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Eine Schöpfung (Urfassung)

Magirian Wonder TaleEinleitende Bemerkung

"Eine Schöpfung" ist eher eine Enzy-Story denn eine Erzählung nach klassischem Muster. Sie funktioniert auch nicht nach den Mustern der Erzählung.

Im Grunde versuche ich hier die Kulturbeschreibung der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr von der sachlichen Form der Beschreibung in erzählte Geschichte zu überführen.

Man findet in "Eine Schöpfung" also eher Vignetten, Schlaglichter, wichtige Ereignisse aus Jahrtausenden, eingebettet in den Alltag des Agmar, des Ersten und Herren über die Sery'de.

Daher fehlt in dieser Geschichte auch ein klassischer Spannungsbogen, die überraschende Pointe oder ein Happy End.

Eher ist "Eine Schöpfung" die Grundlage für weitere anschließende Geschichten oder vertiefende Erzählungen angesprochener Ereignisse und Taten der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr und des Sery'dur. Kurzum: Es handelt sich um eine Einführung in die Kultur und Geschichte der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr.

Aus diesem Blickwinkel sollte "Eine Schöpfung" gelesen werden. Auf jeden Fall ist sie spannender als die Kulturbeschreibung für die Götter.

Die hier veröffentlichte Version ist nicht die umfangreichste und aktuellste, aber jene, die den Geist der Sery'de eigentlich am besten wiedergibt (wie ich rückblickend feststellen muß). In der letzten Version der Geschichte aus dem Jahr 2004 habe ich schon zuviel untergebracht und versucht, verschiedene Projekte anzudeuten. Das wurde in der Konsequenz einfach zu voll und nahm zuviel vorweg.

Diese Version stammt aus dem Jahre 2001, als die Sery'de von E'sch T'hut Wiyr im Rahmen des (letztlich nicht zustande gekommenen) Comebacks des Zauberspiegel (als Print-Fanzine) von Magira auf die Welt des Manonreiters und der Tochter der Flamme Exermon (eine Schöpfung von Petra Köhpcke. Norbert Aichele und mir) wechseln sollte.

Auf dieser Welt spielt auch die Geschichte "Ein reines Herz" (veröffentlicht im Rahmen der Anthologie "Das Vermächtnis des Rings", Bergisch Gladbach 2001), wo auch der Agmar der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr einen Auftritt hatte.

 

Hollern-Twielenfleth, August 2006
Horst von Allwörden

 

Eine SchöpfungEine Schöpfung

von

Horst von Allwörden

 

 

1. Prolog

Ich war gerade dabei, mir eine schöne Schale Kräutertee zuzubereiten, als es heftig an meine Tür klopfte. Ich kannte dieses Pochen nur allzu genau. Es war Kayla und im gleichen Moment als ich sie erkannte und auch ihre Gegenwart spürte, klang auch schon ihre Stimme durch die Tür zu meiner Höhle.

„Agmar! Ich muss dich dringend sprechen!“

Seufzend goss ich das heiße Wasser auf den Tee und öffnete die Tür aus massiven Bohlen mit einem flüchtigen Gedanken. Ohne zu knarren schwang die Tür nach innen auf und Kayla stürmte herein, als würde E'sch T'hut Wiyr belagert werden. Ihr Gesicht zeigte einen bestürzenden Ernst, als wäre die Erzfeindin zurückgekehrt.

„Was gibt es denn, Elhera Kayla?“ fragte ich förmlich, was sie nicht mochte.

„Es ist das große Buch der Schöpfung“, sagte sie aufgebracht. „Es sind alle Bücher. Hast du sie gelesen, Agmar?“

„Ich war der Erste“, entgegnete ich und schmunzelte: „Ich war bei einigen der Geschehnisse dabei.“ Aber Kayla stand der Sinn nicht nach launigen Bemerkungen, wie mir ihre Miene und ihre Antwort sogleich zeigten.

„Das weiß ich. Das wissen wir alle. Aber hast du sie wirklich gelesen? Ach was, komm mit, dann zeige ich dir, was ich meine.“

Mir blieb keine Wahl und so wurde ich von Kayla in den Saal der Bücher, dem Archiv unseres Volkes, der Tscherwak, Ce’vey und Kel’mey geschleppt. Hier waren alle Erlebnisse jedes Einzelnen fein säuberlich niedergeschrieben, dazu all unser Wissen, all unsere Weisheit und all unsere Geheimnisse.

„Lies es selbst!“

Ich wusste, sie würde nicht eher Ruhe geben, bis ich es getan hatte, und so öffnete ich das Buch der Schöpfung, welches auch das Hohe Buch genannt wurde.

 

Zum Ersten

Ein Gedanke, gedacht und der Flüchtigkeit des Augenblicks preisgegeben, bereit, vergessen zu werden, fiel in den Raum ohne Zeit, der zwischen den Welten liegt, ja, der selbst den Göttern trotzt und ihnen den Zugang verwehrt.

Die Idee gewann Gestalt, dachte Gedanken und wuchs, gewann an Fülle. Weitere Gedanken verirrten sich in diesen Raum ohne Zeit und wie der Angler den Fisch fängt, so fing die Gestalt diese Ideen ein und vereinigte sich mit ihnen.

Aber alles war ohne Ziel. ES war einfach nur eine Sammlung von Gedanken, die aus sich selbst heraus wuchsen. Ein Chaos aus Vorstellungen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Trotz der Fülle war ES aber hohl und leer.

Etwas fehlte, etwas, dass allem, was dieses ES ausmachte, eine Form, einen Halt gab. Es fehlte ein einziger Gedanke. Und letztlich dachte ES diesen Gedanken.

ICH ...

Als ES diesen Gedanken dachte, zog sich der Zeitlose Raum zusammen, als sei er von Krämpfen geschüttelt und spie das, was-nicht-mehr-ES-sondern-ICH war aus; spie es in die Zeit und in die Räume, in der es Zeit gab. Aus Gedanken war Geist geworden und dieser musste das Zeitlose verlassen, denn Geist braucht Zeit, widerspricht Zeitlosigkeit. ES war ein Teil des Zeitlosen, ICH war eine Krankheit, so wie der zeitlose Raum schon viele Krankheiten gehabt hatte und auch noch haben würde.

ICH ...

Durch viele Welten und Universen wurde der in die Zeit gespieene Geist geschleudert und wie ein Schwamm sog ICH alle Gedanken, gute wie böse, sinnvolle und sinnlose, wichtige und unwichtige, auf.

ICH wuchs durch die Wucht dessen, was Wesen aller Art dachten. Und dann kam er zu der Frage ‚Gut oder Böse’. ICH erkannte, dass dies zwei Prinzipien waren, aber auch, dass in jedem der beiden Prinzipien Unterschiede lagen. ICH kam zu dem Schluß gut zu sein. Ich ordnete seine Prinzipien und wurde ...

... Éradumahl

Éradumahl, alles in einem, wollte er heißen: das ICH, das alles in sich vereinte und dann eine Wahl traf, so dass er sich für das Prinzip des Guten, die Vorstellung vom Licht und der Ordnung entschieden hatte.

 

Zwischenspiel

Ich hörte auf zu lesen und warf einen Blick auf Kayla, die mir erwartungsvoll zugesehen hatte.

„Und ...?“, fragte sie. „Beginnst du zu erkennen, was ich meine?“

Sie blickte mich durchdringend an, als sollte ich jetzt aufspringen und ihr zustimmen, aber ich erwiderte nur ihren Blick.

„Begreifst du denn nicht?“, fragte sie herausfordernd. „Siehst du es denn nicht?“

„Was sollte ich wohl sehen,“ fragte ich nachsichtig, „das mir nicht bekannt wäre? Du weißt doch, ich war der Erste und Éradumahl zeigte mir alles, als wäre ich selbst dabei gewesen.“

Kayla zuckte hilflos mit den Schultern, ihre Augen blitzten und verengten sich dann ob der Ignoranz, die ich ihr nur allzu offensichtlich entgegenbrachte. Offensichtlich überlegte sie, ob ich bösartig oder nur dumm war, weil ich ihren Gedanken nicht folgte oder folgen wollte.

Ich senkte den Blick und las weiter, um sie nicht noch mehr zu provozieren. Mir war bewusst, worauf sie hinauswollte, aber noch war nicht die Zeit, ihr die Augen zu öffnen.

 

Zum Zweiten

Éradumahl gelangte über eine Welt des Chaos und sah ein Volk mit wimpernlosen Augen und sechsfingrigen Händen, das bemüht war, das Chaos zu erhalten, um Kraft daraus zu schöpfen.

