der Mitte des Zimmers am Tanzen. In einer Ecke stapelten sich ein paar Kisten mit Cola, nebst einigen Packungen Salzgebäck und mehreren Chipstüten, die aber allesamt leer waren – Offenbar hatte man mit weniger Besuchern gerechnet. Das aber auch noch andere Dinge konsumiert wurden, dafür sprachen die hier und da herumstehenden Bierflaschen und -dosen. Kaum eine Sorte war mehr als zweimal vertreten, und es war auch nirgends ein dazu gehöriger Kasten auszumachen: Es sprach einiges dafür, daß es sich dabei um die Mitbringsel einiger Gäste handelte, die sie heimlich aus dem Keller ihrer Eltern hatten mitgehen lassen.
Harald plazierte den Armreif zwischen einer Krümelmonster- Puppe, mehreren Sorten Schokolade und einem Päckchen, das noch ungeöffnet war. Da sprach ihn auch schon ein Klassenkamerad an, und prompt gerieten sie ins Schnacken. Über eine Englischarbeit, die sie unlängst ohne Vorankündigung hatten schreiben müssen, und wie unverschämt das von der Lehrerin gewesen sei. Ein Thema, bei dem Tim nicht mitreden konnte.
Also guckte der sich nach bekannten Gesichtern um. Inzwischen konnte er in dem Halblicht die Anwesenden einigermaßen voneinander unterscheiden. Ja, es waren sogar ein paar Leute aus seiner eigenen Klasse da, auch Jungs… aber nicht sie waren es, nach denen er Ausschau hielt. Mit erneut ansteigender Pulsfrequenz. Wo war nur seine Angebetete? Er konnte sie nirgends ausmachen. Hatte Conny unten nicht gesagt, sie sollten hochgehen und ihr Geschenk auf den Tisch legen? Von „persönlich überreichen“ und „gratulieren“ war gar nicht die Rede gewesen. Demnach mußte die Empfangsdame wissen, daß das Geburtstagskind nicht hier sein würde.
Aber wo war es dann?
Mit stillem Entsetzen fiel ihm auf, daß auch Nils nicht hier war. Nils, von dem er doch genau wußte, daß er hier hatte aufschlagen wollen!
Eins plus Eins gibt Zwei.
Er war zu spät! Sie waren zu spät gekommen! Nils und Ninette, sie hatten einander gefunden, und sich in eine intimere Atmosphäre zurückgezogen! Würden jetzt selbstvergessen miteinander knutschen, wenn nicht sogar noch Schlimmeres tun! Wieder verspürte Tim die Hyperaktivität, die Unrast, irgendetwas zu unternehmen, egal was. Sein Herz pochte schneller als die Beats aus den Boxen, und das Blut schoß ihm in den Kopf. Noch war nichts sicher! Noch mochte sich alles als harmlos erweisen… Doch in seinem Innern läuteten bereits sämtliche Glocken Alarm. Auch die Totenglocken.
Nein, ihm war wirklich nicht danach, sich zu irgend jemandem zu setzen und ein Gespräch anzufangen. Lieber hätte er in aller Hast sämtliche Räume abgeklappert, nur um endlich auf sein Herzblatt zu stoßen. Um Gewißheit zu haben… aber ein Rest vernünftigen Denkens inmitten all dieser Gefühlsaufwallungen riet ihm, daß er erfolgreicher sein würde, wenn er einfach jemanden fragen würde, wo die Gastgeberin abgeblieben sei.
Stefan kam ihm da gerade recht. Sein Klassenkamerad Stefan, der mit seiner Freundin Ute hier war. Sie kauerte neben ihm auf einer der Matratzen, quatschte aber mit dem Mädel zu ihrer anderen Seite. Damit war er der ideale Kandidat für entsprechende Erkundigungen. Auch wenn sich die Sportskanone sonst nicht mit jemandem wie Tim abgab.
„Moin, du auch hier?“ – Ehe der vernachlässigte Liebhaber reagieren konnte, hatte sich der Neuankömmling auch schon neben ihm niedergelassen, und begann eine Unterhaltung, just als wären sie auch in der Schule die allerbesten Kumpane: „Woher kennst du denn die Ninette?“
Es erstaunte den Redenden selbst, wie leicht es ihm fiel, jemand anderem gegenüber den Namen seiner Liebsten auszusprechen.
„Ute kennt sie,“ war der lapidare Kommentar des Angesprochenen, und er machte nicht den Eindruck, als ob er Lust dazu verspürte, sich in eine längere Konversation verwickeln zu lassen.
Also gab sich Tim einen Ruck, und näherte sich einen weiteren Schritt dem Thema, das ihn eigentlich beschäftigte: „Wo ist das Geburtstagskind eigentlich?“
Jäh kehrte die Unsicherheit zurück, als Stefan ihn etwas scheel ansah, so als wollte er fragen, wieso ihn das interessiere, darum fügte er hastig eine leicht gestotterte Erklärung hinzu: „Ich bin mit Harald da, und der wollte ihr gratulieren, aber sie war nicht da.“
Eigentlich hoffte er, da ihm diese Ausflucht weitere peinliche Momente ersparen würde, aber da wandte sich sein Nachbar doch glatt zu seiner Freundin um und erkundigte sich bei ihr, ob sie etwas über den Verbleib der Verschollenen wußte. Zu allem Überfluß glotzte die auch noch direkt auf Tim, und meinte, sie hätte sie zuletzt mit Nils zusammen gesehen.
Irgendwo hinter der Anlage war ein ganzer Stamm Indios versteckt, und sie schossen alle auf einmal in Curare getränkten Pfeile aus ihren Blasrohren ab – Keiner davon verfehlte Tim. Ninette und Nils! Dann war es also wahr!
„Wo sind die denn hin?“, hörte er sich nachhaken, obwohl keine einzige seiner Grauen Zellen mehr in der Lage war, vor Entsetzen einen klaren Satz zu formulieren.
„Wer weiß?“ – Er hätte seinen Gegenüber für dieses zweideutige Grinsen ohrfeigen können!
Und Ute gar alberte mit ihrer Gesprächspartnerin, und gickelte dabei irgendwas, in dem die Worte „Nils“, „Ninette“, „Zungenkuߓ und „nicht stören“ vorkamen.
Voller Verzweiflung wollte er aufspringen und seinem ursprünglichen Impuls nachgeben, Raum für Raum unter die Lupe zu nehmen. Doch ein Unglück kommt selten allein: Kaum setzte er dazu an, sich zu erheben, da spürte er, wie sich die Promille bemerkbar machten. Dieser verfluchte Absinth! Mit seinen vierzehn Lenzen verfügte der Jugendliche nun mal nicht über die Konstitution eines Erwachsenen. Seine Gurgel verfiel im Reflex ins Würgen, und um ihn herum begann alles, sich zu drehen. Gerne hätte er jetzt das WC aufgesucht, doch wie sollte er das bewerkstelligen, wo ihm weder die Beine, noch der Gleichgewichtssinn mehr gehorchten?
Er bemerkte, daß er sich durchaus toll und tatendurstig fühlte, aber wie konnte das sein, wo es ihm doch so schlecht ging, körperlich wie seelisch? Intuitiv wurde ihm klar, daß dies Gefühl künstlicher Natur sein mußte, nicht seine wirklichen Emotionen widerspiegelte. Folglich konnte es sich nur um eine weitere Auswirkung des Rausches handeln.
Dazu begann sein Blick immer mehr zu verschwimmen, und so wollte er anfangs gar nicht glauben, was sich da auf einmal vor seinen Pupillen abspielte. Jasmin war gerade eingetreten. Jasmin Carstensen, in deren Heim ihm vor allerhöchstens zwei Stunden die abscheulichen Vampire begegnet waren. Sie alberte gerade munter und fidel mit Hanna herum, die noch hinter ihr auf dem Korridor stand, und linste eher wie nebenbei in den Raum. Urplötzlich erstarrte sie, als hätte sie den Sensenmann in Person erspäht. Brach mitten im Satz ab und fixierte etwas irgendwo in der Kammer. Sie schien gar nicht mitzubekommen, daß sich ihr Mund zu einem entrückten Lächeln verzerrte.
Was dann allerdings geschah, mochte der irritierte Beobachter noch weniger fassen: Harald kam auf sie zu gestapft! In seinen Zügen lag der selbe versonnene Ausdruck, just als stünde er unter Hypnose. Die Zwei wechselten kein Wort miteinander, reichten sich auch nicht die Hand, zogen sich aber beide in Richtung Korridor zurück. Ließen eine perplexe Hanna hinter sich, die ebenfalls nicht zu begreifen schien, was sich da gerade vor ihr abgespielt hatte.
Der Tatendrang, den die Promille in Tim hervorgerufen hatte, ließ den Heranwachsenden nicht ruhig in seiner Ecke hocken bleiben: Er mußte seinen Kumpel weiter im Auge behalten. Mußte verfolgen, was da Befremdliches vor sich ging.
Mit Mühe und Not gelang es ihm endlich, in die Höhe zu kommen, indem er sich gegen die Wand stemmte, und mit dem Rücken die Tapete aufwärts rutschte. Ein tollkühner Beckenschwinger, und er stand aufrecht. Mußte gar aufpassen, daß er nicht gleich wieder vornüber kippte! Mit aller Macht riß er sich zusammen. Wenn man sich später an der Schule erzählen sollte, er wäre auf Ninettes Sause stockbesoffen gewesen, würde sein Schwarm den Umgang mit ihm erst recht meiden! Also schloß er ein Auge, um wenigstens einigermaßen scharf sehen zu können, und setzte vorsichtig Fuß vor Fuß. Gab sich dabei ausnehmend Mühe, vollständig nüchtern zu erscheinen, und nur deshalb so bedächtige Schritte zu machen, weil er es nicht eilig hätte. Dabei hatte er allen Grund zur Hast! Er mußte Ninette und Nils finden, um zu verhindern, was noch zu verhindern war! Er mußte herausbekommen, was da Widernatürliches mit Harald und Jasmin vorging! Und sich dabei bei Letzterer erkundigen, was für merkwürdige Gäste ihre Familie im Stall zu beherbergen pflegte! Aber vor allem mußte er erst einmal auf Toilette…
Irgendwo vor ihm knallte eine Tür, als er auf den Gang hinaus wankte, vorbei an Hanna, die ihn in ihrer Verwirrung gar nicht beachtete. Schon hatte er das obere Ende der Wendeltreppe erreicht. Der Wendeltreppe, die ihm auf einmal wie ein unüberwindliches Hindernis vorkam! Er klammerte sich ans Geländer und starrte sie hinab wie einen Abgrund. So viele Stufen, und er hatte schon Probleme damit, auf ebenem Fußboden die Balance zu halten! Gerne hätte er sich eine Pause gegönnt, aber Magen und Blase verkündeten ihm gleichermaßen, daß er ihn nicht viel länger würde aufschieben können. Fast schon übertrieben klammerte er sich an die Stange und nahm alle Aufmerksamkeit zusammen, als er die erste Stufe in Angriff nahm. Er hätte nie gedacht, daß es im einmal so schwer fallen würde, sich zu konzentrieren! Gerade als er den Fuß schon wieder aufsetzen wollte, geriet er ins Taumeln, und nur seinen kräftigen Fäusten war es zu verdanken, daß er nicht sogleich die Stiege abwärts plumpste. Nun hatte er aber wirklich allen Grund, erst einmal zu verschnaufen und sich von dem Schrecken zu erholen! Gewisse Organe in seiner Physis waren allerdings anderer Meinung, und sie hatten klar die besseren Argumente. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als weiter zu stapfen. Mit aller Vorsicht, die sein Zustand zuließ. Eine Stufe… noch eine. Erdzeitalter schienen zu verstreichen, bis er endlich am unteren Absatz angelangt war. Hastig wandte er sich nach rechts, daß er beinahe doch noch stürzte, und hatte Glück: Die Badezimmertür stand offen. Allerdings war es auch schon höchste Eisenbahn! Er schaffte es gerade noch, hinter sich abzusperren, als es ihn auch schon in die Knie zwang. Seinen Kopf bekam er noch über die Kloschüssel, deren Brille bereits hochgeklappt war, da war sein Abendbrot auch schon in der Speiseröhre. Er hustete, er würgte und röchelte, während alles ins Freie drängte – Mit Geräuschen, von denen er hoffte, daß sie niemand draußen auf dem Flur mitbekam. Er hatte noch nicht alles erbrochen, da sah er sich auch schon genötigt, den Hosenschlitz zu öffnen. Ein brauner Faden hing ihm noch aus dem Mundwinkel, da pinkelte er auch schon im Knien auf das, was da gerade seinen Leib verlassen hatte. Anschließend verbrachte er ausgiebig viel Zeit damit, mit dem Toilettenpapier die Spritzer kaum Verdautes abzuwischen, die nicht ganz ihr Ziel erreicht hatten. Keinesfalls wollte er sich nachsagen lassen, er habe in Ninettes Heim eine Sauerei hinterlassen! Endlich war er soweit, daß er die Spülung betätigen konnte. Am Wasserhahn dann wusch er sich nicht nur die Flossen, er trank auch mehrere Schlücke, um den miesen Geschmack aus dem Maul zu bekommen. Und er klatschte sich auch eine Handvoll erfrischendes Naß ins Gesicht. Was ihm da schließlich mit glasigem Blick bleich aus dem Spiegel anglotzte, sah immer noch nicht sonderlich gesund aus, und wirklich nüchtern fühlte er sich auch nicht. Aber immerhin war er wieder klar genug im Kopf, daß er einigermaßen ohne Schwierigkeiten aufrecht stehen konnte. Und sich fit genug fühlte, sich seinen weiteren Vorhaben zuzuwenden.
