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Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 5 H. G. Wells Die Zeitmaschine

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 5:
H. G. Wells - Die Zeitmaschine
(1895)

Wo liegen die Uranfänge der phantastischen Literatur? Ganz Radikale verlegen sie in die Antike – zu Homer. Vorsichtigere sehen in einigen Büchern aus der Barockzeit (Gullivers Reisen) oder dem 18. Jahrhundert (Die Burg von Otranto) die echten Anfänge. Zweifellos aber hat für die moderne Phantastik, wie wir sie heute kennen, kein Mann mehr geleistet als H.G. Wells.


The Time Machine - ErstausgabeUnd die „Zeitmaschine“ gehört zu den respekteinflößenden Büchern, die auch noch Gegenwartsautoren wie Stephen King beeinflussen. Ein Jahrhundertbuch!

Der Brite Wells entwarf Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Gegenwelt zu Jules Verne. Der französische Alt-Vater der Science fiction war vielen Jungen Wilden der Phantastik-Szene zu zahm und zu geschwätzig geworden. Da Verne vor allem für die Jugend schrieb, blieben seine Werke auch weitgehend frei von Grusel- oder Horrorelementen.  Die dekadente Stimmung um 1900 war fruchtbarer Boden für eine neue düstere Literatur für Erwachsene in Europa. Die Lust am Untergang verband sich mit dem morbiden Vergnügen, den Verfall der Gesellschaft zu zeichnen. Im Vorfeld erschienen einige der sonderbarsten Romane der Weltliteratur, etwa der französische Fortsetzungsroman „Die außergewöhnlichen Abenteuer eines russischen Gelehrten“ (1889-96) von Georges Le Faure und Henri de Graffigny, die erste große Space opera der Literaturgeschichte. Und in Deutschland ereignete sich 1895 ebenfalls ein Gewitter: Wie Sturm und Hagel brachen die wilden emanzipierten Amerikanerinnen in die deutsche Spannungsliteratur ein, Robert Kraft machte der behäbigen patriarchalisch geprägten Literatur eines Karl May mit seinen „Vestalinnen“ ein Ende und schlug ein Erzähl-Tempo an, das bis heute schwindlig macht. Aber was ist das alles gegen den Paukenhieb, den Wells mit der „Zeitmaschine“ im selben Jahr ertönen ließ!

Als die Buchausgabe als frühester epochaler Geniestreich von Wells 1895 erschien, war dies keine ganz gelungene Sensation, denn eine Frühfassung war schon 1888 in einer Zeitschrift zum Abdruck gelangt. Der Roman an sich wirkt neben oben erwähnten Titeln winzig, er ist eigentlich eine längere Novelle und wäre mit seinen ca. 100 Manuskriptseiten fast in einem Heftroman unterzubringen.  Breite Epik war nie kennzeichnend für den jungen Wells – als der späte sie für sich entdeckt, wird er zäh und langweilig.

Das Besondere ist nicht einmal die „Erfindung“ der Zeitmaschine. Das Aufregende an Wells frühen düsteren Romanen ist, dass er von Anfang an gleich zwei phantastische Genres mustergültig verschmilzt, als blicke er eben mal locker auf eine hundertjährige Tradition zurück: Horror und Scifi.

Die Zeitmaschine - Deutsche ErstausgabeFast alle seine als Scifi gefeierten Bücher sind im Grunde auch Horrorgeschichten.

In der Zeitmaschine gelingt es Wells, zwei zentrale Themen des Horrors elegant zu verbinden: Er führt die alte Angst der Gothic Novel vor Tunneln und unterirdischen Gemächern zu einem furiosen, hochoriginellen Höhepunkt, und gleichzeitig bringt er ein neues Element ein, das der Horrorliteratur bis dahin unbekannt war – der existenziellen Angst vor fremden Rassen.  Lovecraft wird diese Angst später in die Vergangenheit projezieren, Wells projeziert sie in die Zukunft.

