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Ein reines Herz

Magirian Wonder TaleEin reines Herz

„In der ganzen, großen und weiten Welt gibt es keine Magie, keinen Zauber und keine Geister, Bevin“, dozierte Thiam.

Ich tat so, als hörte ich ihm zu, sonst würde er mir wieder eine Ohrfeige versetzen. Ich mochte das nicht, aber er war nun mal mein Herr und Meister, außerdem hatte ich zu essen und zu trinken, der hagere Mann bot mir Schutz und in seiner Begleitung sah ich die Welt (und das war ein ewiger Traum für mich).

Ab und zu sagte ich an der richtigen Stelle etwas Zustimmendes oder nickte. Thiam hatte Vater einen ganzen Beutel Münzen bezahlt, um mich als Dienstbote und Lehrling mitzunehmen. Ich führte Merzad unseren Esel, der den Karren mit Meister Thiams Elixieren, Pülverchen, anderen für seine Illusionen benötigen Ingredienzen und nicht zuletzt mit seinem Zelt und Kostüm zog.

„Alles kommt auf die Fingerfertigkeit und das Wissen um die Natur an. Zauberei ist nichts als Illusion und hier und da ein kleine Explosion oder Rauch zur Ablenkung. Die Leute müssen getäuscht werden und bei der Leichtgläubigkeit all der Tölpel, die ihren Fuß auf Exermon setzen, ist es keine Schwierigkeit sich des einzigen zu bemächtigen, daß sie wertvoll macht, nämlich ihre Münzen“, Thiam grinste bei diesen Worten selbstzufrieden und klopfte auf seinen Geldgürtel, der mit Gold und Silber wohl gefüllt war.

Thiam war raffsüchtig und ein bißchen geizig. Aber wir hungerten nicht und das war mehr als mir das Pflanzen von Bohnen und Kohl bringen würde, denn nur ein launischer Sommer, ein Kleinkrieg der Landjunker, marodierende Söldner oder ein einziger Hagelsturm und die Ernte war dahin und die Not groß.

Ein alter Spielmann, Geschichtenerzähler und Messerschleifer, der immer wieder im Herbst zu den Erntedanktagen in unser Dorf kam, hatte die Sehnsucht nach der weiten Welt in mir geweckt. Neben Sagen und Märchen brachte er auch Nachrichten zu uns. Er erzählte von Städten, die Meilen entfernt waren und mehr als tausend Menschen in ihren Mauern beherbergten. Der Alte berichtete von Bürgern, Kriegern, großen Taten und Torheiten von Baronen, Fürsten und Herzögen. Er schilderte Wunder, brachte Kunde von großen Schrecken und Seuchen.

Seit ich denken konnte, freute ich mich auf die Tage der Ernte. Noch während wir die letzten Bohnen pflückten und einlegten, die letzten Rüben in die Keller brachten, eines oder zwei der gemästeten Schweine schlachteten und zu Wurst, Räucher- und Trockenfleisch verarbeiteten und was sonst noch auf den Feldern war einholten, hielt ich immer Ausschau nach dem Alten, den man im Dorf auch den Grauen nannte (seinen wahren Namen habe ich nie erfahren), denn außer seiner Haut war alles an ihm grau. Er trug Schuhe aus grauem Wildleder, seine Kleidung und der weit, wallende Kapuzenumhang waren grau. Seine volles, dichtes Haar war wie Silberfäden und selbst seine Augen waren wie ein Nebelstreif, aber er war nicht blind.

Und wenn seine Gestalt in der Ferne auftauchte, freute ich mich. Ich konnte, bis ich zu groß wurde, immer auf seinem Schoß sitzen und nur für mich erzählte er mir dann seine erste Geschichte.

Später saß ich dann auf einem Schemel zu seinen Füßen und lauschte ihm. Mit jeder neuen Geschichte verstärkte sich die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt.

Tagsüber, wenn der Alte die Klingen der Sensen dengelte, und die Messer, Beile und Äxte schärfte, egal woraus sie gefertigt waren, war ich so oft ich konnte bei ihm. Und wenn er fertig war, hielt seine Arbeit ein ganzes Jahr.

Und immer wenn er uns verließ blickte ich ihm wehmütig nach. Und eines Tages kam er nicht mehr. Vater meinte, er sei wohl gestorben.

Ein anderer Mann erschien, aber der gab nur nüchtern die Geschehnisse und Ereignisse wieder, die er erlebt oder von denen er gehört hatte. Weder in seinem Wesen noch in seinem Äußeren konnte er es mit dem Grauen aufnehmen. Auch wußte er nichts von ihm zu erzählen. Ich würde wohl nie erfahren, was aus dem alten Geschichtenerzähler geworden war.

Ich hatte immer gehofft, der Graue würde mich als sein Lehrling mitnehmen, aber er machte Vater nie ein Angebot. Das tat erst Thiam, der eines Abends im letzten Winter auf unserem Hof erschien. Er machte auf mich ein verwirrten Eindruck, als erwache er aus einem Traum und wisse gar nicht wo er war. Thiam blieb zunächst bei uns und als er nach einigen Wochen und zwei Schneestürme weiter zog, kaufte er mich von Vater und nahm mich in Dienst.

Seither folgte ich ihm von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt, wo er seine Art von Magie gegen Bares zelebrierte. Was aus meinem Vorgänger geworden war, wußte ich nicht. Der Meister selbst schien es nicht so recht zu wissen. Er behauptete meist kurz angebunden, der Junge, den er Hildenbrand nannte (und eine Adelssproß auf der Flucht gewesen sein soll), war nach seinem Vater auch ihm davon gelaufen.

„Hast du mich verstanden, Dummkopf? Menschen sind nichts; sie kommen und gehen. Nur ihr Geld, die geschaffenen Werte und ihre Reichtümer bleiben und überdauern sie“, Thiam würde jetzt wieder eine Weile über Münzen philosophieren und den Unbekannten oder den Gott preisen, der sie erfand oder der Welt brachte. Nur das Hin und her dieses geprägten Metalls hielt Thiam zu Folge die Welt zusammen und brachte sie weiter.

Ich wollte ihm widersprechen, aber er würde mich nicht verstehen. Thiam sah nie den Menschen, sondern immer nur das Geld. Aber im großen und ganzen war es kein schlechtes Leben, wenn man auf Thiam hörte. Wir taten das, wovon ich immer geträumt habe, durch die Welt zu wandern und immer etwas Neues zu sehen und zu lernen, nur das ich neben den Lehren Thiams immer noch meine eigenen Schlüsse zog.

„Es gibt viele Karpfen und einige wenige Hechte in der Götter Menschenschar“, hörte ich Thiam sagen. „Und ich bin einer der Hechte, keiner der Großen, denn sonst wäre ich Stadtherr, Kaiser oder sowas, aber ich bin ein Hecht. Ich nehme mir, was ich brauche.“

Thiams Weisheiten waren nicht ohne ein Körnchen Wahrheit, aber da war noch mehr. Ich hatte gelernt, seit wir vor beinahe einem Jahr Vaters Hof am Rande des Dorfes Ulbrin verlassen hatten, daß die Welt nicht überall schöner und die Bäume nicht hinter jedem Hügel höher waren als zu Hause, aber auch, daß es mehr zu entdecken gab, als die beste Fruchtfolge, den günstigsten Zeitpunkt der Aussaat und Ernte oder in harten Wintern, die Wölfe zu fürchten, die das Vieh rissen. Und es gab vieles über die Natur des Menschen zu erfahren. Genau deshalb war ich auch Vater nicht böse, daß er mich an meinen neuen Herren verkauft hatte. Es war immer noch besser als Bauer zu werden oder ein Handwerker zu sein, der nie mehr von der Welt sah, als sein Dorf und ein paar Quadratmeilen Landschaft drum herum.

Viele der Menschen, so hatte ich erkannt, dachten mit ihren Lenden, andere, wie eben Thiam, nur mit ihrem Geldbeutel und wieder andere mit beidem. Aber kaum einer dachte mit dem Herzen.

Die wenigsten Menschen folgten den Geboten der Götter, die da verlangten, den Nachbarn zu schützen und den Menschen zu ehren (und auch die Priester dachten häufiger an die Tugend, den wohl gefüllten Opferstock und die Pracht ihrer Tempel, als an die Not der Gläubigen und sie waren doch die moralischen Vorbilder so vieler. Wen sollte da noch das Verhalten der meisten wundern?).

