Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Alessan 5 - Das Gericht der Eldar

Magirian Wonder TaleAlessan
Kapitel 5
Das Gericht der Eldar

Was bisher geschah ...
In Laurínarmardi, dem Wald der Elben auf Tol Uninor, wird der junge Elb Kalwe von einem jungen Menschen mittels Pfeil und Bogen erschossen

Die Herrin des Waldes, Laurealka, ruft Harantor herbei und gemeinsam jagen sie den jungen Mann namens Alessan.

Sie stellen den Jungen und Laurealka, mittlerweile von Mitleid getrieben, schlägt Harantor nieder, denn sie befürchtet ihr Gefährte würde den Jungen töten.

Doch der junge Mann missversteht ihre Absicht und läuft in die Klinge Laurealkas.

Harantor und Laurealka nehmen den verletzten Alessan mit, um ihn zur Siedlung der Elben zu bringen. Dort wird er von den verzweifelt trauernden Eltern empfangen und Angaimaite, der Vater Klawes, will Blut sehen.

Harantor stellt sich widerwillig vor den verletzten Alessan und verkündete den Willen Laurealkas, Alessan möge der Prozess gemacht werden.

Harantor bricht auf, um Elrod, den Ringmeister zu holen. Doch der erteilt Harantor eine Lektion und gibt ihm einen der Großen Drei Ringe, den Eisernen der Kraft, und ernennt Harantor zum Richter über Alessan ...

Laurealka

 

Das Gericht der EldarIch war nicht mehr lange bei Alessan geblieben, nachdem Harantor gegangen war. Ich blieb, aus einem Gefühl des Anstandes, das mich bewog, mich um diesen halsstarrigen Gefangenen zu kümmern, der nun einmal unter meiner Obhut stand.

 

Ich beugte mich über den Jungen, der stöhnend wieder zu sich kam. Ein leicht unwilliges Gefühl begann sich in mir zu regen.

 

„Mutterlose Rehe und verletzte Vögel“, hatte jemand vor langer Zeit einmal über mich geklagt. „Alles bringt sie ins Haus.“ Anscheinend gehörten jetzt auch Menschenjungen zu meinem Repertoire!

 

War ich denn dazu verdammt, ihn zu pflegen, bei allen gütigen Valar! Warum mußte dieser Bengel nur so dickköpfig sein! Harantor hätte ihn töten können! Bedeutete ihm sein Leben denn gar nichts?

 

Vorsichtig hob ich seinen Kopf in meinen Schoß und begann widerwillig mit einem der vielen Stoffetzen, die herumlagen, das Blut aus seinem Gesicht zu tupfen.

 

Er regte sich. „Laß mich!“ murmelte er.

 

Auch gut, dachte ich leicht erbost und ließ ihn los.

 

Mit möglichst unberührter Miene beobachtete ich, wie er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu seinem Lager schleppte. Sein Kampf rang mir widerwillige Bewunderung ab.

 

Er war bleich wie der Tod, als er dort ankam und sich mit einem unterdrückten Stöhnen niedersinken ließ. Ich konnte ein mißbilligendes Kopfschütteln nicht unterdrücken. Dann stand ich auf, um sauberes Wasser und Tücher zu holen sowie einen Heil- und Schlaftrunk zu mixen.

 

Ich hatte ihm schließlich nur versprochen, daß er nicht mehr gefesselt würde. Es erschien mir sicherer, ihn bis zum Verhandlungsmorgen schlafen zu lassen. Zudem konnte er den Schlaf gebrauchen!

 

Als ich zurückkam, hatte er die Augen geschlossen. Ich begann, sein Gesicht zu reinigen. Er zuckte mit keiner Wimper. Sein Atem ging schwer und quälend.

 

Gut! Anscheinend hatte er beschlossen, wenigstens im Moment Ruhe zu geben.

 

Nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, schob ich meine Rechte unter seinen Kopf und setzte ihm den Becher an die Lippen. Kurz nur öffnete er die Augen, bevor er mit gierigen Zügen trank.

 

Ich sammelte meine Sachen zusammen und schickte mich gerade an zu gehen, als ich bemerkte, daß er versuchte, die schmutzige Tunika auszuziehen.

 

Das Mitleid gewann wieder die Oberhand, als ich seine selbstquälerischen Absichten sah. Und obwohl ich mir eben noch geschworen hatte, ihm nicht zu helfen, tat ich es doch.

 

Er widersetzte sich nicht. So zog ich sogar noch die Decke über seine magere Brust, als ich seine umständlichen Bemühungen bemerkte, seine Scham zu bedecken.

 

Ich sah auf sein schmales, gequältes Gesicht herab, bis ich bemerkte, daß auch er mich aus halb geschlossenen Augen fixierte. Er schluckte schwer und berührte meine Hand.

 

„Werdet...“, preßte er mühsam hervor. „Werdet ihr mich töten?“

 

Die Worte schienen ihm nur schwer über die Lippen zu kommen, ob durch die Erschöpfung oder aus Widerwillen, war mir nicht klar.

 

Ich überlegte einen Augenblick. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Nun, es ging um sein Leben! Er sollte erfahren, was auf ihn zukam, beschloß ich.

 

„Es wird ein Gericht geben - morgen“, erklärte ich ihm. „Harantor wird dem Geschehen vorsitzen. Angaimaite, der Vater des toten Kindes, wird die Klage führen, und ich werde für dich sprechen. Außerdem werden von mir und Angaimaite je ein Schattenrichter gewählt. Diese werden zusammen mit Harantor das Urteil fällen.“

 

Er starrte an mir vorbei ins Leere.

 

„Dann bin ich tot“, flüsterte er tonlos.

 

Einen Moment wallte wieder Mitlied in mir hoch. Ich seufzte.

 

„Warum hast du mir denn nicht gesagt, daß das Ganze nur ein Unfall war? Das ändert doch alles. Wie soll ich dir helfen, wenn ich das nicht weiߓ, tadelte ich ihn milde.

 

Sein Kopf wendete sich mir ruckartig zu.

 

„Du weißt doch alles. Warum fragst du dann noch?“, höhnte er.

 

Verwirrt starrte ich ihn an.

 

„Was wolltest du eigentlich hier im Wald? Jagen?“ versuchte ich es noch einmal.

 

„Es interessiert dich doch gar nicht!“, erwiderte er widerborstig.

 

„Warum sagst du das?“ wollte ich wissen, obwohl ich eigentlich keine Antwort erwartete. Nichts hatte sich geändert.

 

„Was kümmert es dich? Was kümmert dich mein Schicksal?“ konterte er voller Bitterkeit.

 

„Ich weiß es nicht“, schüttelte ich bedauernd den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht.“

 

Sein Mißtrauen zerrte an meinen Nerven. Was machte ich falsch?

 

„Vielleicht ist es besser, ich gehe“, dachte ich laut und stand auf. Hier konnte ich nichts mehr tun.

 

„Ja, geh nur“, rief er mir hinterher. „Ich werde schon nicht fliehen. Ich stehe zu meinem Wort. Ihr braucht mich nicht zu bewachen.“

 

Bei diesen Worten fiel sein Kopf zurück ins Kissen. Bedrückt sah ich ihn an.

 

„Ich weiߓ, sagte ich leise, dann ging ich.

 

Seine Reaktionen verwirrten mich immer wieder. Schien er zunächst noch so nachdenklich zu sein, wurde er gleich darauf aggressiv. Was quälte ihn so?

 

Wieder einmal seufzte ich. Dann suchte ich Earel und trug ihr auf, Alessan am nächsten Morgen, noch während er schlief, einen große Schüssel mit heißem Wasser samt Seife und sauberen Tüchern zu bringen, damit er sich waschen konnte. Desgleichen eine frische Tunika mit passenden Beinkleidern und seine gesäuberten Sandalen.

 

Er sollte schließlich nicht wie ein Bettler vor Gericht erscheinen. Die blauen Male in seinem Gesicht würden Bände genug sprechen.

 

Nun, vielleicht würden sie ja sogar zu seinem Vorteil gereichen. So wie ich Harantor inzwischen kannte, würden sie ihn darin erinnern, wie zügellos er sich dem Jungen gegenüber verhalten hatte. Vielleicht stimmte ihn das nachsichtiger.

 

Aber nichtsdestotrotz mußte ich nun endlich mit Kanyahón sprechen und ihn darauf vorbereiten, daß ich ihn als Beistand vor Gericht bestellen wollte.

 

 

 

Harantor

 

Dieses völlig verdummte Steppenhuhn, tobte es in mir. Und gleich darauf dachte ich, daß ich damit dem Federvieh im allgemeinen und meinen geflügelten Haustieren auf Nassetussa im besonderen Unrecht tat; es war viel intelligenter als diese Herrin des Waldes.

 

Sie begriff nicht, daß die Fesseln den Jungen nur vor sich selbst schützen sollten. Dumm wie er war, würde er doch nur wieder versuchen zu fliehen. Im übrigen war es mir ziemlich gleichgültig, was dieser Bogenkünstler von mir dachte.

 

Ich tobte die Stufen hinunter, wollte niemanden sprechen, und mein Gebaren sorgte dafür, daß keiner der trotz des Regens draußen Umstehenden mir zu Nahe kam.

 

Noch im Schutz der Fletts hatte ich mir eine Yulepse gedreht. Zunder und Feuerstein sprangen fast automatisch in meine Hand. Im Regenschatten des Baumes gelang es mir, das Pfeifenkraut zu entzünden.

 

Mit dem ersten Zug des aromatischen Rauchs begann ich, mich zu beruhigen. Ich beschirmte die Glut mit meiner Hand. Alle Vorkehrungen, die die Wachen angingen, waren getroffen. Sollte die hysterische Waldhenne doch sehen, wie sie den Jungen bändigte. Aber wenn dieser dumme Bengel noch einmal einen Fehler machte, würde sie endgültig dafür bezahlen müssen.

 

Dann würde er sein Leben in einem Pfeilhagel aushauchen, und ich würde keinen Finger krümmen, um dies zu verhindern.

 

Als ich den Stummel der Yulepse mit dem Hacken in den Waldboden trat, besann ich mich meiner Pflichten. Es galt, noch viele Dinge zu erledigen, bis ich am nächsten Tag über den Jungen zu Gericht sitzen mußte.

 

Ich setzte mich in Bewegung, um Taurion zu finden, damit ich ihm die nötigen Anweisungen geben konnte. Dann würde ich mich mit einem Schlauch Wein und etwas zu Essen - ‘Hoffentlich bekomme ich hier etwas Vernünftiges und nicht nur Viehfutter und Grünzeug!’ - auf mein Flett zurückziehen und mich erst wieder nach Sonnenaufgang zeigen.

 

Die Gedanken an das Gericht kamen ungebeten.

 

Angaimaite würde eine feurige Anklage voller Haß erheben. Er suchte Vergeltung und Rache. Und sein bestes Argument war sein toter Sohn.

 

Laurealka hingegen würde es schwer haben. Nur mit einem Appell an Gerechtigkeit hatte sie einen schweren Stand, denn viele, ja fast alle hier in Laurínamardi, empfanden den Tod für den Jungen nur als allzu gerecht.

 

Dann waren da noch die Gwathamendys, die Schattenrichter, welche mir von Angaimaite und Laurealka an die Seite gestellt würden. Laurealkas Wahl war mir klar; es konnte nur Kanyahón sein, ihr Vertrauter und Ratgeber, denn er versprach am ehesten in ihrem Sinne zu handeln. Angaimaite würde jemanden wählen, der Menschen verachtete; wen, das würde sich zeigen. Aus meiner Sicht gab es für ihn diverse Möglichkeiten.

 

So wie ich die Dinge sah, hätte ich auf die Gwathamendys verzichten können, denn es würde alles auf eine einsame Entscheidung hinauslaufen, aber die Entscheidung, die Position der Schattenrichter zu schaffen, war der Versuch gewesen, an die Zukunft zu denken, denn ein Dreiergremium kann hilfreich sein.

 

Nur nicht hier und heute, seufzte ich innerlich.

 

Aber wer würde, sollte das Urteil Tod lauten, der Henker des Jungen sein? Eine unangenehme Frage für alle hier. Vielleicht hofften einige, daß ich den Jungen gleich mit dem Urteil einen Kopf kürzer machen würde.

