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Amazing Pulps Teil 8: Pulp fiction gleich Groschenheft ? Ein deutscher Irrtum

Amazing PulpsTeil 8: Amazing Pulps
Pulp fiction gleich Groschenheft?
Ein deutscher Irrtum

Groschenheft – das ist ein deutsches Wort, das Heftromanfans nicht gerne hören. Denn es wird fast immer in einem abfälligen Sinn benutzt. 

Hinter der Geringschätzung steht der Gedanke, dass preiswerte Unterhaltung auch qualitativ minderwertig ist.

Amazing StoriesDas mag schon hierzulande umstritten sein – aber übertragen auf amerikanische Verhältnisse ist es eine absurde Annahme und zeigt oft eine beschämende Unkenntnis der Literaturwissenschaft und -kritik in Sachen Massenliteratur.

Ich kann mich noch erinnern, wie unser Musiklehrer beim Abi einen Popsong an der Tafel und dem Klavier strukturell analysierte, um uns klarzumachen, dass diese Musik weniger komplex ist als klassische und eben Unterhaltungsmusik und nichts weiter. Man kann in postmodernen Zeiten darüber streiten, ob solch eine Gewichtung anhand der Komplexität sinnvoll ist – schließlich gibt es einige auch sehr einfach gebaute frühe Gershwin-Rags, die sich besser gehalten haben als manches hochkomplizierte Gebilde von Schönberg oder Strawinsky.

Aber der Mann hat sich Mühe gegeben. Er kannte seine Materie. Ich habe oft festgestellt, dass die Musikwissenschaft der Literaturwissenschaft in ästhetischen Fragen um etwa 50 Jahre voraus ist.

Musikwissenschaftler folgen – anders als viele Literaturwissenschaftler oder Literaturkritiker – zwei zentralen ethischen Forderungen, wie etwa Ärzte ethischen Grundregeln folgen. Sie lauten:
1. Kenne das, was du ablehnst
2. Beurteile ein Werk immer gattungsspezifisch.

Letzeres muß ich vielleicht erklären. Diese Grundregel besagt, dass man ein Werk nicht aus seinem Gattungs-Kontext lösen darf, wenn man seinen Wert betrachtet. Nehmen wir zum Beispiel Jacques Offenbach. Ein Musikwissenschaftler, der etwa behaupten würde, Offenbach sei ein mittelmäßgier Komponist, weil er keine Kirchenwerke und Streichquartette geschrieben habe, und seine Durchführungen in den Ouvertüren nicht den höchsten Standards der Wiener Klassik  entsprechen, müßte sich vermutlich gefallen lassen, dass man ihm die Zwangslacke anlegt.

Man würde ihm dann während der Therapie geduldig erklären, dass Offenbach für die Gattung Operette komponierte und auch nur danach zu beurteilen sei, was er innerhalb der Ästhetik dieser Gattung erreicht hat – und dort war er halt ein Genie. Er mußte gar nicht komponieren wie Bach oder Beethoven – denn seine Aufgabenstellung und Intention war anders gelagert.

Amazing StoriesObwohl man sich also mit solchen Äußerungen in der Musikwissenschaft bis auf die Knochen blamieren würde, hat man in der deutschen Literaturkritik bis heute davon noch wenig gehört, und es gibt deshalb weiter Stimmen, die arglos behaupten, dass Stephen King etwa ein weniger bedeutender Schriftsteller sei als Umberto Eco, oder Jules Verne und Karl May Dilettanten gegen Flaubert und Fontane. Die gattungsspezifischen Einschränkungen werden hier nicht gemacht. Und mehr noch – daraus wird dann eine angebliche Trivialität abgeleitet, die in den Werken nicht zu finden ist, ebensowenig wie Straußens Fledermaus oder Kerns „Show Boat“ trivial sind, sondern Meisterwerke des Entertainment. In der Musik passen beide Begriffe durchaus zusammen, eine elaborierte Literaturwissenschaft scheut sich bis heute, Entertainment-Werken Genie zuzusprechen. (Besonders in Deutschland, in Frankreich, den USA und England ist das längst anders.)

Schlimmer noch: Viel zu viele Literaturkritiker wissen gar nicht, worüber sie reden, wenn sie Unterhaltungsliteratur abkanzeln. Sie kennen - anders als mein alter Musiklehrer – weder die Werke noch die ästhetischen oder historischen Grundlinien, in denen sie entstanden sind. Natürlich gibt es Ausnahmen – wie Manfred Nagl in Deutschland oder Edward Bleiler in Amerika (letzterer inzwischen leider verstorben). Aber sie bestätigen die Regel.