Aber wenn es mich schon nicht wunderte, so hatte ich es bisher auch nicht verstanden, warum es den Menschen Ehre brachte, andere zu schlagen, auszubeuten, sie zu schänden oder ihnen noch schlimmere Sachen anzutun. Aber ich war erst zwölf Jahre alt, ein Knabe noch. Was wußte ich schon? Aber vielleicht würde ich auch dieses Mysterium irgendwann enträtseln.

„Autsch!“ entfuhr es mir, als mich Meister Thiam mit einer Ohrfeige bedachte. Offenbar hatten mich meine Gedanken zu weit fortgetragen und er hatte den Eindruck gewonnen, ich bedächte ihn und seine lehrreichen Ausführungen nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit.

„Hör mir zu, Tölpel!“ fuhr er mich an. „Du bist nicht nur mein Lakai, sondern auch mein Lehrling. Ich habe dich ausgewählt, weil dein Blick lebendiger, dein Hand flinker und dein Geist wacher war, als die der meisten Bauernlümmel. Eines Tages erwarte ich, daß Du mich betrügst und wenn es Dir gelingt, dich dabei nicht erwischen zu lassen, was schwer sein wird“, sein Lächeln wurde selbstgefällig, „dann sei deine Lehre beendet, aber bis dahin gehorche mir und lausche!“

Ich sah ihn an und nickte, weil Widerspruch ihn nur richtig in Harnisch bringen würde. Thiam sah mich mürrisch an, knurrte und schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Ich hielt seinem Blick stand. Er hob die Hand, als wolle er mich erneut schlagen, sah mir immer noch in die Augen, aber überlegte es sich anders und zuletzt ließ er die Hand sinken, als wisse er nicht, was er eigentlich wollte.

Dann gingen wir weiter. Thiam hatte aufgehört mich an seinen Weisheiten teilhaben zu lassen. Er begann nervös zu wirken, je näher wir der Handelsstraße kamen. Von weiten konnten wir das graue Band der Granitsteine, aus denen die große Straße bestand, manchmal zwischen den Hügeln sehen.

Wir quälten uns auf dem Trampelpfad, der zur Straße führte, einen Hügel hinauf. Obwohl die Steigung nicht so steil war, hatte Merzad doch mit dem Karren zu kämpfen und ich half ihm so gut es mir möglich war, in dem ich schob.

Thiam hob den Kopf und spähte von der Kuppe hinunter auf die Straße. Von diesem Hügel aus öffnete sich ein weites Tal und man hatte einen guten Blick auf die Handelsstraße nach Asáthir. Die Hügel auf der anderen Seite des Tals waren hier und da von Baumgruppen bestanden. Auch im Tal war der eine oder andere Hain zu finden. Auch ein Bach floß dort dem Kersin zu.

Asáthir war unser Ziel. Es war der große Herbstmarkt, der Thiam anlockte wie ein Kuhfladen die Schmeißfliege. Hier hoffte er mit seinen Taschenspielertricks jede Menge Münzen zu scheffeln. Vermutlich würde es ihm gelingen.

Für mich war Asáthir etwas ganz besonderes. Thiam hatte erzählt, daß seine Mauern mehr als fünfzigtausend Menschen bargen, daß die Mauern der Stadt kein aufgeschütteten Erdwälle, sondern bei nahe fünfundzwanzig Fuß hohe und acht Fuß breite Steinwälle waren. Ich träumte nachts von dieser Stadt. Sie mußte außergewöhnlich sein. Ich konnte allerdings kaum fünfzigtausend Menschen vorstellen, die alle an einem Ort lebten. Ich konnte bis hundert zählen. Alles darüber hinaus war noch unbekanntes Land für mich, doch der Meister hatte schon erste Lektionen für mich. Er hatte mir gezeigt, wie man meinen Namen schreibt und wir hatten auch ein bißchen gerechnet.

Thiam kratzte sich seinen imposanten Kinnbart, der schon von ersten grauen Fäden durchsetzt war. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und die Flügel seiner gewaltigen, spitzen Nase, die ihm ein wenig das Aussehen eines Nagers verliehen, bebten. Das war ein sicheres Zeichen, daß Meister Thiam nachdachte.

Ich versuchte seine Gedanken zu erraten, was mir verschiedentlich auch schon gelungen war, obwohl ich nicht genau wie, wußte aber heute mir sein Geist verschlossen blieb, was mich ein wenig ärgerte.

Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf und Zufriedenheit stellte sich bei Meister Thiam ein.

„Schnell, Junge. Komm!“ kommandierte mein Herr und Meister und eilig setzte er sich in Bewegung. „Eine Karawane“, begann er. „In ihrem Schutz werden wir Asáthir sicher erreichen.“

Er hatte sich wie immer Sorgen um seine Geldkatz gemacht (ich hätte es wissen müssen) und Räuber gefürchtet, weil diese sich nicht immer von seinen magischen Drohgebärden schrecken ließen. In der Wildnis und abseits der großen Straßen war seine Furcht geringer, denn in der Wildnis gab es kaum Banditen, aber je näher man einer Stadt oder eben belebten Handelsstraßen kam, desto größer war die Wahrscheinlichkeit auf Männer und Frauen zu treffen, die fanden, daß es das Risiko einer Hinrichtung wert war nicht schuften zu müssen, sondern von den Wertsachen anderer zu leben. Oder aber auch jene, die geschuftet hatten, bis ihnen das Blut von den Händen lief und die aus den verschiedensten Gründen gescheitert waren, so daß sie der Hunger dazu trieb, einsame Wanderer, Händler oder Männer wie Thiam zu überfallen. Und manchmal mochte es sein, wie Thiam schaudernd ausführte, daß die Garden und Wachen der Städte, es nützlich fanden, die Strauchdiebe nicht mit letztem Einsatz zu hetzen, wenn die Gesetzlosen die Hüter desselben in angemessener Weise an den Erlösen ihrer Überfälle beteiligten. So fühlte sich Thiam am sichersten in Gegenwart von Leuten, die selber ihr Eigentum schützten. So auch bei diesen Kaufleuten, die Asáthir zustrebten und schon von weitem erkennbar, einige Söldner in ihren Diensten hatten.

Sie mußten aus dem Osten kommen oder nicht wirklich wohlhabend sein, denn von Westen und Norden nutzten Händler, so sie sich es leisten konnten, die Dienste der Schiffer- und Treidlergilde am Kersin. Aber das war nicht ganz billig, doch die Gilde hatte sich gegen verschiedene Herren durchgesetzt und ihre Hohheit über den Fluß gewahrt.

Zwei Dutzend Familien bildeten die Gilde und sie kannte jede Sandbank, jede gefährliche Stelle. Sie liebten den Fluß und lebten auf oder an ihm.

Einmal hatte der Stadtherr von Elvérun versucht, den Einfluß der Gilde zu beschneiden und seine eigenen Kähne auf dem Fluß eingesetzt, um den Transport zwischen Elvérun und Asáthir billiger zu machen.

Seine Probleme begannen damit, daß keiner der Werften, die die Kähne für die Gilde bauten weder für Geld, gute Worte noch unter Drohung Kähne bauen wollten. Also sandte er Boten aus und holte für teures Geld Leute zusammen.

Dann galt es Schiffer zu finden, aber alle Flußschiffer gehörten der Gilde an. So nahm er Männer in Dienst, die nur wenig vom Fahren auf dem Fluß verstanden und so holte sich der Strom einen Kahn nach dem anderen. Drei von fünfzig Mann und einer von zwanzig Kähnen kam in Asáthir an.

Seither ließen die hohen Herren Elvéruns die Kaufmänner ihrer Stadt die Gebühren der Gilde zahlen.

Thiam hatte mir diese Geschichte erzählt, um mir klar zu machen, daß man das machen sollte, was man am besten konnte. Sollte man etwas nicht können, so war es das beste auf die Dienste derer zurückzugreifen, die sich auf das anstehende Problem verstanden.

Wir erreichten die Karawane nach einem anstrengenden Marsch. Aber wir hätten uns gar nicht zu beeilen brauchen, denn sie waren ohnehin dabei ihr Nachtlager im Schutz der Windschattenseite eines Eichenhains zu errichten.

Männer bauten Zelte auf, andere halfen dem Koch am Küchenwagen oder stellten Tische und Bänke für das Abendessen auf.