 

Aber ich war der Richter, nicht der Henker...

 

„Herr...“, riß mich die Stimme Taurions aus meinen Gedanken.

 

„Wunderbar, Taurion. Folge mir. Es gibt viel zu tun“, sagte ich zu dem jungen Elben...

 

 

 

Laurealka

 

Während ich mich durch den strömenden Regen zu Kanyahóns Flett arbeitete, achtete ich darauf, daß etwaige Fenster durch Bambusmatten geschlossen wurden. Earel und einige andere dienstbare Geister würden sich inzwischen um mein Flett, die Empfangshalle und das Flett mit dem jungen Menschen kümmern.

 

Ich klopfte an Kanyahóns Tür, völlig durchnäßt vom Regen. Ein gedämpftes „Herein“ forderte mich auf einzutreten.

 

In Kanyahóns Räumen empfing mich sanfte Dunkelheit, gelichtet durch einige flackernde Kerzen. Es war anheimelnd hier drinnen wie in einer Höhle und der Regen schien weit entfernt, verbannt hinter die Matten aus Bambus und Kokos.

 

„Laurealka!“ entfuhr es ihm. Anscheinend überraschte ihn mein Erscheinen.

 

„Setz dich!“ forderte er mich auf, während er aufstand und mir entgegentrat. „Nein“, korrigierte er sich dann. „Du bist ja völlig durchnäßt. Komm nach nebenan und zieh dir eine meiner Tuniken an. Sie müßten dir passen!“

 

Ich lächelte. Kanyahóns offensichtliche Besorgtheit tat meinen angegriffenen Nerven unendlich gut. Das ruhige Zimmer, das gedämpfte Licht halfen schnell, meine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen.

 

„Danke“, bemerkte ich nur mit einem leichten Lächeln und nahm sein Angebot an. Wir verstanden uns oft ohne Worte.

 

Schon nach wenigen Minuten saß ich ihm einigermaßen trocken auf einem weichen Kissen gegenüber und hielt einen Becher angewärmten Kräuterwein in meinen Händen.

 

„Was kann ich für dich tun, Laurealka“, fragte er sanft.

 

Ich blickte auf. „Du hast gehört, was Harantor gesagt hat“, seufzte ich. „Ich muß bis Sonnenuntergang einen Beistand bestellen.“

 

„Ich hatte schon geahnt, daß du mich fragen würdest“, lächelte er. „Nun, Laurealka. Was erwartest du von mir?“

 

Überrascht sah ich auf. Erwartete ich etwas von ihm? Ich überlegte kurz und nickte leicht vor mich hin, als gelte das Nicken nur mir selbst.

 

„Ja“, erkannte ich. „Ja. Ich erwarte Gerechtigkeit von dir, Kanyahón.“

 

Der Kummer der letzten Tage wollte mich wieder überfluten und mit ihm meine ganze Hoffnungslosigkeit.

 

„Ach, Kanyahón“, klagte ich. „Ich fürchte, du wirst der einzige bei Gericht sein, der Gerechtigkeit will. Von Angaimaites Beistand erwarte ich nichts Gutes, wer immer es auch sein wird. Und Harantor...“

 

Ich kam ins Stocken.

 

„Nach allem, was sich der Junge in den letzten Stunden ihm gegenüber erlaubt hat, glaube ich nicht, daß er noch zu Gerechtigkeit ihm gegenüber fähig ist. Bei den Valar“, schnaubte ich. „Dieser Junge hat ihn bis aufs Blut gereizt, ihn als ehrlos beschimpft. Ich dachte schon, Harantor würde ihm das Hirn aus dem Schädel schlagen...“

 

Kanyahón nippte an seinem Glas. Erst jetzt bemerkte ich, daß auch ich noch einen gefüllten Becher in meinen Händen hielt, und folgte seinem Beispiel. Der Wein lief wohlig warm meine Kehle hinunter. Kanyahón wußte, wie man mich besänftigte.

 

„Du bist ungerecht Harantor gegenüber“, tadelte er mich mit leiser Stimme. „Er hat dir in diesen letzten Tage so sehr geholfen. Wie kannst du jetzt seine Gerechtigkeit anzweifeln? So oft hätte er sich deinem Willen widersetzen und diesen jungen Mann töten können. Nein, Laurealka! Wenn Elrod sein Vertrauen in ihn setzte, dann wird er schon seine Gründe gehabt haben. Wenn du also schon nicht Harantor vertraust, dann vertrau wenigstens Lord Elrods Weisheit.“

 

Verlegen betrachtete ich meinen Becher, ein erlesenes Stück aus altem Silber. Vielleicht stammte es sogar aus Mittelerde.

 

„Du hast recht“, bekannte ich. „Aber ach, ich fürchte, der Tod Kalwes wird einen weiteren Unschuldigen in den Tod ziehen. Das.. das darf einfach nicht geschehen.“ Flehend sah ich ihn an.

 

„Nun, wie stehen, denn die Fakten“, wollte Kanyahón ruhig wissen.

 

„Hah“, schleuderte ich ihm entgegen. „Wenn ich das mal wüßte. Aber er spricht ja nicht mit mir. Nicht mit mir und mit keinem anderen, widerborstig wie er ist.“ Der Gedanke an Alessans beständige Weigerung mit mir zu sprechen machte mich wütend.

 

„Na, na“, beschwichtigte mich Kanyahón. „Hat er denn gar nichts gesagt?“

 

„Doch“, gab ich resignierend zu. „Er sagte, das Kind sei ihm in die Schußbahn geraten.“

 

Ich lachte voller Bitterkeit auf.

 

„Verstehst du das? Es war ein Jagdunfall. Nur ein dummer Jagdunfall. Dieser widerborstige Mensch lebt, und der von uns allen geliebte Kalwe ist tot. Bei den Valar, wo liegt da der Sinn? Und es muß doch einen Sinn geben! Es muß einfach.“

 

All die in den letzten Tagen zurückgehaltenen Tränen und Zweifel brachen sich Bahn, und ich fand mich im nächsten Augenblick in Tränen aufgelöst an Kanyahóns Brust wieder, ihn verzweifelt mit beiden Armen umklammernd. Er wiegte mich leicht wie ein Kind.

 

„Schsch“, wisperte er nach einer Weile sanft. „Nun, wenn du den Worten eines einfachen Barden lauschen willst... Vielleicht gibt es ja einen Sinn. Vielleicht haben wir ihn nur noch nicht erkannt. Vielleicht soll uns dieses Unglück ja darauf hinweisen, daß wir uns falsch den Menschen gegenüber verhalten, daß...“

 

„Aber dieser Mensch hat doch Kalwe getötet“, brauste ich unter Tränen auf.

 

Kanyahón streichelte sacht meine bebende Schulter.

 

„Schon, aber wenn er vielleicht gewußt hätte, daß es uns gibt, und die Menschen uns nicht fürchteten oder für Geister hielten, wäre das vielleicht nicht passiert. Wer weiß...?“

 

Er sah mich mit seinen freundlichen, gütigen Augen an.

 

„Vielleicht“, schluchzte ich unsicher, aber der Gedanke setzte sich in mir fest. Irgendwie gab er mir Trost. Er schien das entsetzliche Geschehen in ein freundlicheres Licht zu rücken. Vielleicht hatte Kanyahón ja recht. Vielleicht...

 

„Hmm“, meinte dieser nachdenklich. „Ich würde diesen Menschenjungen gerne einmal sehen.“

 

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, daß Harantor das zuläßt. Er wird sagen, daß du beeinflußt werden könntest. Wahrscheinlich würdest du das sogar.“ Ich lächelte ein schiefes Lächeln. „Aber eher zum schlechten, so wie dieser Alessan sich benimmt. Aber sag, nimmst du meine Wahl an, wirst du den Posten des Beistands annehmen?“

 

Mit banger Erwartung sah ich ihn an. Letzte Tränen hingen in meinen Wimpern. Beschämt wischte ich sie weg. Kanyahón lächelte warm und reichte mir meinen frisch gefüllten Becher.

 

„Sicher werde ich das, Laurealka“, versicherte er mir, während er leicht meine freie Hand drückte. „Ich werde der Gerechtigkeit morgen Genüge tun. Das verspreche ich dir. Die Valar mögen meine Zeugen sein!“

 

Feierlich drangen seine Worte durch das Prasseln des Regens, und ich wurde überschwemmt von einer Woge der Dankbarkeit.

 

„Danke“, flüsterte ich, fast schon beschämt über seine große Ernsthaftigkeit.

 

„Nein“, schüttelte er mit großer Bestimmtheit den Kopf. „Du mußt mir nicht danken. Es mag zwar scheinen, es ginge nur um das Leben eines unbedeutenden jungen Mannes, in Wahrheit aber geht es um viel mehr, Laurealka. Trotz all deiner Trauer hast du es anscheinend als einzige erkannt. Ich muß gestehen, auch ich habe nicht sofort die Wichtigkeit dieser Gerichtsverhandlung eingesehen. Aber es geht morgen um nichts geringeres als um die Integrität und Ehrenhaftigkeit der Bewohner dieser Siedlung. Ich wäre ein schlechter Ratgeber für dich, wenn ich das nicht wüßte.“

 

Ich schwieg. Seltsam, daß Kanyahón das aussprach, was ich die ganze Zeit immer vage gefühlt, aber nie aussprechen konnte, weil es in den Streitigkeiten mit Harantor und dem schwelenden Mitleid mit dem mißhandelten Jüngling untergegangen war.

 

Es ging um weit mehr als ein Leben morgen!

 

 

 

Harantor

 

Ich erhob mich von meinem Lager, auf dem ich für anscheinend nur einen Moment geruht hatte.

 

Viele Dinge hatte ich dem jungen Taurion aufgetragen, hatte ihm erklärt, wie in dem Saal, hoch in den Wipfeln Aldamars, die Kissen und Teppiche zu liegen hatten und viele andere Dinge mehr.

 

Am späten Abend war Angaimaite erschienen. Er hatte nur kurz Aldamir als seinen Beistand benannt, dann war er ohne weitere Worte gegangen.

 

Ich hatte nur genickt, denn alles, was es zu sagen gab, würde an diesem Morgen gesagt werden.

 

Ich betrachtete den leeren Weinschlauch und wünschte mir, daß ich mich auch den Menschen gleich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken könnte, aber bei uns Eldar wirkt der Wein etwas anders und nicht derart berauschend.

 

Trotzdem war ich mit mir im reinen. Ich fühlte mich befreit von den Ereignissen der letzten Tage. Ich war bereit, dem Jungen eine faire Verhandlung zu bieten, denn ich hatte meine Pflicht in den Stunden der Ruhe erkannt.

 

Mein Blick fiel auf den Angya an meiner Hand. Er war schwer, der Eiserne, ein zweifelhaftes Geschenk Elrods. Das Gewicht des Rings zog an mir als ständige Ermahnung an meine Aufgabe, über den Jungen zu richten. Dabei war dieses Gewicht weniger eines, das auf der Waage seinen Niederschlag finden würde, es zog vielmehr an der Seele.

 

Der Ring glänzte matt, wirkte im Zwielicht der heraufziehenden Dämmerung dunkel, fast schwarz.

 

Irgendwann würde sich mir hoffentlich die Kraft des Rings erschließen. Ich wußte, Elbenringe sind ein zweischneidig Ding’. In ihnen wohnt eine große Macht, und besitzt man sie erst einmal, kann man sich nur schwer wieder von ihnen trennen.

 

Ich erinnerte mich mit Schaudern an den Moment, als Elrod den Carnya von mir zurückforderte. Eine große Leere erfaßte mich und gleichzeitig tiefer Schmerz, aber aus meinem Innern spürte ich auch Verlangen, Gier und Trotz. Solange ich mein Leben zurückerinnere, war der Drang, etwas zu behalten, nicht so groß gewesen, und ich besaß oft große Reichtümer und habe sie wieder verloren. Mehr als ein bedauerndes Schulterzucken hatte es mich nie gekostet.

 

Nur Elrod hatte die Kraft, mir den Carnya ohne Blutvergießen abzunehmen, seine Macht, nein seine Liebe und mein Vertrauen in ihn, den Ringmeister, war der Grund dafür.