Gerne hätte er sich noch bei Conny erkundigt, was sie über den Verbleib der Gastgeberin wußte – mit der selben Ausrede, die er Stefan gegenüber gebraucht hatte, versteht sich – aber die hielt sich nicht mehr im Eingangsbereich auf.
Also beschloß er, wieder nach oben zu gehen. Dort hatte er Harald und Jasmin zuletzt gesehen, und seine Suche nach Nils und Ninette konnte er ebenso dort beginnen. Eventuell kam ihm ja sogar Fortuna zur Hilfe, und einer von beiden war ohne den anderen wieder auf der Party aufgekreuzt? Die Stiege bereitete ihm immer noch leichte Schwierigkeiten, daß er sich mehr als einmal auf das Geländer verlassen mußte, aber zumindest kam er etwas schneller voran, als gerade eben noch auf dem Weg nach unten.
Vielleicht hätte er doch lieber erst einmal im Erdgeschoß bleiben sollen! Denn was er hier oben mitbekommen mußte, brachte sein geplantes Durchforsten der Kammern zu einem Ende, ehe es begonnen hatte: Noch bevor er den oberen Korridor erreicht hatte, bemerkte er die Menschentraube, die sich an der Tür zur Linken versammelt hatte, die dem Fetenraum genau gegenüber lag. Es wurde viel gekichert und verhalten gewitzelt, und abwechselnd hielt der eine oder andere das Ohr gegen die Füllung.
„Das ist doch das Elternschlafzimmer, oder?“, erkannte er Utes Stimme.
„Ist das Ninette?“, wollte ein Mädchen wissen, das er nur vom Sehen her kannte.
Er mochte es nicht glauben, aber die in ihm anwachsende Verzweiflung trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn. Nein, er wollte nicht Zeuge dessen werden, was hier gerade geschah, und doch lenkten ihn seine Schritte mit dem Masochismus des unerhörten und betrogenen Romeos auf die Menge zu. Seine Kehle war wie zugeschnürt, aber er brauchte auch niemanden der Versammelten zu fragen, was hier los war. Denn inzwischen hörte er es selbst, das rhythmische Quietschen des Bettenrostes jenseits der Klinke, und das damit verbundene Stöhnen einer weiblichen Stimme.
„Ich hab‘ doch geahnt, daß Nils es schafft,“ feixte Marie, „So, wie er heute bei Ninette gebaggert hat, hätte er selbst mich rumgekriegt!“
„Vielleicht hätten wir sie doch nicht so dezent allein lassen sollen, als er sie mit Zungenschlag geküßt hat?“, spöttelte Ute.
„Wieso? Wolltest du dich hinten anstellen?“
„Stehen wir nicht schon hier an und warten?“
Oh, was waren diese Weiber aber lustig!
Der arme Tim, er hatte mehr erfahren, als gut für ihn war! Oh, so gerne hätte er jetzt alle beiseite gedrängt! Hätte die Tür aufgerissen und wäre in den Raum gestürmt! Hätte den Don Juan von seiner Liebsten, seinem Ein und Alles herunter gezerrt! Aber sie schien es ja auch noch zu genießen, den Geräuschen nach, die von dort ins Freie drangen!
Damit war er auch noch zur Ohnmacht verdammt. Er der keinerlei Berechtigung hatte, etwas anderes als Freude zu empfinden dabei, daß Amors Pfeil wieder zwei Liebende in Harmonie vereint hatte! Und über den alle herfallen würden, wenn er es wagen würde, das junge Glück zu stören… Er war ja noch nicht einmal mit Ninette zusammen gewesen, und selbst dann hätte man ihm die Schuld gegeben, sie dermaßen falsch behandelt zu haben, daß sie in die Arme eines anderen geflüchtet sei. Ja, er durfte ja noch nicht einmal Eifersucht empfinden, galt das doch als egoistisches Besitzdenken – Da nützte es wenig, wenn die Qualen, die er durchlitt, nicht das Geringste mit Habgier zu tun hatten! Denn es sind ja die Erfolgreichen, die uns über die Medien mitteilen, welches Gefühl als gut, und welches als schlecht zu gelten hat. Die Erfolgreichen, also diejenigen, die mächtig geworden sind, weil sie in ihren Mitmenschen nur Mittel zum Zweck gesehen haben. Die also nie Grund zur Eifersucht gehabt haben, wohl aber Anlässe dazu geliefert. Also galt der als gut, der den anderen zur eigenen Triebbefriedigung ausbeutete, und der als schlecht, dem wegen so etwas das Herz brach.
Und Tim fühlte sich wirklich schlecht. Zu schlecht, als daß er noch länger gesellschaftstauglich gewesen wäre! Ohnehin hatte er keinen Grund mehr, weiter an diesem Ort seiner tiefsten Schmach zu verweilen. Oh, hätten ihn die Untoten doch nur ausgesaugt! Oder der Lastwagen überrollt! Dann wäre er wenigstens mit dem Bild einer nicht enttäuschten Liebe im Herzen verschieden. So aber war alles in ihm zerbrochen… Benommen torkelte er zurück. Nein, er hatte nicht mehr die Kraft, wenigstens nach Harald zu gucken! Oder sich von sonst wem zu verabschieden. Er wollte nur weg von hier. Weit weg, und niemals mehr wiederkehren! Er wußte, daß es ein weiter Heimweg werden würde, so ganz zu Fuß. So ganz in Einsamkeit… Aber das würde ihm Zeit genug verschaffen, stundenlang zu weinen. Denn hier vor aller Augen in Tränen auszubrechen, das mußte er unter allen Umständen verhindern. Die Schande würde sich sonst nur noch zu seinen Qualen addieren. Aber er merkte es nur zu deutlich, daß ihm die Zähren bereits kamen.
Auf dem Absatz machte er kehrt, und rannte die Stufen beinahe herunter – Mit einer Geschwindigkeit, die er sich gerade eben noch nicht zugetraut hätte. Auf der Flucht vor der Stätte der Pein, wo ihm jede weitere Sekunde, die er in Hörweite der Geräusche verbrachte, unsägliche Marter bereitete. Der Geräusche, welche die anderen so sehr interessierten, daß niemand von ihnen seinem lauten Poltern auf der Stiege Beachtung schenkte, und ihm somit selbst ein dramatischer Abgang verwehrt wurde.
Kaum hatte er den unteren Absatz erreicht, da spürte er auch schon, wie er endgültig die Fassung zu verlieren drohte. Wie sein Blick verschwamm, und diesmal nicht aufgrund der Promille… Hoffentlich liefen ihm hier unten nicht mehr so viele Partygäste über den Weg! Niemand sollte ihn mit feuchten Augen erblicken! Niemand! Einen letzten Rest von Würde noch wollte er sich nach diesem Desaster ersparen… Schließlich war seine Würde eine der wenigen Dinge, die er selbst bestimmen konnte, und wenigstens die wollte er sich nicht nehmen lassen! Wenn man ihn schon sämtlicher Träume beraubt hatte…
Aber auch hier kam es dann noch ganz anders als erhofft… falls „erhofft“ in diesem Kontext überhaupt die passende Vokabel ist, denn anders als „ersehnt“ kam es keinesfalls. Ja, der Flur war menschenleer, und es gelang ihm, ungesehen bis zum Eingang zu wetzen. Wenige Momente nur, dann würde er draußen sein, verborgen von den Schatten der Nacht. Da konnte er alles herauslassen, was er kaum mehr in Zaum halten vermochte.
Doch gerade, als er nach der Klinke ausgreifen wollte, senkte sie sich. Direkt vor seiner Nase öffnete sich die Tür, und er sah Conny. In dem Schein der Außenlampe wirkte ihr blaßblondes Haar goldgelb. Ein Segen, sie war gerade abgelenkt, so daß er noch Gelegenheit hatte, sich rasch die ersten Zähren von der Wange zu wischen!
„Er ist wirklich zu weit gegangen,“ redete sie auf jemanden ein, der sich neben ihr befinden mußte, „Wenn du mich gefragt hättest, hätte ich den Wüstling an deiner Stelle schon viel früher auf die Straße gesetzt! Und nicht nur mit einer Backpfeife, sondern mit einem gehörigen Tritt in den Arsch!“
Da traf ihn aber auch schon ihr Blick, und er konnte nur beten, daß die flüchtige Maßnahme ausgereicht hatte, um seine Züge wieder einigermaßen normal aussehen zu lassen. Der Ausdruck in ihren grünen Pupillen, als sie ihn fixierte, er war erstaunt… natürlich! Wer erwartet schon, plötzlich jemandem gegenüber zu stehen, wenn er einen Raum betritt? Aber dann stahl sich noch eine andere Nuance in ihre Mimik. Eine, die er nicht zu interpretieren vermochte, und von der er darum wünschte, sie würde nicht das Erkennen bedeuten, eine Heulsuse vor sich zu haben.
Nur nicht nervös werden, Tim! Nur nicht nervös werden! Dies ist schließlich nur der letzte Test, den du zu bestehen hast. Wenn du an ihr vorbei bist, ohne daß sie Verdacht geschöpft hat, dann hast du es geschafft. Dann hast du das Haus der Gram endlich hinter dir gelassen.
Es kam aber ganz anders, denn als sie das Wort ergriff, sprach sie nicht zu ihm, sondern erneut zu der Person, die noch irgendwo da draußen stand, vor Tims Blicken durch die Füllung und das opake Glas der Tür verborgen: „Ach ja, in der Zwischenzeit sind noch reichlich Leute gekommen; man wird dich bestimmt schon vermissen.“
Dann machte sie den Eingang ganz auf, und nun endlich war zu erkennen, mit wem sie da die ganze Zeit über schnackte: Es war niemand anderes als Ninette!
Aber… Sie war doch oben im Elternschlafzimmer, zusammen mit Nils, oder? Der Halbstarke wußte jetzt gar nicht mehr, was er überhaupt noch glauben sollte.
„Da ist gleich der erste neue Gast,“ plapperte Conny weiter drauf los, ohne die geringste Ahnung davon, daß da zwischen den beiden eine andere Beziehung bestehen könnte, als die zwischen der Gastgeberin, und dem Begleiter irgendeines Bekannten von ihr.
Wäre sie nicht so sehr in ihrer eigenen Quirligkeit aufgegangen, hätte sie eventuell bemerkt, das die Überraschung des von ihr Vorgestellten nicht allein von der Plötzlichkeit der Situation herrühren konnte.
Und Tim, er machte auf einmal die Erfahrung, daß ein großes Gefühl dem anderen näher ist, als seiner kleinen, abgeschwächten Variante. Die intensive Trauer und Verzweiflung, die ihn fast verschlungen hätten, sie ebbten nicht nach und nach ab: Sie wandelten sich schlagartig um in Sehnsucht und Verlangen. Und das war auch nicht schwer, so hübsch und niedlich, wie Ninette da im Lampenschein vor ihm stand! Sie trug ihr langes, fahlbraunes Haar offen, und nur am äußersten Ende wellte es sich ein wenig. Der weiterhin tobende Orkan spielte damit, und entblößte er ihre großen, runden Ohren, die sogar noch etwas roter waren, als ihr von Natur aus frischer und rosiger Teint. Auch ihre Stirn wurde von keiner Strähne oder Pony bedeckt, doch war die eher unauffällig, und lenkte nicht von den eigenwilligen, aber attraktiven Zügen ihres noch sehr jugendlich anmutenden Antlitzes ab. Der Ausdruck in ihren tiefbraunen, nach oben hin runden Augen hatte etwas Infantiles, doch war da ein Funkeln in ihrer Iris, das eine Reife verriet, die einem vielleicht erst beim näheren Kennenlernen auffiel. Die Brauen waren auffallend mächtig, aber nicht buschig. Sie verliefen ihr vom Rand der Nasenwurzel bis kurz vor dem oberen Außenrand der Augen nahezu gerade, bogen dann aber den Rundungen der Augenhöhle folgend nach unten ab. Mund und Nasenspitze saßen bei ihr ein wenig prominent, und wenn sie lächelte, daß sich das Zahnfleisch zeigte, bildete sich jeweils eine leicht pausbäckig anmutende Linie vom Oberrand des Nasenflügels hinab bis kurz über dem Mundwinkel. Ihre Kinn mit der darin anschließenden Kinnlade bildeten dabei einen stumpfen, abgerundeten Winkel.