Mitten in diese Geschäftigkeit hinein erschienen wir. Thiam hatte sich seine schwarze Robe übergeworfen und sah für seine Begriffe sehr magisch aus. Beinahe augenblicklich erregte er die gewünschte Aufmerksamkeit.

Meister Thiam fand mit sicheren Blick den Kaufmann, der die Karawane führte, Selprin Umana war sein Name. Thiam prahlte mit seinen Fähigkeiten als Zauberer, zeigte ein paar seiner Tricks und der Führer der Karawane handelte meinen Meister herunter, daß er nur für ein paar Kupfermünzen, freie Kost (auch für mich), Logis (und auch hier hatte ich Glück) und einem Sitzplatz auf dem Kutschbock des zweiten Wagens (leider mußte ich mich um unseren Eselskarren kümmern und würde laufen müssen) an dem Rest der Reise bis nach Asáthir mitkommen konnte.

Thiam lamentierte, daß er sich unter Wert in den Dienst des Kaufmanns stellte, aber letztlich müsse er eines Gelübdes wegen, welches er den Göttern gegeben hatte, das Angebot des Kaufmanns akzeptieren.

Ich wußte wie er diese Verhandlung genoß, denn die Spitzen seines Bartes bebten vor Vergnügen. Innerlich lachte er über den fetten Kaufmann. Thiam würde Geld erhalten, damit man ihn und seine Habe beschützte.

Wir hatten, nach Schätzung des Kaufmanns noch etwa acht oder neun Tagesmärsche (je nach Wetter und Zustand der Straße) vor uns. Somit würden wir rechtzeitig zum großen Markt eintreffen (und alle vor dem Winter wieder zu Hause sein). Auch Thiam gedachte in diesem Jahr in einer kleinen Stadt zu überwintern, in dem er sich als Magier bei dem oder den Stadtherren verdingte.

Ich hörte zu, wie der Kaufmann, ein fülliger Mann mit schütterem Haar, kleinen Augen und großen Ohren von Dörfern und kleineren Städten erzählte, die wir noch passieren würden, bevor wir endlich nach Asáthir erreichten.

Insgesamt hatten sich für diese Karawane ein halbes Dutzend Kaufleute aus Lesthia zusammengetan. Lesthia war eine kleine Stadt im Norden, nahe des Skralet-Gebirges. Ich hatte die Gipfel dieser Berge noch nie gesehen, aber Meister Thiam hatte mir davon berichtet und selbst dieser gierige Mann schilderte die Berge mit einer gewissen Ehrfurcht.

Als ich den Esel versorgt, ihn bei den anderen Tieren angeleint und für Meister Thiams und mein Nachtlager gesorgt hatte, reihte ich mich in die Schlange am Küchenwagen ein.

Die Dämmerung schritt fort und schon jetzt brannten Fackeln und Öllampen, was Vater als Verschwendung gebrandmarkt hätte. Solange es Tageslicht gab, war einer seiner Weisheiten, brauchte man kein künstliches Licht. Mir war das hier egal. Das Lampenöl und die Fackeln kosteten der Kaufmänner Geld.

Ich hörte neugierig den Gesprächen der Ochsenkarrenfahrer, Treiber, Kaufmannsgehilfen und der restlichen Mitreisenden der Karawane zu. Sie erzählten sich Geschichten von großen Schlachten, wilden Gelagen, priesen ihre Manneskraft und sich selbst. Obwohl wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte von dem was die Männer erzählten der Wahrheit entsprach, waren es doch spannende Geschichten von Orten, die ich mir erträumte.

Ich setzte mich mitten unter diese Leute, die ihren Lebensunterhalt bestritten, in dem sie sich bei Karawanen verdingten. Ein großer, grober Kerl namens Erind, erzählte von seinen Seereisen. Er beschrieb mächtige Ungeheuer, die aus den Tiefen der Meere hervorkamen und einen Strahl aus purem heißen Dampf ausstießen.

Da auch Meister Thiam davon berichtet hatte, glaubte ich ihm. Nur hatte Thiam diese Ungeheuer Wale genannt und gemeint, der scheinbare Dampf wäre die Atemluft, die die Tiere zusammen mit Gischt ausstießen. Aber die Legende von Tieren, die erfüllt waren von der Macht des Feuers mache sich besser, wenn es galt unbedarften Tölpeln angst zu machen, hatte Thiam mir erklärt. Darum sollte ich auch mein durch ihn erworbenes Wissen für mich behalten; was ich auch tat. Und wer hätte mir schon geglaubt?

Zufrieden aß ich den Eintopf mit Dörrfleisch zu dem es Zwieback und dünnen, aber heißen Früchtetee gab, worüber einige der Männer murrten. Sie hätten doch lieber Bier oder Wein getrunken.

Meister Thiam speiste natürlich nicht mit uns hier draußen. Er saß zusammen mit den Kaufleuten in einem Zelt an einer üppiger gedeckten Tafel. Auch in Richtung des Zeltes wurde manch neidischer Blick geworfen. Mich aber ließ das kalt, war ich doch froh satt zu werden und den aufschneiderischen Geschichten der Männer zu lauschen.

Plötzlich fühlte ich Blicke auf mir ruhen. Dort saß ein Mann, gezeichnet von den Spuren der Arbeit. Sein Gesicht war braungebrannt und auch sonst von der Unwägbarkeit des Wetters gezeichnet. Er mochte dreißig oder vierzig Sommer zählen. Das war nicht mehr zu erkennen. Er war Pferdeknecht und während ich Merzad, der wieder störrische Anwandlungen gehabt hatte, versorgte hatte ich Gelegenheit den Mann zu beobachten. Er hatte schwere Eimer geschleppt und Wasser von einem nahen Bach geholt, die schweren Hafersäcke getragen und niemand hatte ihm geholfen. Und trotz der schweren Arbeit, hatte er für jedes der Tiere, gleich ob Ochse oder Pferd, ein freundliches Wort, ein aufmunterndes Klopfen und Zeit übrig.

Die Reiter und Kutscher hatten ihre Tiere zwar abgerieben, aber das hatten sie nur getan, weil es sein mußte, nicht weil sie ihre Tiere liebten. Der Knecht hingegen hatte etwas übrig für die Tiere und es machte ihm nichts aus zu spät zu Tisch zu kommen. Jedenfalls hatte er das einem Fuhrkecht nachgerufen.

Eine blonde, von der Sonne fast weiß gebleichte Strähne schaute unter der Kapuze hervor. Das trübe Licht der blakenden Öllampe auf dem Tisch warf ein unsicheres Licht auf das Gesicht des Pferdeknechts. Ich konnte seine scharf geschnittene Nase sehen, die einmal gebrochen gewesen sein mußte, denn sie stand leicht schief. Sein Wangenknochen waren hoch angesetzt und so wirkte sein Gesicht hagerer als eigentlich war.

Seine Augen waren blau und klar wie der Bergsee. So viele Spuren das Wetter, ungnädige Herren und das Leben auch an dem Mann hinterlassen hatten; seine Augen schienen davon nicht berührt worden zu sein. Sein Blick war klar und ungebrochen. Er genoß das ärmliche, aber doch freie Leben. Das spürte ich.

Seine Kleidung war ärmlich. Sein Wams wurde von zahlreichen Flicken unterschiedlicher Stoffe zusammengehalten. Auch sein Wollmantel war oft geflickt und daß seine Stiefel noch ihren Dienst taten grenzte an ein Wunder.

Der Pferdeknecht lächelte mich an und ich lächelte zurück. Für einen kurzen Moment kreuzten sich unsere Blicke und mir war, als wollten mich die Augen des Mannes nicht mehr loslassen. Ich konnte den Blick auch nicht wenden und mir war, als schaue er tief in mein Herz hinein, als erfasse er alle meine Gedanken Träume und Hoffnungen auf einen Schlag.

Ich konnte und wollte das nicht zulassen, denn all das war mein heiligster Besitz. Vielmehr gehörte mir nicht und gerade geheime Sehnsüchte und Wünsche wollte ich nicht teilen. Mit Gewalt riß ich mich los und sah demonstrativ zur anderen Seite. Mein letzter Eindruck war ein spöttisches Lächeln. Ich mochte mich aber im unsicheren Licht des vergehenden Tages und der blakenden Lampen getäuscht haben.