 

Vielleicht würde ich irgendwann einmal die Fähigkeiten und die Macht des Eisernen ausloten. Genauso gut könnte es jedoch auch sein, daß es mir nie gelingen würde. Auf jeden Fall aber ist es Ehre, Freude und Last zugleich, einen der Drei an meiner Hand zu wissen.

 

Aber würde ich mich dieser Last würdig erweisen?

 

Ich schüttelte die Gedanken ab und trat an die Balustrade.

 

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es blieb mir also noch genügend Zeit, meine frisch gereinigte Gewandung anzuziehen und die Kette, das für den Jungen und alle übrigen Menschen bestimmte, äußere Zeichen meiner Würde, anzulegen.

 

Ich stopfte mir in aller Ruhe eine Pfeife. Genüßlich entzündete ich sie und inhalierte den Rauch.

 

Ich dachte an nichts bestimmtes, sondern lauschte den Vogelstimmen, die den beginnenden Morgen ankündigten, als ich hinter mir ein Geräusch hörte.

 

In aller Ruhe wandte ich mich um. Ich wußte genau, wer es war, denn ich hatte Laurealka bereits erwartet.

 

Sie stand verloren in der Tür und sah mich an. Ich erwiderte ihren Blick, war neugierig, ob sie sich entschuldigen wollte oder ob sie mich mit neuen Vorwürfen überhäufen würde, weil ich den Jungen fesseln wollte.

 

Aber nichts geschah. Sie stand einfach nur schweigend da.

 

Ich sog an der Pfeife, überprüfte mit einem kurzen Blick die Glut und wartete gebannt darauf, was sie tun würde.

 

Durch den Dunst des aufsteigenden Rauches sah ich sie wieder an.

 

Immer noch starrte sie mich schweigend an. Ihrem Gesicht waren die Strapazen, sowohl die körperlichen als auch die geistigen, anzusehen. In diesen Momenten wirkte sie ungeheuer verletzlich, schwach und angreifbar. Im fahlen Licht des heraufdämmernden Morgens wirkte sie eher wie eine Geistererscheinung, denn wie jemand, der um das Leben eines Menschen und für die Gerechtigkeit, wie immer diese auch aussehen mochte, zu kämpfen gedachte.

 

In diesen Augenblicken des Zwielichtes zwischen Nacht und Tag erschien Laurealka mir so fremd, als würde ich ihr zum ersten Mal begegnen - dieser zerbrechlichen kleinen Elbin, die die Bürde auf sich genommen hatte, im Tauredîn Herrin zu sein. Und nun drohte sie unter der Last der Verantwortung zu zerbrechen.

 

Ich vermeinte in Laurealkas fein geschnittenem Gesicht die Zweifel zu sehen, die sie plagten.

 

Sie schien mit sich zu kämpfen, ob sie noch etwas sagen oder sich umwenden und wortlos gehen sollte...

 

 

 

Alessan

 

Ich hatte lange nachgedacht, nachdem Laurealka des abends gegangen war, trotz der bohrenden Kopfschmerzen, bis mir vor Erschöpfung die Augen zufielen.

 

Als ich wieder erwachte, schien die Sonne rotgolden durch die vielen Fensteröffnungen, malte rote Schatten auf die sich leicht im Wind bewegenden weißen Stoffbahnen. Die Kokosmatten waren verschwunden. Nichts schien mehr an den Regen zur erinnern, der herniedergeprasselt war, als ich im Dunkeln lag und die Gedanken in meinem Kopf sich jagten.

 

Ich stutzte, dann begriff ich. Das war nicht der Sonnenuntergang sondern der Sonnenaufgang des nächsten Morgens, der Morgen des Tages, der die Gerichtsverhandlung bringen würde.

 

Ich hatte über zwölf Stunden geschlafen. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Der Trank, den mir Laurealka gestern gereicht hatte, fiel mir wir wieder ein.

 

Ein ohnmächtiges Gefühl des Zorns breitete sich in meinem Bauch aus. Sie hatte mich reingelegt. Die Hexe mußte mir einen Schlaftrunk verabreicht haben. Sie hatte mir ein paar der letzten Stunden meines Lebens geraubt!

 

Ich setzte mich auf, der Zorn verlangte nach einer Betätigung und wenn sie nur darin bestand, einen der Becher an die Wand zu werfen oder eines der Bambusrollos zu zerbrechen.

 

Ein Stich in meiner Seite hielt mich auf dem Lager zurück, entlockte mir ein unterdrücktes Stöhnen. Im nächsten Augenblick kam ich mir ziemlich dämlich vor.

 

Hatte ich mir gestern nicht geschworen, nicht mehr so kindisch zu reagieren! Wollte ich mich nicht endlich besinnen und zeigen, daß auch ich meinen Stolz besaß und Ehre!

 

Ja, Ehre!

 

Ich wollte es ihnen beweisen. Das hatte ich mir feierlich geschworen. Immer wieder war ich alles durchgegangen, hatte hin und her überlegt, wie ich mir ihre Achtung erringen könnte, bis ich schließlich die Lösung gefunden zu haben glaubte.

 

Es würde einiges von mir abverlangt werden, wollte ich tun, was ich mir vorgenommen hatte. Milde hatte ich dadurch nicht zu erwarten! Nein, es konnte eher sein, daß sie es als willkommene Gelegenheit ansehen würden, mich abzuschlachten.

 

Aber ich mußte es tun. Ich war es mir selbst schuldig, auch wenn ich meinen Stolz dafür brechen mußte, mich beugen mußte, vor dem, was kommen konnte...

 

Mein Leben in ihre Hände geben...

 

Ein zarter Windhauch fuhr ins Zimmer und umschmeichelte meinen nackten Oberkörper. Erst jetzt fühlte ich, wie ich zitterte, obwohl der Wind warm und angenehm war auf meiner Haut.

 

Hatte ich etwa Angst?

 

Nein, dachte ich grimmig. Nein, diese Genugtuung werde ich ihnen nicht gönnen. Ihnen meine Angst zu zeigen. Aufrecht und offenen Auges werde ich in den Tod gehen...

 

Immer wieder sagte ich es mir vor, doch das Zittern wollte nicht nachlassen. Bis ich neben mir die Schüssel mit dem Wasser fand, dampfend vor Hitze.

 

Daneben fand ich einen Tiegel mit einer farblosen Paste und mehrere frische weiße Tücher. Auch an etwas zu essen und zu trinken hatte der Unbekannte gedacht. Meine Henkersmahlzeit, dachte ich grimmig.

 

Dann fand ich meine Sandalen, gereinigt und geflickt, und eine ordentlich gefaltete, silbergraue Tunika. Ich griff danach, nun wirklich erstaunt.

 

Selten hatte ich etwas kostbareres in den Händen gehalten. Der Stoff schimmerte in den ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens, als werde er von innen erleuchtet. Dennoch fühlte er sich leicht und geschmeidig an und war warm und weich wie Daunenfedern auf der Haut.

 

Fast ehrfürchtig faltete ich die Tunika auseinander. Sie hatte kurze Ärmel und um den Halsausschnitt und die Ärmelkanten zog sich eine silberne Borte. Ich erkannte stilisierte Blumen und Blätter darin, die so fein und zart waren, daß ich fast Angst hatte, sie zu berühren.

 

Unter der Tunika fand ich noch Beinkleider in einem etwas dunklerem Grau, deren Qualität der der Tunika jedoch in nichts nachstanden. Dazu kam noch ein weich gegerbter, grauer Ledergürtel.

 

Sprachlos starrte ich auf die Gaben, bis ich endlich begriff, daß irgendjemand mir die Gelegenheit gab, mir einen würdigen Anstrich zu verpassen.

 

Im ersten Augenblick war ich versucht, alles zurückzuweisen, bis mir bewußt wurde, daß ich nackt und schmutzig wie ich war, nicht vor Gericht erscheinen konnte. Was ich hier fand, konnte mir bei meinem Vorhaben, einen würdigen Eindruck zu hinterlassen, nur helfen.

 

Ich aß etwas von dem Brot und den Früchten und trank von der süßen Milch. Das Fleisch brachte ich nicht hinunter, so köstlich es mich auch anlächelte.

 

Dann begann ich mich zu waschen. Schnell begriff ich auch, wozu die Paste diente. Sie roch nach Zitrone und Kräutern und schäumte auf der Haut, wenn man sie mit dem Wasser verrieb.

 

Schaudernd genoß ich das warme Wasser und den schmeichelnden Duft, ließ keinen Zoll meines Körpers aus, egal wieviel Schmerzen es mir auch bereitete, und rieb mich anschließend mit den weichen, weißen Tüchern ab, bis meine Haut rosig schimmerte. Selbst die Haare ließ ich in einem plötzlichen Anfall von Übermut nicht aus.

 

Jetzt fühlte ich mich auch sauber genug, die Tunika und die Beinkleider anzuziehen. Wie ein Windhauch so zart streichelten sie meine Haut. Selbst das Leder meiner alten Sandalen war wieder weich und geschmeidig. Jemand mußte sich viel Mühe mit ihnen gemacht haben. Als letztes schlang ich den Gürtel um meine Taille.

 

Und plötzlich fühlte ich einen schmerzhaften Ring um meine Brust, der sie fühlbar einengte.

 

Dankbarkeit?

 

Ich sah Laurealka vor mir und wußte, daß ich ihr das alles zu verdanken hatte.

 

Ich stand auf, mühsam. Die Schmerzen in meiner Seite erinnerten mich daran, wie schwach ich immer noch war. Die Enge in meiner Brust jedoch drängte mich an die Fensterfront, suchte nach einer Abwechslung.

 

Ich starrte hinaus auf glänzende grüne Blätter im goldenen Sonnenlicht, erahnte die kühnen, zerbrechlich aussehenden Baumhäuser in ihren Kronen. Sah eine Wasserfläche, die zwischen den Blätterdächern heraufblinkte. Gewahrte den kleinen Wasserfall, dessen sanft murmelndes Lied mich in meinen Fieberträumen begleitet hatte.

 

Er fügte sich mit den ersten zögernden Gesängen der Vögel in einer überwältigenden Harmonie zusammen, die alles überflutete. Heiterkeit strahlte von dem Ort aus und alles umfassende Ruhe und Geborgenheit.

 

Ich dachte an das Kind, das ich getötet hatte, und eine Disharmonie schien sich in das sanfte Lied des Tales zu weben. Ich hatte seinen Frieden gestört...

 

Ein Frösteln ließ mich erbeben, erinnerte mich an das Brennen in meinen Augen. Benommen wischte ich mir übers Gesicht, so daß ich fast die Schritte überhört hätte, die sich der Schiebetür näherten.

 

Ich drehte mich um und straffte mich. Es war soweit! Sie kamen, um mich vor das Gericht zu holen!

 

 

 

Laurealka

 

Ich starrte Harantor an und wußte nicht, was ich sagen sollte. Die ganze Nacht hatte ich auf meinem Flett gesessen hoch über den Baumwipfeln und darüber nachgedacht, was von mir an diesem Tag erwartet würde. Doch ich hatte keine Antwort gefunden.

 

Ich dachte an den Schmerz in Alessans Blick, an sein Mißtrauen uns gegenüber - mir gegenüber. Und ich dachte an Angaimaite, den brennenden Zorn in seinen Augen. An Lómelinde. An Kalwe...

 

Und es gab keine Antwort.

 

Gleichzeitig hatte ich Angst davor, wie Harantor sich verhalten würde. Und noch mehr Angst vor dem, was Alessan tun könnte. Von ihm würde letztendlich alles abhängen. Wenn er sich vor Gericht ebenso uneinsichtig und stur verhielt, wie mir gegenüber, würden die süßesten Worte nichts nutzen. Mochte er schuldig sein oder nicht, dann würde die Gerichtsverhandlung in einem Fiasko enden. Dessen war ich mir sicher. Eigentlich war das ganze sowieso nur eine Farce!

 

Fast kam es mir vor, als habe Alessan Recht. Als sei sie nur ein Vorwand, damit wir ihn ohne Gewissensbisse töten konnten.

 

Nein! dachte ich entschlossen. Nein, so soll es nicht enden! Ich gebe alles, um es zu verhindern!