Sie hatte einen knallroten Sweater an, auf den in Höhe der Oberweite ein Stück extra breites Tesafilm aufgeklebt war. „GEBURTSTAGSKIND“ hatte jemand mit einem schwarzen Edding darauf gekliert. Ihre Hose dagegen war in grau gehalten, und weit genug, daß sie ihre Hände bis über die Knöchel hinweg in den Taschen versenken konnte. Einen Gürtel trug sie nicht dazu. Das Jäckchen dagegen war schwarz und viel zu dünn für diese Jahreszeit. Ihr einziger Schmuck war eine metallfarbene Uhr an einem schwarzen Armband. In beiden Händen trug sie Plastiktüten mit der Aufschrift einer nahen Tankstelle, aus der Tüten mit Chips, Salzgebäck und anderem Naschwerk ragten.
All das fiel Tim auf, brachte den Monsun in seine Adern und ließ es prickeln überall, wo Lebenssaft oder Nervenimpulse flossen. Dabei war er überhaupt nicht der Typ, der den Mut aufbringt, jemanden länger anzustarren. Für gewöhnlich fixierte er seine heimlich Angeschmachtete immer nur ganz kurz, machte mit seinem inneren Auge eine Photographie, und senkte dann die Lider, bevor der Gegenüber es bemerken, und ihn für aufdringlich halten konnte. Alsdann hatte er ein paar Sekunden Muße, sich in seinem Kurzzeitgedächtnis an dem Bild zu weiden, das er gemacht hatte, bis es an der Zeit für den nächsten geistigen Schnappschuß war. Gewiß, auf diese Weise würde seine Angebetete niemals sein Interesse an ihr bemerken, aber auf der anderen Seite konnte er es sich so auch nicht mit ihr verderben.
Jetzt allerdings war er zu überrascht, als daß seine Komplexe die Schnelligkeit gefunden hätten, sofort zu reagieren. So kam es, daß er seinem Schatz zum ersten Mal länger als nur für einen Moment in die Pupillen schaute. Er mochte es kaum glauben, als er in ihnen ein wohl unverbindliches, aber unbestreitbar freundliches, wenn nicht gar erfreutes Funkeln lesen konnte.
„Ich hab‘ vergessen, wie er heißt,“ fuhr Conny indes fort, „Aber er ist mit Harald da.“
„Er heißt Tim,“ ergänzte Ninette da ganz unerwartet, und sie lächelte mit ihren braunen Kulleraugen und dem roten Kindermund gleichermaßen. Eine Geste, die es dem Erinnerten warm werden ließ ums Herz, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er sie nicht überbewertete.
Conny auf jeden Fall entging sie vollends, schnatterte sie doch munter weiter, als hätte der Moment gerade eben nicht eine sensible Note gehabt: „Du mußt erst mal das Geschenk sehen, daß die beiden hier angeschleppt haben. Ich hab‘ echt geglaubt, die wollen sich mit dir verloben.“
Natürlich hatte sie das nicht geglaubt; daß sie lediglich einen Scherz gemacht hatte, war schon deutlich ihrem Tonfall zu entnehmen. Trotzdem war ihm eine Andeutung wie diese außerordentlich peinlich, hatte sie doch mehr Wahrheitsgehalt, als Conny ahnen mochte, und Ninette ahnen durfte.
Das hieß, nun war der Augenblick gekommen, an dem er reagieren mußte, noch bevor eine verdrießliche Pause entstand, die Raum genug für Spekulationen aller Art ließ. Nur, wie? Denn in ihm übernahm wieder die Angst das Ruder, und auch sie war ein intensives Gefühl. Gewiß, er war noch in der Lage, im Geiste Worte zu artikulieren, nur war die Strecke, die sie zurückzulegen hatten, so schrecklich lang und unsicher geworden. Sie mußten durch die Hirnwindungen und Nervenbahnen, in denen Panik und Fluchtinstinkte wild um sich schlugen, und alles andere um sich herum zu vernichten drohten. Dann zu den Stimmbändern, die unentwirrbar miteinander verknotet zu sein schienen. Durch die ausgedörrte Kehle hindurch, die wie verschnürt war, daß kaum Luft durch die Atemröhre drang, und das Blut der Halsschlagader nur aufgrund des heftigen Herzschlages seinen Weg fand. Als Nächstes hatten sie auch noch die schwer gewordene Zunge in Bewegung zu setzen, und außerdem die taub und steif gewordenen Kiefer.
Und doch mußte er etwas von sich geben, daß riet ihm nicht nur sein Notfallprogramm. Glücklicherweise hatte er immer noch seine Ausflucht im Kopf, die er Stefan und Ute gegenüber gebraucht hatte, und da in ihm zuviel durcheinander lief, als daß ihm eine neue eingefallen wäre, modifizierte er sie gerade mal ein bißchen: „Ich bin mit Harald da, und der kennt dich aus seiner Klasse. Er... Wir wollten dir gratulieren…“
Ja, warum tat er es denn eigentlich nicht? Zum Henker noch mal, als er zu seinem Schwarm gesprochen hatte, hatte er einfach nur eine Kassette abgespult, damit niemand merkte, daß er vor lauter Aufgewühltheit nicht in der Lage war, eine auch nur halbwegs intelligente Konversation zu führen. Nun aber stand er in der Pflicht: Er mußte Ninette gratulieren.
Nein, diesmal wagte er es noch nicht einmal für Sekundenbruchteile, sie anzuschauen, als er ihr die Flosse reichte, so wie es sich nun mal gehörte, wenn man jemanden beglückwünschte. Die schlotternde und schwitzende Flosse… Er konnte mit einiger Konzentration sogar seinen Arm halbwegs ruhig halten, wenn dafür auch seine Knie schlotterten, als wäre er am Nordpol von hungrigen Eisbären umzingelt.
Ninette, er stand hier wehrlos vor ihr, und sie hatte es in der Macht, ihn mit einer noch so unschuldig gemeinten Geste oder Aussage bis ins Mark zu verletzen.
„Glückwunsch zum Geburtstag!“, nuschelte er kaum verständlich; das „Herzlichen“ war irgendwo auf der langen Route vom Sprachzentrum bis zu den Lippen verschütt gegangen.
Er wußte nicht, ob da noch ein Wort hätte folgen sollen, denn justament ereignete sich etwas, das alles Weitere aus seinen Hirnwindungen radierte: Ihre und seine Hand berührten einander! Schüttelten sich, wie es sich für das Ritual gehört, aber all seine Sinne konzentrierten sich auf den schmalen Bereich, da ihre Haut mit der seinen Kontakt hatte. Sammelten Daten, etwa über Weichheit und Körpertemperatur, als gelte es, einen Computer der NASA mit Meßwerten über den Planeten Pluto zu füttern, um herauszubekommen, von wie vielen Monden er umkreist wird. Alles andere darum herum verlor vorübergehend an Realität, schien zeitweilig überhaupt nicht mehr zu existieren. Nichts gab es, außer Ninette…
Er war zu sehr in sich selbst versunken, vor Liebe und Furcht gleichermaßen, als daß das, was er noch wahrnahm, ungefiltert in sein Bewußtsein drang. Jede noch so beiläufige Regung seiner Liebsten wurde in seiner Phantasie zu einem verstohlenen Signal der Zuneigung… oder aber des Abscheus. In seinem Denken gab es kein Mittelmaß, keinen Ausgleich mehr, auf den man sich gerne beruft, wenn einem alles zu schnell geht.
Daß auch noch eine Conny zugegen war, daran erinnerte er sich erst wieder, als sie sich erneut zu Wort meldete: „Wo hast du den Harald überhaupt gelassen?“
Gerne wäre er in diesen Minuten der coole, tapfer zu seinen Gefühlen stehende Romeo gewesen, den er abends vor dem Einnicken so oft in seiner Phantasie gemimt hatte. Jemand, der ohne Angst oder Komplexe mit seiner Angeschmachteten und deren Freundin würde reden können, just als plauderte er gerade mal mit seinem Banknachbarn über dessen Taschenmesser. Und gewiß hätte es den Mädchen auch imponiert, wenn er sich als Mann von Welt präsentiert hätte… aber er war nun mal nur er selbst, und der Bammel davor, sich vor seinem Schwarm zu blamieren, oder sich sonstwie jedwede Chance zu verderben, ließ ihn klein werden. So klein, daß selbst sein Blickfeld zusammenzuschrumpfen schien. Dafür raste sein Puls, daß sich das Blut in seinem Schädel sammelte, und mit seinem drückenden Bollern jedes Geräusch, das seine Ohren passierte, wie aus weiter Ferne erklingen ließ. Was das Bibbern der Knie anbelangte, dagegen halfen ihm weder Konzentration, noch Schauspieltalent.
So kam das, was ein souveränes „Der treibt sich schon irgendwo da oben rum und hat seinen Spaß!“ hätte werden können, nur als kleinlautes „Oben... irgendwo!“ heraus. Da ihm selbst auffiel, wie dürftig sich das anhörte, ergänzte er noch: „Hab‘ ihn zuletzt mit der Jasmin gesehen.“ – Vor dem letzten Wort hätte noch ein „zusammen“ kommen sollen, aber in seiner Aufregung war er froh, den Satz überhaupt einigermaßen verständlich herausgebracht zu haben.
„Jasmin ist da?“, wunderten sich da mit einem Mal beide Damen gleichzeitig, und Conny ergänzte: „Wir haben den ganzen Abend schon auf sie gewartet.“
„Ich hab‘ doch gesagt, daß das da das Auto ihrer Mütter ist!“ – Ninette deutete auf einen roten Opel Corsa, der dort parkte, wo der Brummi gehalten, und die beiden Jungs abgesetzt hatte – Er konnte also erst hier abgestellt worden sein, nachdem der Lkw schon wieder weggefahren war.
Immer noch trieb der Sturm schwarze, fast menschlich anmutende Schwaden vor sich her.
„Ist sie oben?“ – Conny auf jeden Fall hatte keinerlei Probleme damit, ihm unmittelbar in die Augen zu schauen, als sie ihn von neuem ansprach.
„Da hab‘ ich sie und Harald zuletzt gesehen.“ – Tim konnte gar nicht begreifen, wieso diese simple Information die beiden Schülerinnen dermaßen echauffierte. Rasch noch wurden die Plastiktüten an Ort und Stelle abgesetzt, dann preschten sie auch schon auf die Stiege zu. Und er, er konnte nur vermuten, daß sie vielleicht auf das Fräulein Carstensen sauer sein mochten, weil sie als ursprüngliche Mitveranstalterin erst so spät auf der Bildfläche erschienen war. Auf jeden Fall folgte er ihnen, und sei es auch nur, weil er zu verwirrt war, als daß ihm etwas anderes zu tun eingefallen wäre. Dementsprechend ging es ein weiteres Mal die Stufen hoch – Wäre dieser Abend ärmer an anderen, bedeutenderen Ereignissen gewesen, er hätte ihn gewißlich zum „Tag der Wendeltreppe“ erklärt. Rauf, runter, rauf, runter, rauf, und immer im Kreis dabei… Erst als er die beiden ziemlich dicht vor sich hatte, wurde ihm bewußt, daß er in dieser Sekunde gerade mit seiner Herzallerliebsten unterwegs war.
Und in den folgenden Minuten lernte er sie von ihrer energischen Seite kennen. Für gewöhnlich war sie nicht der Typ Frau, der viele und laute Worte liebt, aber als sie die Menschentraube im ersten Stock erblickte, und die recht eindeutig klingenden Laute aus dem Elternschlafzimmer vernahm, fing sie doch an, sich mit recht unmißverständlichen Weisungen Raum zu verschaffen – Conny und Tim kamen da kaum hinterher. Schafften es gerade noch, die Gasse zu durchqueren, welche ihre Gäste eingeschüchtert gebildet hatten, während sich hinter ihnen schon wieder die Reihen schlossen. Da drückte die Tochter des Hauses aber auch schon die Klinke, und trat ohne anzuklopfen ein. Conny und Tim folgten ihr immer noch, obwohl vermutlich keiner von beiden wußte, weswegen eigentlich. Erstere womöglich, um ihrer Freundin beizustehen, bei was auch immer… und Letzterer bekam seinen Grund erst geliefert, als er eintrat in ein Schlafzimmer mit Doppelbett und Spiegelgarderobe, das eigentlich zu bieder tapeziert und eingerichtet war, als daß es näher beschrieben zu werden verdient. Auffallend war nur, daß auf jedem der Nachttische eine Petroleumlampe aufgestellt war, neben denen noch ein Feuerzeug lag. Sie sollten wohl für eine etwas heimeligere Atmosphäre sorgen.