Éradumahl erkannte in einigen von ihnen einen Kern, der seinem erwählten Prinzip zugetan, jedoch tief verschüttet war. Diesen Kern galt es zu wecken.

Éradumahl fand Einen, in dem das Licht, das Prinzip der Ordnung, stark war, obgleich der Eine sich dessen nicht bewusst war. Er stand an einem Rosenstrauch, den er sinnend ob Träumen der Macht betrachtete. Das Wesen sah jedoch an der Schönheit der Blüten vorbei.

Er beobachtete statt dessen, wie träumend, eine Spinne, die eine Fliege in ihrem Netz einspann, um sie anschließend in ihr Vorratslager zu schaffen. Der Mann bewunderte die Macht der Spinne.

Aber er war mächtiger. Seine Hand konnte den achtbeinigen Räuber zerdrücken.

Doch Èradumahl ließ den Sechsfingrigen seinen Plan nicht mehr in die Tat umsetzen. Das ICH öffnete dem Mann seinen Geist und überflutete ihn mit all seinen Gedanken.

Éradumahl forderte ihn auf, die Wahl zu treffen, nachdem der Mann Tage, Wochen und Monate dem Aufprall der Gedanken des ICHs ausgesetzt war.

Und das Wesen mit den sechsfingrigen Händen wählte.

Er sagte Éradumahl, dass er seine Wahl getroffen habe; er sagte, das Prinzip des Lichts und der Schönheit sei etwas, dass ihn reize. Er sei ein Wanderer zum Licht. Er sei fortan Rurerrunhor, der Erste, was hieß der Agmar.

Nicht nur das Innere des Ersten wandelte sich, auch seine äußere Erscheinung veränderte sich. Es war, als habe sich aus einer hässlichen Raupe ein wunderschöner Schmetterling entpuppt.

Noch eines bemerkte der Agmar: er konnte seine Gestalt wandeln. Rurerrunhor konnte die Gestalt jedes toten Gegenstandes und aller lebenden Wesen annehmen.

 

Zwischenspiel

„Osore hat viel klangvollere Worte gefunden, als sie über Éradumahl und die Schöpfung nachdachte“, schnaufte Kayla und hob eine Schriftrolle. „Höre:

 

Nur einen fand er,
im Verborgenen Licht erfüllt
der Rosen Schönheit sehend,
doch nicht erkennend,
die eig’ne Macht zu halten
und zu stärken
allein er sann

Im Chaos, die Wahl frei zu treffen
erschüttert des Einen Ansturms erlegen
So ...“

 

Mit einer Geste unterbrach ich Kayla: „Ich kenne Osores Dichtungen. Ihre kraftvollen Worte und wunderbaren Deutungen rühren mein Herz. Ich werde ihr nie verwehren, unsere Geschichte und unsere Weisheit in wohlklingende Verse voller Schönheit zu schmieden, um uns lange Abende mit wohlklingender Rezitation zu vertreiben. Das wäre, als knickte ich den Stiel einer voll erblühten Rose.“

Ich beugte mich wieder über das Hohe Buch und las weiter und ignorierte dabei Kaylas beinahe wütenden Blick, weil ich mich so offensichtlich weigerte, zu erkennen worauf sie hinaus wollte.

Aber ich gedachte, sie noch eine Weile hinzuhalten, denn allmählich begann mich dieses Spiel zu amüsieren und ich erwog, Kayla eine Lektion zu erteilen, welches ich bisher verabsäumt hatte, die sie aber offensichtlich benötigte.

Ich beugte mich tiefer hinunter, um mein Schmunzeln zu verbergen. Schließlich wollte ich ihren Zorn nicht über Gebühr erregen.

 

Zum Dritten

Éradumahl bestimmte, dass der Erste, Rurerrunhor, nun diejenigen suchte und fand, die auch den Kern des Lichts in sich trugen und sie um sich scharte, auf dass sie Wissen und Weisheit sammeln sollten.

Wissen und Weisheit sollte denen, die dem Ersten noch folgen mochten, einstmals zugänglich gemacht werden, wenn diese Welt eine bessere und friedlichere geworden war. Wenn Mensch, Tier und Pflanze miteinander in Frieden lebten und jeder alles gab, was er zu geben vermochte.

Und er gab dem Ersten die Prinzipien mit auf den vor ihm liegenden langen und harten Weg, die da lauten:

 

Tu was du willst - und schade niemanden.
Hilf!
Lehre und Leite!
Weisheit und Wissen für eine bessere Welt
Streite wider das Böse
Bringe das Gute
Suche das Gute in Jedem

 

Rurerrunhor war erfüllt von allem, was ihm Éradumahl gezeigt hatte. Er teilte alles mit ihm, auch wenn sich dem Ersten noch nicht alles erschlossen hatte und er nicht alles verstand.

Der Agmar wusste nicht, wie er all das erklären sollte. Seine Worte würden nicht ausreichen, anderen seine Erfahrung zu vermitteln.

Rurerrunhors Zweifel blieben Éradumahl nicht verborgen. Und so zeigte das Wesen, das Alles-in-Einem war, dem Agmar, wie er andere teilhaben lassen konnte. Der Gott wies seinem Ersten den Weg, wie er sie vor die Wahl stellen konnte, die Rurerrunhor bereits getroffen hatte.

Dann aber verließ Éradumahl Rurerrunhor, der alles erhalten hatte, um das Volk zu gründen und es zu leiten, auf dass es seine Aufgabe erfülle. Éradumahl würde sie beobachten, ihnen aber niemals zu Hilfe kommen. Der Agmar empfing die Botschaft, dass das Licht stark genug sein musste, um sich durchzusetzen oder sie würden untergehen.

Der Agmar aber machte sich auf die Suche, um jene zu finden, die den Keim des Lichten in sich trugen, die der Finsternis und dem Chaos entsagen wollten.

Sein Blick reichte tief in das Unsterbliche des sechsfingrigen Volkes, das nach Macht hungerte. Und er erkannte gemäß Éradumahls Willen jene, deren Leiber erfüllt waren mit Licht.

Die anderen ließen ihn, ob des Chaos’ in ihrem Innern erschauern. Rurerrunhor erkannte immer mehr, auf dem falschen Weg gewesen zu sein, je öfter er in die Herzen der Sar’e’dan blickte.

Der Agmar öffnete seinen Geist und ließ jeden, den er auswählte, an dem teilhaben, was Éradumahl ihm eröffnet hatte und jedweder konnte seine eigene Wahl treffen.

Die meisten von ihnen trafen die gleiche Wahl, die auch der Agmar getroffen hatte. Jedweder von ihnen wurde ein Wanderer zum Licht, legte seine alte Persönlichkeit ab und wandelte ebenfalls sein Äußeres.

Einige wenige zögerten und zagten, jedoch trafen die meisten von ihnen die Wahl und folgten dem Weg ins Licht.

Und so ward Éradumahls Volk, die Wanderer zum Licht, geboren durch freie Entscheidung, ganz nach dem Willen des Einen, der da war Éradumahl, das ICH, welches alles in sich vereinte.

 

1. Epilog

„Warum ist das alles so primitiv?“ fragte mich Kayla, als ich mich von den Seiten löste, die ich gelesen hatte, und mich wieder aufrichtete.

Die Erinnerungen an die Begegnung mit Éradumahl drohten, mich zu übermannen, aber es gelang mir, sie zu verdrängen, um mich nicht in der Vergangenheit und der Einmaligkeit dieses Erlebnisses zu verlieren, sondern mich dem Hier und Jetzt und Kayla zuzuwenden, die einer Antwort harrte.

„Ich verstehe nicht?“, sagte ich.

„Du hast uns teilhaben lassen an den Erinnerungen Éradumahls. Und noch heute erfüllt es mich mit Schaudern, ihm so nahe gewesen zu sein. All das, was ich hier lese, ist nur ein schwacher Abglanz dessen, was uns Éradumahl eröffnet hat.