 

Und so stand ich nun vor Harantor, um ihn abzuholen. Ich sah seine entspannte Haltung. Gut, ein Punkt für mich. Er schien entschlossen, ein würdevoller und integrer Richter zu sein.

 

Es gab nichts mehr zu sagen.

 

„Wollen wir ihn gemeinsam abholen“, fragte ich ihn.

 

Er zuckte mit den Schultern und erhob sich.

 

„Wenn dir das angenehmer ist...“, erwiderte er und verstaute seine Pfeife. Er schien dazu entschlossen, mir die Sache leicht zu machen.

 

So kletterten wir wortlos die vielen Treppen hinunter bis vor die Schiebetür, hinter der sich Alessans Lager befand. Mit halbem Blick gewahrte ich die Wachen, die Harantor aufgestellt hatte. Taurion hatte mir davon berichtet. Vor der Tür blieb ich unschlüssig stehen.

 

„Wer ist der andere Gwathamandos?“ fragte ich ihn, vermied dabei jedoch seinen Blick und starrte an ihm vorbei in die in der Morgensonne glitzernden Blätter.

 

„Aldamir“, erwiderte er knapp, während er mich mit einem prüfenden Blick bedachte. Er schien mich zu studieren, zu mustern, als warte er auf etwas.

 

Aldamir... Sie verachtete die Menschen. Und sie hatte vielleicht allen Grund dazu. Wer wußte schon, durch welche Geschehnisse es zu diesen Gefühlen gekommen war. So viel hatte sie schon erlebt...

 

Nun ja! Ich straffte mich. Aldamir war so gut wie jeder andere. Dann schob ich sachte die Tür beiseite und hoffte, nein betete, daß Alessan meine Gaben angenommen und nicht falsch gedeutet hatte. Daß er begriff...

 

Fast hatte ich Angst durch die Tür zu treten. Nur Harantors Gegenwart bewahrte mich davor, daß ich zögerte. Er sollte von meiner Angst nichts bemerken.

 

Im ersten Augenblick sah ich nur das leere Lager, und ein eiskalter Schreck ließ mir die Knie zittern, dann sah ich ihn am Fenster stehen.

 

Bei den Valar! Ich hätte ihn fast nicht erkannt.

 

Die elbische Kleidung schmeichelte seiner schlanken Gestalt, und die graue Farbe paßte wunderbar zu seinen dunklen Haaren, die zwar feucht und zerzaust waren, aber in der Morgensonne seidig schimmerten.

 

Ich begriff, daß ich ihn mit allzu offensichtlichem Erstaunen anstarrte und räusperte mich.

 

„Wie sind gekommen, um dich vor das Gericht zu geleiten“, brachte ich schließlich mühsam hervor. Irgendwie war das, was ich vor mir sah, nicht das, was ich erwartet oder - besser - befürchtet hatte. Sollte er etwa zur Besinnung gekommen sein? Noch wagte ich nicht, diese Hoffnung zu akzeptieren.

 

Er nickte leicht und ließ mit einem letzten Blick auf die Aussicht die Brüstung los. Beim Näherkommen hob er den Kopf, sodaß ich das blaue Mal darin erkennen konnte. Er nahm seine Schritte sehr langsam und bedacht, als sei er darum bemüht, seine Schwäche und sein Hinken zu verbergen.

 

Einen Schritt vor mir blieb er stehen. Ein durchdringender Blick aus strahlend blauen Augen richtete sich auf mich. Er schien zu zögern.

 

„Danke“, sagte er schließlich leise. Dann straffte er sich und ging an mir vorbei zur Tür hinaus, um im Vorraum stehen zu bleiben. Harantor würdigte er keines Blickes.

 

Bei den gütigen Valar, durchschoß es mich heiß. Wird sich etwa doch noch alles zum Guten wenden?

 

 

 

Harantor

 

Als ich den Jungen sah, war ich für einen Lidschlag wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, mit Würde und Anstand vor das Gericht zu treten.

 

Ich sagte nichts, hielt mich im Hintergrund und musterte den Jungen. Alessans Blick wurde weich und verlor etwas von dem Trotz, als er sich bei Laurealka bedankte, obwohl ihm das sichtlich schwer zu fallen schien.

 

Der Kleine schien fast an seinem Stolz zu ersticken, als er das Wort ‘Danke’ über die Lippen brachte, aber er überwand sich.

 

Nun, der Morgen würde zeigen, ob er ihr noch mehr zu danken hatte. Laurealka würde auf der Suche nach Gerechtigkeit mit ihren ganzen Beredtheit auf uns, das Gericht und all die Elben des Tauredîn einreden.

 

Ich hatte Taurion befohlen, daß nur ein paar Wachen im Wald zu bleiben hatten, die übrigen konnten, wenn sie wollten, als Zuschauer an der Verhandlung teilnehmen.

 

Ich hatte mir Gedanken gemacht und dabei festgestellt, daß das Sprechen von Recht keine Sache Weniger hinter verschlossenen Türen sein sollte.

 

Saßen Eldar zu Gericht, so sollten alle Eldar desjenigen Ortes, an dem zu Gericht gesessen wurde, dabei sein, die dies wünschten. Das Recht und die Gerechtigkeit durften nicht allein die Sache einiger sein, die sich dazu berufen fühlten. Und sollten die übrigen Eldar auch nicht direkt mitentscheiden, so konnten sie doch sehen, wie es zu dem Urteil kam und es dadurch besser verstehen.

 

Nahezu jeder Elb des Tauredîn sollte hier sein um zu sehen, daß es mehr gibt als blinde Rache. Dafür hatte ich die Verantwortung übernommen.

 

Elrods Lektion galt also nicht nur mir sondern auch den Elben des Waldes. Bevor man urteilt, muß man abwägen, ob gleiches mit gleichem zu vergelten, der Weg der Eldar ist.

 

Diese Erkenntnis war so klar und deutlich, daß es nun galt, der Verhandlung einen würdigen und ehrenvollen Anstrich zu geben. Sie durfte nicht nur Vorwand sein, um Angaimaites verständlichem Verlangen nach Rache einen gerechten Anstrich zu geben.

 

Ich ging wieder zurück in den Vorraum. Mein Blick streifte kurz Laurealka, die in diesen Momenten sehr nachdenklich wirkte.

 

Ich trat an dem Jungen vorbei ins Freie. Kurz sah ich mich um, dann wußte ich, was und wie es zu tun war.

 

„Wachen!“ rief ich nach draußen. „Eskortiert den Gefangenen in den Gerichtssaal!“

 

Mir war nicht klar, ob einer der Umstehenden oder sich in Hörweite befindlichen darauf geachtet hatte, was ich befohlen hatte. Es war mir nur wichtig, daß ich nicht befohlen hatte, die Wachen sollten ihn vor das Gericht schleifen.

 

Ich bemühte mich um Würde, auch für den Jungen.

 

Vier mit Pfeil, Bogen und Dolch bewaffnete Eldar kamen näher, sie hatten mit gespannten Bögen darauf gewartet, daß dieser Mensch seine Nase aus der Tür steckte.

 

Alessan kam von Laurealka gefolgt heraus.

 

Die vier Wachen nahmen ihn in die Mitte. Keiner von ihnen sah freundlich drein, aber sie schienen begriffen zu haben, was ich wollte. Ernst, aber eben mit Würde eskortierten sie ihn.

 

Laurealka und ich folgten Alessan. Wir ließen uns viel Zeit mit dem Aufstieg, schon Alessans wegen, der offensichtlich sehr geschwächt war und noch immer Schmerzen hatte. Nichtsdestotrotz war er viel zu stolz den stützenden Arm einer der Wachen anzunehmen. Ein unwilliges Kopfschütteln war die Antwort auf das freundliche Angebot, und so zogen wir viele Pausen einlegend weiter.

 

Ich haßte diese Stufen, aber da wir nicht hetzten - wie so oft - schnaufte ich auch nicht allzusehr während des mühseligen Aufstiegs in die Halle des Gerichts hoch in den Wipfeln Aldamars.

 

Schließlich erreichten wir den Ort des Gerichtes. Ich konnte sehen, daß Taurion wirklich ganze Arbeit geleistet hatte. Im hinteren Teil befanden sich die Sitzgelegenheiten für die Zuschauer. Vorn befand sich der Tisch für die Gwathamendys und mich. Halb rechts, vier Schritt entfernt vom Tisch der Richter, befanden sich mit zwei Schritt Abstand der Stuhl für Laurealka, der Mánaquende (Gutsprecherin), wie ich ihre Aufgabe vor dem Gericht nannte, und Angaimaite, den Nairiquende (Klagesprecher), der die Anschuldigungen gegen Alessan vorbringen würde.

 

Mir gegenüber, ebenso wie Laurelka und Angaimaites Stühle vier Schritt entfernt von meinem Platz, würde, umrahmt von zwei Wachen, der Angeschuldigte, eben Alessan, sitzen.

 

Langsam und gemessen gingen wir zu unseren Plätzen. Ich konnte sehen, daß die Reihen der Zuschauer gefüllt waren. Mein Blick streifte Lomélinde, die sich in den hinteren Sitzreihen mit gesenktem Kopf und rotgeweinten Augen niedergelassen hatte.

 

Kanyahón und Aldamir, die Schattenrichter, hatten bereits ihre Plätze eingenommen.

 

Bis auf Lomélinde starrten alle Anwesenden auf den Zug, der die Halle hoch in den Wipfeln Aldamars betrat. Hier sollte zum ersten Mal auf Magira im Namen der Eldar Recht gesprochen werden.

 

Und zumindest für die Elben des Tauredîn hing von dem Gericht mehr ab, als sich die meisten träumen ließen, mir wurde diese Tatsache mit jedem Schritt, den ich machte, bewußter.

 

In Laurínamardi hatten die Eldar wie im Paradies gelebt, doch dann brachte ein Bogenschuß den Unfrieden, den Blut- und Rachedurst an diesen Ort. Es würde sich zeigen, ob daraus alle ihre Lehre würden ziehen können...

 

 

 

Laurealka

 

Nachdem Taurion uns die Plätze zugewiesen hatte, setzten wir uns. Zwei der Wachen blieben hinter Alessan stehen. Die anderen bewachten den Eingang. Ich war sehr gespannt, wie es weitergehen würde.

 

Harantor setzte sich mit großartiger Pose zurecht, sah sehr gewichtig drein und räusperte sich. Augenblicklich verstummten die Gespräche auf dem Flett. Erwartungsvolle Blicke trafen ihn.

 

Harantor erhob sich, ein kurzer Blick von ihm streifte mich, dann begann er zu sprechen:

 

„Eldar des Tauredîn, hört mich an! Es ist unsere Pflicht, über das Schicksal dieses Menschen zu bestimmen!“

 

Mit großartiger Geste deutete er auf Alessan, der mit trotzig aufeinander gepreßten Lippen und verschränkten Armen auf seinem Stuhl saß, und fuhr fort.

 

„Dabei muß uns klar sein, daß die Suche nach Gerechtigkeit der ewigen Tradition der Eldar von Mittelerde entspricht. Es gilt, sich dieser Tradition würdig zu erweisen. Blinder Rachedurst darf nicht unser Lehrmeister sein.“

 

Ich sah, wie sich Angaimaite bei diesen Worten versteifte. Ein wütender Blick traf Harantor. Fast hatte ich das Gefühl, er wollte ihn unterbrechen, doch Angaimaite faßte sich anscheinend nach einem Blick auf Lómelinde und schwieg.

 

„Es ist unsere Aufgabe, eine angemessene Strafe für diesen Menschen zu finden...“

 

„Es gibt nur eine angemessene Strafe für diesen Bastard“, unterbrach Angaimaite Harantors Rede, „den Tod!“ Seine dunklen Augen funkelten voller Zorn.

 

Erschrocken blickte ich in Harantors Richtung. Ich sah wie er die Fäuste ballte und tief durchatmete. Anscheinend nur mühsam brachte er sich unter Kontrolle.

 

Ich hoffte inbrünstig, daß Angaimaite sich in Zukunft etwas zähmen würde. Ansonsten konnte diese Gerichtsverhandlung in einem Tumult enden. Und das konnte unserer Gemeinschaft in Laurínamardi dauerhaften Schaden zufügen.