Nach dem Essen begaben sich die meisten Männer ans Lagerfeuer, um noch einen Schluck Tee zu trinken und sich noch ein paar mehr Geschichten anzuhören oder gar welche zu erzählen. Ich sah wie ein paar Männer verstohlen einen Schluck aus einem geschmuggelten Schlauch Wein nahmen, als sie glaubten, es wäre dunkel genug und Aufseher, Vorleute und ihre Herren würden nicht darauf achten.

Der Pferdeknecht verschwand im Dunkel in Richtung der Tiere und auch spürte die Müdigkeit. So sehr ich mir wünschte noch ein paar Geschichten zu lauschen, wollte ich mir nicht die Blöße geben zwischen den Männern einzuschlafen.

Ich machte mich auf zu meinen Decken, kuschelte mich hinein und war begann, nachdem ich mich mit einer Baumwurzel arrangiert hatte, beinahe augenblicklich in das Reich der Träume hinüberzudämmern.

„Steh auf!“ war das nächste was ich hörte und ein nicht allzu sanfter Tritt in meinen Hintern das nächste was ich spürte. „Pack die Sachen zusammen, spann den Esel ein und hol dir dein Frühstück ab. Wenn ich wieder hier bin, ist alles fertig für den Aufbruch.“

Thiam sprachs und verschwand, um in Gesellschaft der Kaufleute zu frühstücken, aber ich wußte es besser, als mich zu beschweren. Ich hatte merkwürdige Dinge geträumt. Der alte Geschichtenerzähler und Pferdeknecht waren darin vorgekommen, aber als mich mein Herr und Meister so unsanft geweckt hatte, verschwand die Erinnerung an den Traum wie Sommernebel bei aufgehender Sonne.

Ich eilte zu den Tieren hinüber, wo ich Merzad vertäut hatte. Das erste schwache Licht des Tages reichte gerade aus, um Wasser zu holen und den Hafer zu finden. In aller Eile versorgte ich ihn. Während das Tier fraß, packte ich unsere Sachen zusammen und verlud sie auf den Wagen. Dann spannte ich den Esel ein und band ihn erneut an den Baum, um mir noch etwas von dem Frühstück zu sichern.

Die Fuhrleute waren noch nicht bei den Tieren. Nur der Pferdeknecht schuftete, um die Tiere zu versorgen. Ich spürte die Röte in mein Gesicht aufsteigen, als ich an den gestrigen Abend dachte. Auf einmal erschien es mir lächerlich, daß er mir meine Sehnsüchte stehlen wollte und ich den Blick so ohne weiteres abgewandt hatte. Ich winkte ihm zu und er winkte zurück.

„Kann ich dir helfen?“ fragte ich ihn.

„Nein laß nur, Junge. Hol dir dein Frühstück“, entgegnete er. Seine Stimme war angenehm tief.

Ich hatte die Männer über ihn reden hören. Sie lobten seinen Umgang mit den Tieren und die Stimme mochte eines seiner Geheimnisse sein.

Ich wollte ihm für einen Augenblick trotzdem helfen, lief dann aber doch los, um mich mit Tee, Brot, Käse und Honig zu stärken. Vor dem Abendessen würde es nur noch ein paar Zwieback und einen Schluck Wasser geben. Da mußte man das Frühstück nutzen.

Ich setzte mich diesmal nicht zu den Männern, sondern wandte mich einem Felsen am Rande des Lagers zu. Ich hatte, ohne recht zu wissen warum, das Bedürfnis allein zu sein. Vielleicht war ich die Geschichten der Männer einfach satt, vielleicht brauchte ich nur ein wenig Ruhe oder aber ich mußte all das was ich gehört hatte erstmal verdauen.

Ich balancierte meinen Teller zu einem Felsblock an den Rand des Lagers. Im Hintergrund hörte ich, wie sich die Söldner mit ihren Kettenhemden und Beinpanzern plagten. Es war ein gewaltiges Rasseln begleitet von diversen unterdrückten Flüchen (die mir eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben sollten, aber das Reisen mit Meister Thiam bildet und stumpft ab was Flüche Scham angeht), daß anhob, als die sechs Mann starke Truppe aus ihrem Zelt kam und in Richtung des Küchenwagens davonging. Von den Rändern des Lagers gesellten sich die drei übrigen Söldner zu ihnen, die Wache gestanden hatten.

Die Söldner wirkten imposant und verwegen mit ihren bärtigen Gesichtern, ihren Panzern und ihren Schwertern. Ihre Ausrüstung allerdings schien mal hier und daher zu stammen. Wenn sie nicht von besiegten Gegnern stammte, so war sie zumindest mal hier und mal da zusammengekauft. Die Brustpanzer hatte ich schon bei der berittenen Garde von Elivar, einer Stadt, die ich mit Thiam bereiste, gesehen. Und so mochte man jeden Bestandteil der Ausrüstung einem anderen Ort zuweisen.

Ich fand das ein gutes Zeichen, bewies es doch, die Männer, die unseren Schutz gewährleisten sollten waren weit herumgekommen und hatten dies überlebt und möglicherweise oft auf Seiten der Sieger gestanden.

Heroische Bilder von Schlachten, Scharmützeln und Kämpfen entstanden in meinem Geist. So wie sie der Graue in großen Sagen geschildert hatte, als ich noch jung war und auf seinem Schoß saß.

Ich sah in die aufgehende Sonne, die über einen Hügelkamm kroch und das Land in das weiche, warme Licht des Morgens tauchte, wie das nur beim Übergang vom Sommer zum Herbst geschah.

Ich war aber nicht so gefangen von dem Anblick und mein Tagträumen von großen Kriegern, daß ich das Kauen vergaß oder nicht mehr auf meine Umgebung achtete (wenn man der Lehrling und Diener des ungeduldigen und Aufmerksamkeit heischenden Meister Thiam war, mußte man das auch, wenn man die Zahl der Ohrfeigen in Grenzen halten wollte). So hörte ich auch die Schritte hinter mir. Es waren nicht des Meisters Schritte. Diese konnte ich aus Tausenden heraus hören.

„Machst Du mir ein bißchen Platz?“ fragte mich eine tiefe Stimme. Es war der Pferdeknecht, wie ich schon vermutet hatte.

„Ja klar“, antwortete ich mit vollem Mund und rutschte rüber, so daß er sich neben mich setzen konnte.

Er setzte sich neben mich und begann schweigend zu kauen. Dann schlürfte er geräuschvoll, als er einen Schluck Tee nahm.

„Ein herrlicher Anblick“, sagte er zwischen zwei Bissen. „Ich liebe den Sonnenaufgang und so oft ich kann, betrachte ich ihn. Er ist immer wieder ein Anfang und gibt Hoffnung auf einen guten Tag.“

Ich nickte nur.

„Ich bin Kerlon von Manskebir, der Pferdeknecht“, stellte er sich vor.

„Ich bin Bevin von Ulbrin, Sohn des Alfgar“, entgegnete ich und nickte ihm zu.

„Ich hörte, du bist der Schüler des Zauberers“, begann der Pferdeknecht als plaudere er müßig auf einer Veranda nach dem das Tagwerk getan war mit den Nachbarn bei einem Krug Honigwein. „und ich frage mich, was du schon alles gelernt hast?“

Ich hatte jede Menge gelernt, aber nicht das Handwerk eines Zauberers, denn Magie gab es ja nach Meister Thiams Worten nicht. Sicherlich konnte ich schon ein paar seiner Taschenspielertricks, ich hatte die Weisheiten meines Herren über das Leben und die Menschen gehört und auch sonst noch ein paar Dinge gelernt, aber mit Zauberei hatte das alles nichts zu tun.

In den Legenden, die uns der Graue erzählt hatte, da wurden mittels Magie Wunder gewirkt. Aber in der Tat hatte ich selbst noch nichts dergleichen selbst erlebt.

„Ich bin noch am Beginn meiner Ausbildung, lerne Dinge über meinen Geist und die Natur der Magie“, sagte ich von Thiam gelernte Antwort auf.

„Und dazu gehört den Esel zu treiben“, schmunzelte der Pferdeknecht.

„Es gehört zu meinen Aufgaben als Diener, die mich die Demut vor der unbegrenzten Macht der Magie lehren sollen“, entgegnete ich und zitierte wieder das, was mir Thiam eingebleut hatte.

„Du bist gut zu dem Tier“, wechselte er das Thema.

„Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und in meiner Familie ist man gut zu den Tieren, weil man mit ihnen unter einem Dach lebt“, erklärte ich dem Pferdeknecht und brauchte dabei nicht auf Thiams Weisheiten zurückzugreifen. In der Tat hatte mein Vater selbst die Tiere, die später schlachtete oder mit denen er arbeite immer gut behandelt. In diesem Punkt sich der Vater und er.

Kerlon antwortete nicht. Ich sah zu ihm herüber. Sein Blick war nicht mehr müßig auf den Sonnenaufgang gerichtet, sondern er sah auf einen ganz bestimmten Punkt am Horizont, als erwarte er, daß dort irgendwer oder irgendwas erscheinen würde. Er sah fast aus wie ein Jäger, der am Rande einer Lichtung mit gespannten Bogen auf den Hirsch wartete. Außerdem schien er zu lauschen. Er war angespannt.

„Was ist los?“ fragte ich, aber Kerlon winkte nur ab.

„Das kann nicht sein!“ entfuhr es ihm und er sprach nur zu sich selbst. „Es ist vor der Zeit, noch lange vor der Zeit!“

Wie erstarrt saß er da. Sein Becher mit Tee rutschte vom Felsen, der Pferdeknecht achtete nicht darauf. In seinen Augen erkannte ich Unglauben und Erstaunen. Er schien eine Bedrohung zu wittern.

Ich sah mich um, niemand sonst war beunruhigt. Die Männer beendete ihr Frühstück, einige bauten bereits das Lager ab und wieder andere spannten die ersten Ochsen und Zugpferde ein. Nichts deutete darauf hin, daß etwas Außergewöhnliches passierte.

Ich folgte dem Blick des Pferdeknechts, der starr auf einen Punkt am Horizont gerichtet war, aber ich konnte nichts erkennen.

Bisher hatte Kerlon nicht den Eindruck erweckt, als wäre er wirr im Kopf, aber das hier ließ mich zweifeln. War er verrückt?

Plötzlich und ohne Vorwarnung erhob er sich und straffte seine Haltung. Er wandte sich mir zu.

„Lauf Junge!“ sagte er in einem Ton, der kein Widerspruch duldete. „Lauf nach Westen, lauf und halte nicht an, bis du vor Erschöpfung zusammenbrichst. Sieh dich nicht um. Lauf!“

„Bevin!“ drang Thiams Stimme an mein Ohr. „Komm sofort her!“

„Hör nicht auf ihn!“ sagte der Pferdeknecht leise und doch eindringlich. „Lauf!“

Klar, der Pferdeknecht war verrückt. Das war die Lösung. Es war ein wunderschöner, friedlicher Morgen an der Grenze zwischen Sommer und Herbst in einer lieblichen Hügellandschaft und eine Gefahr war weit und breit nicht zu erkennen.

„Ich komme!“ rief ich Meister Thiam zu und noch bevor mich der Pferdeknecht aufhalten konnte, rannte ich zu Meister Thiam. „Du bist verrückt!“ rief ich Kerlon noch zu. Dabei warf ich einen Blick über meine Schulter. Er sah mir nach und ich konnte die Enttäuschung in seinen Zügen lesen. Doch Kerlon war eindeutig ein Spinner und er mocht gefährlich werden.

Nicht lange danach setzte sich die Karawane in Bewegung. In den Wochen, die sie unterwegs war, hatte sich eine gewisse Routine entwickelt. Geordnet zog ein Dutzend Fuhrwerke, zwei Kutschen, der Küchen- und der Vorratswagen, die Reiter und unser Eselskarren auf das Granitband der Straße in Richtung Asáthir. Die Rufe der Männer gellten durch die Morgenluft. Das Knarren der Räder war der Rhythmus dazu.

Kerlon bekam ich nicht mehr zu sehen. Und es war schon spät am Vormittag, als ich hörte, er hätte sich auszahlen lassen und die Karawane in aller Eile verlassen. Die Männer taten das gleiche wie ich. Sie zweifelten an seinem Verstand.

Gegen Mittag zweifelte ich auch am Verstand Thiams, der mich großzügig als Gehilfen des neu bestimmten Pferdeknechts, eines Fuhrmanns namens Geron, ausgeliehen hatte, aber ich hatte keine Wahl und mußte dem Befehl folgen. Fast erschien es mir verlockend wegzulaufen.

Merzad war schon den ganzen Tag störrisch und übel gelaunt. Mehrfach versuchte er nach mir zu schnappen und ich hatte alle Mühe, ihn auf der Straße zu halten.

Auch die übrigen Tiere waren unruhig und mehrfach knallten die Peitschen. Wilde Flüche der Fuhrleute quittierten die Eskapaden der Tiere.

Gegen Mittag reichte uns ein Bursche, der kaum älter war als ich und als Küchenhilfe diente, Zwieback, Hartwurst und Wasser. Diese karge Mahlzeit verzehrten wir während der Fahrt.

Der Nachmittag kam und ging und obwohl die Sonne schien, die Luft mild und der Wind lau war, lag über der Karawane doch eine gereizte Stimmung.

Etwas lag in der Luft und meine Gedanken schweiften zu meinem morgendlichen Erlebnis zurück. Lag vielleicht wirklich eine Gefahr in der Luft? Auf Vaters Hof waren die Tiere bei Gewitter oder Sturm nervös gewesen. Auch jetzt schienen sie etwas zu spüren.

Ach Unsinn, schalt ich mich, da ist nichts! Du wirst doch nicht auf die Phantasien eines Spinners hören!

Der Nachmittag schritt voran und auch die Karawane. Zum Glück bestimmten die Ochsenfuhrwerke das Tempo, so daß ich mithalten konnte. Doch so langsam wünschte ich mir, Selprin würde befehlen, das Nachtlager zu errichten.

Einmal hatte ich einen Jungen gebeten, kurz Merzad führen, weil mich mein Herr und Meister gerufen hatte. Thiam hatte die ganze auf dem Kutschbock gethront und die Gegend mit wichtigem Gesicht im Auge behalten. Als ich vorn anlangte wirkte er sehr zufrieden mit sich und seiner Lage.

Er gab mir einige unbedeutende Anweisungen bezüglich seiner magischen Utensilien, um sich wichtig zu machen. Ich nickte nur und lief zurück an meinen Platz.

Seit einiger Zeit marschierten wir durch ein größeres Waldstück. Der Schatten tat mir gut. Die Sonne war noch kräftig und hatte mich ziemlich ausgedörrt. Ich freute mich schon auf einen Schluck kühlen Wassers.

„Reiter von vorn!“ gellte der Ruf eines der Söldner.

Ich konnte leider nichts sehen, bildeten Merzad, unser Karren und ich doch den Abschluß des Lindwurms der Karawane, der sich über die Straße zog.

Die vorderen Wagen fuhren rechts ran, wohl um den Reitern Platz zu machen. Sie mochten der Garde Asáthirs angehören oder zu einem der Gutsherren auf dem Land gehören, die für gewöhnlich ihre kleinen Söldnerheere unterhielten. Diese brauchten sie nicht nur zu ihrem Schutz.

Ich konnte mich noch gut erinnern, wenn der Steuereinnehmer unseres Landesherren ins Dorf kam. Er selbst war ein dicker, grinsender, älterer Mann, der stets freundlich war. Doch er konnte sich das leisten, weil diese grimmigen Männer mit den Schwertern, nicht so freundlich waren. Ich mochte diese Art Kerle nicht, die nur die Schwachen bedrohten. Um den Schutz des Steuereinnehmers ging es nicht. Die letzten Gesetzlosen waren in Ulbrin und auf dem gesamten Besitz unseres Junkers vor drei Dutzend Jahren gesehen worden.

Sie bewachten auch immer die Waage des Steuereinnehmers, von der nicht nur Vater den Verdacht hatte, daß sie nicht genau wog. Keiner der Bauern würde jedoch widersprechen, wenn er schwer bewaffneten, kampferprobten und gewalttätigen Männern gegenüberstand. Mochte der Steuereinnehmer auch so freundlich sein oder tun.

„Träumst du, Junge?“ riß mich die Stimme eines der Fuhrleute aus meinen Gedanken. Ich riß Merzad von der Straße, der sich störrisch aufführte.

