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Leroy Phoenix - Leseprobe

LeseprobeLeroy Phoenix
Leseprobe

Jeder Schritt war eine nervenaufreibende Tortur. Der Name rumorte in seinem Körper und wollte hinaus in die Welt geschrien sein. Nach etwas über einhundert Stufen krampfte zu allem Überfluss Leroys linke Wade. Weiter, immer weiter, trieb der Magier sich an. Würde er den Namen hier sagen, würde er nicht erhört werden oder, was noch viel schlimmer war, der Gerufene würde unheimlich sauer sein.

Leroy PhoenixDenn wenn man ein Geist der Luft war, macht es keinen Spaß, sich in ein Treppenhaus zu quetschen, nur weil ein dämlicher Sterblicher nicht die Kontrolle behalten konnte. Also weiter, immer weiter die Treppen hinauf. Bäche von Schweiß liefen Leroy den Rücken hinunter und wurden kaum noch von seiner Kleidung aufgesogen. Die Suppe gelangte in Regionen, die mehr als unangenehm waren. Doch er musste weiter. Gequält summte er „The Show must go on“ und „You can get it if you really want“ bis hin zu „Try walking in my shoes“.

Die letzten elf Stufen zogen sich wie eine Ewigkeit dahin. Nicht nur körperlich, auch geistig in einer tiefen elementaren spirituellen Ebene war er nur noch müde. Aufgeben, hinlegen. Den Rat Rat sein lassen. Alles war so einfach. Er musste nur den Mut haben, nichts zu tun – einfach nichts tun und noch eine Treppenstufe mehr.

Mit einem Seufzer verließ er das Treppenhaus und nahm hastig, wie ein Ertrinkender, ein paar tiefe Atemzüge. London lag unter ihm. Auch wenn der Turm zwischen Gebäuden errichtet war, die mindestens genauso, wenn nicht wesentlich höher standen, so hatte er zumindest eine spirituelle Ebene erreicht, die einem Wolkenkratzer in nichts nachstand. Mit den letzten Reserven des Willens richtete er die Gedanken in den Himmel und rief den Namen mit jeder Pore seines Körpers, seines Geistes und seiner Seele. Das war wahre Magie, das war die hohe Kunst.

Die gerufene Kraft reagierte sofort. Dunkle Wolken wurden über London immer dichter, ein heftiger Sturm zog auf. Es dauerte keine Minute, da platschte ein dicker Platzregen auf die Straßen der Stadt. Die Nacht verdunkelte sich noch mehr und leichter Raureif überzog das Geländer. Aus Regen, Nebel und wirbelnder Luft formte sich an der Plattform ein überlebensgroßes Gesicht von einem Mann. Das Alter war unmöglich zu schätzen. Der Begriff „zeitlos“ wurde dem nicht gerecht. Es war London, die Luft Englands Metropole. Natürlich rauchte es Pfeife, wie auch sonst konnte man die schwere Industrie und den ständigen Smog spirituell interpretieren.
„Du hast mich lange nicht mehr gerufen, Leroy Alexander Phoenix, Kind von Susan und Robert Phoenix. Was ist dein Begehr?“ Die Stimme hatte einen Einschlag ins Cockney-Englische und den Akzent eines gestandenen Hafenarbeiters, sie schien von überall gleichzeitig zu kommen. Vater Luft repräsentierte eher die arbeitende Bevölkerung, während Mutter Erde eher einen Hang zum Adel hatte, nicht dass er sie jemals beschworen hatte oder darüber nachdachte.

„Londinium, Herr – Ihr wisst alles, was in euren Grenzen geschieht, und Ihr durchschaut jede Lüge und jedes Trugbild. Denn Ihr umgebt all Eure Kinder und blickt ihnen mit jedem Atemzug in die Herzen. Ihr seit ein gütiger Vater, der das Geschenk des Lebens frei gibt.“

„Wohl gesprochen, Primus Aeris, aber was willst du?“

„Ich muss Wesen finden, halb Mensch, halb Wolf, die in Euren Grenzen wohnen. Wärt Ihr bereit, mir zu sagen, wo ich sie finden kann?“

Gedankenverloren zog Vater London an seiner Pfeife und blies dunkle Rauchschwaden in den Regen. „Ja, ich weiß, von wem du sprichst, bist du bereit meinen Preis zu zahlen?“ Hier zeigte sich deutlich der Unterschied zwischen einem Hermetiker und einem Elementaristen: Leroy war nicht so dumm, die Luft in einen magischen Kreis einzusperren, und er war auch nicht so arrogant, ein jegliches Elementar mit seiner Macht zu dominieren, um Dienste von Externalen zu erpressen. Es war ein Geben und Nehmen. „Nennt mir Euren Preis, Londinium, und ich will wohl überlegen, ob ich ihn zahlen kann.“ Aufs Geratewohl Ja zu sagen, wäre an dieser Stelle das Dümmste gewesen, was er hätte tun können.