 

„Schweig“, donnerte Harantor. Etwas ruhiger setzte er dann hinzu: „Es ist nicht an dir, die Strafe zu bestimmen, sondern an uns, den Richtern.“ Bei diesen Worten deutete Harantor auf die beiden neben ihm sitzenden Schattenrichter Kanyahón und Aldamir.

 

„Später wirst du Gelegenheit haben, uns zu überzeugen, daß dieser Mensch den Tod verdient hat. Gleichwohl wird auch Laurealka die Möglichkeit bekommen, für den Angeschuldigten zu sprechen.“

 

Genug geredet, Harantor, dachte ich. Fang endlich an!

 

Denn ich sah, wie Alessan ihn mit finsterer Miene anstarrte, und befürchetet schon, daß er Harantor unterbrechen könnte, was nicht von Vorteil für ihn sein konnte, wie ich inzwischen wußte. Doch den Valar sei Dank, im Moment bezähmte er sich anscheinend noch.

 

„So laßt uns denn beginnen! Ich fordere jedweden auf, der etwas gesehen hat, sich zu erheben und vorzutreten, auf daß er uns das Geschehene aus seiner Sicht berichten kann.“

 

Hinter mir in den Zuschauerreihen brach Unruhe aus. Mein Herz klopfte wild. Sollte ich etwa berichten? Ich wollte nicht. Zum einen, weil ich die Mánaquende war, und zum anderen, weil mir die Erinnerung an das Geschehene immer noch die Tränen in die Augen trieb.

 

Da gewahrte ich, daß einer aus den Reihen vortrat und mit forschen Schritten auf Harantor zuging. Es war Bregedur, eine der Wachen.

 

„Sprich und berichte uns, was du gesehen hast!“ forderte Harantor ihn auf.

 

„Ich hatte an jenem Tag die Wache...“ Seine Stimme verlor sich. Für einen Augenblick verharrte er in Schweigen, als müsse er sich erst bezwingen, bevor er die entsetzliche Tat beschreiben konnte.

 

„Ich wollte, wir hätten besser gewacht“, fuhr er schließlich mit bitterer Stimme fort. „Dann würde Kalwe vielleicht noch leben und dieser Mensch...“

 

In seinen Augen las ich flammenden Zorn, als er auf Alessan blickte, der mit wilder Wut seinen Blick erwiderte. Und egal, wie beherrscht er sich bis zu diesem Zeitpunkt benommen hatte, irgendwie ahnte ich, daß er seine Rolle nicht bis zum bitteren Ende durchhalten würde. Nicht Alessan!

 

Die Wache räusperte sich. „Also ich sah, wie er hier“ -bei diesen Worten deutete er auf Alessan- „Singollo erschoß und als Kalwe dazwischengehen wollte, traf sein nächster Pfeil völlig gezielt seinen Hals. Das war es, was ich gesehen habe. Ich schwöre es bei den Valar! Ich wollte, ich hätte es verhindern können. Ich...“

 

„Genug“, unterbrach ihn Harantor. „Niemand gibt dir die Schuld! Ich...“

 

„Es war nicht gezielt!“ fauchte Alessan dazwischen.

 

„Schweig!“ donnerte Harantor. „Niemand hat dich aufgefordert zu sprechen!“

 

„Weshalb auch“, konterte der Junge bissig. „Was mit mir passiert, interessiert ja sowieso niemanden.“

 

Bei den Valar, nun war es also endlich soweit. Was ich befürchtet hatte, war eingetreten. Warum konnte der Bengel nicht den Mund halten?

 

 

 

Alessan

 

Gerechtigkeit! Lug und Trug!

 

Ich hatte ja gewußt, daß ich hier keine Gerechtigkeit finden würde. Sie redeten zwar die ganze Zeit darüber, aber ansonsten war sie ihnen völlig fremd!

 

Dauernd schwafelte mir diese blöde Kuh vor, daß sie wissen wollte, wie es geschehen ist, und dann stellt sich diese Wache vor das Gericht, erzählt völlig haarsträubenden Blödsinn, und wenn man berichten will, wie es wirklich geschehen ist, soll man die Schnauze halten!

 

Ja! Tolle Gerechtigkeit! Genauso hatte ich mir das vorgestellt!

 

„Beizeiten wird es dir erlaubt sein zu sprechen...“

 

„Wenn die Verhandlung zu Ende ist? Damit ich...“

 

„Schnauze!“ donnerte Harantor. „Es reicht mir jetzt gleich! Jeder glaubt hier reden zu können, wann er will. Aber wir sind hier nicht in einer Schenke!“

 

„Nein, wohl eher vor einem billigen Mummenschanz! Als etwas anderes kann man dieses billige Theater wohl nicht bezeichnen!“

 

„Sei still“, zischte mich Laurealka mit entsetztem Blick an.

 

Glaubte sie denn tatsächlich, ich würde immer noch auf ihr Gefasel hereinfallen? Für wie blöd hielt sie mich eigentlich? Die Sache mit den Kleidern war zwar sehr nett von ihr gewesen, aber das hieß noch lange nicht, daß ich ihr jetzt vertraute!

 

Harantor erhob sich derweil, warf seinen Umhang fort und stampfte mit schweren Schritten auf mich zu.

 

Sicher! Jetzt mußte der Dicke erst einmal wieder beweisen, wie stark er war!

 

Ich stand auf und erwartete ihn mit verschränkten Armen und möglichst finsterem Blick. Bevor er mich am Kragen packen konnte, schlug ich seine Hand beiseite und wich einen Schritt beiseite.

 

„Faß mich nicht an!“ Der Zorn ließ mich die Worte nur flüstern. Da traf mich völlig unerwartet Harantors flache Hand auf der linken Wange.

 

Meine Benommenheit ausnutzend, packte er mich am Kragen und zog mich zu sich heran.

 

„Paß auf! Ich verliere langsam die Geduld! Erinnere dich an die Nacht im Tauredîn. Wenn das hier so weiter geht, werde ich dich wiederum so demütigen, daß du vor Todesfurcht heulst und winselst. Ich werde deinen Stolz vor aller Augen zerbrechen. Und glaube ja nicht, daß das verrückte Baumhuhn dir helfen kann!“

 

„Versuch es doch! Ich habe keine Angst vor dir...“

 

„Du und ich wissen es besser...“

 

„Das ist nicht wahr! Ich hatte keine Angst...“

 

„Laß mich nicht die Geduld verlieren!“ zischte Harantor. „Wenn du dich nicht besinnst, lasse ich zwei Schwerter bringen und dann hilft dir kein Gott mehr! Also hör mir jetzt gut zu! Wir hören die Leute, die etwas gesehen haben, und es mag sein, daß es für die Wache tatsächlich wie Absicht aussah. Wir werden dich und deine Version noch hören, aber wenn du jetzt noch weiter das Maul aufreißt, wird man nur noch dein Gewinsel und deine Schmerzensschreie hören.“

 

Bei seinen letzten Worten zog er mich mit beiden Fäusten noch etwas näher an sein Gesicht heran. Ein stahlharter Blick aus blauen Augen traf mich.

 

„Laß mich los“, fauchte ich ihn an.

 

„Ich gebe dir noch eine Chance. Auf Ehre und Gewissen wirst du mir jetzt schwören, nur dann das Maul aufzumachen, wenn du gefragt wirst. Oder willst du als ehrloser Barbar in diesen Hallen verlacht sein?“

 

Wütend starrte ich ihn an. Ich haßte ihn! Wie konnte dieser ungehobelte Walddämon mich Barbar nennen! Ausgerechnet dieser Bursche, der noch nie etwas von Ehre gehört hatte, wollte mich ehrlos nennen!

 

„Also gut“, knirschte ich zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. „Also gut. Von dir lasse ich mich nicht ehrlos nennen. Du, du...“

 

Ich schluckte schwer. Nein, niemals ließ ich mich ehrlos schimpfen. Und wenn ich mir die Zunge bei den folgenden Worten abbrach, das würde ich nicht auf mir sitzen lassen.

 

„Ich schwöre dir bei meiner Ehre, daß ich euer Gericht nicht mehr stören werde, bis ich von Euch die Erlaubnis dazu bekomme, hochehrenwerter Richter.“

 

Daß ich ihn keineswegs für das hielt, für was ich ihn bezeichnete, war meinem Tonfall eindeutig zu entnehmen.

 

Der Griff lockerte sich. Wütend riß ich mich von ihm los und trat einen Schritt zurück.

 

„Harantor“, hörte ich auf einmal Laurealkas flehende Stimme neben mir. „Bitte laß es gut sein. Bitte! Denk an mein Volk! An Elrod... Bitte!“

 

„Denk an deinen Schwur!“ zischte mir Harantor noch einmal zu.

 

„Ich behalte meine Schwüre besser im Gedächtnis als ihr Elben, oder wie auch immer ihr euch nennt. Ich habe im Gegensatz zu euch noch keinen Schwur gebrochen!“

 

Harantor warf mir einen letzten warnenden Blick zu. Oh wie ich ihn haßte, haßte, für das, was er mir antat!

 

„Alles in Ordnung?“ fragte Laurealka besorgt und legte Harantor die Hand auf den Arm. „Was war los? Ich...“

 

„Keine Sorge“, beschwichtigte sie Harantor. „Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Die wir nun aber zur beidseitigen Zufriedenheit beigelegt haben.“

 

Laurealka warf ihm einen zweifelnden Blick zu, während er zurück zu seinem Platz ging. Dann sah sie mich an, voller Trauer und Schmerz.

 

„Bitte“, sagte sie leise. „Bitte gib ihm nach. Egal worum es ging. Es ist besser so!“ Mit diesen Worten ging auch sie zurück zu ihrem Platz und ließ mich allein.

 

Schön, dachte ich. Schön, jetzt hat er es also geschafft, mir den Mund zu verbieten. Und ich Trottel habe ihm auch noch versprochen, mich daran zu halten! Und das auch noch bei meiner Ehre!

 

Ich Idiot!

 

 

 

Harantor

 

Bei den Valar, schoß es mir durch Kopf. Dieser Alessan verdient eigentlich eine Lektion, und ich hätte sie ihm erteilen können. Oh, warum habe ich es nur nicht getan. Ich hätte ihn zerbrechen sollen.

 

Aber noch bevor ich meinen Platz wieder erreicht hatte, kam ich zu dem Schluß, daß es nichts half, über verpaßte Chancen nachzusinnen.

 

Ich stand hinter meinem Tisch und blickte in die Runde. Aufgebrachtes Murmeln war zu hören.

 

„Ruhe!“ donnerte ich in den Saal, befriedigt, daß wohl niemand genau mitbekommen hatte, was der Junge und ich besprochen hatten. „Das Gericht der Eldar wird nun ohne Tumulte fortgesetzt.“

 

Bregedur stand immer noch vor dem Tisch. Als ich zu Alessan gegangen war, hatte seine Hand bereits den Dolch berührt, und Alessans blutender Kadaver würde bereits auf dem Flett liegen, wenn ich seinen beiden Bewachern nicht signalisiert hätte, daß ich ihn selbst zur Raison bringen würde.

 

„Hab Dank für deine Schilderung. Du kannst dich wieder setzen.“

 

Bregedurs Haltung straffte sich, aber er sah den übrigen Eldar nicht in die Augen, als er zu seinem Platz zurückging.

 

„Hat noch ein weiterer Eldar etwas von Kalwes Tod gesehen?“ rief ich in die Halle hinein.

 

Weit hinten erhob sich langsam eine Gestalt, die ich als Celdal erkannte, der ebenso wie Bregedur zur Wache gehörte. Celdal trat vor.

 

Es bedurfte nicht meiner Aufforderung, daß er zu erzählen begann.