Und das nicht ohne Grund, denn wer sich da so unverschämt der Ruhestatt des Ehepaares Voigt bediente, war niemand anderes als Jasmin und Harald! Beider Kleider lagen – teils in Fetzen – auf dem Fußboden herum, und noch nicht einmal die Bettdecke verhüllte ihre nackten, wie in Krämpfen umeinander zuckenden Leiber. Auch nicht den obszönen Tanz ihrer Schöße. Ja, obwohl das allgemeine Kichern und Flachsen auf dem Flur jetzt durch eine geöffnete Tür drang, und Ninettes wutentbranntes Heranstampfen wohl kaum ignoriert werden konnte, hielten sie nicht inne in ihrem schamlosen Treiben. Schienen vor Verzückung nichts von dem mitzubekommen, was sich jenseits ihrer sich intensivst liebkosenden, räkelnden, schiebenden und stoßenden Körper abspielen mochte. In der Tat erkannte Tim mit leiser Beunruhigung, daß sie weiterhin diesen weggetreten Ausdruck in den Zügen hatten, mit dem er sie zuletzt gesehen hatte.
In dem Moment knallte hinter ihnen die Tür ins Schloß.
Der Knabe war durch die Nähe seiner Angeschmachteten ohnehin recht nervös, so daß er zusammenzuckte. Sie jedoch hatte der Anblick dieses unverfrorenen Pärchens im Bett ihrer Eltern dermaßen in Rage versetzt, daß sie gar nicht darauf achtete. Ihrer unten liegenden Klassenkameradin resolut an der Ferse zog, um diesem peinlichen Schauspiel ein Ende zu bereiten.
„Wirst Du das wohl lassen, Kleines!“, wurde sie da unverhofft von der Seite her angefahren.
Tim, Conny, das Geburtstagskind mit zornesrotem Schädel – Alle drei wandten sich zum Fenster um, und wurden erst jetzt der beiden Personen gewahr, die es sich dort auf den beiden Sesseln gemütlich gemacht hatten, auf den Herr und Frau Voigt sonst ihre Kleider zusammenzulegen pflegten. Ninettes Eltern freilich waren dies nicht: Iris Carstensen war es, welche die Gastgeberin gerade ermahnt hatte, nicht in das Geschehen einzugreifen, während deren Lebensgefährtin Karen ganz mit ihren Strickarbeiten beschäftigt zu sein schien. Tim kannte sie aus seinen Grundschultagen von der allsommerlich stattfindenden Kindergilde her, wo sie ein wenig engagiert waren, auch wenn sie sich in seinem Heimatort ansonsten eher rar machten.
Und er erinnerte sich, daß sie es gewesen waren, die er in dem Traum der letzten Nacht über der Miniatur eines Turmes hatte brüten sehen. Eines Turmes, der nur zu sehr der Beschreibung eines Empfangsverstärkers entsprochen hatte…
Ninette hatte deren Auto erkannt – Und natürlich verfügte Jasmin als Teenager noch über keinen Führerschein. Man hätte es sich denken können, daß mindestens eine ihrer „Erziehungsberechtigten“ mit hier erschienen war!
„Was geht hier vor?“ – Die zeternde Gastgeberin hatte keinesfalls vor, sich von den zwei Weibern einschüchtern zu lassen.
„Mehr, als ihr Lütten verstehen würdet!“ – Karen Carstensen hielt es noch nicht einmal nötig, von ihren beiden Häkelnadeln aufzublicken. Es sah ganz so aus, als würde sie ein rosa Babyjäckchen stricken, obwohl weder sie, noch ihre Partnerin den Eindruck erweckten, schwanger zu sein (Den Ansatz von Reithosenspeck konnte man bestenfalls als beginnende Alterserscheinung werten).
Iris indes machte eine etwas skurril anmutende Handbewegung, und jäh war ein Klacken zu vernehmen: Gerade hatte sich der Ausgang zum Korridor abgesperrt, obwohl überhaupt kein Schlüssel im Schloß steckte.
Da erst wurde den drei Hereingeplatzten bewußt, daß hier Kräfte am Werk waren, mit denen man sich besser nicht leichtfertig einließ.
„Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre,“ lautete der lakonische Kommentar der Zauberin zu ihrer ungeheuerlichen Tat. Ihr Feixen hatte etwas Melancholisches an sich, aber das war eigentlich bei jeder ihrer Mienen der Fall, lagen ihre Brauen doch auffallend hoch über den Augen. Karens Grienen dagegen wirkte mit dem spitzen Gesicht, den angedeuteten Sommersprossen und den Vorderzähnen auf der Unterlippe wie das eines frechen Bengels, und man sah ihr durchaus an, daß sie von beiden Jasmins leibliche Mutter war. Zumal ihr Haar mit dem drolligen Wirbel das selbe Hexenrot wie das ihres Sprößlings aufwies. Von dieser Besonderheit einmal abgesehen, ähnelte aber weder sie, noch ihre Freundin dem klassischen, von den Gebrüdern Grimm vermittelten Bild, das man sich im allgemeinen von einer Drude macht.
Jasmin und Harald schienen auf jeden Fall gar nicht zu bemerken, daß sie ihre „Privatsphäre“ nurmehr mit fünf, statt mit sämtlichen Anwesenden teilen mußten. Wie auch nicht der Eindruck aufkam, daß sie bald zu einem Ende finden würden. Keuchend und schmatzend krochen sie umeinander wie Spanferkel am Spieß. Kaum ein Anblick hätte entwürdigender sein können.
Das Geburtstagskind jedoch gab sich unerschrocken und kreischte die beiden Zauberinnen wutentbrannt an: „Raus aus meinem Haus! Und Schluß mit diesem unnatürlichen Hokuspokus!“
Sie wandte sich in Richtung der gewiß nicht eingeladenen Frauen und ballte die Faust.
Die jedoch gaben sich weiter unbeeindruckt.
„Du meinst also, das ist unnatürlich, Kleines?“, hob Karen da an, ohne von ihren Handarbeiten aufzublicken, „Du mußt ja sehr mutig sein mit deinen beiden Freunden im Rücken! Sie stehen aber arg weit hinter dir – Bist du dir wirklich sicher, daß sie deiner Meinung sind?“
Schon ließ sie eine ihrer Nadeln los, um scheinbar wahllos ein paar Zeichen in die Luft zu malen.
„Ich glaube, man erwartet von dir, daß du jetzt irgendwas Lateinisches dazu murmelst,“ wandte ihre Begleiterin da auf einmal ein, „damit auch jeder merkt, daß er es jetzt mit der Schwarzen Kunst zu tun hat.“
„Hic Haec Hoc! Huius Huius Huius! Hunc Hanc Hunc!“, wurden die Gebärden sogleich von einer sonor klingenden Stimme untermalt.
Ohne Vorwarnung funkelte es jäh aureal zwischen den sich wie Spinnenbeine gebärdenden Fingern, als hätte sich dort ein winziges Portal zu einer anderen Ebene aufgetan.
Urplötzlich veränderte sich die in dem Gemach herrschende Grundstimmung. Machte einer Art angespannter Erwartung Platz, so wie man manchmal intuitiv spürt, daß nun etwas zutiefst Aufwühlendes bevorsteht.
„Karen, schäm‘ dich!“, rügte Iris ihre Gefährtin mit einem ironischen Unterton, „Das war eine Deklination und keine Formel. Sowas bewirkt höchstens einen Schlafzauber, und der ist ganz und gar nicht magisch.“
„Wir werden sehen!“ – Die Angesprochene schien nicht gewillt zu sein, sich zu echauffieren.
Ohne Vorwarnung explodierte die funkelnde Zone in ihrer Handfläche, und strahlte einer Supernova gleich an der erbosten Tochter des Hauses vorbei durch den Raum, geradewegs in Richtung ihrer beiden Kameraden. Es war ein Anblick, der sich nicht so ohne Weiteres in Worte fassen ließ, denn Worte beschreiben in der Regel konkrete Dinge aus unserem alltäglichen Erfahrungsschatz. Wie nennt man etwas, das den Anblick der Realität um einen herum durchsetzt wie statische, in übernatürlichen Farben schimmernde, immer größer werdende Schneeflocken? Das nicht allein ein optischer Eindruck ist, ja, gar noch andere Sinne reizt als die fünf gewohnten? Das einem die sensorische Impression von übermächtigen Empfindungen lehrt?
Was hätte Tim in diesem Moment darum gegeben, direkt neben Ninette zu stehen! Aber sie war ja entrüstet vorgeprescht, um das Pärchen auf der Ruhestatt ihrer Eltern auseinander zu reißen, und er mit ihrer Klassenkameradin eben eher im Hintergrund geblieben. Ihrer Klassenkameradin Conny, die unmittelbar zu seiner Linken weilte, während seine Angeschmachtete fast drei Meter von den beiden trennten. Drei Meter, die sich als fatal erweisen sollten!
Er kriegte noch mit, daß er sich wie von einem Schuß oder einer Schockwelle getroffen fühlte, aber an Stelle eines Schmerzes machte sich ein aufstachelndes Glücksgefühl in seiner Brust breit. Es strahlte sternförmig in alle Richtungen aus, daß ihm ganz schwummerig zumute wurde. Das Schlafzimmer um ihn herum, es war auf einmal in das Goldgelb seiner Nachtgesichte getaucht, und seine Rezeptionsorgane registrierten schlagartig mehr, als es natürlich sein konnte. Ließen ihn auf alles überschwenglicher reagieren, als es für gewöhnlich seiner Natur entsprach.
Daß Conny direkt neben ihm stand, merkte er an der Wärme ihres Körpers, die er durch die laue Luft der Kammer hindurch auf seiner Epidermis wahrnahm. Und an ihrem femininen Duft, der ihn wie ein Aphrodisiakum betörte. Er wandte sich zu ihr um, nicht nur mit dem Haupt, sondern ganz und gar, und sie tat es genauso. Zeh an Zeh mit ihr, konnte er erkennen, daß auch sie von dieser Salve übermächtiger Sinnlichkeit nicht verschont geblieben war. Blonde Strähnen fielen ihr über die Augen. Ihre grünen Augen, die so voller Sehnsucht waren jetzt! Die seine fixierten, daß die Welt darum herum an Realität verlor. Daß sich die Wirklichkeit selbst in einen Traum verwandelte, in dem alles möglich, und nichts verboten war. Er fühlte es prickeln auf seiner Gesichtshaut, als hätte sich zwischen ihren beiden Köpfen ein elektromagnetisches Feld aufgebaut. Eines, in dessen Anziehungskraft sie beide unweigerlich gerieten. Nahezu geräuschlos glitten sie aufeinander zu, und ihre Lippen fanden einander, als hätte es niemals anders sein sollen. Sie seufzte ihm in die Kehle, und schmeckte so aufwühlend nach Mädchen dabei. Ihre Arme nahmen seine Rippen in den Schraubstock, und er fand seine Pranken auf ihrem drallen Po wieder. Ihre Knie scheuerten seitlich an seinen. Es kam ihm so vor, als würde er in ihrem Odem aufgehen.
Die Lust fraß sich wie Kugelblitze durch seinen Leib, und ließ es überall kribbeln, wo sie nur auf Nervenbahnen stieß. Verwandelte alles, was sie erfaßte, in eine erogene Zone, und wo immer er die Anatomie der Schülern an seiner spürte, kam es zu Reaktionen. Reaktionen, die auch ihr nicht verborgen bleiben konnten, so eng, wie sie sich an ihn schmiegte. Dem Gurren nach, das sie ihm in den Rachen hauchte, gefiel es ihr. Widerstand würde sie gewiß nicht leisten, ganz im Gegenteil: Sie aalte sich, bearbeitete ihn mit Fingern, mit Lippen, mit ihrer ganzen Physis, als könne sie es nicht mehr abwarten. Sie, die sich noch nicht einmal an seinem Namen hatte erinnern können!
Und er, er herzte und karessierte sie mit der gleichen Leidenschaft, obwohl sie die Freundin des Mädchens war, das er wirklich liebte. Des Mädchens, das alles ungläubig mit ansah… Dies zu wissen, hätte eigentlich ausreichen müssen, sich von Conny loszureißen, aber stattdessen heizte es ihn noch weiter an. Ja, in seiner Phantasie kam sogar das Bild auf, Nils wäre mit hier in diesem Gemach und würde mit seinem Schwarm just in dieser Sekunde ganz ähnliche Dinge anstellen – Eine Vorstellung, die das Feuer in ihm noch weiter anheizte! Seine Lungenbläschen selbst schienen zu Tastsinnen geworden zu sein, daß sie jeder Atemzug kitzelte. Dabei schnappte er regelrecht nach Luft, denn sein Metabolismus arbeitete auf Hochtouren.
Instinktiv spürte er, daß das alles zu schnell vor sich ging, und es nicht gut sein konnte, daß er keinerlei Kontrolle mehr über das Geschehen hatte. Doch wenn er seine Augen und Ohren von ihr abwenden wollte, waren da nur Harald und Jasmin auf dem Ehebett, und so, wie die sich gerade gegenseitig in Richtung Himmel katapultierten, wirkte es eher noch inspirierend, und trieb sein Verlangen weiter in die Höhe.