Sein Roman beginnt gemächlich, mit einer interessanten typisch britischen Debatte über die Möglichkeit von Zeitreisen, diskutiert von Intellektuellen am Kamin.  Der „Zeitreisende“ berichtet dann bei einer weiteren Zusammenkunft von verstörenden Erlebnissen mit seiner Erfindung in der Zukunft. Bei der ersten Zeitreise der Weltliteratur lässt sich der Erzähler wahrlich nicht lumpen, wir reisen – Sie lesen richtig - ins Jahr 802701. Die Menschheit hat sich inzwischen in zwei Rassen gespalten: Auf der Erde leben leicht debile zerbrechliche feenhafte Wesen, die Elio, die sich vegetarisch ernähren und dessen Intellekt sehr zu wünschen übrig lässt. Ruinen deuten darauf hin, dass der Menschheit schlimme, nur angedeutete Dinge zugestoßen sind. Nachts kommen weiße widerliche Wesen aus Erdlöchern, noch schlimmer degenerierte Menschenwesen, die Morlocks, die unter der Erde hausen und sich kannibalistisch von ihren oberirdischen Mitgliedern der Spezies ernähren.

Hier könnte der Plot zu etwas typisch Zeigefingermäßig-parabelhaftem verkümmern – es ist klar, was Wells meint, eine dekadente Kapitalistenklasse verkommt zu blöden oberirdischen Wesen, das arbeitende Proletariat wird in unterirdischen Komplexen zu monströsen gefräßigen Monstern. Nicht dass uns Wells diese Parabel nicht auch ausführlich unter die Nase reibt – aber seine dichterische Kraft ist so suggestiv, dass die unheimliche Stimmung, der Ekel vor beiderlei Exemplaren einer zerfallenden Menschheit immer erhalten bleibt. Und dann kommt Wells auf einen fast lovecraftschen Gedanken – um das Grauen noch zu steigern, findet der Zeitreisende ein Museum, das auch schon wieder Ruine ist. In diesem Museum irrt er umher und registriert die zerfallenden Relikte seiner eigenen Existenz:

„Ein paar verschrumpfte und geschwärzte Überreste von Dingen, die einst ausgestopfte Tiere gewesen waren, ausgetrocknete Mumien in Glasgefäßen, die einst Spiritus enthalten hatten, ein brauner Staub von zerfallenen Pflanzen, das war alles!“

Die Zeitmaschine - moderne AusgabeDieser Museumsbesuch, das einsame Durchstreifen dieser Ruine, wo selbst das Museale schon wieder zerfällt, ist für mich wesentlich unheimlicher, verbreitet größeres, fast kosmisches Grauen, als der legendäre Ausflug in die Höhlen der Morlocks.

Der Abstieg in dunkle Schächte hingegen in ein fremdartiges, lichtloses Reich aus glibbrigen Extremitäten und enervierenden Maschinengeräuschen hat sich in fast alle Hirne phantastischer Autoren eingebrannt:

„In der Höhle war es sehr stickig und bedrückend, und ein schwacher Geruch von Blut lag in der Luft. Etwas weiter voraus im Mittelgang der Halle stand ein kleiner Tisch aus weißem Metall,  auf dem anscheinend eine Mahlzeit angerichtet war. (…) Es war alles sehr undeutlich: die dumpfe Geruch, die großen nichtssagenden Gebilde, die ekelhaften, im Schatten lauernden Gestalten, die nur auf die Dunkelheit warteten, um wieder zu mir zu kommen! Dann brannte das Streichholz ab, sengte mir die Finger und fiel als sich ringelnder roter Fleck in die Schwärze.“

Das Böse aus dem Schacht – Stephen King haben diese Szenen zum Roman „Es“ inspiriert, er nennt die Zugänge zur Kanalisation in Derry denn auch – als Hommage an Wells – einigemale „Morlock-Löcher“.

Und natürlich ist auch die Wirkung auf Thea von Harbous „Metropolis“ (1926, verfilmt von Fritz Lang) unübersehbar.

H. G. WellsWells würzt seinen spannenden Roman mit einigen weiteren enervierenden Zutaten – die Maschine wird geklaut, der Zeitreisende glaubt sich für immer in jener Welt gefangen... Trotz geglückter Rückkehr wagt er dann noch einmal einem weiteren Horror-Trip, und zwar ans Ende der (irdischen) Ära, die er, wie es sich für einen der größten Horror-Autoren aller Zeiten gehört, genüsslich beschreibt, eine Welt grässlicher krebsartiger Monster, dünner Luft und einer riesigen glutroten Sonne am Himmel.

