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Sternträumers Tops & Flops 3: J. R. R. Tolkien - Die Briefe vom Weihnachtsmann

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Folge 3:
J. R. R. Tolkien - Die Briefe vom Weihnachtsmann

Seit 50 Jahren ist phantastische Literatur in allen Ausprägungen mein bevorzugter Lesestoff. Werke, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind, darf ich Ihnen in dieser Serie vorstellen. Dies können sowohl aus den Tiefen meiner Bücherschränke ausgegrabene Schätze als auch bemerkenswerte Neuerscheinungen sein.

Dabei überwiegen natürlich Werke, die mir gefallen, aber auch einige Verrisse werde ich Ihnen nicht ersparen.

Die Briefe vom WeihnachtsmannDie Tage sind bereits kurz, Herbststürme pfeifen ums Haus, und die weihnachtliche Zeit rückt näher. Wenn kleine Kinder im Haus sind, ist es gerade in dieser Jahreszeit in vielen Familien ein schöner Brauch, das Zubettgehen mit dem Vorlesen einer Geschichte zu verbinden. Sowohl meine Gattin als gelernte Buchhändlerin als auch ich als geborener Bücherwurm haben dieses Ritual mit unseren drei mittlerweile erwachsenen Kindern sehr genossen. In der Adventzeit war mein Favorit unter den Vorlesebüchern Die Briefe vom Weihnachtsmann von meinem Lieblingsautor J. R. R. Tolkien.

Die Briefe vom WeihnachtsmannTolkien und seine Frau Edith waren Eltern von vier Kindern: John, Michael, Christopher, sowie als jüngste Priscilla. Christopher wurde später der beste Kenner von Tolkiens Mittelerde-Werken, sein Berater und Herausgeber vieler nach dem Tod seines Vaters veröffentlichter Schriften, darunter Das Silmarillion. Es wurde bald Brauch bei den Tolkiens, dass der Weihnachtsmann (auf gut Englisch Father Christmas genannt und nicht wie heute meist Santa Claus) jedes Jahr nicht nur die Strümpfe mit Gaben füllte, sondern auch einen Brief dazulegte. Der erste dieser Briefe kam 1920, als John drei Jahre alt war, der letzte 1943 und war an das heranwachsende Nesthäkchen Priscilla gerichtet. Die Briefe waren in der zittrigen Handschrift eines zweitausend Jahre alten Mannes abgefasst und erzählten vom Nordpol, wo der Weihnachtsmann und seine Helfer wohnen, und den dortigen Ereignissen, bevor die Weihnachtsgeschenke mit dem Rentierschlitten an die Kinder in der ganzen Welt zugestellt werden. Die Briefumschläge waren mit echt wirkenden Briefmarken und Stempeln versehen. Auch Bilder waren meist beigelegt und machten die lustigen und spannenden Nordpolabenter richtig anschaulich.

J.R.R. Tolkien - Der KünstlerIn Wirklichkeit war der Autor der Briefe nicht der Weihnachtsmann, sondern natürlich Tolkien selbst, der damit seiner Fabulierfreude und seinen künstlerischen Fähigkeiten Ausdruck verlieh. Diesen kleinen Arbeiten konnte man deutlich ansehen, welch Tüftler der Mann war. Zu diesem Thema fällt mir auch seine wunderbare, aber wenig bekannte Geschichte Blatt von Tüftler ein, die wir hier vielleicht ein andermal genauer betrachten können. Tolkien war nicht nur schriftstellerisch begabt, sondern auch zeichnerisch. Seine Leistungen auf diesem Gebiet werden im Buch J. R. R. Tolkien: Der Künstler umfassend dargestellt.