Schon bemerkte er dort, wo eigentlich Kleidung hätte sein sollen, heiße, weiche Haut, und es war ihm vor lauter Ekstase völlig entgangen, daß er oder seine Partnerin diese oder jene Hülle hatte fallen lassen. Alles in ihm drehte sich, als er die femininen Details seiner Gespielin Fleisch an Fleisch wahrnahm, und er fühlte sich an den Kick erinnert, den ihm der Absinth verpaßt hatte…
Der Absinth! Erst jetzt ging es ihm auf: Die Euphorie, die er empfand, sie entstammte nicht ihm selbst. War künstlich! Sie war künstlich, genau wie das Hochgefühl und die Unternehmungslust, die ihm der Alkohol vorgetäuscht hatten! Denn in einem Rauschzustand befand er sich auch jetzt, und was er zu wollen glaubte, war nicht das, wonach ihm in Wirklichkeit der Sinn stand.
Der Schreck riß ihn in die Wirklichkeit zurück, und in Panik suchte er, die Pennälerin von sich zu stoßen. Rasch, bevor ihn ihre sinnliche Nähe von Neuem berauschte! Doch ihr Griff war bereits zu fest, und er zerrte sie mit sich. Verlor beinahe das Gleichgewicht, und die Vorstellung, Conny würde beim Sturz auf ihm zu liegen kommen, ließ ihn sein Entsetzen fast schon wieder vergessen. Doch er zwang sich, daran zu denken, was wirklich seine Persönlichkeit ausmachte, und wen er wirklich liebte. Denn jetzt konnte er wieder einen Blick auf seine Angebetete werfen, und sie sah so verloren aus inmitten all dessen, was sich um sie herum abspielte. Sie machte ganz den Eindruck, als wollte sie auf die Weiber einprügeln, aber irgend etwas, das mit dem gestrengen Blick aus Iris‘ Pupillen zu tun haben mußte, ließ sie wie eingefroren an Ort und Stelle verharren. In ihrer Ohnmacht traten der Ärmsten gar Tränen in die Augen. Sie mutete einem so hilfsbedürftig an, daß er gar nicht anders konnte, als sich ihr mit Herz und Seele zu verschreiben. Ja, was an Aufwallung in ihm war, wandelte sich geradezu in Aufopferung, daß er mit Begeisterung für sie in den Tod gegangen wäre!
„Genau! Ihre Freunde denken genau wie sie!“, brüllte er den Hexen kühn entgegen.
Es mußte sein unvermitteltes Schreien gewesen sein, daß auch Conny wieder zur Besinnung brachte. Hastig löste sie ihre Umklammerung und blickte verschämt zu Boden, ihre Blößen mit den Händen verdeckend.
„Wie man sieht,“ lautete Karens süffisanter Kommentar, obwohl sich ihr Blick ausschließlich mit der nächsten Masche ihres Babyjäckchens zu beschäftigen schien.
Soviel Überheblichkeit konnte nicht ungestraft bleiben! Tim und Ninette preschten im selben Moment auf die beiden unerwünschten Gäste zu, sie notfalls mitsamt der Sessel aus dem Fenster zu kippen.
Da aber hob Iris an: „Wie lautet bei euch die althergebrachte Sitte? Man muß euch hereinbitten, damit ihr ins Haus kommen könnt? Na, dann tretet ein, frei und aus eigenem Willen!“
„Und laßt etwas von der Freude zurück, die ihr mit euch bringt,“ fügte Karen an – Es wurde kaum gehört, denn jäh knallte das besagte Fenster auf, daß die Scheibe nur so klirrte, und ein schwarzer Nebel wallte mit unnatürlicher Geschwindigkeit ins Innere. Ein gruseliger schwarzer Nebel, in dem sich ohne Vorwarnung düstere Silhouetten manifestierten. Silhouetten mit leuchtenden Punkten dort, wo sich die Augen befinden mußten. Ehe sich die überraschten Teenager versahen, wurden die Schatten substanziell, und sogen den Rest der sich auflösenden Schwaden durch die Poren ein.
Und Tim ging von einer Sekunde auf die andere ein gewisses Körperteil auf Grundeis: Vor ihnen stand niemand anderes, als die Schwarze Sylvia mit ihren acht Zöglingen, der „Brut“. Jene gräßlichen Vampire, die ihn schon im Anwesen der Carstensens beinahe den Garaus gemacht hätten! Diesmal sah es nicht so aus, als würde er ihnen so einfach entrinnen können. Schließlich kommt es ausgesprochen selten vor, daß ein Lastkraftwagen durch ein Schlafzimmer brettert, das dazu noch im ersten Stock gelegen ist.
Die neun Monster, sie sprachen kein Wort, aber eine unnatürliche Kälte strahlte von ihnen aus, die sich in den Nervenbahnen als beständig anwachsende Furcht niederschlug. Ihre Pupillen waren ein gleißendes Weiß, das nicht direkt Haß, wohl aber grimmige Arroganz ausdrückte, und sie fixierten die drei Vierzehnjährigen damit, als könnten sie allein auf optischem Wege den Tod schicken. Lediglich Sarahs Blick war erkennbar giftig, und die leere Stelle an ihrem Unterarm ließ vermuten, daß es einen Zusammenhang mit ihrem fehlenden Reif geben mußte.
Tim und Ninette, sie wichen furchtsam zurück, und nahmen dabei Conny mit, an die sie mit ihren Rücken stießen. Doch dann stießen sie gegen die Wand, und gegen die Tür, welche Iris ja mit einer legeren Geste abgesperrt hatte. Sie waren gefangen! Preßten sich mit den Schulterblättern gegen die Füllung oder die Tapete, und konnten sich vor Schauder kaum rühren.
Die Untoten ließen sich Zeit. Schritten eher langsam auf ihre Beute zu, ohne eine erkennbare Regung in ihren hübschen, aber leichenblassen Visagen. Dennoch wirkten ihre Bewegungen angespannt, als wären sie bereit, jeden Augenblick los zu springen, sollten ihre Opfer etwa auf die Idee kommen, die Tür einzurennen.
Die Temperatur im Gemach nahm spürbar ab, und das lag nicht allein an dem ungehindert hereindringenden Nachtwind. Ein dezenter Geruch nach Friedhof machte sich breit, und die Atmosphäre selbst nahm nach und nach eine schwere, dunstige Konsistenz an. Wandelte sich in den Brodem, den Tim aus seiner scheußlichen Oneirodynie kannte, und in der Tat schienen ihn die Schlieren wie mit eisigen Klauen abzutasten.
Erneut spürte er die Persönlichkeiten der Ungeheuer durch sein Gehirn streifen, und dabei seine Gedanken und Erinnerungen durchforsten. Beim letzten Mal hatte er es geschafft, sie mit seiner Liebe zu seinem Herzblatt zu beeindrucken, aber er wagte es zu bezweifeln, ob sie nach seinem Geknutsche mit Conny noch von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle überzeugt sein würden.
Auch das Pärchen auf dem Bett spürte auf einmal, daß etwas nicht in Ordnung war, und hielt irritiert inne. Schaute auf, als zwei der unbekleideten Mädel aus der „Brut“ zu ihnen gekrochen kamen, just als wollten sie mitmachen.
„Die nicht!“, meldete sich Karen da bestimmt, „Die gehören uns.“
„Ha!“, lachte da die Schwarze Sylvia in einem Tonfall auf, der Böses vermuten ließ, und fixierte die Damen Carstensen mit unverhohlener Arroganz, „Wir sind Abkömmlinge des Basilisken! Wir würden noch nicht mal dem Teufel gehorchen, allerhöchstens Unseresgleichen. Was bringt euch auf den Gedanken, wir würden Kommandos von Nahrung entgegen nehmen? Oder haltet ihr euch vielleicht morgens das Marmeladenbrot ans Ohr, um zu erfahren, was ihr im Verlauf des Tages alles erledigen sollt?“
Zwei Häkelnadeln fielen samt unfertigem Babyjäckchen zu Boden. Schlagartig war es dermaßen still im Raum, daß man sie klimpern hören konnte.
„Wir sind euch für eure Dienste in der Vergangenheit dankbar,“ fuhr die dämonisch anmutende Frau herrisch fort, „Darum werden wir euch verschonen. Die da aber haben nichts für uns getan; für sie gilt es nicht.“ – Ihr ausgestreckter Zeigefinger beschrieb einen Halbkreis, und wies damit auf sämtliche Teenager im Raum.
„Ihr seid gebunden,“ stotterte Karen, die so blaß geworden war, das man ein paar Sommersprossen auf ihrem Näschen erkennen konnte, „Die magischen Vorrichtungen, die euch in diese Welt gerufen haben…“
„Sind Taschenspielertricks, nicht mehr!“, fuhr ihr die Blutsaugerin ins Wort, „Ihr meint, ihr könntet zu uns aufschließen, wenn ihr nur dafür sorgt, jemand Wichtiges in eurer Familie zu haben? Laßt euch sagen, Nahrung, daß ein Big Mac vielleicht mächtiger ist als ein Hamburger, aber das fällt einem erst auf, wenn man ihn schon im Magen hat.“
Eher en passant machte sie eine Geste in Richtung der beiden Hexen, die entsetzt aufkreischten. Die unvermittelt in ihren Bewegungen erstarrten, auch wenn ihre Züge weiterhin wechselnde Stadien von Beklommenheit aufwiesen.
„Ihr dürft zuschauen, aber nicht mitmachen,“ kam es überheblich von dem diabolischen Weib, „Ich laß euch die Kontrolle über das Gesicht, damit eure Pupillen dem Geschehen folgen können. Was wäre eine richtige Fete, ohne daß da jemand ist, der die ganze Zeit über schreit?“
Diesmal reichte nur ihr Blick aus, um die beiden in ihren Leibern gefangenen Druden wie am Spieß krakeelen zu lassen.
„Na, also!“, kam es wie nebensächlich zurück, „Geht doch!“
Dann wandte sie sich zu ihrem achtköpfigen Gefolge: „So, meine Lieben. Jetzt dürft ihr eurem Spieltrieb freie Bahn…“
Unvermittelt trat ihr die Tochter des Hauses entgegen: „Raus hier! Das ist mein Fest und mein Heim! Ihr seid nicht eingeladen.“ – Im Angesicht ihres drohenden Todes reagierte sie wohl wie ein in die Enge getriebener Schäferhund, der wild um sich beißt.
„Kleines, tapferes Hürzelchen, du imponierst mir,“ hohnlachte die Untote nur, „Du meinst, nur weil du den zudringlichen Nils rausgeworfen hast, kannst du gleich jeden unerwünschten Gast von deiner Party schmeißen?“
Das also war dem Casanova widerfahren! Damit waren die beiden nicht zusammen… Freilich war die Situation nicht danach, als daß Tim hätte Erleichterung empfinden können.
„Woher… woher weißt…“ – Normalerweise verfügte Ninette über eine ausgesprochen gesunde Gesichtsfarbe, doch jetzt erbleichte sie sichtlich.
„Hürzelchen, ich kann Gedanken lesen – Hat dir das niemand erzählt? Und ich darf dich davon in Kenntnis setzen, daß das hier ab jetzt unsere Party ist. Wußtest du, daß auch ich in diesen Tagen Geburtstag hab‘? Nun darfst du mal miterleben, wie Vampire zu feiern verstehen!“
Sie brauchte keinen Angriffsbefehl zu geben: Die „Brut“ verstand sie stumm! Schon stürzten sie sich auf ihre Beute. Ninette, die sich so weit vorgewagt hatte, stand in ihrer unmittelbaren Schußlinie.
Vermutlich war es das Wissen darum, daß er ohnehin verloren war, das Tim – ohne groß zu überlegen – vorpreschen ließ.
„Runter!“, brüllte er noch und faßte seine Liebste bei den Schultern. Beide stürzten sie zu Boden – Gerade noch rechtzeitig! Das nadelspitze Gebiß der zweiten Sylvia klappte klackend zusammen, ohne den anvisierten Hals getroffen zu haben. Er boxte ihr sogleich in die Magengrube. Da aber langte schon Wadi nach ihm aus. Hastig riß er an der blonden Sylvia, die sich noch krümmte: Sie stolperte über die am Grund kauernde Ninette und kollidierte mit ihrer Gefährtin.
„Zum Nachtschrank! Schnell!“, keuchte er seiner Angebeteten zu, als hätte er niemals Probleme gehabt, mit ihr zu sprechen.
Sie schien seine Gedanken zu erraten: Urplötzlich schob sie sich vor, kam an der verdutzten Lara vorbei und erreichte das bezeichnete Möbelstück.
