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Heyne Science Fiction Classics 19 - Yves Gandon

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 19: Yves Gandon
Der letzte Weiße

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Betrachtet man die ganze Reihe der Heyne Science Fiction Classics, fällt auf, dass von den etwa 120 Titeln gerade zwei von Franzosen stammen. Das ist mickrig, aber durchaus repräsentativ für die Marktsituation der letzten Jahrzehnte. Dabei ist der Franzose Jules Verne neben dem Engländer Herbert George Wells einer der beiden Giganten des 19. Jahrhunderts, auf deren Schultern sich im 20. Jahrhunderts das Science-Fiction-Genre erhob. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die SF heute derart amerikanisch dominiert ist. Warum werden nicht mehr Werke aus dem französischen Sprachraum ins Deutsche übersetzt? Ist nach Verne nichts mehr gekommen? Doch, wenngleich nicht in gleicher Breite wie aus der angelsächsischen Welt. Einige Namen gefällig? Anatole France, J. H. Rosny aîné, Maurice Renard, René Barjavel, Pierre Boulle, Robert Merle, Gilles D'Argyre, Pierre Pelot, Daniel Walther haben spannende, teilweise hochklassige Bücher verfasst. Daneben haben Klassiker wie Cyrano de Bergerac, Voltaire oder Guy de Maupassant Geschichten geschrieben, die der SF nahekommen. Aber im Vergleich mit den Angelsachsen ist das wenig. Vielleicht spielt die frühere Erbfeindschaft zwischen den Nachbarn, die in Wirklichkeit Brudervölker sind, eine Rolle, die kulturelle Dominanz des Englischen, die besseren englischen Sprachkenntnisse der Deutschsprechenden und einiges mehr. Einige Rufer in der Wüste wie Dr. Jörg Weigand versuchen seit Jahrzehnten, über den Rhein zu blicken und Lesenswertes in deutsche Stuben herüberzubringen.

Heyne Science Fiction ClassicsNeben der relativ kleinen Anzahl von Schriftstellern, die mit utopisch-phantastischen Stoffen ihr Brot verdienen, gibt es immer wieder Außenseiter des Genres, die einzelne einschlägige Werke verfasst und sowohl bei Genreliebhabern als auch beim Mainstreampublikum Aufmerksamkeit erregt haben. Yves Gandon (1899 – 1975) war einer von Ihnen. Er betätigte sich als Literatur- und Theaterkritiker und verfasste eine Anzahl von Romanen. Er war Präsident des französischen PEN-Clubs, des Syndicat des critiques littéraires und der Association internationale des critiques littéraires. 1948 erhielt er den Grand prix du roman de l'Académie française und wurde 1958 in die Ehrenlegion aufgenommen. Sein utopischer Roman Le dernier blanc erschien 1945 auf Französisch und 1948 erstmals in deutscher Übersetzung. Gandon hatte den Roman bereits im April 1941 unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges begonnen. Ihm schien, dass bis zum letzten Europäer, bis zum letzten Weißen durchgekämpft werden sollte. Das Wort ging ihm im Kopf um und er begann mit Notizen für das Werk.

Heyne Science Fiction ClassicsDer letzte Weiße ist ein Durchschnittsfranzose, der mit der Schilderung seines persönlichen Schicksals gleichzeitig den Untergang der weißen Rasse beschreibt. William Durand sitzt in seinem Zimmer im Museum des weißen Menschen in Colour City, der Stadt, die früher einmal New York hieß, und wartet auf Hannah Pierce. Die schwarze junge Reporterin hat in mehreren langen Interviews Durands Lebensgeschichte erfahren. Sie erinnert sich noch gut an die Ansprache, welche die Direktorin bei ihrer Aufnahme in die höhere Schule gehalten hat:

„Meine Kinder, wir erleben den glorreichen Anfang eines neuen Kapitels der Menschheitsgeschichte. Die weiße Rasse ist von der Erdoberfläche verschwunden, die christliche Ära ist abgeschlossen. Dieses Jahr wird offiziell als erstes des Zeitalters der Befreiung bezeichnet werden. Vergeßt niemals, daß die Weißen als Opfer ihres teuflischen Hochmuts zugrunde gegangen sind, der die Habgier und die Tollwut hervorrief, die ihnen im Blute lag. Ihr schreckliches Ende mag uns eine Lehre sein. Die Welt gehört von nun ab den farbigen Rassen; sie werden mit Klugheit für die kommende Entwicklung einer neuen Zivilisation zu leben wissen.“