 

„Was ich gesehen habe, ist nicht das, was Bregedur gesehen haben will. Ich kann nur sagen, daß der Mensch zwei Pfeile abgeschossen hat, aber ich kann nicht sagen, ob der zweite Schuß Kalwe galt und nicht mehr dem Mendil. Meiner Meinung nach war der Pfeil, der das Mendil traf, ein ausgezeichneter Schuß, denn er traf den Körper, und auch der zweite Pfeil hätte das Mendil getroffen, wenn Kalwe nicht gewesen wäre. Nun ist Kalwe aber in den Hals getroffen worden. Für gute Bogenschützen, und dazu zähle ich mich, ein schlechtes Ziel, weil er sehr klein ist. Ich vermute fast, es ist ein Versehen gewesen...“

 

„Unsinn!“ dröhnte Angaimaites Stimme. „Es ist völlig gleichgültig, was Celdal als Bogenschütze glaubt. Was alleine zählt, ist, was er gesehen hat. Der Mensch ist schuldig! Er ist geflohen, hat versucht Harantor den Schädel einzuschlagen und Laurealka angegriffen. Ist das nicht Grund genug, sich auf das tatsächliche Geschehen zu konzentrieren, als den Schwachsinn eines Wachmannes anzuhören, der offensichtlich nicht weiß, was er redet?“

 

„Ich weiß genau, was ich gesehen habe“, entfuhr es Celdal. „Ich habe gesehen, daß er zwei Pfeile abschoß, aber auf das Mendil und nicht auf Kalwe. Dazu kamen die Pfeile zu schnell hintereinander.“

 

Ich hatte der Diskussion der beiden aufmerksam zugehört, ein Schauer war mir über den Rücken gefahren, als Angaimaite jene Nacht im Wald erwähnte. Mir wurde schlagartig klar, daß weder Laurealka noch ich über die genauen Ereignisse in den Tiefen des Tauredîns gesprochen hatten. Die Gerüchte waren wild ins Kraut geschossen. Es war an der Zeit, die Dinge geradezurücken.

 

Ich warf einen Seitenblick auf Laurealka, die bereits aufgestanden war. Und ich wußte, wir würden nun einen längeren Vortrag über die Nacht im Wald hören, davon war ich überzeugt. Jedenfalls schien sie verlegen zu sein, und ich war mir nicht sicher, ob ich das nicht auch sein sollte.

 

„Ich möchte dazu etwas sagen“, begann sie zögernd. „Es war nicht Alessan, der Harantor den Stein auf den Kopf geschlagen hat. Ich... war es. Ich... habe... wohl etwas mißverstanden. Und daß Alessan mich angegriffen hat, ist wohl auch eher ein Mißverständnis gewesen.“

 

Während sie den letzten Satz sprach, sah sie mich mit funkelnden Augen zornig an. Ich konnte mir jedoch nicht erklären, was ihr Blick zu bedeuten hatte. In der Halle erhob sich aufgeregtes Gemurmel.

 

„War es nicht viellecht eher so, daß...“

 

Bevor Laurealka diesen Satz beenden konnte, unterbrach ich sie, denn diese Gerüchte mußten korrigiert werden.

 

„Angaimaite, du hast Celdal angegriffen, weil er deiner Meinung nach nicht das beschrieb, was er gesehen hatte, aber du...“

 

„Bitte erinnere dich“, wurde ich in diesem Moment unnötigerweise von Laurealka unterbrochen, die eigentlich wissen mußte, daß die Erinnerungen an das Geschehen im Wald nur allzu frisch waren, und ich mir meines Versagens durchaus bewußt war.

 

„...Angaimaite, du erzählst etwas, über das keiner der drei, die dabei gewesen waren, gesprochen hat. In der Tat ist es so, daß Laurealka und ich den Menschen durch den Wald gehetzt haben wie ein Tier. Er ist geflohen, richtig, aber gejagt worden ist er wie ein Tier, und ich habe ihm nicht den Hauch einer Chance gelassen, sich ehrenvoll zu ergeben.“

 

Ich verschwieg, daß ich glaubte, daß der Junge eher an seinem Stolz ersticken würde als zuzugeben, Todesangst verspürt zu haben, als ich ihn stellte. Ich hoffte nur, er würde etwas vernünftiger mit mir reden, wenn er nun seine Sicht Kalwes Tod vortragen sollte, aber noch war Angaimaite mein Problem.

 

„Ich weiß, was ich weiߓ, sagte Angaimaite trotzig.

 

Bevor ich antworten konnte, ergriff Laurealka das Wort.

 

„Es würde mich sehr interessieren, von wem du das weißt. Ich habe es dir bestimmt nicht erzählt. Du vielleicht Harantor?“

 

Mein Blick streifte Alessan, der den Eindruck machte, als würde er jeden Moment platzen.

 

„Ich habe ebenso wie der Gefangene über die Ereignissse jener Nacht nicht gesprochen.“

 

Ich blickte Angaimaite erwartungsvoll an und wartete auf das, was er auf Laurealkas Frage antworten würde.

 

„Alle sagen das...“, druckste Angaimaite herum, der wohl erkannt hatte, daß er zu weit gegangen war.

 

„Ach ja“, höhnte ich. „Ihr wart ja auch alle dabei.“

 

Angaimaite wurde rot im Gesicht, und in der Halle verstummte das aufgeregte Gemurmel.

 

„Ich danke dir Celdal“, sagte ich schließlich. Celdal verneigte sich und setzte sich wieder.

 

Ich sah auf und blickte Alessan an. Wenn er so redete wie mit mir, dann würden sie ihn hängen.

 

„Alessan, tritt vor und erzähle...“, sagte ich und sah ihn gespannt an.

 

 

 

Alessan

 

Das hatte ich nun davon, daß ich versprochen hatte zu schweigen. Lügen, nichts als Lügen wurden hier über mich verbreitet. Und ich durfte mich nicht einmal verteidigen, weil ich so verdammt dämlich gewesen war, dieses blöde Versprechen zu geben.

 

Am liebsten hätte ich mir dafür selbst in den Hintern getreten!

 

Schließlich hatte ich Harantor keinen Stein über den Schädel geschlagen. Und daß ich meine beiden Verfolger mit dem Schwert angegriffen hatte... Da waren sie selbst dran schuld. Schließlich hatte der Dämon mich ja dazu aufgefordert, ihn anzugreifen. Alles Lüge! Und auch meine Flucht war keine echte Flucht gewesen, schließlich wollte ich ja freiwillig wieder zurückkehren...

 

Aber ich durfte ja nicht reden. Ich Idiot hatte mich ja selbst dazu verdammt zu schweigen. Oh, wie ich diesen Bastard für seinen miesen Trick haßte! Aber ich würde ganz bestimmt nicht noch einmal auf diese Masche hereinfallen!

 

Was mich allerdings erstaunte, war, daß Laurealka und Harantor mich verteidigten. Das hatte ich nun doch nicht erwartet, aber daß ich mich stellen wollte, nachdem ich geflohen war, verschwiegen beide.

 

Wenn er mich nur endlich reden lassen würde...

 

„Alessan, tritt vor und erzähle...“, erteilte er mir endlich das Wort.

 

„Ich bin nicht geflohen... Ich meine, ich wollte mich stellen, als Harantor mich im Wald fand. Ich war gerade auf dem Rückweg“, brach es aus mir heraus.

 

„Bisher haben wir vom Tag deiner Flucht von Laurealkas Flett noch nicht gesprochen. Uns interessiert, wie es zum Tod Kalwes kam“, unterbrach mich Harantor.

 

„Das wißt ihr doch schon. Was fragt ihr mich noch? Ihr wißt doch sowieso alles besser“, konterte ich.

 

„Alessan“, ermahnte mich Laurealka sanft.

 

Warum muß sich die jetzt auch noch einmischen? waren meine ersten Gedanken. Muß diese geschwätzige Frau denn immer dazwischen reden?

 

„Ich denke, ich habe jetzt das Wort! Oder wie war das gleich?“ fragte ich erbost in Harantors Richtung. Dabei bemerkte ich, daß er ein breites Grinsen nicht unterdrücken konnte.

 

„Alessan, versteh doch!“ setzte Laurealka hinzu. „Die beiden Gwathamendys wissen eben nicht, wie es geschehen ist. Du...“

 

Zornig unterbrach ich sie: „Na und? Ist das wesentlich? Es interessiert euch ja sowieso nicht.“

 

Auf dem Flett ertönte zorniges Gemurmel. Angaimaite erhob sich, doch ein ungeduldiger Blick Harantors hielt ihn vor einer Antwortrede zurück, ansonsten hörte er anscheinend aufmerksam zu und schien den Dingen ihren Lauf lassen zu wollen.

 

Ja, das hatte ich geahnt. Die Wahrheit zu hören, schmeckte ihnen wohl nicht. In Wirklichkeit waren sie alle ebenso verlogen wie die Leute auf dem Gut. Und glauben wollte mir sowieso keiner.

 

„Mich würde es vielleicht schon interessieren“, schreckte mich auf einmal die geduldige Stimme des Mannes neben Harantor aus meinen Gedanken.

 

„Ach tatsächlich?“ fragte ich nach. „Seid doch ehrlich! Ihr wollt mich doch sowieso nur alle tot sehen! Oder etwa nicht?“

 

„Ich hätte dich schon tot sehen können, Junge“, unterbrach mich Harantor zynisch lächelnd.

 

Irgendetwas in mir brach bei diesen Worten. Schlagartig begriff ich, wie lächerlich ich mich machte mit meinem Verhalten und indem ich auf ihr kindisches Theater einging.

 

Eigentlich hatte ich etwas anderes vorgehabt...

 

Ich erinnerte mich an die langen Stunden, die ich auf dem Flett mit Warten verbracht hatte. Voller Angst, was dieser Tag bringen könnte. Und auch voller Entschlossenheit, diesen merkwürdigen Wesen zu zeigen, daß auch ein Mensch Ehre haben konnte, und ich kein dahergelaufener Bastard war.

 

Ich gab mir einen Ruck. Was konnte mir schon passieren? Die Angst vor dem Tod hatte ich längst hinter mir gelassen und der Lächerlichkeit preisgegeben hatte ich mich schon zur Genüge. Das einzige, was vonnöten war, war meinen Stolz zu bändigen...

 

Langsam ging ich auf Angaimaite zu. Daß er der Vater des Toten war, hatte ich inzwischen begriffen. Einen Schritt vor ihm blieb ich stehen. Mit brennendem Blick sah er mir entgegen.

 

„Es tut mir leid“, preßte ich schließlich mühsam hervor. „Ich...“ Die Anstrengung weiterzureden, nahm mir fast den Atem. „Ich wollte Euren Sohn nicht töten. Es... es war ein Mißgeschick. Ich...“

 

Lauernd sah er mich an. Es schien, als warte er auf etwas. Ich sah das Messer an seiner Seite.

 

„Ich kann ihn Euch nicht zurückgeben. Aber Ihr müßt mir glauben... Wenn ich meine Tat irgendwie rückgängig machen könnte, dann würde ich es tun. Ich...“

 

Angaimaite erhob sich und sah mit funkelndem Blick zu mir herab.

 

„Was willst du?“ fragte er mich leise und anscheinend nur mühsam beherrscht.

 

„Ich will Euch Vergeltung anbieten“, antwortete ich.

 

„Vergeltung“, wiederholte Angaimaite. „Soso. Bist du dir sicher?“

 

Zorn loderte in mir hoch, doch ich bezwang mich. Nur mühsam beherrscht erwiderte ich seinen Blick. Doch jetzt ließ ich mich von meinem einmal gewählten Weg nicht mehr abbringen. Die Worte, die ich so lange alleine auf dem Flett geübt hatte, flossen wie von alleine über meine Lippen.

 

„Ich habe nichts, was ich Euch als Wiedergutmachung anbieten könnte außer meinem Leben. Wenn Ihr mich töten wollt, dann tut es. Ich gebe mein Leben in Eure Hände. Tötet mich, wenn Ihr es wünscht! Hier und jetzt, auf dieser Stelle!“

 

Geschwind wie ein Blitz zog Angaimaite sein Messer und setzte es mir an die Kehle. Ein irres Funkeln lag in seinen Augen.

 

„Bist du dir sicher?“ fragte er mich.

 

„Mein Blut für seines“, gab ich ihm zur Antwort. Mein Herz klopfte zum zerspringen.

 

Sein Blick bohrte sich in meinen, als wollte er mich damit erdolchen. Ich fühlte, wie die Messerspitze sich tiefer und tiefer in mein Fleisch grub, bis das Blut warm über meine Brust rann, doch ich zuckte mit keiner Wimper.