Er wollte es ihr gleich tun, sprang auf – Doch Wadi schnappte sich seinen Fuß, und er strauchelte Lara unmittelbar in die Arme. Die machte sich einen Spaß daraus, ihren nackten Leib in voller Länge an seinen zu pressen, und ihn daran zu erinnern, daß er nach dem Intermezzo mit Conny nicht unbedingt vollständig angezogen war. Nicht nur das Gefühl ihrer spitzen Zähne an seiner Gurgel ließ es in ihm prickeln.
Doch just quietschte sie auf – Gute Ninette! Sie hatte sich die Petroleumfunzel auf dem Nachttisch geschnappt, und die üppige, fuchsrote Mähne der Untoten anvisiert. Das Öl ließ sie brennen wie Zunder. Wadi warf sich tollkühn auf ihre Komplizin, die Flammen zu ersticken, doch auch deren Heuhaufen von Frisur war nicht leicht zu verfehlen.
Damit aber war der Vorratsbehälter der Lampe geleert, und mit dem Feuerzeug allein war nicht mehr viel auszurichten. Zumal die anderen gerade Conny überwältigt hatten, die nun ähnlich unbeweglich an der Wand kauerte, wie Iris und Karen auf ihren Sesseln hockten. Auch sie war größtenteils in Starre verfallen, und doch hatte man ihr die Gesichts- und Kehlkopfmuskulatur gelassen, nur damit ihr panisches Schreien die Dramatik der Situation unterstreichen konnte.
Harald sprang mit Jasmin vom Bett, über die Laken verfolgt von Muggie und Bibi. Hastig schnappte er sich die andere Leuchte und schüttete den Inhalt über die Decke. Sie entzündete sich sofort, und zwei gleichfalls entfachte Monster sprangen grauenhaft quiekend von dem Lager. Dafür aber wurde er nun von Sarah und Bente attackiert.
Ninette und ihrem Verehrer war eine kurze Atempause vergönnt, waren Natalie und die blonde Sylvia doch damit beschäftigt, ihre rauchenden Spießgesellinnen zu löschen. In aller Eile zog Tim an der lodernden Decke, achtete nicht auf die Schmerzen, als er sich die Pfoten versengte – Ehe noch jemand den spontanen Plan in seinen Gedanken lesen konnte, schmiß er sie in Richtung auf die Schwarze Sylvia selbst.
Die aber hauchte unvermittelt schwarzen Nebel aus, und sämtliche Lohen waren jählings erstickt.
Die Tochter des Hauses allerdings, sie wußte, wo im Schlafzimmer was aufbewahrt wurde: In der Schublade lag Mamas Haarspray, und sie hatte immer noch das Feuerzeug in der Faust.
Die Schwarze Sylvia, sie hatte sich zu sehr mit Tim beschäftigt, um auf sie zu achten. Mit dem jäh improvisierten Flammenwerfer rechnete sie nicht. Auch ihre schwarze Lockenpracht ließ sich leicht entfachen.
Die ‚Brut‘ kam sogleich herbei geeilt, der Herrin beizustehen. Ninette jedoch geriet in Berserkerwut und sprühte wild um sich. Sprühte noch, als das Fläschchen abrupt leer war. Konnte es nicht begreifen, daß sie auf einmal wehrlos war.
Da packte Tim sie bei der Hand – Noch waren ihre Feinde eingeschüchtert! Das galt es zu nutzen. Er zerrte seine Gefährtin in Richtung Tür. Nahm Anlauf, das Hindernis einzurennen.
Da versteifte sein Körper abrupt, und er schlug auf dem Boden auf. Konnte nur noch die Visage bewegen, und fühlte sich hilfloser, als Kafkas Käfer. Er mit seinem Basiliskenblut, das ihn anfälliger machte als alle anderen!
Ninette selbst schaffte es noch bis in die Füllung des Ausgangs, aber allein war sie viel zu schwach, das Holz aus den Angeln zu brechen. Noch bevor sie einen zweiten Versuch starten konnte, hatten die Gegner sie erreicht. Mit einem Schrei des Schreckens warf sie sich nach rechts – Doch da waren sie auch schon. Knurrten sie an! Sie prügelte blind um sich. Schleuderte sich rückwärts, Bente umzurennen. Die aber nahm sie in den Schwitzkasten, zog ihr das Kinn hoch, daß ihr Hals frei lag. Natalie kam heran geschossen, ihr den tödlichen Biß zu verabreichen – Urplötzlich zersplitterte laut krachend ein ganzer Nachttisch auf deren Schädel! Sie brach benommen zusammen: Harald war unverhofft in der Meute aufgetaucht, und schlug mit allem um sich, das er in die Pranken bekommen konnte.
Jasmin indes veranstaltete allen Ernstes eine Kissenschlacht: Eine der gefederten Kopfpolster hatte gleichfalls Feuer gefangen, und sie schlug damit um sich, als wäre es ein Morgenstern. Doch wo sie rechts gerade Muggie auf Distanz hielt, fiel links Sarah über sie her.
Ninette wollte rasch unters Bett kriechen, wo sie sich besser verteidigen konnte. Doch Bente war schneller und warf sich mit Wucht auf die Fliehende. Die jedoch schnappte sich, was sie gerade in die Finger bekam, und zog an den langen, goldblonden Haaren ihrer Häscherin. Da aber verkrampfte sie sich, erkannte zu spät, daß sie just von der Schwarzen Sylvia persönlich fixiert wurde. Auch das Geburtstagskind war nun von Starre befallen.
Übrig blieben nurmehr Harald und Jasmin, die allein gegen neun Ungeheuer zu bestehen hatten. Auch gegen sie wurden kalte Blicke geschleudert, aber seltsamerweise froren sie nicht mitten in ihrer verzweifelten Verteidigung ein. Ja, Harald stürzte sich sogar todesmutig vor, und umarmte mehrere der Blutsauger, daß sie sich allein mit ihm befassen mußten. Er wurde an mehreren Stellen gleichzeitig gebissen, aber dadurch hatte seine Verbündete Gelegenheit, die Furien von hinten in Brand zu stecken. Die Furien, die sich dem engen Griff so rasch nicht entwinden konnten! Die jaulten wie ein Dackel in der Waschmaschine!
Tim, er hätte so gerne eingegriffen, aber er war zur Untätigkeit verdammt. Konnte nur hilflos mit anschauen, was sich um ihn herum abspielte. Es war fast so wie auf dem Pausenhof, als er Nils Baggerversuche hatte miterleben müssen, ohne etwas dagegen tun zu dürfen. Oder wie in jenem Alpdruck, in dem er sich wie im verwesenden Leib eines Zombies vorgekommen war. Er könnte sich höchstens Gedanken machen…
„Ein Drachenenkel also!“, hatte die Schwarze Sylvia im Stall der Carstensens gemurmelt, als sie in Haralds Geist auf ein Geheimnis gestoßen war. Erst jetzt fiel Tim auf, daß die Blutsauger allesamt auf ihn konzentriert gewesen waren, als sie ihn in jenem Bauernhof mesmerisiert hatten. Daß er eine jede von ihnen in seinem Geist gespürt hatte, sie sich also nicht in dem seines Kumpels befunden haben konnten. Und auch auf der Straße hatten sie sich alle auf ihn gestürzt, so daß sein Kamerad unbelästigt genug gewesen war, dem Lkw auszuweichen und in den Knick zu springen. Es mußte also etwas an ihm sein, daß sie von ihm abgehalten hatte. Und ein Kruzifix hatte er sich gewiß nicht in den Nacken tätowieren lassen!
Was hatte ihm Witha in dem Traum der letzten Nacht offenbart?
„Wenn man ihn (den Drachen) zu kontrollieren versucht, gleiten die Befehle einfach ab, und werden mit dem nächsten Schub neuer Ideen zurückgeworfen. Man muß sich schon was einfallen lassen, um ihn zu beherrschen.“
Daß sie Harald als Drachenenkel nicht so einfach in ihre geistige Gewalt zwingen konnten, damit hatten sie scheinbar gerechnet. Aber wieso blieb Jasmin genauso immun gegen die Versuche ihren Geist zu bezwingen? Sie, die ohne Vater, aber mit zwei Hexen als Müttern aufgewachsen war…
Was hatte die Frau Oberbösewicht gerade eben gesagt?
„Ihr meint, ihr könntet zu uns aufschließen, wenn ihr nur dafür sorgt, jemand Wichtiges in eurer Familie zu haben?“
Plötzlich fiel es ihm wie die Schuppen eben jenes Lindwurms von den Augen. Die Untoten hatten ihm seine Stimme gelassen, damit er brüllen konnte: Dann wollte er ihnen diesen Gefallen doch tun! Freilich auf eine andere Weise, als sie erwartet haben mochten.
„Jasmin! Wer ist dein Vater?“, krakeelte er aus Leibeskräften.
Die Angesprochene konnte ihn in dem Tumult tatsächlich hören.
„Ich weiß nicht!“, wimmerte sie zurück, „Meine Mamas haben mir nur gesagt, daß er sich bei meiner Zeugung erkältet hat!“
Zu weiteren Worten kam sie nicht mehr, denn justament brach das Bollwerk Harald vor ihr zusammen. War noch bei Bewußtsein, doch all die Bisse hatten ihm zuviel Blut gekostet. Seine Haut schimmerte in einem ungesunden Blau, und es war ihm anzusehen, daß er nur noch Minuten am Leben sein würde. An mehreren Stellen klafften ihm paarige, kreisrunde Löcher in der Epidermis. Er gab jegliche Gegenwehr auf, und sank entkräftet gegen die Tapete. Mußte Jasmin sich selbst überlassen.
Doch er fand noch die Kraft zu sprechen. Unvermittelt wandte er sich an die beiden Druden: „Stimmt das?“
„Ja!“ – Iris vermochte es kaum, vor Hysterie ein verständliches Wort zu formulieren.
„Ist sie Ende November oder Anfang Dezember gezeugt worden?“
„Ja! In der Nacht zum zweiten Dezember, auf dem Pausenhof unser alten Grundschule!“
Auch Karen brachte es nun fertig, sich wieder einigermaßen verständlich zu artikulieren: „Mitten im Winter war das! Iris und ich haben uns dabei selber einen gehörigen Schnupfen eingefangen, daß wir tagelang im Bett lagen.“ – Der Terror mußte sie dermaßen verwirrt haben, daß ihr gar nicht aufging, was für belanglose Details sie ausplauderte.
Er war kaum mehr bei Kräften, aber diese Nachricht elektrisierte ihn noch einmal: „Klaus Börnsen ist am dritten September ins Krankenhaus eingeliefert worden, wegen einer heftigen, akuten Grippe. Er ist im Unterricht zusammengebrochen – Ich weiß es, weil das der Tag gewesen ist, an dem sich Withas Schwester umgebracht hat.“
„Wer ist Klaus Börnsen?“ – Jasmin konnte mit dem Namen nichts anfangen. Hatte damit zu kämpfen, daß die Flammen ihres Kissens mehr und mehr verloschen, während von allen Seiten geifernde Mädchen mit spitzen Zähnen auf sie zu gekrochen kamen.
„Mein Vater!“, schnaufte Harald, dem zunehmend die Kontrolle über seinen Körper zu entgleiten drohte, „Nicht der, den meine Mutter geheiratet hat, sondern der, der sie geschwängert hat… Wir müssen den selben Papa haben!“
Die Vorstellung, es auf der Fete einer Freundin vor aller Augen mit einem Mitschüler „getan“ zu haben, war schon unangenehm genug. Aber dann auch noch mit jemandem, der sich als ihr Halbbruder herausstellte? Hätte sie sich nicht gerade zweier Angreiferinnen zu erwehren gehabt, hätte sie diese Mutmaßung ebenso vehement, wie lautstark abgestritten. Schon allein, um sich selbst jeden Zweifel auszureden…
Wild peitschte sie mit dem Kissen um sich, doch ihre Kontrahentinnen wichen den Schlägen aus. Sie hatten Zeit. Konnten abwarten, bis auch die letzte Lohe am Kopfpolster ausgegangen sein würde…
Aber Harald schien das Kombinieren neue Kräfte verleihen: „Du und ich, wir sind die Klassenbesten in Mathematik – Ich hätte es ahnen müssen!“
„Das ist Blödsinn!“, keuchte sie, als sie sich urplötzlich einer Attacke von Sarah erwehren mußte, „Dann müßten ja alle Geschwister sein, die gut in der Schule sind. Oder deren Eltern mal erkältet waren.“
„Dann hilft nur noch ein Test,“ rief der Dahinsiechende so laut, wie es ihm noch möglich war, „Schnell! Es geht um die Drei-, beziehungsweise n- Teilung eines Winkels mittels verzerrter Projektion!“
„Was soll der Blödsinn?“, ächzte sie, und schob seinen wahnwitzigen Vorschlag auf die verwirrten Vorstellungen eines Sterbenden, „Es ist bewiesen, daß es für dieses Problem keine Lösung gibt.“
In dem Augenblick brannte das Stück Bettwäsche nicht mehr. Glomm nurmehr nutzlos vor sich hin.