Besonders eklatant wird die Unwissenheit über amerikanische Massenliteratur  in Deutschland, wenn man immer wieder liest, Pulp-Fiction-Hefte seien „Groschenliteratur“. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wie wir noch sehen werden, weil diese Behauptung ein Eigentor ist.

Zunächst kann man – das habe ich schon an vielen Stellen gesagt – ein amerikanisches Pulp-Fiction-Heft überhaupt nicht mit einem deutschen Heftroman vergleichen. „Groschenhefte = Romanhefte“, wie wir sie kennen (Dime Novels), starben dort in den 1910er Jahren aus. Weil sie von neuen Magazinformen verdrängt wurden, Pulps und Slicks. Das waren aber in beiden Fällen reich illustrierte Hefte mit Erzählungen, nicht unillustrierte 68-Seiter mit nur einem Kurzroman.

Amazing StoriesWichtiger ist aber:
Die Preisgestaltung der Magazine mit literarischem Inhalt korrespondierte in den USA im 20. Jahrhundert nie mit ihrem (angeblichen) literarischen Wert. In der Regel waren die literarisch hochwertigsten Zeitschriften mit den bestbezahlten und anerkanntesten Autoren auch die billigsten. Deswegen kennt man dort auch den polemischen Zusammenhang zwischen Schund und Groschen nicht. (Sonst wäre es auch literarischer Selbstmord für viele Magazine gewesen, sich etwa „Dime Mystery Magazine“ zu nennen...)

Aber schauen wir mal auf die Preislisten.

Hier einige typische Pulp-fiction-Hefte Mitte der Zwanziger Jahre:

  • Action Stories – 20 c
  • Western Story Magazine – 15 c
  • Detective Story Magazine – 15 c
  • Weird Tales – 25 c
  • Adventure – 25 c

Erotische Magazine / Männermagazine der 20er

  • Breezy Stories – 20 c
  • Saucy Stories – 20 c
  • 10 Story Book – 25 c

Hochwertige Zeitschriften mit amerikaweit gefeierten Autoren:

  • Saturday Evening Post – 5 c
  • Collier's – 5 c
  • The Cosmopolitan – 25 c
  • Liberty – 5 c
  • Ladies Home Journal 10 c

Amazing StoriesMan sieht – selbst eine besonders verschwenderisch ausgestattete Hochglanz-Zeitschrift der Zeit, die Cosmopolitan, ist nicht teurer als Pulps wie Weird Tales und Adventure. Viele, wie die literarisch bedeutende Saturday Eveneing Post, unterboten jahrzehntelang selbst die billigsten Pulps um eine beträchtliche Differenz. Für nur fünf Cent bekam man also Glanzpapier, Scott Fitzgerald, Agatha Christie und P.G. Wodehouse. Wer Lovecraft oder Howard kaufen wollte, mußte deutlich tiefer in der Geldbeutel greifen und bekam schlechteres Papier.

Deswegen sind Übersetzungen wie die vom ansonsten kongenialen Wulf Bergner in Steven Kings „Anschlag“ falsch: „Er las das Groschenheft Argosy“. Dieser Angestellte las das Pulp- oder Story-Magazin Argosy. Er liest keine „Groschenliteratur“, denn er hat sich für ein Heft im mittleren Preissektor entschieden. Er könnte sich vom selben Geld zwei Hochglanz-Ausgaben kaufen.

Die weitreichende Bedeutung der Preisgestaltung ist sicher jedem sofort klar. Die verbreitete Legende, ärmere Leute hätten „Billigliteratur“ bevorzugt, weil sie eben billiger war, ist absurd. Jeder, der ein Pulpheft lesen wollte, traf damit eine ganz persönliche literarische Entscheidung, keine ökonomische. Jeder noch so arme Angestellte oder Arbeitslose der Depression-Ära hätte sich die „guten“ Zeitschriften genauso leisten können wie die angeblich „billigen“ Pulps. Allen Beteuerungen der literarischen Gralshüter zum Trotz waren Pulps nicht billig, man kann es nicht oft genug betonen – sie bewegten sich in einem ebenso teuren (oder billigen) Marktsektor wie die arrivierten Magazine – oft waren sie sogar teurer. Es war, wie man es dreht und wendet, KEINE Billigliteratur, was den Endverbraucherpreis angeht. Dass Pulp-Magazine ihre Autoren oft schlechter bezahlten und am guten Papier sparten, steht auf einem anderen Blatt.
 