 

Irgendwo schien ein Tumult ausgebrochen zu sein, doch das kümmerte mich in diesem Moment nicht. Es gab nur noch mich und Angaimaite und die drohende Leere in Angaimaites Augen.

 

Ein Ruck ging durch seine Gestalt, blieb als Funkeln in seinen Augen hängen.

 

„So sei es“, flüsterte er, während kalter Haß in seinen Augen aufglomm.

 

Die Spitze des Messers zog sich von meinem Hals zurück, um schnell wie der Kopf einer Giftschlange wieder auf mich zuzustoßen...

 

 

 

Harantor

 

Ich hatte beschlossen, Alessan mit seiner Schilderung der Ereignisse weitgehend gewähren zu lassen. Offensichtlich war sein Widerpruchsgeist sehr ausgeprägt, so daß man sowieso nur hoffen konnte, etwas von ihm zu erfahren, aber in dem Moment, in dem sich Laurealka einmischte, konnte ich mir ob des Tonfalls und Alessans Miene ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre Gabe sich überall einzumischen, raubte also nicht nur mir die Nerven.

 

Alessan gab sich wahrlich alle Mühe, sich unbeliebt zu machen. Ich hatte auf meinen Wegen desöfteren Todeskandidaten gesehen, aber keiner hatte förmlich darum gebeten, auf dem Schafott zu landen, so wie es Alessan tat. Selten hatte ich jemanden so um seinen Tod betteln sehen.

 

Ich hatte den Wachen ein Zeichen gegeben, die Bögen zu senken, als Alessan seinen ihm zugewiesenen Platz verließ. Er ging auf Angaimaite zu.

 

Gebannt verfolgte ich die Unterhaltung zwischen Angaimaite und Alessan, die mir einigen Respekt abnötigte.

 

„Vergeltung“, wiederholte Angaimaite. „Soso. Bist du dir sicher?“

 

Aus den Augenwinkeln gewahrte ich, daß Laurealka losstürmte, um dem Treiben ein Ende zu machen. Das mußte ich verhindern. Sie konnte und durfte sich nicht einmischen, denn ihr schien zu entgehen, daß sich so oder so eine Lösung abzeichnen würde. Man mußte es einfach darauf ankommen lassen.

 

Mit zwei schnellen Schritten erreichte ich Laurealka und packte sie am Arm.

 

„Was tust du da?“ fragte sie gereizt. „Er wird ihn töten!“

 

„Das ist nicht gesagt“, knurrte ich. „Halte dich einmal aus den Angelegenheiten anderer Leute heraus!“

 

„Ich kann und will das nicht zulassen“, knirschte sie und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen meinen erbarmungslosen Griff.

 

„Laurealka, hör doch...“, begann ich, aber ein entsetzter Aufschrei Laurealkas unterbrach mich.

 

Ich warf meinen Kopf herum und sah das Messer Angaimaites an Alessans Kehle.

 

Mit erstaunlicher Kraft versuchte Laurealka erneut sich loszureißen, aber ich hielt sie fest in meinem unerbittlichen Griff.

 

„Laß sie!“ sagte ich scharf. „Wenn du dich einmischt, sticht Angaimaite zu. Du hast seine Rache zweimal verhindert.“

 

Angaimite verstärkte offensichtlich den Druck des Messers, denn Blut floß an Alessans Hals hinab. Alessan jedoch zuckte nicht zurück.

 

Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen, denn für einen kurzen Moment übertönte Laurealkas Aufschluchzen alles.

 

„Nein!“ schrie sie.

 

Dann wandte sie sich entsetzt ab und vergrub ihren Kopf an meiner Schulter.

 

„Mein Blut für seines“, gab Alessan Angaimaite zur Antwort.

 

Dieser junge Bursche war wahnsinnig!

 

Aber noch während ich Angaimaite beobachtete, erkannte ich, daß der Halb-elb und Vater Kalwes eine Entscheidung getroffen hatte.

 

In wenigen Lidschlägen würden wir wissen, ob die Wachen einen Kadaver nach unten werfen und verscharren mußten, oder ob Angaimaite dem Jungen nur einen Schrecken versetzen würde und den Dolch kurz vor seiner Brust stoppte.

 

Ich warf einen kurzen Seitenblick in die Reihen der Zuschauer. Keiner saß mehr, sondern jeder stand und verfolgte gebannt das Geschehen vor dem Richtertisch. Auch Aldamir und Kanyahón vermochten den Blick nicht abzuwenden.

 

Nur Laurealka wollte das Geschehen nicht verfolgen.

 

Angaimaite riß das Messer zurück, und es schien, als wolle er Alessan die Kehle durchschneiden wie einem Schwein.

 

Ich traute meinen Augen nicht, als Angaimaite das Messer senkte und einen Schnitt quer über Alessans Brust führte. Der Schnitt war zwar tief aber nicht tödlich, allerdings blutete er stark.

 

„Blut für Blut“, sagte Angaimaite tonlos, und der Dolch entglitt seinen Fingern. Der Halbelb und Vater des toten Kalwe verließ die Halle.

 

Die anwesenden Eldar standen immer noch erstarrt, völlig ergriffen von dem Geschehenen.

 

Laurealka hielt es derweil nicht mehr aus. Vorsichtig wandte sie sich um und sah die blutende Wunde auf Alessans Brust, die größer und schwerer aussah, als sie war. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle..

 

„Ist das Gerechtigkeit?“ rief sie entsetzt.

 

„Ja“, keuchte Alessan. „Das ist Gerechtigkeit! Blut für Blut.“ Dann sackte er zusammen und wurde ohnmächtig.

 

Laurealka lief zu ihm und besah sich die Wunde. Ohne großes Gerede riß sie Streifen aus ihrem Unterkleid und machte daraus eine Bandage.

 

Derweil trat ich zu Kanyahón und Aldamir an den Tisch.

 

„Was sollen wir mit ihm tun?“ fragte Kanyahón. „Der Gerechtigkeit ist gedient.“

 

„Angaimaites Rachedurst ist vielleicht gestillt, aber der Mensch hat sich auch an dieser Gemeinschaft vergangen. Er muß bestraft werden“, gab Aldamir mit unbewegtem Gesicht zu bedenken.

 

„Womit? Ich glaube, der Junge hat heute sehr viel gelernt“, sagte Kanyahón.

 

„Ich finde auch, daß er bestraft werden muߓ, sagte ich und erntete ein befriedigtes Gesicht von Aldamir und ein entsetztes von Kanyahón. „Ich werde ein Urteil fällen und hoffe auf eure Unterstützung. Er muß den Wald bis morgen vor Sonnenuntergang verlassen haben, und sollte er sich je wieder hier zeigen, wird er sterben!“

 

Kanyahóns Gesicht erhellte sich. „Ich stimme zu“, beeilte er sich zu antworten.

 

Aldamir schien einzusehen, daß Widerspruch sinnlos war. So nickte sie nur knapp zur Zustimmung.

 

Wir traten vor. Alessan hatte inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt.

 

Ich war bereit, ihm sein Urteil zu verkünden.

 

„Höre im Namen der Eldar Laurinamardis Dein Urteil Alessan...“

 

 

 

Alessan

 

Die Schwärze wich. Langsam kam ich wieder zu Bewußtsein. Das erste, was ich fühlte, war der pochende, neue Schmerz in meiner Brust.

 

Ich wunderte mich.

 

Ich lebte noch. Angaimaite hatte mich nicht getötet.

 

Im nächsten Moment begriff ich, daß ich durch einen lächerlichen Schnitt zu Boden gestürzt und ohnmächtig geworden war. Die Schande brachte mich fast um den Verstand.

 

Gleichzeitig bemerkte ich, daß mein Kopf in Laurealkas Schoß lag, und fühlte ihre besorgt fummelnden Hände an meiner Brust.

 

„Laß das!“ fauchte ich sie zornig an.

 

Begriff sie denn nie, wann sie jemanden besser in Ruhe zu lassen hatte? Ihre Besorgtheit um mein Wohlergehen ging mir zunehmend auf die Nerven. War ich denn ein kleines Kind, daß sie mir ständig hinterrennen und mich bemuttern mußte wie eine alte Glucke?

 

Doch sie hatte anscheinend dazugelernt. Mit unerwarteter Schnelligkeit riß sie ihre Finger von meiner Brust und wich von mir zurück, als ich meinen Kopf hob.

 

Vorsichtig setzte ich mich auf, widmete mich dem neuen Schmerz in meinem Körper und befand, daß es nicht so schlimm war. Ich konnte mehr aushalten, wenn es nötig war. Daß ich umgefallen war wegen dieses Kratzers wollte sich mir nicht erschließen.

 

Ein Streifen blutigen, weißen Tuchs fiel mir beim Aufsetzen in den Schoß. Ich sah Laurealkas zerrissenes Unterkleid, während sie neben mir beim Aufstehen ihre Röcke ordnete.

 

Ein trauriger Blick aus ihren taubenblauen Augen traf mich, brachte mein Herz zum Klopfen, daß es schier zerspringen wollte.

 

Warum war ich nur so barsch zu ihr gewesen? Als könne ich mir damit ihre Vergebung erkaufen, griff ich nach dem Tuch und preßte es mir gegen die blutende Wunde.

 

„Es ist in Ordnung“, begegnete ich ihrem Blick mit rauher Stimme. Ich räusperte mich und stand mühsam vom Boden auf, um ihr meine Worte zu beweisen.

 

„Es geht mir gut“, wiederholte ich noch einmal keuchend. Doch der kummervolle Blick wich nicht von ihr. Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Ich verstand diese Frau nicht.

 

Während ich noch über ihr Verhalten rätselte, machte Harantor sich mit einem Räuspern bemerkbar.

 

„Höre im Namen der Eldar Laurínamardis dein Urteil, Alessan...“

 

Ein kalter Klumpen breitete sich in meinen Eingeweiden aus. Vor meinen Augen begann die Luft zu flimmern. Ich fühlte wie die Angst nach mir griff mit unbarmherzigen Krallen.

 

Es war noch nicht vorbei!

 

Mit all meiner Willenskraft straffte ich mich, sah ihn an, diesen Dämon, der es immer wieder fertigbrachte, daß ich die Fassung verlor, meinen Stolz.

 

Aber nicht dieses Mal! Nicht hier!

 

Ich starrte ihn, versuchte in ihn zu dringen, wie es mir bei Angaimaite gelungen war. Er erwiderte meinen Blick aus herrischen, hellen Augen, als erwarte er, daß er mich mit diesem Blick bezwingen könne, doch ich hielt ihm stand, wandte die Augen nicht von ihm. Und die Angst wich, wurde unbedeutend vor diesem Duell.

 

„Höre“, wiederholte er noch einmal, und der Blick schien sich zu vertiefen.

 

„Und hört auch ihr, Eldar von Laurínamardi!“ Bei diesen Worten wandte er sich mit großartiger Geste den Zuschauern zu.

 

„Hört unser Urteil!“

 

Die Frau und der Mann, die neben ihm gesessen hatten, gesellten sich zu ihm, um ihre Einstimmigkeit zu beweisen. Ihre Mienen blickten gewichtig. Aller Augen waren auf sie gerichtet. Ich schien unwichtig zu sein.

 

Ärger überflutete mich. Die Selbstherrlichkeit dieses Mannes war einfach zuviel für mich. Dieses in Pose setzen reizte mich, daß ich voller Grimm die Hand um das Bündel Stoff auf meiner Wunde verkrampfte. Schmerz durchzuckte mich. Komm zur Sache, hätte ich fast dazwischengerufen, doch der Schmerz würgte mir den Atem ab. So funkelte ich ihn nur mühsam beherrscht an, das Aufstöhnen mit aller Kraft unterdrückend.

 

„Wir verurteilen dich dazu, diesen Wald bis morgen vor Sonnenuntergang zu verlassen. Solltest du dich jedoch noch einmal im Tauredîn blicken lassen, so werden wir dich töten. Ganz gleich aus welchem Grund du den Wald auch aufsuchen magst. Das ist unser Urteil, und so soll es geschehen!“

 

Der Mann und die Frau neben ihm nickten bekräftigend, und nach einem Augenblick lähmender Stille erhob sich Gemurmel im Saal.