Er aber ließ sich nicht beirren: „Zwischen den beiden Schenkeln a und b des Ausgangswinkels α zeichne man zwei Bögen ä und ä| mit α als Kreismittelpunkt.“
Sie verstand immer noch nicht, worauf er hinauswollte. Hatte ohnehin ganz anderes zu tun, als sich ausgerechnet mit geometrischen Fragestellungen zu befassen. Gerade preßte sie der vorstoßenden Bibi den letzten Rest Glut in die Visage, daß die erstickt in den Stoff jaulte.
„Auf ä| (Ein Vertauschen von ä und ä| ist möglich) stecke man n identisch lange, aufeinander folgende Abschnitte ö... ö(n-1)| ab. Die absolute Länge dieser Abschnitte ö... ö(n-1)| ist beliebig (n • ö < ä| ist nützlich, da bei n • ö > ä| der Bogen von ä| über einen der Schenkel hinaus verlängert werden müßte; n • ö = ä| ergibt eine zufällige n- Teilung des Ausgangswinkels).“
Sie schrie, als ihr Sarah in den Hals beißen wollte. Preßte beide Hände mit Mühe gegen den Kopf der Angreifenden, hatte aber nicht die Kraft, sie über längere Zeit von sich fern zu halten. Zumal von den Seiten her Muggie und Bente kamen!
„Der Anfangspunkt der auf ö basierenden Abschnittsreihe wird mit dem Kreuzungspunkt von ä und dem nächstliegenden Schenkel verbunden, der Endpunkt mit dem Kreuzungspunkt von ä und dem anderen Schenkel.“
Völlig unvermittelt ging da eine Wandlung in ihr vor, und aller Panik und der Hitze des Gefechtes zum Trotz legte sich ein Ausdruck des Erstaunens in ihre Züge, als sie ergänzte: „Die hierbei erhaltenen Strecken werden verlängert, bis sie einander am Punkt ü kreuzen.“
„Von diesem Punkt ü aus werden gerade Verbindungslinien zu den einzelnen Abschnittsgrenzen auf ä| gezogen,“ war von neuem Haralds immer ferner und schwächer klingende Stimme zu vernehmen.
„Sämtliche von ü nach ä| ausgehenden Strecken werden verlängert, bis sie ä schneiden,“ kam es fast schon fragend von Jasmin, die nicht zu begreifen schien, warum sie auf einmal über ein derart arkanes Wissen verfügte. Es gelang ihr zumindest, Bentes Griff abzuschütteln.
„Diese erhaltenen Schnittpunkte auf ä werden mit α verbunden, wodurch α in n gleich große Teilwinkel unterteilt wird,“ vervollständigte ihr mehr und mehr dahinscheidender Mitstreiter den Beweis, „Also bist du wirklich ein Drachenenkel. Genau wie ich!“
„Was… was hat das zu bedeuten?“ – Wieder schnappte Sarah nach ihrer Kehle aus. Sie hatte wirklich nicht die Muße, sich um seine abstrusen Phantastereien zu kümmern.
„Wir haben ähnliche Frequenzen. Wenn einer von uns eine Idee hat, wird sie auch bald dem anderen einfallen.“ – Es war erstaunlich, daß Harald in seinem Zustand noch zu derlei tiefschürfenden Erklärungen fähig war – „Der Drache hat immer für die Kreativität gestanden, für ungewöhnliche Einfälle. Auch was die Mathematik angeht… Wir müssen unsere Kräfte bündeln.“
„Kräfte?“, kreischte sie, „Ich kann mich nicht mal mehr selbst verteidigen.“
Dabei glitt ihr Sarahs Schädel aus den Händen, und ohnmächtig mußte sie spüren, wie die Lippen der Untoten ihre Gurgel entlang fuhren.
„Das meiste, was ich noch an Drachenkraft in mir hab‘, brauch‘ ich, um mich am Leben zu halten,“ stöhnte er matt, „Du mußt zu mir kommen… Mein Körper allein hat nicht mehr die nötige Energie dazu.“
„Du bist lustig!“, wimmerte sie mehr, als daß sie schimpfte, denn just bohrte sich ein Paar spitzer Fangzähne in die Haut ihres Halses. Genau an der Stelle, wo eine Schlagader vor Entsetzen pumpte.
„Warte!“, seufzte er müde.
„Warten??? Hiiilfeee!!!“
Jäh durchbrach eine Art Röhre die aureal funkelnde Atmosphäre der Kammer. Schoß genau in die Richtung, in die der Entschlafende seinen brechenden Blick gerichtet hatte. Traf die drei Blutsaugerinnen mit einer Wucht, daß sie von ihrer sicher geglaubten Beute herunter geboxt wurde. Sarah knallte mit dem Schädel gegen den Bettpfosten, und verlor darüber noch einen ihrer Armreife.
Der Anblick war schwer zu beschreiben. Eine Art goldener Tornado hatte sich gebildet, der waagerecht durch den Raum verlief, und dabei die Wand durchbrach, ohne daß sie Schaden nahm. Er ging von Haralds Kopf aus, und obwohl sich die kreisrunde Mündung nur vor seinen Augen auftat, wurden auf einmal alle Anwesenden der Vision dessen teilhaftig, die sich ihm beim Schauen in den Schlauch hinein darbot. Das Bild war noch arg verschwommen, doch war deutlich die Silhouette von etwas Großem, Langgestreckten vor einer weiten, mondbeschienenen Landschaft auszumachen, die sich wie ein Fremdkörper in der Enge des Schlafzimmers ausnahm.
„Was ist das?“, kam es konsterniert von Jasmin, die sich eher instinktiv unter diesem bizarren Phänomen hervor schob, „Sind das deine Drachenkräfte?“
„Nein,“ hauchte er schlaff, „Das ist das Portal ins Jenseits. Es tut sich immer auf, wenn jemand stirbt. Normalerweise kann man es nur wahrnehmen, wenn man selbst krepiert. Aber die Hexen haben ja die aureale Sphäre herbei beschworen, und in ihr verstärken sich nicht nur Gefühle.“
„Und… was kann ich tun, wenn ich eine… Drachenenkelin bin?“ – Sie hatte spürbar Probleme damit, diese neuen Erkenntnisse zu verarbeiten. Auf Händen und Knien kroch sie zu dem in den letzten Zügen Liegenden.
„Tu, was du fühlst, denn in der aurealen Sphäre kannst du als Mitenkelin meine Gedanken spüren.“
Etwas unsicher hockte sie sich neben ihn, als wollte sie seinem erkaltenden Leib etwas von ihrer Körperwärme abgeben, starrte dann aber auf den Tunnel, und wirkte dabei zunehmend konzentrierter.
„Schnell!“, keuchte er, „Wir brauchen unsere vereinten Kräfte, um die Richtung des Tunnels zu steuern.“
Zu traumatisiert, als daß sie sich noch auf ihre eigene Vernunft und die Regeln der Alltagslogik verlassen hätte, tat sie, was er von ihr forderte. Tatsächlich fing die wirbelnde Röhre an, ihre Bahn zu verändern, und dabei an Größe zuzunehmen.
„Nur Drachenkinder können den Verlauf der Pforten lenken,“ gab sich die Schwarze Sylvia unbeeindruckt. Bisher hatte sie dem ganzen Treiben eher mit stillem Amüsement zugesehen, wohl weil ihr Eingreifen der „Brut“ jede Möglichkeit genommen hätte, eigene Erfahrungen zu sammeln. Auch wenn sie hier und da mal Medusa gespielt, und Leute versteift hatte, so schien ihr doch die Richtung ihrer etwas angekokelten Frisur wichtiger zu sein.
„Und ihr seid gerade mal Drachenenkel!“, ergänzte sie ihre gerade ausgesprochenen Worte um eine Erklärung. Während sie sich vor der Kommode kämmte, räumte sie mit dem Vorteil auf, Vampire hätten kein Spiegelbild.
„Aber wir sind vereint.“ – Harald war zu ermattet, als daß er noch den Eindruck erweckte, den Untoten ernstlich Widerstand leisten zu können.
„Ha! Zwei Drachenenkel sind noch lange nicht so stark wie ein Drachenkind!“, höhnte ihre Feindin, und löste sich dabei von ihrer Reflexion, „Die Reinheit eures Erbes mag sich addieren, aber genauso tut es die Verwässerung! Eins minus drei Viertel ist nicht Eins, und zwei mal Eins minus zwei mal drei Viertel ist es auch nicht. Ihr seid gar nicht in der Lage, das Portal auch nur irgendwie zu…“
Urplötzlich hielt sie inne, und mit dem Anflug von Erstaunen lag zum ersten Mal etwas anderes als unterkühlte Süffisanz in ihrem von schweren, lang bewimperten Lidern überschatteten Blick. Fast schon ungläubig stierte sie auf Jasmin… allerdings nicht in deren Entschlossenheit ausdrückende Miene, sondern auf ihren Bauch. Jasmin Carstensen war nur ein Drachenenkel, aber dort, wo sich bei ihre Eileiter befinden mußten, machte sich etwas bemerkbar, daß weitaus mächtiger zu sein schien. Natürlich! Das, was sie und Harald im Bett von Ninettes Eltern getrieben hatten, war nicht ohne Folgen geblieben. Das Vermächtnis zweier Drachenenkel hatte sich hier vereint, ohne die kontaminierenden Schwächen der entfernteren Generation zu übernehmen. Zwei miteinander verschmolzene Zellen waren es nur, eine simple Zygote, aber sie hatte das Potential eines echten Drachenkindes. Und sie war noch Teil der mütterlichen Anatomie, daß sie dem Willen der Mama gehorchte, wie eine einfache Muskelfaser oder Leukozyte auch. Damit vereinte die unverhofft Schwangere faktisch die Kraft von Sohn/ Tochter und Enkelin in sich!
Die Schwarze Sylvia jedoch hatte für ihre Bemühungen nur ein säuerliches Grinsen übrig: „Und wenn schon? Was wollt ihr denn zu eurer Unterstützung holen? Den Drachen selbst vielleicht? Der steht doch kurz vor dem Vergehen; der ist dermaßen schlapp geworden, daß ihn einfache Sterbliche schon einschüchtern können.“
Sie setzte schon an, das Signal zu ihrer Vernichtung zu geben, als Harald trotzig erwiderte: „Wer sagt denn, daß wir ihn gerufen haben?“
Er hatte sichtlich Mühe, die Augen offen zu halten, aber die Aussicht, zum vernichtenden Schlag ausholen zu können, mobilisierte noch einmal seine letzten Reserven.
„Na, wen würden seine Abkömmlinge wohl sonst herbei zitieren wollen,“ reagierte sie unwirsch, als fühlte sie sich in ihrer Intelligenz beleidigt, „Die Spinne vielleicht? Die ist auch längst nicht mehr die, die sie mal gewesen ist.“
Es war kaum noch Leben in ihrem Kontrahenten, und er schaffte es wohl auch nicht mehr, noch einen vollständigen Satz zu formulieren. Aber ein grimmiges Triumphieren sprach aus seiner Mimik, als er mit großer Anstrengung ein einziges Wort hervorbrachte: „Überraschung!“
Sie war nicht der Typ Frau, den man allzu leicht aus der Fassung bringen kann, aber dafür kreischten die Mädchen der „Brut“ jäh auf, als sich auf der anderen Seite des Tunnels abrupt eine Gestalt manifestierte, die sich kaum beschreiben läßt. Deren Anblick allein nicht nur sensiblere Naturen die geistige Gesundheit rauben konnte. Düstere Schwaden voll gequälter Schreie umwaberten eine Art gigantische Raupe, wie sie selbst die gräßlichsten Oneirodynien nicht erfinden können. Doch bei genauerem Hinsehen konnte der, der noch bei Verstand geblieben war, erkennen, daß es sich ganz und gar nicht um eine monströs mutierte Insektenlarve handelte, sondern um eine Entität, die aus mehreren miteinander verschmolzenen und dabei aufs Grausamste mißgestalteten Körpern bestand. Manche dieser armen Gestalten – Es schienen auch Menschen darunter zu sein, aber überwiegend Vampire und Ungeheuer – mußten noch über Reste eines eigenständigen Bewußtseins verfügen, denn sie stöhnten und wanden sich in nicht enden wollender Agonie, ohne sich aus der Anatomie des abscheulichen Wesens lösen zu können. Der Großteil der Opfer jedoch war miteinander zu etwas Neuem kombiniert und modelliert worden, daß nicht mehr auszumachen war, wo die entstellte Physis des einen endete, und die des anderen begann. Ja, viele waren dermaßen verzerrt und verformt worden, daß sich etwa ihre Augen an Vorder- oder Rückseite der grotesken Kreatur sammelten, während sich Arme und Beine eher in der Mitte befanden. Aus Rippen und Lungen waren Rüssel und Tentakel gebildet worden, und den Rücken entlang verlief eine aus Kopf- und Schamhaaren kreierte Zone, die an ein Beet bizarrer Hanfpflanzen, Lianenranken und Venusfliegenfallen erinnerte. Ringelnde Bewegungen unter der Haut gaben dem Ungetüm etwas von einer Made, während sich die Farbe ständig zu verändern schien, und dabei auch Nuancen annahm, die dem Auge eines Staubgeborenen nicht bekannt sind. Bombastische Organe zeichneten sich dort ab, wo die Epidermis die Transparenz exotischer Aquarienfische aufwies, während einem an anderer Stelle exoskelettale Strukturen den Anblick der Innereien ersparten. Auch die schienen aus ursprünglich eigenständigen Individuen geknetet und umgestaltet worden zu sein. Manche von ihnen wimmerten noch, während sie sich als Dickdarm oder Schlagader wanden und zusammenzogen.