„Kayla“, entgegnete ich, „du solltest es besser wissen.“ Ich lächelte nachsichtig. Manchmal erkannten sie alle das Offensichtliche nicht. Zuviel Weisheit schadet manchmal mehr, als sie nützt. „Was wir erlebt haben“, fuhr ich fort, „war ein Geschenk Éradumahls an uns, die wir sein Volk werden sollten. Wir haben es nicht mit Worten erlebt, sondern er hat unsere Geister an seiner Schöpfung teilhaben lassen. Das kann man nicht in Worte, gleich welcher Sprache, kleiden.“

„Aber trotzdem, auch in den Sprachen der Menschen kann man all das schöner, umfassender und angemessener schreiben“, wandte Kayla ein. „Man sollte es in einer der Bedeutung angemessenen Sprache neu fassen.“

„Aber es sind die Worte, die Éradumahl gewählt hat. Er hat diejenigen ausgesucht, die dies niedergeschrieben haben, auf dass es in den Schriften der Sery'de stehen möge. Das war die Zeit der Propheten, erinnere dich, wie lange wir brauchten, sie zu finden, nachdem wir die letzte Zuflucht entdeckt hatten und den Saal der Bücher errichteten. Und selbst dann, wenn die Taten eines jeden Sery'de in Caria’de wie von Geisterhand im Saal der Bücher aufgezeichnet werden und die Saskarien, die Taten des Sery’dur, uns vom Samaska übergeben werden, ist der Ausdruck so, wie es Éradumahl bestimmt hat. Glaube mir, ER hat seine Wahl getroffen und ich weiß, er hat es wohl getan.“

„Warum?“

„Es ist so einfach, dass du es eigentlich selbst sehen müsstest oder erweist sich deine Weisheit bar der Klugheit?“

Ich ließ diese, meine wichtigste Elhera, Stütze meiner Pläne, Sonnenschein der Höhlen, Rose unter den Sery'de nicht zu Wort kommen, um nicht ein paar wütende Worte auf mich niedergehen zu lassen. Denn war ihr Körper durch Éradumahl zu wahrer Schönheit herangereift, wie die Blüte der Blume, welche uns heilig ist, so hatte ER ihrem Geist einige Dornen verliehen.

„Sieh her, einst soll dieses ganze Archiv, das wir hier in Höhlen sammeln, den Menschen offen stehen, und sie sollen alles in Worten lesen, die alle und jeder begreifen können.

Hast du jemals eine der Schriften menschlicher Philosophen gelesen? Sie sind erschreckend unverständlich. All die schönen, wichtigen Gedanken werden hinter abstrakten Wortschöpfungen und Satzungetümen verborgen, die den Sinn verschleiern. Ich las einmal eine Schrift von einem wichtigen Philosophen aus der berühmten Halle der Sänger, des Mevillian, Hort der Musik und des Wissens am Tarendath auf Hliarmer. Er verbrauchte Unmengen Pergament für etwas, dass er in zwei kurzen Sätzen hätte niederschreiben können. Das ist aber nicht das Ziel Éradumahls und damit auch nicht das unsrige.“

„Ich verstehe“, sagte Kayla und sie klang tatsächlich ein wenig beschämt.

„Gut“, antwortete ich, „und ich dachte schon, es war ein Fehler, dich in den Rat der Elheri zu berufen“.

Kaylas Augen blitzten, als sie mein Lächeln sah.

Mein Wasser begann zu kochen und ich lud sie zur Besänftigung auf eine Tasse Tee ein, der ja beruhigen soll. Und genau das brauchte sie ...

 

2. Prolog

Ich saß auf einer Bank im Verheissenen Garten und blickte auf die Pracht der Blüten, die in allen Farben leuchteten. Die Begegnung mit Kayla hatte mich nicht losgelassen.

Ich sah einen Fehler, den es zu korrigieren galt. Gerade in der Einfachheit und Schlichtheit der Sprache all unseres Wissens lag sein Geheimnis. Sollten die Menschen einst dafür reif sein, würde jeder, vom Geringsten bis hinauf zum Höchsten, vom Unverständigsten bis hin zum Klügsten unter ihnen, es verstehen können.

Und ich hatte es allzu offensichtlich versäumt, diesen Gedanken in meinem Volk zu säen. Wir waren anders als die Menschen, aber wir, die ihnen helfen sollten, durften uns nicht selbst erhöhen, denn dann waren wir auf dem Weg zurück zur Finsternis, auf den Weg zurück in eine Existenz, die wir abgeschüttelt hatten.

Ich hatte nichts dagegen, wenn jemand unsere Geschichte und unser Wissen zu unserer und seinem Vergnügen in Verse schmiedete oder in einer gewählteren Sprache fasste, wie Osore Izai dies tat, aber den Willen Éradumahls musste ich ihnen vermitteln.

ER, der alles in allem war, hatte Schlichtheit, Bescheidenheit und Demut gewünscht, was die anderen dieser Welt betraf, denn wir waren nur Diener.

Unwillkürlich schweiften meine Gedanken zu den Sery’de-sery’, die in ihren Höhlen schliefen und weder die Pracht des Unterirdischen wahrnahmen, noch die Schönheit des Gartens, der uns allen Ruhe und Kraft gab.

Den ganzen Vormittag hatte ich hier verbracht und meine Arbeit getan. Es machte mir Spaß, von Zeit zu Zeit hier zu sein und nicht mit Magie, sondern mit den Händen etwas zu schaffen.

Nun, da die Sonne im Zenit über mir stand, hatte ich Muße für eine Pause und ich trank einen Schluck Wein und aß Käse und Brot.

Ich hörte das Plappern der anderen, die sich in einer anderen Ecke des Gartens ergingen und ihre Mahlzeit verzehrten.

Ich dachte an Somnolar, der einst das Wort derer führte, die den Dingen ihren Lauf lassen wollten, der schon immer andere Ideen hatte. Aber gerade das hatte mich oft beflügelt und mir den Weg gewiesen, den wir zu gehen hatten.

Ich dachte an unsere Auseinandersetzungen und Wortgefechte, nachdem wir E'sch T'hut Wiyr endlich gefunden hatten und eine wehrhafte Heimstatt gegen die Sare’o’dan errichteten.

Er war ein so tapferer und guter Kamerad, aber ohne jeden Glauben daran, dass die Aufgabe, die ich uns im Namen Éradumahls gestellt hatte, erfüllbar wäre.

Auch ich hatte Zeiten des Zweifels, des zagenden Herzens und der Niedergeschlagenheit erlebt, wo es mich beinahe unwiderstehlich in meine Höhle zog, um dort die Jahrtausende zu verschlafen. Doch ich wusste: es war nicht unmöglich, die Aufgabe zu erfüllen; es war nur ungemein schwierig, aber jedwede Aufgabe, deren Erfüllung eine große Befriedigung brachte, war schwierig.

Somnolar, der Menarh'kin. Somnolar, der Wortführer. Somnolar, der hitzige Redner. Somnolar, der Mann der radikalen Lösungen. Und doch, ich hatte gehofft ihn, gerade ihn für unseren Kampf zu gewinnen, denn er ist Inspiration und Widerpart, etwas, das ich nun in Imandra wieder zu entdecken hoffte.

Meine Gedanken schweiften zum Hohen Buch. Was war darin über die ersten Jahre zu lesen, nachdem mich Éradumahl vor die Wahl gestellt hatte? Und die Worte kamen zu mir.

 

Zum Vierten

Sie waren Wanderer zum Licht. Sie liebten die Ordnung, sie verehrten die Schönheit. Die Sare’o’dan, jenes Volk, aus dem sie hervorgegangen waren, verachteten und hassten sie dafür. Diese brauchten das Chaos, sie liebten die Macht, sie sahen keine Schönheit in der Natur; nur sie selbst und die Dinge, die sie erbauten, galten ihnen als schön und es wert, beachtet zu werden. Die Wanderer zum Licht erkannten sich am Duft ihrer Seele, die da roch wie Rosen und die nur sie wahrnehmen konnten, bis sich erwies, dass dem nicht so war.

Ein halbes Tausend an Zahl waren sie, die dem Licht folgen. Und doch, ihr Sanftmut, ihr Sinn für Schönheit und Ordnung verärgerte die Sechsfingrigen. Und sie begannen, die Wanderer zu jagen und zu hetzen, wo sie ihrer ansichtig wurden.

Die Wanderer zum Licht entdeckten, dass ihnen die Fähigkeit fehlte, Zauber zu weben, die jedwedem Lebewesen direkten Schaden zufügten. Und doch waren ihre Fähigkeiten, sich der Magie zu bedienen, vielfältig. Sie konnten Schutzwälle aus der Kraft ihrer Gedanken errichten, sie konnten heilen und ihre Gestalt wechseln, aber der Kampf mittels des Übersinnlichen war ihnen verwehrt.

Diejenigen, die es versuchten, wurden zu Idioten, die nur noch dahinvegetierten, oder ihre Körper deformierten sich zu obszönen Karikaturen ihrer selbst und sie verloren die Fähigkeit, ihre Gestalt zu wandeln. Ihre Heilung war unmöglich. Der Agmar hieß sie die Kesver'de.

Die Kesver'de wurden mitgenommen und bei Gefahr und bei Reisen im Meer oder in der Luft in Blasen aus reiner Kraft geschützt, auf dass sie keinen weiteren Schaden nahmen. Manchmal glaubte der Agmar, es wäre ein Akt der Barmherzigkeit, ihrer Existenz mit der Klinge ein Ende zu setzen, aber er gab die Hoffnung nicht auf, ihnen helfen und sie heilen zu können.