„Ich verlange die morgige Ausgabe der Sun auf einer bestimmten Parkbank in London, aufgeschlagen auf der Seite vier, so gefaltet, dass das Bild gut zu sehen ist. Ich verlange, dass du die nächsten drei Nächte unter freiem Himmel schläfst. Ich verlange ein Lied zur Erbauung der Menschen und zu meiner Freude, gesungen in meinen Straßen bis zu dem Zeitpunkt, an dem du mich erneut rufen magst. Das ist mein Preis, weil du wohl gesprochen und die Form gewahrt hast.“

Leroy lächelte: „Ich danke Euch, mein Herr, Euer Angebot ist mehr als großzügig. Mit Freuden werde ich Eure Bedingungen erfüllen.“
Der Luftgeist deutete ein Nicken an. „So ist es denn abgemacht. Die, die du suchst, die Menschen, die auch Wölfe sind, und die Wölfe, die auch Menschen sind, residieren im Regentʼs Park. Du wirst sie erkennen, sie stinken zum Himmel. Die Zeitung wirst du auf der ersten Parkbank auf der linken Seite vom südlichen Eingang positionieren.“ Mit diesen Erklärungen tippte er sich an einen imaginären Hut und löste sich im wahrsten Sinne des Wortes in Luft auf.

Der Regentʼs Park also. Ebendieser stand in unmittelbarer Nähe zum Tatort. Der Verdacht, dass die Werwölfe des Regentʼs Park ihre Pfoten darin verwickelt hatten, erhärtete sich somit. Durchnässt bis auf die Knochen, stapfte der Elementarist, sich schwer am Geländer abstützend, zurück in seinen Unterschlupf. Er hatte Versprechen einzuhalten und er würde den Teufel tun, diese zu brechen.

Die Ansinnen und Preise der Nichtstofflichen verwunderten Leroy lange nicht mehr. Wer war er, sie zu hinterfragen? Solange die Wünsche nicht gegen seine Werte und Moral verstießen, konnte er das mit ruhigem Gewissen tun. Mit einem Grinsen erinnerte er sich an den einen Wunsch, für den er eine Stunde nackt in einem Park liegen sollte. Die sechzig Minuten schaffte er, anschließend entkam er nur knapp dem Bobby, der einen Sittentäter festnehmen wollte.

Unten angekommen beendete er die Magie der magischen Kreise und zerstreute die übriggebliebenen Komponenten. Anschließend suchte Leroy ein Handtuch und trocknete sich ab. Er hätte auch den warme-Luft-Zauber wirken können, aber er fühlte sich für Zauberei momentan zu ausgelaugt. Wie betonte seine Mutter immer: „Die Magie ist ein Geschenk, missbrauche sie nicht und im Zweifel – tu es nicht.“

Archimedes zappelte unruhig auf der Stange. „Und, wie schaut es aus? Hast du eine Antwort bekommen?“

„Regentʼs Park,“ antwortete Leroy erschöpft, aber nicht ohne einen Hauch von Triumph.

„Huhu“, jubelte der Kauz, „ich glaube, wir haben uns eine Tafel Schokolade wohlverdient, oder was meinst du?“ Lächelnd kraulte der Magier seinen Vertrauten am Kopf.

„Eine Belohnung haben wir uns mehr als verdient, da gebe ich dir recht.“ Am liebsten hätte Leroy nur einen kurzen Moment den Kopf auf das Bett gelegt und die Augen ein wenig ausgeruht. Er wusste jedoch, dass er dann einschlief und so das Versprechen brach, dass er Londinium vor wenigen Minuten gegeben hatte. Also zog er die Klamotten wieder an und nahm Archimedes auf seine Schulter. Die Robe tropfte auf einem Bügel vom Kleiderhaken, der Ritualkreis sah ordentlich aus, also konnte er mit gutem Gewissen nach Hause fahren.

Dort angekommen brach er dem Vogel ein großzügiges Stück Schokolade von der Nussschokolade ab und gab sie ihm. Anschließend wühlte er in der Abstellkammer, um mit Triumph einen Schlafsack und ein Feldbett hervorzuziehen. Todmüde wankte er die Stufen zum Dach hoch, einen hochzufrieden Schokolade mümmelnden Archimedes auf der Schulter sitzend. Mit geübten Handgriffen baute er das Reisebett neben seinem Hauskreis auf und kroch in den Schlafsack. Campen auf dem eigenen Dach und das mitten im Herbst. Die Nachbarn würden ihn für vollkommen verrückt erklären. Aber das war der Preis, den Magier zahlten. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen, dachte er, während er sofort einschlief.
Im Hintergrund zuckte ein Blitz durch die Nacht und es dauerte keine fünf Sekunden bis der Donner über London grollte.

Aber das hörte Leroy schon nicht mehr.

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