(Zitiert aus: Yves Gandon: Der letzte Weiße. München 1974, Heyne SF 3414, S. 15)

Hannah hat aus Durands Aufzeichnungen eine lange Reportage gemacht. William nimmt das Magazin zur Hand und beginnt in seiner eigenen Lebensgeschichte zu blättern. Obwohl er Franzose ist, hat er einen englischen Vornamen, eine Erinnerung seines Vaters an einen Englandaufenthalt. In der französischen Provinz aufgewachsen, zieht es ihn nach der Reifeprüfung nach Paris, wo er – unschlüssig, was aus ihm werden soll – versucht, sich als Künstler zu etablieren, was aber wegen seines mäßigen Talents mißlingt. Es herrscht wieder einmal Kriegsgefahr, obwohl Vater doch erklärt hat, dass der dritte große Krieg des 20. Jahrhunderts wirklich der letzte gewesen wäre. Als der Krieg ausbricht, erleidet der Vater einen Schlaganfall und stirbt. Seinem Wunsch entsprechend heiratet William Marie-Jeanne, die Tochter des Nachbarn und engsten Freundes des Vaters. Er liebt sie nicht wirklich, aber sie ihn. Der frisch getraute Ehemann lernt seine Frau erst zu lieben, als er sich an der Front in Sehnsucht nach der Heimat verzehrt. Mehrere Fronturlaube führen zu zwei Kindern. Als der Krieg nach vier endlosen Jahren durch eine neue waffentechnische Erfindung von den Franzosen gewonnen wird, hat einer der letzten Luftangriffe des Gegners den Tod von Williams Familie zur Folge. Betäubt wirft sich der Zurückgekehrte in die Arbeit als Fotograf in Paris. Sein Jugendfreund Antoine hilft ihm, wieder ins Leben zurückzufinden. William findet mit Manette eine Freundin, die aber kein Ersatz für seine verstorbene Frau ist. Bevor er ihr nach langem Zögern einen Heiratsantrag machen kann, bricht der nächste Weltkrieg aus. William entkommt der Front, weil ihm Antoine einen Posten bei Professor Balanche verschafft. Dieser wird unabsichtlich für das Ende des Krieges und für das Ende des weißen Mannes verantwortlich, denn er züchtet bakteriologische Waffen. Ein Assistent, der in Wirklichkeit ein Geheimagent des Gegners ist, verschwindet mit Bakterienkulturen und einem Impfstoff. Der Kriegsgegner setzt bald darauf als biologische Waffe Granaten ein, welche tödliche Sporen freisetzen. Doch er hat sich getäuscht, denn der Impfstoff, den der Agent entführt hatte, ist noch nicht ausgereift und verursacht tödliche Blutungen. Die gesamte Armee des Feindes wird dahingerafft und so findet der Krieg ein Ende. Aber der Erreger wütet weiter und erfasst bald ganz Europa. Seltsamerweise werden nur Angehörige der weißen Rasse von der Krankheit befallen. Letzten Endes gelingt es Professor Balanche doch noch, den wirksamen Impfstoff fertigzustellen. Er selbst und William sind gerettet. Es ist trotzdem zu spät, runderhum ist alles tot, auch Williams Freundin Manette. Da landet ein Abgesandter aus Amerika in Paris. Er ist von sieben superreichen Männer gesandt worden, welche sich in einer abgeschiedenen Festung verschanzt haben. Sie wollen den Professor engagieren. Nachdem Balanche und William keine Überlebenden mehr finden können, fliegen sie mit. Doch als sie endlich eintreffen, sind sechs der sieben bereits tot, der siebte stirbt vor ihren Augen. Auch in Amerika haben nur Schwarze und Gelbe überlebt, die Herrschaft übernommen und einen gelb-schwarzen Großen Rat gegründet. Die Machtübernahme nach der langen Herrschaft der Weißen brachte einiges an Verwirrung mit sich.

Die Tatsache, fast von heute auf morgen die Herren geworden zu sein, verursachte in den primitiven Gehirnen eine gewisse Verwirrung. Auf Straßen und Plätzen bildeten sich spontane Demonstrationszüge, die durch ihr Geschrei, die wilden Sprünge, den rasenden Rhythmus ihrer Trommeln an die Kriegstänze der afrikanischen Eingeborenen und den Wudukult erinnerten.