Wenn sie doch nur einen sicheren Hafen fänden, in den sie sich zurückziehen könnten. Aber wohin sie sich auch wandten, es schien keinen Schutz für sie zu geben.

Sie flohen über die ganze Welt, nahmen die Gestalt von Vögeln, Fischen und allem möglichen Getier an, aber ihren Jägern, den Sare’o’dan, gelang es wieder, sie zu finden, sie aufzuspüren und zu hetzen wie ein Stück Wild.

Dann wurden die Wanderer zum Licht an einer Steilküste von einer größeren Horde ihrer Häscher gestellt und ein großer Kampf entbrannte.

Die Wanderer hielten den Sare’o’dan zehn lange Tage stand, obwohl die Feinde drei zu eins überlegen waren und mit ihrer ganzen Macht angriffen. Immer wieder wurden neue Finten ersonnen und neue Wälle aus reiner Magie errichtet. Auch mit dem Schwert in der Hand stellten sie sich den Sare’o’dan entgegen und schlugen sie zurück.

Dann aber erlahmten ihre Kräfte zusehends. Weitere waren gefallen und es waren nur noch dreihundert von ihnen übrig.

Der Agmar wusste sich in verzweifelter Lage. Was konnte ihnen noch helfen? Éradumahl würde nicht erscheinen. Er hatte ihnen alles gegeben, was sie zum Überleben brauchten. Reichte das nicht, so wüssten sie seine Gaben nicht zu nutzen. Und er selbst am allerwenigsten.

Da trat Somnolar vor. Er bot sich und eine Gruppe anderer an, die sich selbst opfern wollten. Sie würden Schadenszauber über ihre Feinde werfen, um den Übrigen die Flucht zu ermöglichen.

Der Agmar lehnte ab. Ein derartiges Opfer wäre nicht angemessen, wenn es nur dazu dienen sollte, ihnen einen weiteren Aufschub bis zur nächsten Schlacht zu gewähren. Es würde einer großen List bedürfen, einer letzten Anstrengung, um zu entkommen, aber wohin?

Die ständige Flucht und der ewige Kampf hatten sie alle zermürbt. Sie brauchten eine dauerhafte Zuflucht, eine, von der aus das Licht in die Welt gebracht werden konnte.

Somnolar drängte auf das Opfer der wenigen, um viele zu retten, denn wenn sie an dieser Küste verharrten, war es alsbald für alle zu Ende.

Der Agmar erbat sich Zeit bis zum Sonnenuntergang, um darüber zu meditieren. Nur unwillig gab der zum größten Opfer bereite Somnolar nach.

 

Zwischenspiel

„Ho, Agmar?“ Die junge Stimme erreichte mich in meinen tiefsten Gedanken. Es war Cavin, der Junge, den Kayla aus der Vergangenheit mitgebracht hatte und der in unserer Obhut aufwuchs. Obwohl er ein Sare’o’dan war, war er noch nicht erleuchtet worden.

Aber war das wirklich nötig? Konnte der Junge, ebenso wie Charis, die ich munter mit Laurentyus plaudern sah, den Weg zum Licht nicht allein finden? War das Böse, die Finsternis, wirklich vom Augenblick der Geburt an in den Sare’o’dan?

Cavin und Charis würden es zeigen. Ich hatte insbesondere die eifrige Osore Izai mehrfach zurückweisen müssen, welche mich bedrängt hatte, die beiden mit Éradumahls Gedanken zu überfluten, sie schon jetzt vor die Wahl zu stellen.

Oft ertappte ich mich dabei, wie ich in die beiden Kinder hinein zu lauschen versuchte, ob sich bereits die eine oder andere Richtung herauskristallisierte. Aber noch waren es nur Kinder, die manchmal fordernd, manchmal boshaft waren, manchmal die Geduld strapazierten und manchmal einfach nur unglaublich lieb sein konnten.

Sie waren fast wie die Menschenkinder, könnte man in ihnen nicht die Anlagen für mächtige Zauber und zerstörerische Magie spüren. Aber gehörte auch der absolute Wille zu Macht und Herrschaft dazu, der allen Sare’o’dan zu eigen war?

Konnte es wirklich sein, dass ein Sare’o’dan auch ohne den überwältigenden Ansturm von Éradumahls Gedanken, als Gegengewicht zum eigenen Inneren, den Weg zum Licht finden konnte? Hatte ich einen Fehler gemacht, indem ich nur Erwachsene suchte, welche die Wahl treffen sollten? Vielleicht zeigte Kaylas und Imandras Zeitreise einen völlig neuen Weg für die Sery'de und auch die Sare’o’dan, um vielleicht zum Besten dieser Welt zusammenzuleben und zu arbeiten.

Oder in eine andere Richtung gedacht: War das nicht eine Möglichkeit? Konnten Charis und Cavin die Ersten eines neuen Geschlechtes von Kämpfern für das Gute sein? Die Fähigkeiten des Muttervolkes, gepaart mit dem Sanftmut der Sery'de? Nein, es war zu früh daran zu denken. Und war es überhaupt recht, daran zu denken? Mussten wir dazu nicht die Kinder ihren Müttern entreißen? War das der Sery'de würdig, selbst wenn die Mütter aus ihren  Kindern ansonsten machtgierige Monstren schufen?

Viele Fragen drängten in kürzester Zeit auf mich ein und vielleicht würde es Äonen dauern, Antworten zu finden. Doch Cavin und Charis trugen einen Teil der Antwort in sich und ich hoffte, dass sich diesmal alles zum Guten wandte.

„Agmar“, wiederholte der Junge seine Ansprache. Mein Name war ihm noch zu kompliziert.

„Was gibt es denn, Cavin?“ fragte ich und wusste im selben Moment, dass es eine dumme Frage war. Er hielt mir einen hölzernen Wagen hin, von dem sich ein Rad aus dem Dübel gelöst hatte. Kayla hatte ihn gebastelt. Sie war ungeheuer geschickt mit Werkzeugen, nie schuf sie einen Gegenstand oder ein Spielzeug nur mit der Kraft ihres Geistes. Sie sagte immer, dass man sich auf beides, Hand und Geist verlassen können müsse.

Ich nahm ihm den Wagen ab und drückte das Rad wieder auf die Achse. Der Junge schenkte mir ein strahlendes Lachen, dann nahm er seine Spielzeug in seine sechsfingrigen Hände und lief wieder zu Charis hinüber.

Ich wusste, einige von uns fürchteten insgeheim diese beiden Kinder aus der Vergangenheit. Selbst ich hatte manchmal das Gefühl, ich müsse sie überwachen, aber konnte man das den Sery'de verdenken?

 

Zum Fünften

Der Agmar versetzte sich in ein Reich zwischen Tod und Traum. Sein Herz schlug kaum noch, sein Atem schien einzuschlafen. Er nutzte das Mächtigste, was ihm gegeben war. In ihm ruhte ein Teil Éradumahls, dessen Natur er bisher nur genutzt, aber doch nie begriffen hatte.

Es war nicht der, der selbst Alles-in-Einem war, sondern ein Teil des Gottes ohne Bewusstsein, ein Werkzeug.

Der Agmar tauchte in sich selbst hinab. Ihm wurde schwindelig wie ein Perlentaucher, der zu tief hinabstieg, um eine besonders große Muschel zu finden. Aber er gab nicht auf.

Tiefer und immer tiefer gelangte er. Rurerrunhor sah Teile seines Inneren, die er überwunden geglaubt hatte und es entsetzte ihn, dass sie noch immer existierten. Da erkannte der Agmar, dass er die Wahl jeden Tag von Neuem zu treffen hatte und die Prüfung nie aufhören würde.

Er spürte, dass er seinem Ziel näher und näher kam. Er spürte SEINE Gegenwart, seine Nähe, aber nicht sein ICH. Rurerrunhor hatte gefunden, was er gesucht hatte.

Nun galt es, einen Weg zu finden, sich diesen Teil eines Gottes nutzbar zu machen.

Der Agmar sammelte sich. Noch nie zuvor hatte er versucht, was er jetzt tat, aber er drang in Éradumahls Gabe ein, und verwob seinen Geist mit dem Geschenk seines Gottes, um endlich eine Zuflucht für sein Volk zu finden. Rurerrunhor hatte das Gefühl, dass ihm die Gabe erst dann erlaubte, sich mit ihr zu verweben, nachdem er seine Aufgabe klar vor sich gesehen hatte.

Dann verließ Rurerrunhors Geist seinen Körper. Nur beiläufig nahm er das Schlachtfeld und den verzweifelten Kampf seines Volkes wahr.