Während ich den Esel von der Straße führte sah ich im Dämmerlicht des Waldweges die Reiter näher kommen. Ihre Uniform war gänzlich dunkelgrau. Wegen der Helme und des Lichteinfalls wirkten selbst ihre Gesichter wie ein grauer Schemen. Auf ihren Kettenhemden (was anderes konnte diesen Eindruck hervorrufen?) war kein Wappen zu erkennen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise hatten die Garden der Städte oder Adeligen einen Überwurf mit dem Stadtwappen oder dem Wappen ihres Herren. Irgendwie waren mir die näher kommenden Reiter unheimlich.

Endlich war es mir gelungen Merzad hinter das letzte Fuhrwerk zu ziehen. Der Esel versuchte noch einmal nach mir zu schnappen und schrie laut. Ich wollte dem Tier gerade einen Schlag versetzen und ihn schimpfen, als mich ein Schmerzensschrei und ein Alarmruf davon abhielt.

Ich hob den Kopf, aber das Fuhrwerk versperrte mir den Weg. Das Aufeinanderprallen von Stahl auf Stahl sagte aber genug.

Die Karawane wurde angegriffen!

Ich ließ Merzad los, lief hinter das letzte Fuhrwerk und warf mich darunter in Deckung. Dann spähte ich daraus hervor. Gleichzeitig hatte ich wie von selbst mein Schnitzmesser gezogen. Es war eine lächerliche Geste, aber mir war wohler, als ich den warmen, hölzernen Griff in meiner Hand spürte.

Was ich sah ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Was ich aus der Entfernung für Kettenhemden und Helme gehalten hatte, war etwas ganz anderes. Es sah aus wie - Spinnweben. Die Reiter waren komplett in einen graues Gespinst gehüllt und dem sich schmenenhaft Gesichter und nackte Körper abzeichneten. Die Schwerter waren aus schwarzem Stahl.

Einen unserer Söldner hatten sie schon getötet, der Mann lag niedergestreckt auf der Straße, um ihn herum färbte sich der graue Granit rot. Einer versuchte zu Pferd zu entkommen, aber er hatte keine Chance.

Die übrigen waren abgesessen und kämpften aus der Deckung der Wagen heraus. Die Angreifer taten es ihnen gleich, denn vom Pferd konnten sie nicht soviel ausrichten.

Unsere Söldner schlugen sich tapfer, aber ihre Schwerter konnten das Gespinst der Angreifer nicht durchdringen, die sich nicht um Treffer scherten, sondern nur angriffen.

Ich sah wie eine schwarze Klinge zwischen Kopf und Schulter eines unserer Wächter wie Butter in den Hals eindrang. Das konnten keine normalen Waffen sein.

Der Mann brach zusammen, Blut schoß wie ein Fontäne aus der Wunde und erstickte den Todesschrei zu einem Gurgeln. Als der Mann auf den Boden schlug zuckte er noch wie ein abgestochenes Schwein, war aber schon tot.

Thiam fiel plötzlich vom Kutschbock. Ich konnte noch einen Arm sehen. Der Kutscher hatte den mächtigen Magier wohl Bock gestoßen, damit er gegen die Angreifer antrat.

Für einen kurzen Moment sah ich das panikerfüllte Gesicht meines Meisters. Er hatte keine Möglichkeit zur Flucht, wie so mancher aus dem Troß, die ich den Wald hetzen sah, aber ich hörte auch von Todesschreie und Ausrufe des Entsetzens. Ich selbst konnte mich rühren, war gebannt von dem Anblick, der sich mir bot.

Spinnenritter! schoß es mir durch den Kopf, als einer der Angreifer auf einen Kaufmann eindrang und ihn zu Boden warf. Die Ritter des Spinnentraums! Das war es! Der Graue hatte auf Vaters Hof von diesen Wesen erzählt. Diener der Finsternis, die einem unbekannten Herren dienten und im Namen des Bösen lange Jahrhunderte Angst und Schrecken über weite Teile der Welt gebracht hatten, bis ein Abtrünniger ihre Herrschaft beendet hatte und dabei getötet worden war.

Der Kampf des Abtrünnigen war der richtige Stoff für kalte Winterabende. Er hatte den Inneren Kreis der Ritter im Kampf besiegt und die übrigen gebannt, dann war er gestorben und sein Laib von einem Feuer verzehrt worden. Doch nun war der Bann, den der Abtrünnige gewoben (so hatte sich der Graue ausgedrückt) hatte wohl gebrochen und diese Geißel der Welt nahm den alten Terror wieder auf.

Wild gellten Schmerzensschreie, Kommandos, Rufe, das Wiehern der Pferde und Brüllen der Ochsen durcheinander, während von den Angreifern nicht ein Laut kam.

Thiam selbst stand in dem Gewühl und wurde nicht direkt attackiert, andererseits sah er, daß er nicht weglaufen konnte. Also griff er zur letzten Waffe, die ihm blieb. Er versuchte zu blenden. Er richtete sich steil auf und vollführte Handbewegungen, mit er seine Kunststücke in den Rang von Magie erhob.

Er stieß seine Hände hervor und während seiner Auftritte folgte dem ein blauer Flammenstoß, die er mittels einiger Pülverchen aus Lagerfeuern und Fackeln oder dergleichen hervorschießen ließ. Ich hatte das schon oft gesehen. Es sah tatsächlich nach Zauberei aus. Thiam stieß dabei Anrufungen hervor, die magisch klingen sollten. Der Meister gab sich alle Mühe ehrfurchtgebietend auszusehen. Gleichzeitig bewegte er sich vorsichtig auf den Wald zu.

Die aus den Geschichten des Grauen entsprungenen Wesen metzelten weiter die Karawane nieder. Die überlebenden Söldner wehrten sich tapfer und auch die Kaufleute und Fuhrknechte wehrten sich mit dem was sie zur Hand hatten, aber ihre Klingen und Knüppel konnten das feine Gespinst der Ritter nicht durchdringen. Manchmal gelang es den Vormarsch zu stoppen und die Spinnenritter mit einem Hieb zurückzuwerfen. Aber nur einen Wimpernschlag später war der Getroffene wieder auf dem Vormarsch und zeigte keinen Anschein von Schmerz. Das Schlimme dabei war, daß die Spinnenritter völlig lautlos kämpften. Das war der genaue Gegensatz zu den Menschen.

Ich zweifelte daran, daß Thiam es gelingen würde, sich zum Wald durchzukämpfen. Die Spinnenritter würden sich nicht täuschen lassen, wie das Publikum eines Jahrmarkts und bisher hatte weder Stahl noch Manneskraft die Ritter in ihre Schranken weisen können, warum sollten es die Scharlatanerien Thiams können?

Thiam hob ehrfurchtgebietend die Arme als wolle er seine geballte Macht wider den Feind schleudern. Und im selben Moment erschien zwischen dem Meister und einer der Ritter des Spinnentraums eine Wand aus blauen Flammen.

Ich konnte das Erstaunen im Gesicht des Meisters sehen, der einen Moment zweifelnd auf seine Hände sah. Das schien er nicht erwartet zu haben. Und ich, der dachte ich würde alle Tricks des Meisters kennen, war völlig überrascht. Das hatte ich noch nie gesehen.

Er wiederholte die Geste und wieder erschien eine Flammenwand vor denen die Ritter zurückschreckten. Die Gestalten aus dem Reich der Sagen und Legenden fürchteten Thiam.

Magie! Der Meister beherrschte Magie. Aber es gab doch gar keine Magie ...

„Der Zauber kommt nicht von deinem Meister!“ hörte ich eine Stimme hinter mir und spürte gleichzeitig eine Hand auf meiner Schulter.

Ich zuckte zusammen, warf mich herum und stieß die Klinge reflexartig vor. Eine schwielige Männerhand packte mein Handgelenk und entwand mir das Messer. Ich trat um mich und versuchte nach dem Mann zu schlagen, als mich ein heftiger Schlag mit der flachen Hand im Gesicht traf.

„Jetzt ist nicht die Zeit zum Spielen. Wir müssen fort Bevin“, und im selben Moment erkannte ich den Pferdeknecht als Sprecher.

Ich riß mich los, kroch unter den Wagen durch und rannte auf den Wald zu. Ich wollte nicht bei diesem Verrückten sein, ich wollte nicht bei den Spinnenrittern sein und der Wald schien mir alle Male sicherer als die Karawane. Dort konnte ich das Unterholz nutzen, vielleicht Brombeerbüsche finden, die Deckung boten. Ich war ein Junge, der klein war und noch dort durchschlüpfen konnte, wo andere hängen blieben. Darauf setzte ich. Und überhaupt, was blieb mir noch? Ich hatte keine Wahl mehr.