(Zitiert aus: Yves Gandon: Der letzte Weiße. München 1974, Heyne SF 3414, S. 141)

Balanche und William werden als Kuriositäten betrachtet. Für sie wird extra ein Museum des weißen Mannes aufgebaut, in dem sie als Ausstellungsobjekte und zur Fragebeantwortung dienen. Balanche begeht Selbstmord, weil ihm keine weiteren Forschungen mehr gestattet werden. Jetzt ist William endgültig Der letzte Weiße. Er darf mit Hannah zu einer Studienreise nach Paris fliegen, um die Stätten seines früheren Lebens wiederzusehen. Er findet einen Abschiedsbrief von Manette, in dem sie gesteht, dass sie ein Verhältnis mit seinem besten Freund Antoine angefangen hatte. Dann kommt die Nachricht, dass ein erneuter Krieg vor dem Ausbruch steht, dieses Mal zwischen den Staaten der Schwarzen und Gelben. William Durand, letzter Angehöriger seiner Rasse, erbricht die Giftampulle, welche ihm Balanche hinterlassen hatte, und schlummert hinüber in die ewige Nacht.

Der Roman hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Er schildert die Gräuel und die Sinnlosigkeit des Krieges als Warnung an die Menschheit zwar eindrucksvoll. Das konnten aber andere noch viel besser, beispielsweise Erich Maria Remarque mit Im Westen nichts Neues. Auf der anderen Seite schlägt dem Leser von den Seiten unverhohlener Rassismus entgegen. Es ist zwar nicht der Rassismus, der in Andersfarbigen nur als Sklaven auszubeutende Untermenschen sieht. Gandon ist Humanist. Aber es ist doch ein Rassismus, der mit typischer europäischer Arroganz die eigene vermeintliche kulturelle Überlegenheit betont. Das bleibt einem im Hals stecken, wenn man daran denkt, welch unvorstellbare Gräuel an „Andersrassigen“ von Europäern, leider ganz in besonderem Ausmaß von Exponenten des Landes der Dichter und Denker, verübt wurden.

Die ganze Prämisse des Buches, dass eine Seuche nur Angehörige der weißen Rasse dahinrafft, ist heute überholt. Die Einteilung der Menschen in Rassen wurde mittlerweile von der Wissenschaft aufgegeben, weil die genetischen Unterschiede innerhalb der Angehörigen einer „Rasse“ wesentlich größer sein können als gegenüber Angehörigen einer anderen. Die Hautfarbe ist nur ein Merkmal von vielen und kann sich durch Anpassung an klimatische Bedingungen binnen relativ kurzer Zeiträume verändern. Man nimmt heute an, dass unsere Vorfahren, die sich ausgehend von Afrika über die ganze Welt verbreitet haben, durchwegs dunkle Hautfarbe hatten. Zudem kommt noch die Tatsache, dass auch nach populationsgeografischen Kriterien eine Einteilung nach Rassen sinnlos erscheint. Es gibt in vielen Gegenden keinen scharfen Übergang zwischen den Bevölkerungsgruppen. Man schaue nach Afrika, wo sich arabische, äthopische, schwarzafrikanische und Khoisan-Bevölkerungen befinden. Wohin gehören beispielsweise die Äthopier? Manche meinen, zu den Weißen, denn ihr Gesichtsschnitt ist europäisch, auch wenn die Hautfarbe dunkel ist. Auch Inder, die nach überkommener Meinung der europäischer Großrasse angehören, haben dunkle Hautfarbe, die teilweise fast schwarz sein kann. Asiaten als gelb zu bezeichnen, wird der Vielzahl der Hautschattierungen nicht gerecht. Japaner haben oft eine sehr ähnliche Hautfarbe wie Europäer. Kann man einen sommersprossigen, rothaarigen und bleichhäutigen Iren mit einem Sizilianer, der einen olivfarbenen Teint aufweist, in einen Topf werfen? Dazu kommt, dass mittlerweile – besonders in beiden Amerikas – große Teile der Bevölkerung eine gemischte Abstammung haben.

Als Warnung vor der Sinnlosigkeit des Krieges und als Stoff zum Nachdenken bleibt Der letzte Weiße als Zeitdokument aus der unseligen Epoche des Zweiten Weltkriegs aktuell. In der Reihe der Heyne Science Fiction Classics nimmt er einen wichtigen Platz als Beispiel für französische Science Fiction ein.

 

Titelliste von Yves Gandon

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Erstausgabe des Werks angeführt.


1974

3414 Der letzte Weiße
deutsche Erstausgabe: Urach 1948, Port
Originalausgabe 1945 unter dem Titel Le dernier blanc


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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