Für einen Lidschlag drohte ihn diese Auseinandersetzung in ihren Bann zu schlagen, drohte ihn der Wunsch zu übermannen, mit seiner neu gewonnen Kraft in die Schlacht einzugreifen, aber das war nicht das Ziel der Verbindung gewesen und der Geist des Agmars drohte im Nichts zu vergehen. Innerlich verhärtete sich der Wille des Agmars, damit ihm der Kampf seines Volkes nicht zu nahe ging und er im Überschwang des Zorns das Falsche tat.

Dann schwang sich der Geist des Agmars auf, und er konnte mit einem Blick die ganze Welt erfassen; nie zuvor hatte er ähnliches erlebt und er war sich nicht sicher, ob er Ähnliches noch einmal würde vollbringen können oder wollen.

Mit neuen Sinnen, deren Natur er nicht erkannte, erforschte er die Welt, drang in deren tiefsten Tiefen ein und stieg zu ihren höchsten Höhen empor. Fast hätte ihn seine Begeisterung fort ins Universum gerissen, aber im letzten Moment erinnerte er sich seiner Aufgabe und kehrte auf die Welt zurück. Dort ließ er alle seine Sinne über die Meere schweifen und schließlich und endlich fand er es, die letzte Zuflucht, E'sch T'hut Wiyr in seiner Zunge.

Mühsam und voller Qualen kehrte er zurück in seinen Körper und löste seinen Geist von der Gabe Éradumahls. Dann tauchte er aus den Tiefen seines Geistes auf, zurück in seine Welt und ein gewaltiges Bedauern erfasste ihn, welches er mit aller Macht abschütteln musste.

Als er die Augen aufschlug, umstand ihn, bis auf wenige Ausnahmen, sein Volk.

Die Sare’o’dan hatten ihre Angriffe eingestellt. Sie sammelten sich für den letzten gewaltigen Sturm. Neue Schiffe waren gekommen, auf ihnen mehr Krieger und Magier. Die wenigen Späher der Wanderer zum Licht hielten Ausschau.

Der Agmar versuchte alle zu überzeugen, dass es nur noch einer letzten gewaltigen Anstrengung bedurfte, um zu entkommen und E'sch T'hut Wiyr zu erreichen.

Wortgewaltig wandte sich Somnolar gegen den Agmar. Woher wisse er denn, auch wenn er der Erste wäre, dass es eine sichere Zuflucht sei? Er redete mit Engelszungen und versuchte die Wanderer zum Licht von einem neuen Plan zu überzeugen, der ihnen Freiheit oder einen Untergang in Ehre bringen würde.

Einige würden sich hier opfern, und die anderen würden mit vereinter Kraft einen Kontinent versenken. Imcwyar, Heimat der Sechsfingrigen, sollte in den Fluten versinken. Hätten sie dies geschafft, winke ihnen die Freiheit. Gelänge es ihnen nicht, würden sie alle für die Freiheit der Welt fallen.

Der Agmar sah einen letzten Ausweg, um den Weg in den Untergang zu verhindern. Als sich immer mehr Somnolar anzuschließen drohten, öffnete er seinen Geist, wie er es getan hatte, als er sie alle vor die Wahl stellte.

Er zeichnete ein anderes Bild der Zukunft. Und er zeigte ihnen, dass es nicht der Wille Éradumahls sein konnte, einen ganzen Kontinent zu versenken und neben den Sare’o’dan unzählige andere zu töten. Der Agmar konnte sie schließlich überzeugen.

Und so folgten alle dem Plan des Agmars. Sie vereinten sich und mit den letzten Kräften schufen sie einen gewaltigen Schutzschild und starke Trugbilder.

Dann wandten sie sich dem Meer zu, sprangen von der Klippe in die Tiefe und bald darauf zog ein Schwarm Makrelen, gefolgt von seltsamen Luftblasen, in denen Gestalten zu schweben schienen, durch das Meer, der letzten Zuflucht entgegen.

 

Zwischenspiel

Ich erinnerte mich gut des Augenblicks, in dem ich mich mit der Göttlichkeit Éradumahls in mir verwob. Ich konnte alles mit unzähligen Sinnen durchdringen. Mir ist immer noch nicht klar, wie und was ich alles sah, fühlte und wahrnahm. Ich nahm die Welt und jede Einzelheit auf ihr zugleich wahr und für einen Atemzug verstand ich den Sinn des Lebens und der Welten.

Leider war dieses Verständnis nicht von Dauer, denn es bedurfte all dieser zusätzlichen Sinne, um umfassend das Gespinst dieser Welt zu begreifen. Kaum hatte ich sie abgelegt und mich wieder den Beschränkungen meiner Gestalt hingegeben, da schwand diese Übereinstimmung mit der Welt, der sich ein Wesen, egal ob Mensch, Sare’o’dan, Sery'de oder was auch immer für ein Wesen, nur mehr oder weniger annähern kann.

Ich hatte Mühe damit, das Bedauern darüber abzuschütteln, dies aufgegeben zu haben. Und obwohl ich es inzwischen mehrfach versucht hatte: Dieses Einvernehmen mit Éradumahls Gabe in mir habe ich bislang nie wieder erlangen können. Aber noch nie war die Gefahr der Vernichtung so groß wie in jenen Tagen. Vielleicht ist die absolute Todesgefahr der Schlüssel. Die Zukunft und neue Gefahren würden es zeigen.

„Der Garten wird nie fertig“, hörte ich die Stimme Imandras zu mir herüber klingen. „Diese Arbeit währt ewig und ist uns Prüfung!“

Ich schmunzelte. Das war eines der Worte, die im Zusammenhang mit dem Garten immer wieder fielen. Hier wurde nicht mit Magie und Zauber erschaffen, sondern immer mit Spaten, Hacke und Harke gearbeitet. Der Garten war mit unserer Hände Arbeit entstanden. Jeder hatte hier gelernt, sich, nach Kaylas Motto, wieder auf seinen Körper zu verlassen, denn der Schlaf währte lang...

 

Zum Sechsten

Eine Insel, beherrscht von einer mächtigen Caldera, ragte aus dem Ozean hervor. Aus den Fluten sprangen wie silberne Pfeile Makrelen, aber noch bevor sie den grauen Sand des Strandes berührten, wo sie unweigerlich verenden würden, verwandelten sie sich in menschliche Gestalten, die eher taumelten als gingen, weil sie der Erschöpfung nahe waren.

Der Weg durch das Meer war lang gewesen und einige von ihnen wären während der langen Wanderung fast gestorben, aber der Agmar und Kayla, deren Heilmagie herausragend war, hatten sie zu den Kesver’de gebracht.

Der Agmar begrüßte sein Volk auf der letzten Zuflucht, welche da hieß E'sch T'hut Wiyr.

Nach einer Pause am Strand führte Rurerrunhor sie einen Bach entlang in die Berge. Das Volk murrte ob der neuen Anstrengung, wussten sie doch nicht, was sie erwartete. Nur eines spürten sie: den Frieden, der von dieser Insel ausging; etwas, dass ihnen lange gefehlt hatte.

Schließlich erreichten sie einen Steilhang, vor dem das Unterholz besonders dicht wuchs. Der Agmar stellte sich vor das Hindernis, öffnete mit einem Zauber ein Tor durch das Holz und Tageslicht fiel in eine Höhle.

Er hieß den Wanderern zum Licht, ihm zu folgen. Und sie taten es. Sie traten durch den Torbogen aus Holz und Stein, um dann den Atem anzuhalten.

Einige von ihnen fielen beim ersten Anblick der Höhlen auf die Knie, um Éradumahls Schöpfung zu preisen, andere blieben erstarrt stehen und die nächsten sahen sich staunend um.

Die Wände des Höhlendoms waren über und über mit Edelsteinen übersät. Und aus den Wänden kam Licht, das sich in den Edelsteinen brach und wieder zurückgeworfen wurde, so dass es unmöglich war zu erkennen, woher das Licht eigentlich kam.

Und doch, diese Schönheit war noch nicht vollkommen. Jeder von ihnen begann Pläne zu schmieden, welcher Stein ein klein wenig versetzt werden könnte, um den Effekt zu erhöhen, die Schönheit in aller Pracht erstehen zu lassen.

Es war, als hätte Éradumahl ihnen einen Rohdiamanten hinterlassen, den sie zu schleifen hatten, um ihm zu seiner wahren Schönheit zu verhelfen. Und je tiefer sie in dieses schier endlose Labyrinth aus Gängen, Hallen und Domen vordrangen, desto mehr schlug sie die Schönheit dieser unterirdischen Welt in ihren Bann, denn jede Höhle war anders. Manchmal waren sie von schlichter Schönheit und das Licht fahl, manchmal von überbordenden Adern von Edelsteinen übersät.