Ich überquerte die Straße, rannte was meine Beine hergaben. Was um mich herum geschah nahm ich nur schemenhaft wahr, als träumte ich. Aber es war die Wirklichkeit. Unbarmherzig töteten die Spinnenritter jeden, ob er sich ihnen nun entgegenstellte oder floh. Die Tiere gerieten ob des Blutgeruchs, der Schreie und des Tötens in Panik. Die ersten Wagen wurden von ihren Zugtieren davon gerissen. Die Tiere flohen blindlings die Straße entlang oder in den Wald hinein.

Das Chaos wuchs ins Unermessliche. Immer rettete die Panik der Tiere einigen das Leben, weil die Stampede der Zugtiere sie von den Rittern trennte, denn auch sie wichen einem voll beladenen Ochsenkarren aus, der auf sie zustob.

Thiam konnte gerade noch einem Karren entgehen, aber er wurde von einer blauen Feuerwand gerettet, die sich wie ein Käfig um ihn herum zog, als von rechts ein Spinnenritter auf ihn zukam. Wie schon vor der Wand, so wichen die Ritter auch vor Thiams Käfig zurück. Der Käfig schien sich auch unter dem Meister zu befinden und abzuheben.

Dann verlor ich Thiam außer Sicht. Ich durchbrach die Büsche des Waldrandes und rannte, was das Zeug hergab. Die Zweige peitschten auf meine Arme. Ich hielt nicht an und rannte einfach nur weiter.

Von links kam ein grauer Schemen auf mich zu. Etwas in mir wollte erstarren und sich dem unvermeidlichen Schicksal ergeben, aber meine Beine gehorchten nicht. Sie bewegten sich unaufhörlich.

„Komm Junge“, hörte ich eine vertraute Stimme, „komm hierher!“

Ich vertraute dieser Stimme - bedingungslos. Es war die Stimme des Grauen. Er hatte mir Geschichten erzählt. Ich hatte ihn fast mehr geliebt als meine Eltern. Ich fragte mich nicht wie er in diese Hölle kam, die die Ritter des Spinnentraums entfacht hatten. Ich wollte auch nicht wissen, was ihn hierher geführt hatte. Ich wollte zu ihm. Ich hatte mich in seiner Nähe immer geborgen gefühlt, vielleicht konnte er mir nun helfen.

Rechts von mir war eine Dornenhecke, gut dreißig Meter lang und übersehbar breit und wohl an die vier Meter hoch. Sie war an Bäumen und Büschen hoch gewachsen und hatte eine undurchdringliche Mauer gebildet. Noch hingen vereinzelte Früchte an den Ranken, die den Vögeln bisher entgangen waren. Sie waren bereits verschrumpelt und nicht mehr so prall und rund wie die ersten Früchte des Sommers.

Hinter mir hörte ich Schritte. Mein Verfolger! Verzweifelt suchte ich einen Durchgang, eine Höhle in die ich verschwinden konnte, einen Pfad, den nur Fuchs und Hase nahmen.

Da!

Ich konnte einen Tunnel sehen, der mich durch die Dornenhecke bringen würde. Ich warf mich hinein und krabbelte weiter. Beinahe augenblicklich zerrten die Ranken an mir, aber ich kam vorwärts.

Hinter mir hörte ich die Schritte stocken. Gleich darauf ein Schwert, das in die Ranken gedroschen wurde. Aber auch mit übermenschlichen Kräften zerschlug man eine Dornenhecke nicht einfach so. Richtig, die trockenen Triebe des letzten Jahres brachen krachend, aber die Triebe dieses Jahres gaben nach, fingen den Hieb förmlich auf und brachen erst nach mehreren Schlägen. Das war meine Hoffnung.

Ich hatte es nicht leicht. Dieser Tunnel durch die Dornenhecke führte nicht gerade hindurch. Er wand sich förmlich durch das Meer der Dornen. Ich blutete mittlerweile aus zahlreichen kleinen Wunden, aber ich krabbelte unbeirrt vorwärts. Mein Verfolger brach sich brachial Bahn, kam aber wie erhofft (ich schwor den Göttern ein Opfer darzubringen) nicht schnell genug voran.

„Komm Junge“, lockte mich die Stimme des Grauen. Ich verdoppelte meine Anstrengungen. Auch mein Wams wurde von den Dornen in Mitleidenschaft geschoben, aber ich glaube, daß selbst Vater Verständnis dafür gehabt hätte, denn was war ein Wams schon gegen das Leben.

Endlich, ich hatte keine Ahnung wie lange ich in dem Labyrinth aus Dornen und Ranken gewesen war, sah ich das Ende des Tunnels und kaum war ich hindurch hörte ich Schritte kommen. Ängstlich und erschöpft sah in die Richtung aus der die Laute kamen.

Ich schloß die Augen und war erleichtert, als nicht eine in ein Gespinst gehüllte Gestalt erschien, die ein Schwert aus schwarzem Stahl schwang, sondern der Held meiner frühen Kindheit. Es war der Graue.

„Kommst Du jetzt, Junge“, sagte er mit seiner sanften, aber doch kräftigen Stimme. „In dieser Gestalt scheinst Du mir ja zu vertrauen.“

Ich hörte ihm nicht zu. Es war der Klang der Stimme, der mich erleichtert aus dem Haag hervor kriechen ließ. Ich warf mich dem Mann an den Hals, vergaß allen Stolz, der es mir inzwischen an der Schwelle zum Mannsein verbot eben dieses zu tun. Heiße Tränen rannen an meinen Wangen hinab und zu anderer Zeit hätte ich mich auch ihrer geschämt, aber es war nicht die Zeit der Würde und des Stolzes, sondern die der Erleichterung.

„Ist ja gut Junge“, sagte der Alte. „Das ist nicht der Ort, um ein Wiedersehen zu feiern.“

Er löste meine Arme und nahm mich bei der Hand. Dann ging er ohne Hast mit mir davon. Hinter uns hörten wir den Ritter des Spinnentraums wie er sich durch den Haag kämpfte. Obwohl wir gingen, verklangen die Hiebe seines Schwertes auf dem Haag sehr schnell. Ich hatte auch das Gefühl mich viel schneller zu bewegen, als ich glaubte. Ich ging, aber als ich versuchte meine Umgebung zu erkennen, konnte ich kein klares Bild bekommen.

„Denk dir nichts dabei, schließ einfach die Augen“, sagte der Graue.

„Was tun wir jetzt?“ fragte ich und befolgte gleichzeitig den Rat des Grauen.

„Du hast eine Aufgabe, die erste von vielen, zu erfüllen“, orakelte der Graue.

„Was für eine Aufgabe?“ fragte ich.

„Schau Bevin, manche von uns leben einfach nur ihr Leben und bestimmen ihr Schicksal, beeinflußen sie den Lauf der Welt, so ist das Zufall. Andere wiederum werden geboren, um Dinge zu tun, die kein anderer tun kann. Egal, ob sie scheitern oder erfolgreich sind, ihre Taten verändern das Schicksal aller.“

„Und wozu bin ich geboren?“ fragte ich. Mir war irgendwie schwindelig. Ich ein zwölfjähriger Bauernsohn, der mit einem Scharlatan über die Dörfer gezogen war, sollte etwas Bedeutendes tun und vielleicht auch sein.

„Es kommt nicht darauf an, wo du geboren wurdest, sondern nur darauf, was in dir steckt ...“

Der Alte stockte mit seiner Erzählung. Er blieb stehen und ich öffnete die Augen.

Wir standen auf der Straße gut hundert Schritt von den Überresten der Karawane entfernt.

„Was soll das? Gegen die können wir nicht bestehen“, entfuhr es mir. Ich versuchte meine Hand aus der des Grauen zu lösen und ich wollte ihn ansehen, aber meine Hand lag nicht mit in der Hand des Grauen. Nein, der Pferdeknecht hielt meine Hand. Ich wollte mich losreißen, aber er hielt die Hand zu fest.