Die Briefe vom WeihnachtsmannDie ersten Briefe vom Nordpol sind noch kurz. Sie stellen den Weihnachtsmann und seinen Wohnort vor. Später wird auch der Haushalt des Weihnachtsmanns mit seinem Helfer beschrieben, dem gutmütigen, aber auch tollpatschigen Nordpolarbär. Dieser hilft zwar dem Weihnachtsmann zwar beim Einpacken der Geschenke, produziert aber oft Missgeschicke, welche die rechtzeitige Zustellung der Geschenke für die Kinder beinahe verhindern. Einmal fällt der Bär die Treppe hinunter und fällt dabei auf die Päckchen, ein anderes Jahr schläft er in der Badewanne ein und das Wasser fließt vom ersten Stock ins Parterre, wo die Geschenkpäckchen stehen, und weicht alles ein.

Die Briefe vom WeihnachtsmannAuch die anderen Helfer des Weihnachtsmann werden sukzessive vorgestellt, wie die Roten Wichtel und die Schnee-Elben. Dann treten auch die beiden lustigen Neffen des Polarbären Paksu und Valkotukka auf. Die Hand des Weihnachtsmanns wird einige Male wegen der vielen Aufregungen zu zittrig, deshalb müssen sein Sekretär Ilbereth oder der Polarbär selbst mit seiner steifen Handschrift den Brief fertigschreiben.

Die Briefe vom WeihnachtsmannDie dunkle Seite der dreißiger und vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich auch in den Geschichten vom Nordpol nicht ganz ausblenden, denn in den späteren Briefen haben der Weihnachtsmann und seine Helfer immer mehr Schwierigkeiten mit den bösen Kobolden, die einbrechen, Pakete stibitzen und eine Menge sonstiges Unheil anrichten. Der Polarbär räumt zwar mächtig unter ihnen auf, aber es sind so viele, dass das Problem von Jahr zu Jahr eher größer als kleiner wird. Die reale Welt wird dann auch explizit angesprochen:

Meine liebe Priscilla,

ich freue mich sehr, daß Du auch in diesem Jahr nicht vergessen hast, mir zu schreiben. Die Zahl der Kinder, die mit mir Verbindung halten, scheint immer kleiner zu werden. Höchstwahrscheinlich liegt das nur an diesem schrecklichen Krieg und wird wieder anders werden, wenn er vorbei ist; dann werde ich wieder so viel zu tun haben wie eh und je. Aber zur Zeit haben so furchtbar viele Menschen ihr Zuhause verloren oder es verlassen; anscheinend ist die halbe Welt nicht mehr am richtigen Platz.

Und sogar wir hier oben haben Schwierigkeiten gehabt. Damit meine ich nicht nur meine Vorräte; die werden sowieso immer weniger. Schon voriges Jahr wurden sie knapp, und es war mir nicht möglich, sie wieder aufzustocken, so daß ich jetzt nur das schicken kann, was ich habe, und nicht das, was auf den Wunschzetteln steht.

Auszug aus: Brief vom Weihnachtsmann 1941 an Priscilla Tolkien. In: Baillie Tolkien (Hrsg.): J. R. R. Tolkien – Briefe vom Weihnachtsmann. Stuttgart 2005, Hobbit Presse bei Klett-Cotta

Wenn ich mit dem Vorlesen des letzten Briefes für eines meiner Kinder fertig war, stand Weihnachten vor der Tür. Später setzte ich die Vorleseaktionen mit dem Hobbit fort, und da auch dieser bei meinen hoffnungsvollen Sprösslingen auf Wohlwollen stieß, anschließend mit dem Herrn der Ringe (!), und das bei drei Kindern. Der Herr der Ringe erforderte jeweils ca. ein ganzes Jahr, dann waren die Kinder so weit, dass sie selbst gut lesen konnten und keine elterliche Vorleseunterstützung beim Schlafengehen mehr benötigten. Aber die Geschichten gehen immer weiter. Tolkien schrieb selbst einmal The Road Ever Goes On, und das war auch beim letzten Brief des Weihnachtsmanns an die jüngste Tochter Priscilla zu spüren:

Meine liebe Priscilla,

ich wünsche Dir ein fröhliches Weihnachtsfest!