Der Agmar fand einen Saal, der zu ihm zu sprechen schien. Zuerst verstand er das Flüstern nicht, aber als er genau zuhörte, wusste er, an welchem Ort er sich befand: dem Caria’de, dem Saal der Bücher. Hier würden sie alles sammeln, was sie an Wissen und Weisheit zusammentragen konnten und es allen auf der Welt zur Verfügung stellen, wenn Magira reif dafür war, wenn alle die Wahl zum Licht getroffen hatten.

Außerdem sollte ihre Geschichte dort gesammelt werden, und für jeden noch Lebenden der Wanderer zum Licht entstand aus dem Nichts ein Buch, das auf einem Pult lag. Und immer wenn auf der Insel etwas geschah, welches über das alltägliche Maß hinausging, oder ein Wanderer zum Licht die Insel verließ, würde ein Federkiel mit niemals versiegender Tinte diese Taten aufschreiben.

Und der Agmar empfing die Botschaft des Caria’de. Was passierte, bis die Wanderer zum Licht und der Agmar E'sch T'hut Wiyr betreten hatten, war von Menschen aufgezeichnet worden, aber nun war das Zeitalter der Propheten vorbei und ein neues Zeitalter hatte begonnen. Doch es galt, die Schriften dieser Propheten nach E'sch T'hut Wiyr zu holen, auf dass sie verwahrt würden, bis die Welt eine gute geworden war.

Der Agmar rief sein Volk und erzählte ihnen von der Erleuchtung durch das Caria'de. Sie waren von Ehrfurcht erfüllt und jeder von ihnen sah nach seinem Buch. Noch waren alle Seiten weiß und noch keine Taten verzeichnet.

Der Agmar spürte, dass es an der Zeit war, die verlorene Kraft zurückzuholen. Die Schriften der Propheten und die anderen Aufgaben mussten warten, bis sie sich von den jahrelangen Kämpfen gegen die Sare’o’dan erholt hatten.

Die Kesver'de wurden in eine besondere Höhle gebracht und ein Zauber über sie geworfen, der ihnen Ruhe und Frieden schenkte, bis es einen Weg gab, ihnen zu helfen.

Es wurden Vorkehrungen getroffen, was die Sicherheit der Insel betraf. Éradumahl hatte dem Vorschub geleistet, aber das Volk des Agmars wusste um die Fähigkeiten der Sare’o’dan, und so verstärkten sie die Zauber des Gottes oder veränderten sie. Kein Wesen konnte diese Insel finden, vielleicht nicht einmal Éradumahl selbst.

Dann suchte sich jeder von ihnen eine Höhle, machte sie zu seiner eigenen, und dann schliefen sie Tage, Wochen, Monde, Jahre und mehr, um neue Kraft zu schöpfen und bereit zu sein für die Aufgabe, die Éradumahl ihnen auferlegt hatte, Weisheit für eine bessere Welt bereit zu halten.

 

2. Epilog

Unsere Ankunft auf E'sch T'hut Wiyr war wie eine Befreiung. Zum ersten Mal, nachdem wir zu dem geworden waren, was wir waren, konnten wir uns erholen, mussten nicht fürchten, dass die Sare’o’dan uns aufspürten und vernichteten.

Und wir konnten uns erholen. Unser Schlaf währte hundert und mehr Jahre. Als wir erwachten, war nichts mehr so, wie wir es gekannt hatten.

Aber unsere Aufgabe war eher schwerer geworden, denn nicht nur die Sare’o’dan brachten das Finstere und Böse über diese Welt. Auch andere Mächte waren erstarkt und auch die Menschen waren, nachdem sie das Sklavenjoch der Sechsfingrigen abgeschüttelt hatten, nicht das, was wir uns erhofft hatten. In ihnen rangen beide Prinzipien und nur allzu oft behielt das Böse die Oberhand.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Letztlich war der erste lange Schlaf auf E'sch T'hut Wiyr etwas, das wir gebraucht hatten, denn für unsere Aufgabe benötigten wir all unsere Kraft.

 

3. Prolog

„Rurerrunhor!“ hörte ich die fordernde, kräftige Stimme Osore Izais. „Die Pause ist vorüber und noch viel Arbeit zu tun, bevor die Sonne untergeht. Du bist zwar der Erste, aber bei der Arbeit willst du doch nicht der Letzte sein?“

Ihr Spott brachte mich zum Schmunzeln. Sie konnte schon immer gut mit Worten umgehen.

Aber so gelöst war die Elhera nicht immer. Meist war sie vom Ernst ihrer Aufgabe durchdrungen. Im Garten aber verlor sie ihren Ernst und ihre Förmlichkeit. Manchmal machte ich mir Sorgen um sie, dass sie sich zu sehr in ihren Obliegenheiten verlor. Was wir zu tun hatten, war zwar wichtig, aber wenn man sich nahezu ohne Unterlass mit allem Ernst seiner Aufgabe widmet, wird man zum Gefangenen derselben.

Es besteht die Gefahr, sich darin zu verlieren. Es war wie bei Somnolar, den ich mehr vermisste, als ich zuzugeben bereit war.

Ich erhob mich und ging hinüber zu den anderen, bewaffnete mich mit meinem Spaten, aber die Gedanken an Somnolar kehrten zurück.

 

Zum Siebten

Sie erwachten alle nach und nach und der Agmar rief sie zu sich. Er eröffnete ihnen, dass der Name Wanderer zum Licht für sie seine Schuldigkeit getan habe. Fortan sollten sie die Sery'de heißen, was Schläfer und Friedensbringer in einem bedeutete, weil Schlaf und Frieden in den Jahren der Verfolgung eins geworden waren. Ser’y, der Schlaf - Ser’y, der Frieden.

Die Verkündung des Agmar fand allgemeine Zustimmung unter den seinen, und so waren sie von diesem Augenblick an die Sery'de von E'sch T'hut Wiyr.

Einigen von ihnen gab der Agmar den Auftrag, in die Welt zu gehen, um zu schauen, ob und wie sich die Welt verändert habe. Auch er selbst würde aufbrechen, um über die Welt zu wandeln.

Auch verkündete er, dass die Bücher der Propheten mit den Zeugnissen ihrer Schöpfung, ihres Werdens und Seins auf Magira heimgeholt werden müssten, wo sie zum Hohen Buch der Schöpfung, dem Sher’dar verschmelzen würden.

Die übrigen würden an den Höhlen arbeiten und den Schutz der Insel weiter vervollkommnen.

„El'mararr Agmar! - Der Agmar hat gesprochen!“ schloss der Erste seines Volkes.

Dann wandte sich jedweder seiner Aufgabe zu. Der Agmar selbst wandelte seine Gestalt in die eines Albatrosses und wandte sich über das Meer nach Westen, wo er auf Ceresidon stieß. Dort fand er nahe einer Stadt, die Jeljokren hieß, das erste Buch der Schöpfung, welches die Entstehung Éradumahls beschrieb.

Daraufhin wandte sich der Agmar der Stadt zu und fand allerlei Volk, aber keine Sare’o’dan, die hier nur noch als ferner Schatten der Erinnerung existierten. Er suchte die Mächtigen der Stadt auf und riet ihnen, an der Stelle, wo er den ersten Teil des Buches gefunden hatte, einen Tempelbezirk zu Ehren jedweden bekannten Gottes zu gründen und ihn Tuvelon zu nennen, doch die Herren der Stadt fanden, es gäbe genügend Tempel in der Stadt, es sei zu teuer, weitere zu errichten und dazu noch außerhalb der Mauern der Stadt. Sie fanden es unbequem, dahin zu gehen und zudem könne der Reichtum der Tempel von jedem dahergelaufenen Plünderer geraubt werden.

Der Agmar verneigte sich und verließ die Stadt, aber nur zum Schein. In einer Neumondnacht jedoch kehrte er zurück.

Plötzlich war der Himmel über Jeljokren taghell erleuchtet und aus dem Licht erschien ein Drache, groß wie ein Palast, und schwebte, bedrohlich Feuer speiend, über der Stadt.

Das Volk drängte sich ratsuchend vor dem großen Rathaus der Stadt zusammen, von dem aus die Kaufherren die Geschicke derselben lenkten, hier aber konnten sie nicht helfen.

Ein alter Mann trat vor und wie durch Zauberei war seine Stimme überall in der Stadt zu hören. Der Alte predigte von Großmannssucht und der Vernachlässigung des Glaubens an die Götter. Er beschwor alle, das Tuvelon zu bauen. Ein Gelübde, durchdrungen von starkem Glauben, könnte den Sendboten der Rache, den die Götter geschickt hatten, vertreiben.