Amazing StoriesWarum waren die edleren Blätter oft preiswerter als die Pulps? Das hat mit der Vertriebsweise zu tun. Die großen „Slicks“, also Story-orientierte Hochglanz-Magazine mit großen Autoren – hatten oft eine schwindelerregend hohe amerikaweite Auflagenziffer, die kein Pulpheft je erreichte (Die Saturday Evening Post etwa 4-6 Millionen wöchentlich). Das zog große Werbeträger an, vor allem die Schwer- und Autoindustrie, die gigantische Summen für ihre großen vielfarbigen Werbeanzeigen auf Glanzpapier bezahlten. Slicks konnten sich immer unter den Produktionskosten verkaufen. Pulps hatten keine Lobby. Hier zählte nur eins – Leser binden.

Die starke Abhängigkeit von großen Werbeträgern war denn auch die Achillesverse der edleren Blätter. Sie waren am Ende – hinter der glänzenden Fassade – trotz gelegentlicher großer Autoren – viel unverbindlicher und formelhafter als die Pulps und weniger radikal, um niemanden zu verschrecken. Sie waren die echte „Massenliteratur“. Deswegen unterscheidet man in der amerikanischen Massenliteratur-Forschung auch streng zwischen „Mainstream fiction“ und „Pulp fiction“.

Amazing StoriesOder, um mit dem Pulp-fiction-Experten John Locke zu sprechen:

„Damals wurde wurde die Differenz zwischen Pulps und Slicks vor allem wahrgenommen als Intelligenz- und Mittelschicht-Literatur versus Unter- und Arbeiterklassenliteratur. Gemessen an der Prominenz in der Populärkultur in der heutigen Zeit, können wir erkennen, dass sich die Vorzeichen geändert haben. Die besten Pulps, inclusive Weird Tales, hatten auf lange Sicht gesehen einen größeren Einfluß als die manierierte und formelhafte Literatur in den Hochglanzmagazinen.“

(Aus seiner Weird-Tales-Monographie "Tha Thing's incredible!", Off-Trail Publication, 2018, Übersetzung von mir)

Ein wichtiger Aspekt sei noch ergänzt – man muß natürlich die schleichende Inflation der letzten 90 Jahre mit einbeziehen, wenn man sich eine Vorstellung von den Preisrelationen machen will. Mittlere Angestellte (z.B. Kindergärtnerinnen, Grundschullehrer) verdienten in den 20ern in den USA zwischen 150-200 Dollar brutto im Monat. Natürlich kann man das mit heute nicht vergleichen, weil Miete, Strom und Steuern viel weniger Prozent des Bruttoeinkommens verschlangen als heute. Aber wir können eine vorsichtige Schätzung machen und einen Wechselkurs von 1:10 bis 1:11 zu heute annehmen. Das würde bedeuten, dass ein Angestellter nach heutigen Verhältnissen etwa 50-60 Cent für eine Saturday Evening Post ausgeben konnte – für Weird Tales mußte er allerdings schon umgerechnet 2 Dollar 50 – 2 Dollar 60 hinblättern.

Kommentare  

#1 VM 2019-04-29 14:07
Ich finde die Bezeichnung "Groschenroman" nicht schlimm und benutze sie auch vorzugsweise. Und das, obwohl ich Jahre "Sinclair" gelesen habe. Das Wort "Heftroman" habe ich erst durchs Internet kennengelernt. Damit können aber viele Leute schlicht nichts anfangen.

Preislich sind die Groschenromane natürlich nicht günstig: Ein 10-€-Taschenbuch bietet nicht weniger Lesestoff als der Gegenwert in Heftchen. Von preisreduzierten Mängelexemplaren, die gar keine Mängel haben, nicht zu reden.
Hochwertige Literatur bekommt man z. B. in Form der "Hamburger Lesehefte" sehr günstig.

Und ja, natürlich ist ein Eco literarisch wertvoller als ein Stephen King. Da kannst Du mir kein X für ein U vormachen.
#2 Matzekaether 2019-04-29 14:50
Natürlich ist Eco literarisch wertvoller als King, genau wie Bach musikalisch bedeutender ist als Offenbach. Eigentlich hatte ich Zweifel, das hier auszubeiten, weil es mir am Ende doch zu einleuchtend/banal erschien, aber wie es scheint, kommt die Intention immer noch nicht an. Was ich sagen will, ist dass diese Vergleiche nicht statthaft sind, weil man Äpfel mit Birnen vergleicht. King hat sich mal darüber beschwert, dass die Literaturkritik immer so tut, als wären Unterhaltungsschriftsteller Möchtegern-Nobelpreisträger, die es nicht besser können. Dabei wollen sie meist gar keine "große" Literatur schreiben. Man sollte sie in ihrem Genre betrachten, nicht losgelöst davon.

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