Vermutlich wirst Du Deinen Strumpf nur noch dieses eine Mal aufhängen. Das hoffe ich doch, denn ich habe ein paar Kleinigkeiten für Dich. Danach muß ich „Lebwohl“ sagen, gewissermaßen. Natürlich werde ich Dich nicht vergessen. Wir bewahren die Nummern unserer alten Freunde stets auf und auch ihre Briefe; und später können wir hoffentlich wieder kommen, wenn sie selbst Häuser und Kinder haben.

Auszug aus: Brief vom Weihnachtsmann 1943 an Priscilla Tolkien. In: Baillie Tolkien (Hrsg.): J. R. R. Tolkien – Briefe vom Weihnachtsmann. Stuttgart 2005, Hobbit Presse bei Klett-Cotta

Seit Anfang September dieses Jahres sind wir Großeltern. In etwa fünf Jahren wird in der Adventzeit der Opa, wenn er auf Besuch bei seinem Enkel oder der Enkel bei ihm ist, vor dem Schlafengehen mit einem wunderschönen, bebilderten Buch in der Hand ins Schlafzimmer des Kleinen kommen und ihm eine Geschichte vorlesen, in der die Weihnachtsgeschenke wieder einmal nur mit knapper Not rechtzeitig bei den Tolkiens angekommen sind.

Dass wir an diesen liebenswerten Geschichten teilhaben können, verdanken wir einerseits Tolkien selbst, der sich des Werts der Briefe durchaus bewusst war, denn schon im ersten Brief an John stand „Take Care of the Picture“. Alle Briefe wurden aufbewahrt, obwohl ich nicht glaube, dass Tolkien jemals damit rechnete, dass sie einmal zwischen Buchdeckeln gezeigt würden. Nach seinem Tod wurde 1976 unter der Herausgeberschaft seiner Schwiegertochter Baillie eine erste Ausgabe der Briefe publiziert, die auch bald in der Hobbit Presse bei Klett-Cotta auf Deutsch erschien, wo auch die anderen Werke des Professors beheimatet sind. 1999 gab es dann eine revidierte und erweiterte Ausgabe, die wie die Erstausgabe auf Deutsch in gleicher Aufmachung wie die englische Originalausgabe erschien. Damit schloss sich auch für mich der Kreis, denn diese Ausgabe bekam ich einige Zeit später von meinen mittlerweile groß gewordenen Kindern zu Weihnachten geschenkt und bereichert seither meinen Bücherschatz, verbunden mit einer schönen Erinnerung an die Zeit, als unsere Kinder noch klein waren.

Die Briefe vom WeihnachtsmannDeutsche Erstausgabe

J. R. R. Tolkien: Die Briefe vom Weihnachtsmann (herausgegeben von Baillie Tolkien)
(The Father Christmas Letters, 1976)
übersetzt von Anja Hegemann
Stuttgart 1977, Hobbit Presse bei Klett-Cotta
ISBN: 3-12-907990-4

Die Briefe vom WeihnachtsmannErweiterte Neuausgabe mit zusätzlichen Briefen

J. R. R. Tolkien: Briefe vom Weihnachtsmann (herausgegeben von Baillie Tolkien)
(Letters from Father Christmas, 1999)
übersetzt von Anja Hegemann und Hannes Riffel
Stuttgart 2005, Hobbit Presse bei Klett-Cotta
ISBN: 3-608-91155-3

Übersicht aller Artikel:

13.04.2017 Hugh Walker: Welt der Türme
31.08.2017 Manfred Wegener: Arkonidenraumschiff in der Gammafalle
16.11.2017 J. R. R. Tolkien: Die Briefe vom Weihnachtsmann
07.04.2018 Kris Neville: Bettyann - das Mädchen vom anderen Stern
15.04.2018 Die Sternenträume des Cordwainer Smith
26.04.2018 Terry Brooks: Das Schwert von Shannara
20.12.2018 J. R. R. Tolkien: Der Fall von Gondolin
 

 

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