Und er forderte alle in der Stadt auf, zu beten. Einige der Kaufherren zögerten, auf die Knie zu sinken und den Göttern die Ehre zu erweisen, aber ein durch Mark und Bein gehendes Gebrüll des Drachens und sein heißer Atem belehrten die Zauderer eines Besseren. Auch sie begannen nun, inbrünstig die Götter zu preisen.

Da fiel die Kutte des alten Mannes in sich zusammen, ein Adler erhob sich mit schrillem Ruf in den Nachthimmel und an der Stelle, wo der alte Mann eben noch gestanden hatte, stand  ein Rosenstrauch.

Die Bürger von Jeljokren begannen noch am nächsten Tag mit dem Bau des Tuvelon, und sie pflanzten überall zwischen den Tempeln Rosen, um die Götter wohl zu stimmen. Und der Rosenstrauch auf dem Marktplatz wird von den Kaufherren mit besonderer Aufmerksamkeit gepflegt.

Der Agmar zog weiter, um mehr von der Welt zu sehen und den Spuren der Sare’o’dan zu folgen. Er flog auf Hliarmer zu, aber auch von dort hatten sich die Sare’o’dan zurückgezogen.

Doch nicht nur die Sare’o’dan hatten Finsternis auf diese Welt gebracht. Magira war längst noch nicht reif für das Licht. Das Herz des Agmars füllte sich mit Trauer.

Auf Imcwyar aber, im Norden von Hliarmer, da spürte er sie noch. Dort waren die Sare’o’dan noch stark. Sie waren noch immer eine Gefahr, was immer sie auch bewogen haben mochte, sich auf diesen Kontinent zu beschränken. Aber solange sie da waren, konnten sie auch wieder Furcht und Schrecken über die ganze Welt bringen.

Der Adler drehte ab und flog wieder gen E'sch T'hut Wiyr.

 

Zwischenspiel

Eine Spinne spann vor mir ihr Netz und ich konnte nur an den Moment denken, als ich noch ein sechsfingriger Sare’o’dan war und dann Éradumahl kam, der mich zu dem werden ließ, was ich jetzt bin. Der erste Sery'dar und der Erste der Sery'de.

Welche Last lag seitdem auf meinen Schultern! Erst nachdem wir E'sch T'hut Wiyr erreicht hatten, waren wir in Sicherheit und diese Last war ein wenig leichter geworden.

Aber der Flug über die Welt hatte sie wieder schwerer werden lassen. Er hatte mir gezeigt, dass die Finsternis stark war auf Magira und die Sare’o’dan nicht das einzig Böse auf dieser Welt waren. Es gab so viele davon. Ich hatte auch Licht gespürt, auch Gutes, das nicht von Éradumahl stammte und auch gegen die Finsternis kämpfte, aber konnte das ausreichen?

Wie sollte die Welt den Weg zum Licht finden? Diese Frage quälte mich, und hätte ich rechtzeitig eine Antwort gefunden, dann wäre manches nicht passiert. Aber ich fand nun mal zunächst keine Antwort auf diese Frage.

Éradumahl hatte uns seine Gebote mit auf den Weg gegeben und die besagten deutlich, dass wir unsere Kraft für eine bessere Welt einzusetzen hatten.

Ich hörte zwar das Geplauder der übrigen Sery’de, das Spiel der Kinder, aber beides konnte nicht das Gespinst meiner Gedanken durchdringen, die an diesem herrlichen Ort so trübsinnig waren, denn vieles in den Tausenden von Jahren unseres Wirkens war traurig.

 In der Regel konnte ich hier im Garten Ruhe und Frieden finden, nur hatte Kayla mir wieder so Vieles bewusst gemacht, dass mich die Gedanken an Vergangenes nicht mehr los ließen. Und ich konnte mich an mehr als nur an dürre Worte erinnern. Ich hatte all das erlebt und das ist unendlich viel eindringlicher, als nur einen Text zu lesen.

Dennoch schien mir alles ein wenig gemildert hier im Garten. Ich glaube auch, dass Osore Izai aus diesem Grunde damals, in einer der ersten Sitzungen des Konzils, darauf gedrungen hatte, den Garten zu errichten und ihn ausschließlich mit der Arbeit der Hände zu pflegen. Hier konnte sie alles ein wenig leichter nehmen. Und sie hatte mit ihrer Idee nicht nur sich einen Gefallen getan, sondern auch mir und wahrscheinlich auch vielen anderen.

Das Konzil war wie ein Stichwort und die Erinnerungen stiegen wieder in mir auf. Was sagte das Buch der Schöpfung dazu?

 

Zum Achten

Nachdem alle nach E'sch T'hut Wiyr zurückgekehrt waren, die der Agmar ausgesandt hatte, setzten sich die Sery'de von E'sch T'hut Wiyr in einem großen Felsendom zusammen, um zu beraten, was zu tun sei.

Jeder von ihnen, der über die Welt gewandert war, berichtete von seinen Erlebnissen und Eindrücken, die er gesammelt hatte.

Zunächst wurde von den vielen Wesen berichtet, die auf, über und unter der Welt lebten. Wesen auf zwei Beinen, die da aussahen wie Katzen und Bären, Zwerge, Spitzohrige von ausgesprochener Schönheit. Stämmige, Kurzbeinige, die Stollen in die Erde wühlten, Menschen und allerlei anderes Volk.

Die Finsternis sei stark, hieß es. Das Böse sei unter den Menschen weit verbreitet. Von Herrschsucht, Mord, Totschlag und allen erdenklichen Sünden war die Rede bei jenen, die über Magira gewandert waren.

Die Welt war noch nicht reif für die Weisheit und das Wissen der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr.

Nur wenige stemmten sich dem entgegen. Die meisten der verdorbenen Wesen scherten sich nur um die Mehrung des eigenen Reichtums und der Macht.

Das Erbe der Sare’o’dan sei stark auf dieser Welt. Und es gäbe noch andere Quellen der Finsternis.

Was man tun könne, um die Welt zu verbessern, auf dass sie reif werde für alles, was die Sery'de zu geben hätten, fragte der Agmar in die Runde.

Somnolar erhob sich. Es gäbe zwei Wege, ließ er verlauten. Zum ersten könne man sich die Welt untertan machen und sie auf diesem Wege lehren, miteinander in Frieden zu leben. Und der hitzige Sery'dar, der Menarh’kin, was da hieß der Wortführer, erhob seine Stimme weiter. Alles Volk Magiras müsse an die Hand genommen und wie Kinder geleitet werden.

Der andere Weg wäre, in die Höhlen zu gehen, zu schlafen und zu warten, dass die Völker Magiras einen Weg zum Guten und Reinen finden würden, auf dass sie würdig wären, die Gaben Éradumahls durch die Hand der Sery'de zu empfangen.

Der Agmar aber sah betrübt, dass dies die falschen Wege waren. Der erste ließ sie nicht besser sein als die Sare’o’dan, auch wenn ihre Ziele hehrer waren. Aber ihn gemahnte das eigene Innere, das er gesehen hatte, diesen Weg nicht zu verfolgen, denn Macht konnte das Finstere zum Vorschein bringen, um das Richtige mit falschen Mitteln durchzusetzen und so doch nur wieder das Falsche zu tun.

Der zweite Weg hieß, nichts zu tun und auch das war falsch. Es galt nicht, erst dann zu helfen, wenn alles erreicht war.

Der Agmar brachte seine Bedenken vor und mahnte einen dritten Weg an. Und er forderte, dass die Sery'de in sich hineinhören sollten, wo sie feststellen würden, dass die finstere Seite noch in ihnen sei. Sie selbst wären nicht gefestigt genug, um die Welt zu beherrschen.

Somnolar erhob sich. Er verlangte, dass der Agmar dies nicht allein entscheiden möge, sondern sein Volk befrage. Und er verhöhnte den Agmar wegen der fehlenden inneren Stärke.

Der Agmar nickte nur und jeder Einzelne wurde gehört.

Die Stimme des Agmars gab den Ausschlag. Es sollte ein dritter Weg gesucht werden, den Völkern Magiras zu helfen.

Somnolar war erbost. Er redete sich in hitzigen Zorn und sagte, er würde in seiner Höhle schlafen, bis die Welt es wert war und die Völker Magiras einen Weg nach E'sch T'hut Wiyr gefunden hätten. Und jeder, der bei Verstand sei, würde ihm folgen. Und all jenen, die nicht genügend Stärke aufbrächten, um die Finsternis in ihnen im Zaum zu halten, sollten dasselbe tun. Dabei funkelte er den Agmar an.