„Ich dachte, Du wärst klüger, Junge“, sagte der Pferdeknecht mit der Stimme des Grauen. „Hast Du nicht gemerkt, daß ich nur meine Gestalt gewandelt habe. In all den Jahren habe ich immer wieder nach dir gesehen, habe über deine Gesundheit gewacht. Höre auf dein Herz, Bevin, dann siehst du wer ich bin“, eindringlich redete er auf mich ein. „Gehe in dich und lausche deinem Herzen!“

Und ich lauschte in mich hinein. Ich sah den Grauen, den Pferdeknecht, ich sah ein scheues Kitz, das mit mir gespielt hatte, ich sah einen großen Wolf in der Ferne, eine Eule, eine alte wandernde Kräuterfrau und viele hundert Gestalten mehr und dahinter einen Mann. Er hatte eisgraues Haar wie der Geschichtenerzähler, aber seine Züge waren ungleich würdevoller, seine Augen waren von tiefem Blau, wie es nur die Farbe des Meeres sein konnte.

„Du bist der Agmar“, sagte ich. Und ich erinnerte mich an viele Geschichten, die der Graue über den Agmar erzählt hatte, der ein neues Volk gründete, daß sich dem Kampf gegen die finsteren Mächte verschworen hatte.

„Ich bin der Agmar, der erste der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr. Beinahe tausend Jahre habe ich auf dich gewartet, damit du das Paar ergänzt.

Ich bin dein Hüter und dein Lehrer und die Zeit der ersten Lektion, fällt in die Zeit der ersten Prüfung. Etwas Unvorhergesehenes geschah, wie immer wenn unterschiedliche Bestimmungen kollidieren.“

Ich hatte kaum die Hälfte von dem verstanden, was mir der Agmar zu sagen versuchte. Dennoch zerriß bei seinen Worten etwas in mir. Ich spürte etwas, doch war mir der Zugang dazu versperrt. Es war, als müßte ich eine dunkle Höhle greifen und ertasten was sich darin verbarg.

„Was muß ich tun?“ entfuhr es mir. Ich war entschlossen mich allem zu stellen. Der Agmar war mein Hüter und er war immer in meiner Nähe gewesen.

„Nur du kannst, den Zauber tun, der die Spinnenritter für kurze Zeit erneut bannt. Es gibt nichts mehr endgültiges. Exermon ist wieder zum Spielball der Mächte der Ebenen und der Mächte von Außen geworden. Und die Spinnenritter gehören zu diesem Spiel, aber es ist zu früh dafür. Deine Macht, das habe ich erkannt, kann den Beginn des Kampfes verzögern.“

Vor uns hatten die Spinnenritter die meisten der letzten Überlebenden zwischen zwei umgestürzten Fuhrwerken eingekesselt und bekämpften die sich verzweifelt wehrenden mit äußerster Härte. Vielleicht mochte es im Wald noch diesen oder jenen Verlorenen geben, aber diese wenigen konnte ich retten. Mir blieb nicht viel Zeit, wenn ich meine Lektion lernen und die Prüfung bestehen sollte, um die Spinnenritter zu bannen.

„Wie?“ fragte ich.

„Horche tief in dich hinein, lausche deinem Herzen, denn es ist rein. Das ist es - du bist das reine Herz. Höre auf dein Herz“, die Stimme des Grauen war fordernd und drängend. „Versuche nicht zu denken, tue was dir in den Sinn kommt.“

Ich spürte, daß der Agmar aufgeregt war, so aufgeregt wie lange nicht mehr. In diesen Augenblicken fiel eine Entscheidung.

Ich sammelte mich. Ich tauchte mit meinem Geist in mich hinein wie in einen tiefen See. Dann spürte ich etwas, rührte daran und erkannte, daß es das war was ich suchte. In mir baute sich eine Spannung auf. Ich hielt ihr stand solange ich konnte. Ich glaubte platzen zu müssen, aber noch war es nicht an der Zeit den Zauber freizulassen. Ich suchte nach mehr Kraft. Vor meinen Augen formte ich Bilder, wie die Ritter des Spinnentraums von Wirbel aus Licht aufgesaugt würden. Dann Bilder einer Höhle, die voll war von diesen Bestien (es mochten tausende sein), die meisten von ihnen erwachten gerade. Der Wirbel aus Licht tauchte in dieser Höhle auf und alle wurden erneut vom Schlaf übermannt. Aber ich spürte auch die Wahrheit in den Worten des Agmar. Meine Macht reichte nicht so weit, daß sie auf ewig schliefen. Es war eher ein Schlummer.

Dann ließ ich den Zauber frei. Ich brach zusammen und es wurde Nacht um mich.

 

***

 

„Wach auf“, die Stimme Thiams drang an mein Ohr. „Undankbarer Bengel!“

Es dauerte einen Moment, bis ich zu Verstand kam. Ich öffnete die Augen und sah in Thiams triumphierendes Gesicht.

„Was ist passiert?“ fragte ich.

„Während Du hier auf der Flucht aus Angst ohnmächtig zusammengebrochen bist, habe ich diese Unholde verjagt. Stell dir vor, Bevin, es gibt Magie und ich bin ein Magier. Ich kann Zaubern. Ich habe sie verjagt. Ich habe ein Wirbel aus Licht gerufen und sie verjagt.“

Ich muß ihn völlig verwirrt angesehen haben.

„Ich erzähle es dir später, Junge. Geh, such Merzad und bring ihn her.“

„Das habe ich schon getan“, ertönte die Stimme des Pferdeknechts, dem Merzad bereitwillig folgte, was ich ihm ein wenig neidete, denn wie oft hatte das Vieh versucht nach mir zu schnappen oder hatte sich sturer als ein Felsen gezeigt.

„Gut, ich gehe zu den Überlebenden Kaufleuten und werde meine Belohnung aushandeln“, begann Thiam. „Du Bevin schaust nach, ob nichts von meinen Habseligkeite fehlt. Damit meinte Thiam auch, daß er glaubte Kerlon, der Pferdeknecht habe einiges davon an sich gebracht, aber ich hatte gelernt Thiam nicht zu widersprechen.

Thiam rieb sich die Hände und ich glaubte, er hörte den Klang goldenen Münzen. Dies ließ ihn das erlebte vergessen. Nur sein Triumph zählte.

„Mache ich Meister“, sagte ich zu Thiam, aber er schien mich längst nicht mehr zu hören.

Der Meister eilte davon. Kerlon (oder besser der Agmar) trat an mich heran.

„Das war der mächtigste Zauber, den du allein wirken konntest. Nie wieder wirst du allein so mächtig sein. Doch solltest du die in dir ruhende Macht, dein Potential Zauber zu wirken erkunden, versuche seine Natur zu lernen. Und Du wirst im Kampf bestehen. Aber davon ein andermal mehr, wenn ich dir von deiner Gegenstück, dem Finsteren Herzen berichten werde.“

„Ja“, sagte ich gehorsam. Ich wußte, es war nicht an der Zeit mehr über meine Bestimmung zu erfahren. Jetzt galt es zu lernen, viel zu lernen.

„Und halte dein Herz rein, dies wird deine schwerste Prüfung sein, viel schwerer, als der Kampf gegen die Ritter des Spinnentraums.“

„Wie soll ich das machen?“ fragte ich.

Der Agmar sah mich ernst an. Wenn Du es schaffst, daß dich Gier, Neid, Mißgunst und Haß nicht zu überwinden vermögen, wenn kleine Lügen und Schwindeleien an deinem Gewissen rühren, wenn Du anderen stets hilfreich zur Seite und dich der Hochmut nicht übermannt, dann sollte es gelingen.“

„Das ist schwer“, sagte ich.

„Ja“, sagte der Agmar nur.

Wir schwiegen einen kurzen Moment. Ich würde mein bestes geben. Ich würde es schaffen, so schwer es auch sein würde.

„Wir werden jetzt wieder in unsere Rollen schlüpfen. Folge Thiam noch eine Weile. Und hilf ihm beim Zaubern,“, sagte Kerlon schmunzelnd“, „es wird eine gute Übung für dich sein. Wer weiß zu welchen Dummheiten dein Meister fähig sein wird.“

Ich sah ihn und nickte nur. Dann erwiderte ich sein Lächeln. Er nahm mich in den Arm und gemeinsam gingen wir auf die Reste des einst so stolzen Zuges der Kaufleute zu.

„Komm wir haben eine Karawane nach Asáthir zu bringen.“

 
Ende


 

Drochtersen, November/Dezember 1999

(überarbeitet im Oktober 2000 und im Januar 2001)


 

 

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