Der Roman ist durchsetzt von einigen Reflexionen des Autors, die sicher nicht  alle zeitgemäß sind – dennoch liest sich der Roman sehr kurzweilig (Anders als viele seiner Romane nach 1910). Finde ich zumindest. Kritiker, die anders denken, hat es von Anfang gegeben und gibt es bis heute. Egon Friedell hat den Logikfehlern ein ganzes Buch gewidmet, und heutige SF-Fans werfen dem Roman eine zu große Episodenhaftigkeit, zu viele Grübeleien und Erklärungen und wenig Geschlossenheit vor.

Da mag etwas dran sein – aber die Wucht der Ideen und der Sprache sind für mich bis heute sehr beeindruckend. Man muss bei einem 100seitigen Roman mit unendlich vielen schönen Ideen schon am ADS-Syndrom leiden, um hier wirklich gelangweilt zu sein. Da gibt es Drögeres. Siehe die nächste Folge.

Nach dem Erfolg des Romans kommt zunächst jedes Jahr ein weiterer Kracher heraus: Die Insel des Dr. Moreau (1896), Der Unsichtbare (1997), Der Krieg der Welten (1998) und Wenn der Schläfer erwacht (1899). Dann dünnt Wells' Produktion an großen Horror-Scifi-Büchern etwas aus, eigentlich folgen nur noch drei wirklich geniale Romane, „Die ersten Menschen auf dem Mond“ (1901), ein wieder mit herrlichen Gruseleffekten durchsetzter Roman, dann eine köstliche Parodie auf sich selbst und das ganze Genre: Die Riesen kommen (1904), in dem gigantische Insekten aus einem Labor entkommen und über die Menschheit herfallen, und schließlich der bedrückende Alternativwelt-Roman „Der Luftkrieg“ (1909) , in dem die deutsche Luftwaffe  New York plattmacht. Viele spätere Romane von Wells folgen einem eher dickensschen Muster und haben mit ihrem betulich-heiteren Tonfall heute viel von ihrem früheren Reiz verloren. Schade, dass er an sein dunkles Frühwerk  nicht mehr (oft) angeknüpft hat. Andererseits: Sieben große Würfe plus einige unvergessliche Horror- und Scifi-Erzählungen der Spitzenklasse, und das quasi vorbildlos aus dem Nichts – das ist eine epochale Leistung. Man sollte nicht unbescheiden werden.

Nächste Folge: Teil 6 - Friedrich Wilhelm Mader: Wunderwelten (1911)

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Kommentare  

#1 Torshavn 2015-03-09 06:31
Ein wunderbar euphorischer Artikel. Vielen Dank dafür. Es hat Spaß gemacht sich wiedereinmal an die Zeitmaschine zu erinnern.

Ist dieser Teil 5 als erster Teil der Reihe erschienen? Oder gibt es schon mehr (wenn ja bitte verlinken)?
#2 Toni 2015-03-09 07:20
Da kann ich torshavn nur zustimmen. Ein klasse Beitrag!!!
Wer sich für Musik interessiert: Krieg der Welten gab es auch als Album. Ich empfehle die von Richard Burton gesprochene Version (u.a. mit Chris Thompson, Phil Lynott, David Essex...
#3 Andreas Decker 2015-03-09 09:51
Sehr schöner Artikel,

Immer wieder interessant, sich mit dem jeweiligen Patient Null eines ganzen Genres zu beschäftigen. Auf den paar Seiten hat Wells Heerscharen von Autoren die Vorlage geliefert, und davon zehren sie noch heute.
#4 joe p. 2015-03-09 13:51
Sehr schön. Dieses Werk kann man gar nicht genug würdigen.

Ich machte es dieses Jahr bereits zum Englisch-Klausurthema.
joetheknight.blogspot.de/2015/03/die-wells-klausuren-januar-2015.html

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