Somnolar und jene, die ihm, aus welchen Motiven auch immer, folgten, verließen den Saal und verschwanden in ihren Höhlen, um den Ewigen Schlaf zu schlafen.

Nur wenig mehr als zwölf Dutzend der Sery'de von E'sch T'hut Wiyr blieben, um der Welt einen besseren Weg zu weisen.

Wer nicht den Weg des Somnolar gegangen war, hatte sich einer Bürde zu stellen, stellte der Agmar fest.

 

Zwischenspiel

Das war eine der dunkelsten Stunden in der Geschichte der Sery'de. Die Hälfte der noch lebenden und unversehrten von uns zog sich in die Höhlen zurück, um dort ewig zu schlafen. Und Somnolar an der Spitze.

Ich war damals gezwungen, mich zu entscheiden, aber es war das letzte Mal, dass Somnolar mich forderte. Irgendwie war danach alles schwerer, weil keiner mich derart reizen konnte.

Vielleicht würde Imandra diese Rolle in nicht allzu ferner Zukunft übernehmen, aber auch ihr Widerspruchsgeist hatte Jahrtausende gebraucht, um zu reifen, aber in den letzten Jahrzehnten hatte er sich sehr gesteigert. Hoffen wir das Beste.

Kayla hatte auch nie in die Rolle Somnolars schlüpfen können. Zwar war ihr Geist voller Dornen, aber sie war nicht immer willens, zu widersprechen. Außerdem gingen ihre Gedanken in andere Richtungen. Sie sann zu sehr auf Auseinandersetzung mit den Sare’o’dan und versuchte es auch mit Experimenten mit der Zeit, selbst wenn sie sich dazu der menschlichen Zauber bedienen musste.

Das Ergebnis, Cavin und Charis, versuchte sich gerade gegenseitig einzufangen und umkreiste mich lachend. Auch dieses Problem musste noch gelöst werden.

Immerhin hatte ich das Vakuum um mich herum aufgefüllt. Aber dass mich erst Somnolar verlassen musste, bis ich erkannte, was mir fehlte…

 

Zum Neunten

Der Agmar ließ seinen Blick über die Verbliebenen seines Volkes schweifen. Ernst sah er aus, dann straffte aber seine Gestalt und richtete sich auf.

Mit eindringlicher Stimme sprach er zu den Sery'de über den dritten Weg. Er sagte, die Sery'de sollten mit ihrem Tun allen Völkern Magiras ein Beispiel geben, das sie auf den rechten Weg führen würde. Darüber hinaus mussten sie den Völkern helfen, wenn die Sare’o’dan wieder zurückkehren sollten, um wieder über die ganze Welt herrschen zu wollen. Und zu guter Letzt mussten sie ständig ihr Wissen mehren, damit die Völker dieses erhalten konnten, wenn Magira eine Welt des Friedens und der Eintracht geworden war.

Wie das zu erreichen sei, wollten die Sery'de wissen und sahen den Agmar erwartungsvoll an. Die Spannung in der Felsenhalle stieg. Wie konnten zwölf Dutzend Sery'de einer ganzen Welt den Weg weisen? Das sei doch unmöglich und nicht zu bewerkstelligen. Es sei doch wohl besser, Somnolar in die Höhlen zu folgen.

Dies erboste den Agmar. Er gebot Schweigen und sein zorniger Blick schwebte über den seinen. Er war wie ein Vater, der seine Kinder zur Raison brachte.

Rurerrunhor erhob seine Stimme. Nichts, was Éradumahl wollte, sei unmöglich. Es sei eine schwierige, ja ungemein schwierige Aufgabe, aber sie alle sollten überlegen, warum Éradumahl ihnen wohl die Unsterblichkeit verliehen habe. Diejenigen, die nicht mit Somnolar, dem Menarh'kin, gegangen waren, mussten sich nun dieser Aufgabe stellen, ob sie wollten oder nicht.

Die Sery'de hätten große Pein ertragen, um E'sch T'hut Wiyr und ihre Freiheit zu erreichen. Und jetzt wolle man in Sicherheit leben und alle anderen sollten ihrem Schicksal überlassen bleiben? Das konnte und durfte nicht sein.

Ein Somnolar und dessen Gefolge war genug. Und zwölf Dutzend mit ihren Fähigkeiten waren mehr als ausreichend. Und wer hatte denn gesagt, dass sie diese Aufgabe allein bewältigen müssten? Es gab einen dritten Weg zwischen dem Beherrschen der Welt und dem Nichtstun. Eben den würden sie beschreiten, verkündete der Agmar.

Es sollte so geschehen, dass zum Ersten die Sery'de nicht mehr nur vom Agmar, sondern vom Konzil der Elheri geführt werden sollten. Und im Konzil sollten sein dreizehn. Und so rief der Agmar zwölf Sery'de zu sich und nannte sie Elhera oder Elheru, die mit ihm das Konzil bilden würden, das immer ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen der Sery'de haben sollte, sie führen und den Agmar bei seiner schweren Aufgabe beraten würde. Und darüber hinaus gab es noch etwas.

Das Konzil sollte etwas werden lassen, das der Agmar da nannte: den Sery’dur, die Friedensstreiter. Sie sollten da sein der verlängerte Arm der Sery'de.

Zu oberst des Sery'dur sollte sein der Samaska. Er sollte das Bindeglied zwischen Sery'de und dem Sery’dur sein, denn jede Tat des Sery'dur sollte aufgezeichnet werden und der Samaska würde die Saskarien den Sery'de überbringen.

Unter dem Samaska sollten sein die Tscherwak, jene sollten die Unterweiser und Leiter der Streiter sein, die zunächst als Kel'mey bei ihnen in die Lehre gingen, um alle nötigen Fertigkeiten zu erlernen, um als Ce'vey nach einer Prüfung für das Licht zu streiten und Völkern durch Rat und Tat ein Beispiel sein sollten, um Magira den Weg zum Licht zu weisen.

Jeder Kel'mey sollte auf der E'sch T'hut Wiyr vorgelagerten Insel, welche fortan Lo'Thame, Insel der Prüfung, genannt werden sollte, sich bewähren und zeigen, dass er würdig sei, Ce'vey genannt zu werden.

Und nachdem das Konzil der Elheri sich zum ersten Mal beraten hatte, würden sie sich aufmachen, um die erste Generation des Sery'dur zu suchen unter den Völkern Magiras.

Die übrigen Sery'de sollten das Wissen und die Weisheit mehren und im Caria'de sammeln, auf dass die Völker Magiras, nachdem sie den Weg zum Licht gefunden hatten, eine große Belohnung erwartete.

Und die Sery'de fanden, der Agmar hatte wohlgetan und jedweder ging seinen Obliegenheiten nach.

 

Letzter Epilog

Mit diesen Worten endet das erste Buch unserer Schöpfung. Seither sind Tausende von Jahren vergangen. Unser Weg war hart und steinig. Wir haben große Siege errungen und derbe Niederlagen hinnehmen müssen. Und doch scheint es, als stünden wir mit unseren Bemühungen erst am Anfang des Weges. So wenig scheint geschafft. Die Macht der Finsternis ist ungebrochen. Aber was hatte ich erwartet? Ich wusste es selbst nicht. Und dennoch: ich war bereit, diesen langen und harten Weg zu gehen.

Meine größte Niederlage heißt Brukida. Brukida, meine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Ich fand sie und machte sie, ob ihrer Talente, zur ersten Samaska. Ich lud ihr die Last des Sery’dur auf, gab ihr soviel Macht wie keiner anderen, erhöhte sie nicht, übersah ihren Zorn und ihr Leid, zeigte ihr die Finsternis und glaubte, ihr den Schrecken gezeigt zu haben, aber sie sah das Faszinierende am Bösen und dann verriet sie uns, wurde zur Todfeindin der Sery'de, zur Cyro'nay.

Aber ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, sie zurückzugewinnen. Doch offen durfte ich das nicht zeigen. Zuviel hatte sie uns angetan. Aber die Zeit würde es erweisen.

Die Sonne war jetzt völlig im Meer verschwunden und die Dunkelheit der Nacht war über E'sch T'hut Wiyr. Zeit, zur Ryokan zu gehen und zu meinem Volk zu fahren.

Morgen war auch noch ein Tag. Ein Tag, an dem Osore aufbrechen würde, um die Sakarien, die Berichte des Sery’dur, zu uns zu bringen. Der mittlerweile Dritte der Samaska würde sie an uns übergeben.

Dann würden wir sehen, was unsere Streiter und damit wir, vollbracht hatten, um aus der Welt eine bessere zu machen. Man brauchte Geduld, soviel Geduld ...

 

 

Drochtersen-Assel, Sommer 2001

Horst von Allwörden


 

Ende

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