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Der Fluch der fliegenden Schädel - Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 3/3))

FanfictionDer Fluch der fliegenden Schädel
Eine Geisterjäger John Sinclair Story

Das Erste, was uns auffiel, als wir das Haus der McWrights erreicht hatten, war der Streifenwagen auf dem Grünstreifen neben der Straße.

"Das muss Carlo sein." Deputy Corbijn parkte hinter ihrem Kollegen.

Kaum dass der Wagen stand, erscholl aus dem Haus ein grauenvoller, langgezogener Schrei.

Es gibt Schreie; und es gibt Schreie.

Dieser war ein Schrei in höchster Not und Verzweiflung gewesen.

Ein Todesschrei, nicht mehr und nicht weniger.

Deputy Corbijn schwang sich aus dem Wagen und lief auf den Hauseingang zu. Suko und ich folgten. Als wir die zerbrochene Scheibe neben der Haustür sahen, zogen wir alle drei synchron unsere Waffen.

"Ich will Ihnen nicht die Butter vom Brot nehmen, Deputy", wandte ich mich an unsere junge Kollegin, "aber meine und Sukos Waffen sind mit Silberkugeln geladen. Wenn sich also einer der schwarzmagischen Schädel im Gebäude befindet, wäre es vielleicht von Vorteil, wenn mein Partner oder ich die Vorhut bilden."

Deputy Corbijn runzelte kurz die Stirn, nickte dann.

"Alter vor Schönheit", grinste Suko.

Ich ging in die Hocke und spähte durch das Loch in der zerbrochenen Milchglasscheibe.

Ein gewöhnlicher Hausflur.

Dann sah ich die Leiche.

Sie saß aufrecht gegen einen Heizkörper gelehnt. Polizeiuniform. Der Kopf war praktisch nicht mehr vorhanden.

Ich wandte mich zu Deputy Corbijn um.

"Ich fürchte, Ihren Kollegen hat´s erwischt."

Sie biss die Zähne zusammen, dass ihre Wangenmuskeln hervortraten.

"Sehen Sie den Schädel?"

Ich inspizierte den Flur.

"Nein."

"Worauf warten wir dann?"

Nacheinander schlüpften wir durch das Loch in den Hausflur. Ich verzichtete darauf, zu überprüfen, ob Deputy Caves Blutkreislauf noch einen Puls aufwies. Ich hätte an den Handgelenken oder im Leistenbereich nachfühlen müssen. Vom Hals war nicht mehr genug vorhanden.

Über uns, im ersten Stock, rumpelte etwas. Gedämpfte Stimmen drangen zu uns herab.

Ich blickte Suko an. Deutete auf meine Brust, dorthin, wo ich das silberne Kreuz trug. Seit wir das Haus betreten hatten, hatte es sich langsam, aber spürbar erwärmt. Ich machte eine Bewegung mit dem Kopf Richtung Treppe. Suko verstand mich stumm.

Zu beiden Seiten, ich innen, Suko außen, sicherten wir die sich spiralförmig emporwindende Wendeltreppe, sicherten uns dabei gegenseitig und stiegen Schritt für Schritt, Stufe um Stufe hinauf.

Das erste, was wir wahrnahmen, war das feuchte Schmatzen. Ich lugte über den Treppenabsatz, und mein Blick fiel auf ein paar Turnschuhe, gefolgt von dürren Beinen, die in einer hautengen verwaschenen Bluejeans steckten.

Der- oder diejenige, zu dem oder der sie gehörten, musste rücklings am Boden liegen.

Noch eine Stufe.

Vorsichtig.

Suko neben mir.

Hinter mir hörte ich Deputy Corbijn keuchen.

Das Mädchen mochte vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre alt gewesen sein. Die Leiche lag auf dem Rücken, und über ihrer aufgerissenen Bauchdecke schwebte einer der verfluchten untoten Schädel. Wie eine Krähe hackte er gerade die Zähne in die Eingeweide der Toten, deren Hände und Füße noch gelegentlich spastisch zuckten, letzte Entladungen der elektrischen Energie in den Muskeln. Der Schädel hackte in die Eingeweide, riss eine blutige weiß-blaue Darmschlinge heraus und begann, sie - beinah genüsslich, wie es schien - zu zerkauen. Ein dunkle zähe Flüssigkeit tropfte ihm von Kinn.

Langsam wandte er sich zu uns um, als wir in sein Blickfeld kamen. Starrte uns aus leeren, blicklosen Augen an. Kaute seelenruhig weiter, als seien wir nichts anderes als Insekten, die über seine Schuhspitze krabbelten.

Suko hob seine Waffe, um auf den Kopf anzulegen, doch ich drückte seinen Arm wieder runter. Wies auf die Tür hinter dem fressenden Schädel.

"Das ist die einzige geschlossene Tür hier. Möglicherweise hat sich dort jemand versteckt", sagte ich, ohne den Blick von dem Schädel zu nehmen. "Wenn du daneben schießt und die Tür triffst, könnte jemand dahinter verletzt werden."

Ich deutete auf meine Brust.


Suko nickte stumm.

Ich zog das Kreuz hervor, das mittlerweile so heiß war, dass es auf der Haut brannte.

Der Schädel hörte auf zu kauen. Die Darmschlinge fiel ihm aus dem Maul zurück auf die Leiche.

Er starrte mich an. Es war eindeutig der Schädel einer Frau. Aber er musste Jahrzehnte alt sein, wenn nicht Jahrhunderte. Er sah beinah aus wie mumifiziert. Womit, in drei Teufels Namen, hatten wir es hier zu tun?
  "Kannst du sprechen?", fragte ich ihn. Gleichzeitig hielt ich ihm das Kreuz am ausgestreckten Arm entgegen.