Am scheußlichsten jedoch war die Visage jenes Wurms, die ohne jeden Kopf oder Halsansatz die Front des walzenförmigen Leibes abschloß. Unzählige Kiefer waren zerbrochen und miteinander zu einem verschweißt worden, daß das Hauptmaul groß genug war, um Dinosaurier zu verschlingen. Es wurde flankiert von kleineren Mündern und Freßwerkzeugen, die man eher von Krebsen, Spinnen, Käfern und Ameisen her kannte, und war gespickt mit allen Sorten von Zähnen, daß man sich an den Rachen einer Muräne denken mußte. Darüber tastete ein aus mehreren Komponenten bestehender Saugrüssel wie blind hin und her, für den die Stechorgane der Mücken Pate gestanden haben mochten. Augen, Ohren und Nasen waren wie unsortiert über den ganzen Bereich verteilt, manche dermaßen mißgebildet, daß einem allein beim Anschauen schon übel wurde.
Als diese Spottgeburt zu sprechen begann, wurden mehrere Zungen sichtbar, die selbst wiederum an Stielen sitzende Kauapparate mit eigenen Beißern und Schlund waren. Aber auch die deformierten Gesichter weiterer Personen, die zu Teilen der Schleimhaut verwoben worden waren.
„Meine lieben Abkömmlinge!“, krächzte sie mit einem Schnarren, das aus mehreren Kehlen gleichzeitig zu kommen schien, „Habt ihr euch also aus euren Verstecken gewagt! Sagt, wollt ihr nicht auch wieder Teil des Großen und Ganzen werden, so wie viele eurer Brüder und Schwestern?“
„Der Basilisk!“, kam es endlich mit hörbar belegter Stimme von der deutlich erblaßten Schwarzen Sylvia, „Ihr bösen Hürzelchen habt den Basilisken gerufen!“
„Einer von den ganz Alten, genau wie Drache und Spinne auch,“ bestätigte Harald ihre Befürchtungen mit einer unverhohlenen Schadenfreude, daß nicht zu erkennen war, woher er überhaupt noch die nötige Energie bezog, um doch noch ganze Sätze sprechen zu können, „Und er ist nicht ganz so ohnmächtig, gell? Weil er immer dann, wenn seine Amplituden abflachen, seine Nachfahren auffrißt, um seine Frequenzen wieder stärker zu machen. Würde es euch nicht gefallen, den Rest eurer Unsterblichkeit als Bauchspeicheldrüse oder Schließmuskel zu verbringen?“
„Ihr… Ihr Menschen!“, schimpfte seine Feindin, doch vor Entsetzen war mehr Keuchen als Stimme in ihrem Timbre. Hastig schnappte sie sich ihre acht Zöglinge, und schon verpuffte sie mit ihnen zu schwarzem Brodem, daß ein Knall die Wände des Zimmers zum Beben brachte. Die düsteren Schwaden lösten sich rasch auf, und die Furcht, die von ihnen ausstrahlte, war keine mehr, welche die Anwesenden einschüchterte. Drückte nichts anderes mehr aus, als die Panik der flüchtenden Blutsauger selbst.
Mit ihrem Verschwinden endete auch die Starre, die Conny, Ninette und Tim befallen hatte.
„Jetzt verstecken sie sich wieder dort, wo ich sie nicht finden kann,“ nörgelte unterdessen die als „Basilisk“ titulierte Entität, „Dabei hatte ich ohnehin vorgehabt, sie zu verschonen, weil sie Fähigkeiten entwickelt haben, die ich in der Zukunft noch zu nutzen gedenke!“
Sie machte allerdings keinerlei Anstalten, die Pforte zu durchschreiten, und gerade mal etwas von ihrem miasmatischen Gestank drang in die Kammer herein. Stattdessen wandten sich diejenigen ihrer Augen, die über eine Pupille verfügten, nach links.
Tatsächlich schwebte nun von dort die weißlich funkelnde Gestalt eines kleinen Mädchens mit nordischen Zügen und einer flachsblonden Ponyfrisur ins Bild: Witha! Sie schob sich vor das Ungeheuer, als wäre es gar nicht da. Wandte ihm sogar den Rücken zu: Das „bißchen Spinne“, das sie als ihr Erbe betrachtete, war offenbar potent genug, daß sie selbst eine solch übermächtige Entität nicht zu fürchten brauchte. Falls die nicht ohnehin nur an seiner eigenen Nachkommenschaft interessiert war.
Man brauchte nicht sonderlich Phantasie, um sich auszumalen, daß die Kleine auf der anderen Seite des Todes eifrig mitgeholfen hatte, das Portal zu öffnen, und auch noch auf den Basilisken auszurichten.
Nun aber hatte sie anderes im Sinn.
„Es ist soweit, Harald!“, säuselte sie durch den wirbelnden Tunnel, „Du brauchst jetzt nicht mehr weiter zu kämpfen. All deine Aufgaben auf Erden sind vollbracht.“
Sie hatte Tränen in den Augen, als ihre roten Lippen beim Lächeln ein Dreieck formten, und sie die Arme ausbreitete, ihren Gefährten willkommen zu heißen. Von überall her erklang auf einmal eine herzzerreißend schöne Musik, die sich aus Streichern, Grillenzirpen und dem hohen Funkton des Fernseh- Testbildes zusammenzusetzen schien. Sie war zu überirdisch, zu sublim, als daß der menschliche Geist sie zur Gänze hätte erfassen können. Brachte selbst leblose Objekte zum Wimmern.
Harald schluchzte. Schluchzte, daß ihm die Zähren nur so die Wange herabliefen. Aber dabei drückten seine Züge eine stille Freude aus, wie sie nur bei Menschen vorkommt, die bereits geglaubt haben, nie wieder glücklich sein zu dürfen.
„Ich komme, Witha! Ich komme endlich…“, hauchte er so schwach, daß es nur noch die in nächster Nähe stehenden vernehmen konnten. Er atmete aus, und es war zu erkennen, wie er die geradezu verkrampfte Anspannung, mit der er sich in den letzten Minuten noch bei Bewußtsein gehalten hatte, aufgab. Wie er einfach losließ. Schon schloß er die Lider, und dieses Mal war es für immer. Der Ausdruck erschöpfter, aber seliger Erleichterung in seinem Gesicht wich keinem anderen mehr, als sein Hinterkopf gegen die Tapete zurück sank.
Es mußte immer noch an der golden glitzernden Sphäre liegen, welche die Hexen heraufbeschworen hatten, daß die Zurückbleibenden Augenzeugen wurden, wie sich ein Schemen aus dem erschlaffenden Körper herauslöste. Ein Schemen, der nicht die Umrisse des Fünfzehnjährigen hatten, als den sie den Sterbenden kennengelernt hatten, sondern die eines kleinen Buben, der nicht älter sein konnte als Witha.
Er rannte in die Röhre hinein, jauchzte vor Vergnügen und schloß seine auf der anderen Seite wartende Freundin in die Arme. Nur wer lange Jahre von seiner Liebsten getrennt gewesen ist, vermag zu ermessen, welche Wonne von ihnen ausstrahlte, als sie sich so inniglich herzten, als wollten sie einander nie, niemals mehr loslassen.
Dabei verblaßte das Portal mehr und mehr, wie ein altes Foto in der Sonne, bis es nirgends mehr zu erkennen war. Doch das heitere Gickeln und Kichern der beiden Kinder, es sollte noch eine kleine Weile von den Wänden widerhallen. Und erst verklingen, als sich auch die unbeschreiblich zauberhafte Melodie mehr und mehr im Echo auflöste. Das aureale Glitzern der von den Zauberinnen beschworenen Sphäre zersetzte sich gleichfalls wie Schneeflocken im Sommer, und die Realität hielt allmählich wieder Einzug.
Zurück blieben die immer noch verstörten Teenager, zusammen mit Iris und Karen. Gerne hätten sie geglaubt, alles wäre nur ein böser Traum gewesen, aber das verwüstete Mobiliar und die erkaltende Leiche ihres Freundes belehrte sie eines Besseren.
Jasmin streichelte dem Toten durchs Haar, und ihr feuchter Blick war liebevoll dabei.
„Nicht alles von dir ist gegangen,“ hauchte sie, und tätschelte dabei sanft ihren Bauch, „Neun Monate nur, und dann wird ein kleiner Harald kommen. Und er wird mich an dich erinnern, solange ich lebe. Nein, du wirst niemals wirklich tot sein!“
Ninette hielt es nicht mehr aus. Alle waren sie am Schniefen, aber dieser anrührende Moment ließ das Faß überlaufen. Sie verlor jegliche Kontenance und brach lautstark in Tränen aus, daß es sie nur so durchschüttelte.
Es geschah von selbst, und in der Trauer, die sie vereinte, war es das Natürlichste auf der Welt, daß Tim sie an sich drückte. Sie hielt, ihr Trost zu spenden, obwohl auch er am Weinen war. Das Mitgefühl war so stark, daß er noch nicht einmal Freude dabei empfand, als sie auch ihn umarmte. Sein kleines, ängstliches Selbst, es war so bedeutungslos geworden jetzt! Er spürte nichts deutlicher als den Wunsch, immer für seine Liebste da zu sein. Ihr Kraft zu geben, wenn sie sich schwach fühlte, und Lebensmut, wo sie zu verzweifeln drohte. Wenn er es in der Hand hatte, sie glücklich zu machen, so wollte er aufgehen dafür.
Conny und Jasmin hielten einander gleichfalls wie einträchtige Schwestern. Flennten unbekümmert, denn wen gab es hier, der sie deswegen verspotten mochte?
Iris und Karen waren nicht mehr im Raum. Sie hatten sich so klammheimlich davongestohlen, wie sie gekommen waren. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht, nämlich Großmütter eines mächtigen Geschöpfes, eines Drachenkindes zu werden, so wie sie auch bei der Zeugung ihrer Tochter nur darauf hingearbeitet hatten, das Erbe dieses Fabelwesens in ihren Stammbaum zu bekommen.
Aber so einfach würden sie freilich nicht davonkommen; dafür würde ihr Fräulein Tochter schon sorgen, wenn sie heim kam. Ihrer Tochter, der sie wohl kaum mehr Schaden zufügen würden, wo sie doch nun den Lindwurmsprößling austrug. Ab heute würde in dem Carstensen- Anwesen ein anderer Wind wehen!
Da ging die Tür auf. Offenbar hatten die Hexen kurz vor ihrem unbemerkten Fortgang noch daran gedacht, das Schloß zu entriegeln.
Die übrigen Fetengäste glotzten verdutzt auf das Bild, das sich ihnen bot. Doch niemand beachtete sie. Auch Tim und Ninette nicht, obwohl er doch Zeit seines Lebens in der Furcht vor der Verachtung seiner Mitmenschen verbracht hatte! Nein, es war nichts dabei, daß sie sich vor sämtlichen Anwesenden aneinander klammerten. Sie spürten intuitiv, daß es keine festere Burg gegen die Lästerungen und Angriffe der anderen gab, als das Wissen um die Verbundenheit des anderen. Um das, was ihnen wirklich wichtig war.
Als sie einander in die Augen schauten, lasen sie Vertrauen.
Dann küßten sie sich.

 

Kommentare  

#1 Donna Grace 2019-07-11 20:06
Ich wende mich jederzeit an einen Vampir, wenn ich will. Ich werde ein Vampir wegen der Art und Weise, wie die Menschen mich behandeln, diese Welt ist eine böse Welt und nicht fair zu jedem Körper. am Snack meines Fingers werden Dinge gemacht, die geschehen. Bin jetzt eine mächtige Frau und niemand tritt auf mich ohne eine Entschuldigung geht frei. Ich wende mich auch dem Menschen zu jeder Zeit zu, die ich möchte. und bin eine der gefürchtetsten Frauen in meinem Land. Ich werde ein Vampir durch die Hilfe meines Freundes, der mich in ein Vampirreich vorstellt, indem ich mir ihre Nummer gab. wenn Sie ein mächtiger Vampir werden wollen, kontaktieren Sie bitte das Vampir-Königreich whatsApp unter +1 4313007649 auf ihre

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