 

„Das ist nicht gerecht“, rief einer aus der Menge. „Er muß sterben!“ tönte ein anderer. „Tod!“ forderte die Menge. „TOD!“

 

Ich stand wie betäubt. Der Lärm brandete an mir vorbei, beeindruckte mich kaum.

 

Sie wollten mich laufen lassen. Schenkten mir das Leben!

 

Ich begriff es nicht, begriff es ganz und gar nicht!

 

Ein Mann stürmte vor auf Harantor zu. „Das könnt ihr nicht tun!“ begehrte er auf und deutete anklagend auf mich. „Er hat getötet. Er muß sterben! Was ist das für ein Urteil?“ Es klang flehentlich.

 

Weitere gesellten sich zu ihm. Irgendwie war ich fast erleichtert. Mit solch einer Reaktion hatte ich gerechnet. Das entsprach meinen Erwartungen. Damit konnte ich fertig werden. Aber das Urteil...

 

„Harantor“, drang Laurealkas flehentliche Stimme an mein Ohr. Schützend stellte sie sich vor mich. „Harantor...“

 

„Schluß damit!“ donnerte Harantor. „Wer wagt es vorzutreten und unser Urteil anzuzweifeln? Nun, ich warte!“

 

Die Eldar vor ihm erstarrten. Einige schauten betreten zu Boden.

 

„Elrod...“, rief jemand.

 

„Elrod ist nicht hier. Ich spreche an seiner Statt“, dröhnte Harantor und drängte sich neben Laurealka zwischen mich und die Menge.

 

Die Wut brandete in mir hoch. Ich hatte es satt, daß sie sich andauernd einmischten, diese Laurealka und dieser Harantor. Ich brauchte ihre verdammte Hilfe nicht! Niemals!

 

„Laßt mich vorbei!“ herrschte ich die beiden an und schob mich zwischen ihnen hindurch.

 

„Laßt sie sich doch nehmen, was sie wollen. Wenn sie sich denn trauen...“

 

 

 

Laurelka

 

Entsetzt starrte ich Alessan an. Was ging in ihm nur vor, bei den gütigen Valar?

 

Anstatt froh zu sein leben zu dürfen, drängte er sich vor, einer Menge entgegen, die ihn töten wollte. Ich verstand ihn nicht.

 

„Halt den Mund!“ unterbrach ihn Harantor aufgebracht.

 

„Unser Abkommen gilt nicht mehr“, versetzte Alessan heftig. Er war kalkweiß im Gesicht. Die blauen Augen blitzten, und unerschrocken trat er einen weiteren Schritt auf die Menge zu. Stand nun vor uns.

 

Mein Herz schien einen Satz zu machen. Ich sah, wie jemand nach seinem Arm griff, an ihm zerrte, und Alessan sich wütend von ihm losriß.

 

„Bastard“, knirschte Harantor neben mir.

 

Alles brach zusammen, der Zusammenhalt der Siedlung schien aus den Fugen zu geraten. Ich hatte verloren.

 

Betäubt sah ich zu, wie zwei andere nach Alessan griffen, ihn links und rechts packten.

 

„Harantor“, wisperte ich erstickt. „Tu doch ´was!“

 

Doch Harantor war schon vorgetreten, packte Alessan im Genick wie eine junge Katze und zog ihn zu sich heran, schüttelte die beiden Elben dabei ab, als besäßen sie kein Gewicht.

 

„Laß mich los!“ fauchte Alessan und fuhr zu Harantor herum. Das blutige Tuch fiel zu Boden, als er mit beiden Händen nach ihm zu schlagen versuchte.

 

Die Situation drohte zu eskalieren. Doch Harantor packte beide Handgelenke Alessans mit einer Faust und verdrehte dem Jungen brutal beide Arme. Alessans Gesicht wurde noch eine Spur weißer, als es ohnehin schon war. Feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er stand kurz vor einer neuen Ohnmacht.

 

„Bürschchen“, knurrte Harantor ihn an, „halt still, oder ich breche dir beide Arme und zwar mit Vergnügen! Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet?“

 

Als Antwort ließ Alessan sich zusammensacken und versuchte mit einem kurzen Dreh, sich aus Harantors Griff zu entwinden. Ein Stöhnen entrang sich ihm dabei.

 

„Gerechtigkeit“, rief jemand.

 

„Gerechtigkeit?“ gab jemand mit zorn-erfüllter Stimme zurück. Mit Erstaunen bemerkte ich, daß es meine Stimme war.

 

Der Zorn beflügelte mich. Wie konnten sie es wagen, all das zu zerstören, was ich mich bemüht hatte aufzubauen!

 

„Was soll das für eine Gerechtigkeit sein, wie ihr sie fordert?“ schleuderte ich ihnen entgegen.

 

Während ich zornbebend auf sie zutrat, streifte mich ein erstaunter Blick Harantors, der den halb ohnmächtigen Alessan wie ein Bündel Wäsche an seine Brust preßte und ihm dabei zunehmend den Atem abwürgte.

 

„Was ist es, das ihr wollt? Blut um Blut? Leben um Leben? Hat der Mensch nicht genau das Angaimaite angeboten? Und hat Angaimaite nicht genau das genommen? Nämlich sein Blut? Aber wenn Angaimaite ihm sein Leben schenkte, warum tut ihr es dann nicht? Wie könnt ihr es wagen, seine Entscheidung anzuzweifeln? Wie könnt ihr es wagen, Harantors, Kanyahóns und Aldamirs Entscheidung anzuzweifeln? Sie waren die Richter. Sie haben das Urteil gemeinsam gefällt. Elrod selbst, dessen Weisheit wir alle vertrauen, hat Harantor einen der drei Hohen Ringe gegeben und ihn als Richter bei diesem Gericht eingesetzt. Wollt ihr seinen Willen anzweifeln? Wollt ihr das?“

 

In meinem Zorn war ich zwischen sie getreten. All die Frustrationen und Ängste der letzten Tage brachen sich Bahn. So schnell hatte ich geredet, so voller Elan, daß ich außer Atem geraten war und die Pause nutzte, um frischen Atem zu schöpfen.

 

Betretene Gesichter hoben sich mir entgegen. „Laurealka, Herrin“, begann einer in den ersten Reihen vorsichtig.

 

„Herrin nennst du mich“, fuhr ich ihn an. „Dennoch zweifelst du mein Urteilsvermögen an. Ihr habt mich gewählt. Ihr selbst habt gewollt, daß ich die Herrin dieses Ortes werde. Habt Aldamir und Kanyahón von ihrer Last entbunden, trotzdem ich in den Augen vieler zu jung für solch eine Bürde erschien. Wollt ihr eure Wahl rückgängig machen? Ist es das, was ihr bezweckt? Dann sprecht!“

 

„Nein“, stöhnte eine Frau entsetzt. Bewegung entstand in den hinteren Reihen. Eine Eldar drängte sich nach vorne. Es war Lómelinde.

 

„Nun, was ist!“ forderte ich die entsetzt schweigende Menge an.

 

„Nein“, schluchzte Lómelinde und warf sich mir entgegen. „Bei den Valar! Haltet ein! Hört mir zu!“

 

Verwirrt starrte ich sie an. Ihr Eingreifen brachte mich aus dem Konzept. Sie stellte sich neben mich. Aus rotverweinten Augen sah sie mich an, als ersuche sie mich um Erlaubnis. Fragend erwiderte ich ihren Blick und nickte leicht. Sie senkte den Kopf, dann drehte sie sich um und ging schwankend einen Schritt auf Alessan und Harantor zu.

 

„Ich vergebe dir“, flüsterte sie. Es klang wie ein Schluchzen. „Ich vergebe dir. Es war nicht deine Absicht, Kalwe zu töten. Und ich akzeptiere euer Urteil, Harantor!“

 

Die Worte verlangten ihr viel ab, doch sie bezwang sich. Alessan starrte sie an, als sei sie eine Erscheinung, ein Geist.

 

„Ich...“, stotterte er, doch Harantor verstärkte seinen Griff, daß er sich wider Willen schmerzerfüllt aufbäumte und seine Antwort in einem unterdrückten Stöhnen unterging.

 

„Ihr habt recht gesprochen“, schluchzte Lómelinde gebrochen. „Er trägt keine Schuld, nur sein Verhängnis...“

 

Sie streckte eine bebende Hand nach Alessan aus, der sie anstarrte wie ein Kaninchen die Schlange, und berührte sachte, fast zärtlich, sein Haar.

 

„Laß ihn los“, bat sie dann Harantor erstickt und der gehorchte, ebenso gebannt von der gramgebeugten Lómelinde wie Alessan. Dann ging sie.

 

Schweigen erfüllte den Raum. Alessan schwankte, seine Knie gaben nach, und er sank halb zu Boden. Schwer atmend kniete er vor Harantors Füßen, sich mit einer Hand am Boden abstützend, mit der anderen das zerfetzte Tuch an seine Wunde pressend. Harantor sah mich erst abschätzend, dann aufmunternd an. Neben ihm tauchten Aldamir und Kanyahón auf. Ihre Mienen gaben mir recht.

 

„Nun“, fuhr ich fort und deutete auf Alessan. „Ihr habt gehört, was Lómelinde sagte. Warum wohl habe ich ihn hier geschützt? Aus falschem Mitleid? Weil ich ihn mag? Mitnichten! Schätzt ihr mich so falsch ein? Diese Gemeinschaft wollte ich schützen! Dieses Tal! Sagt es ihnen! Kanyahón! Aldamir!“

 

„Sie hat recht“, bestätigte Aldamir knapp. Ihr Blick war eisig. „Ich verstehe sie nun. Die Verhandlung war notwendig. Niemand wird in diesem Tal ohne eine gerechte Anhörung hingerichtet. Auch dieser Bastard nicht. Ich schäme mich zu euch zu gehören. Dieser Zorn ist eines Eldar nicht würdig. Ich - möchte eure Herrin nicht sein!“

 

Kanyahón schüttelte den Kopf. „Keiner hat es verstanden“, sagte er mehr zu sich selbst. „Versteht ihr es nun?“

 

Ich blickte in die Menge.

 

„Antwortet! Was wollt ihr? Wollt ihr wirklich seinen Tod? Vertraut ihr mir nicht mehr? Wollt ihr eine andere Herrin? Wie ich schon sagte, gebt eine Antwort oder schweigt - für immer! Aber denkt daran“, mahnte ich sie, „wenn ich jetzt gehe, dann gehe ich für immer.“

 

Schweigen lastete auf der Halle. Der Míremiste rauschte sacht, und der Gesang eines Vogels erfüllte süß die Luft, stach schmerzhaft in meine Ohren. Oh, wie ich diese Hallen vermissen würde! Sie waren mein Leben, meine Erfüllung!

 

Doch diese Verhandlung, die Entscheidung, die hier getroffen worden war, war mein Wille, und wenn sie mich als ihre Herrin betrachteten, dann mußten sie sich diesem Willen beugen oder all das hier, diese Siedlung, der Respekt, der mir entgegen gebracht worden war, das Vertrauen, all das und mehr waren nur eine Illusion gewesen. Eine Illusion, die nicht mehr wert gewesen war als Sand zwischen den Fingern, der langsam daraus verrann und nicht zu halten war.

 

„Vergib, Herrin“, schluchzte eine Stimme. „Vergib uns!“

 

Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg auf mein Gesicht, blendeten mich. Kanyahón legte mir sanft die Hand auf die Schulter.

 

„Du hast gewonnen“, sagte er leise.

 

„Zu welchem Preis?“ fragte Aldamir bitter. Grimmig starrte sie die Menge an. „Ich hätte mehr erwartet.“

 

Unter ihrem bitteren Blick schien sich eine Wolke vor die Sonne zu legen.

 

„Sei nicht so hart mit ihnen“, tadelte ich sie. Bestürzt lachte sie auf, schnaubte kopfschüttelnd, als sie mir antwortete. „Wie kannst du selbst jetzt noch mitfühlend sein?“

„Weil...“, flüsterte ich und hob mein Gesicht der Sonne entgegen, „weil ich sie liebe...“ Und mehr gab es nicht zu sagen.

  
Fortsetzung folgt in Kapitel 6

Tod dem Frevler

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.