Der Schädel schüttelte sich wie ein nasser Hund und fletschte die Zähne. Ein hohles Knurren drang aus seiner abgeschnittenen, zerfetzten Kehle.

"Kannst du sprechen?", wiederholte ich.

Der Schädel machte aus dem Stand einen Satz nach vorn, schoss direkt auf mich zu. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas dunkles an mir vorbei huschen, und im nächsten Moment wickelten sich mit einem schnalzenden Geräusch die drei Riemen von Sukos Dämonenpeitsche um den Schädel. Schwarzes Blut spritzte, als die Riemen in die weiche, faulige Haut schnitten. Ein harter Ruck von Suko, der die Peitsche zurückriss, brachte den Schädel dazu, senkrecht um die eigene Achse zu rotieren, bevor er zu Boden ging, an uns vorbei Richtung Treppe kullerte und wie ein aufgeblasener Spielball die Stufen hinabsprang. Unten im Parterre blieb er am Treppenabsatz liegen, mit dem Gesicht, das man nur als Fratze bezeichnen konnte, nach oben.

Mittlerweile wussten wir dank reichlich Geklopfe und Gerufe, dass sich hinter der verschlossenen Tür im ersten Stock mehrere Personen aufhalten mussten.

"Ist sie ... tot?", fragte Suko und deutete auf den Schädel am Fuß der Treppe.

Ich stieg langsam die Treppe hinunter, das Kreuz in der Rechten.

Unten beugte ich mich über den Schädel. Die toten milchigen Augen blinzelten, eine pechschwarze, augenscheinlich knochentrockene Zungenspitze fuhr über Zähne und Lippen.

Ein letzter Versuch. Schaden konnte es nicht.

"Wer seid ihr? Wo kommt ihr her?"

Nichts.

Keine Antwort.

Stattdessen platzten die Striemen, die Sukos Peitsche im Gesicht hinterlassen hatten, auf, und eine sämige dunkle Pampe quoll hervor.

Ich hätte den Schädel lang und elendig krepieren lassen können, aber ich war kein Arschloch, auch nicht gegenüber Schwarzblütern.

Ich presste dem Schädel das Kreuz auf die Stirn.

Er riss Augen und Maul auf und kreischte so schrill, dass es mir in den Ohren klingelte.

Ätzender, bestialisch stinkender Rauch kräuselte sich in der Luft.

Dann zerfiel der Schädel im Bruchteil einer Sekunde, von jetzt auf gleich, zu einem Haufen kalter, grauer Asche.

***

Wir hatten im Anschluss das gesamte Haus der McWrights inspiziert, um sicherzugehen, dass sich nicht noch ein weiterer Schädel im Gebäude herumtrieb. Erst nachdem wir der Familie mehrfach versichert hatten, dass die Gefahr gebannt sei, öffneten die McWrights die Tür zu dem Zimmer, in das sie sich geflüchtet und in dem sie sich verbarrikadiert hatten. Und das auch erst, nachdem Deputy Corbijn ihren Dienstausweis unter der Tür durchgeschoben hatte.

Das tote Mädchen, für das wir nichts mehr hatten tun können, war kein Familienmitglied gewesen, sondern eine Austauschschülerin aus Luxemburg. Misses Wright oblag nun die furchtbare und grausame Aufgabe, die Eltern des Mädchens vom Tod ihrer Tochter zu unterrichten. Deputy Corbijn würde den Eltern von Deputy Carlo Cave die schlimme Nachricht überbringen.

Ich zückte mein Mobiltelefon und wählte unseren Kollegen Franklin von der Spurensicherung an. Seine Leute waren gerade mit den Hinterlassenschaften des Gemetzels auf der Lichtung im Wald fertig geworden. Ich steckte ihm, dass sie vor der Rückfahrt nach London gleich noch zwei weitere Leichen aufsammeln konnten, und nannte ihm die Adresse der McWrights. Durchs Telefon hörte ich Franklin mit den Zähnen knirschen.

"Verdammt, heute ist Sonntag, Sinclair. Könnt´ ihr euch nicht ein bisschen zurückhalten?"

"Wir werden für unsere Arbeit bezahlt, ihr für eure", sagte ich und legte auf.

Suko und ich hatten uns den teuflischen Schädel, als er noch lebte, ziemlich genau angesehen. Deputy Corbijn hatte berichtet, sie habe einen der Schädel auf dem Weg im Wald förmlich in Stücke geschossen. Der Gangster, den wir festgenommen und den Kollegen vom Yard übergeben hatten, hatte erwähnt, mindestens einer seiner Kumpane habe vor seinem Tod auf einen der Schädel geschossen und diesen auch sichtbar getroffen.

Doch keiner der Schädel, denen wir bisher begegnet waren, hatte irgendeine Form äußerlicher Verletzung gezeigt. Zumindest keine halbwegs frische.

Dass wir es mit mehr als bestenfalls einem halben Dutzend dieser Dinger zu tun hatten, daran mochte ich nicht so recht glauben, und sowohl mein Partner als auch Deputy Corbijn gaben mir nach kurzer Rücksprache recht. Wenn die Stadt von fliegenden Schädeln förmlich überrannt worden wäre, dann hätten wir das bereits mitgekriegt.

Hieß das womöglich, dass die Schädel sich selbst kurierten? Dass sie über gewisse Selbstheilungskräfte verfügten, ähnlich wie Werwölfe und Vampire?

Wir wussten immer noch so wenig. Und so paradox es sich anhören mochte: Aus Erfahrung wusste ich, dass wir manches womöglich auch nie in Erfahrung bringen würden.

Für uns, Deputy Corbijn, Suko und mich, gab es hier nichts mehr zu tun. Beim Abschied wandte ich mich an Mister McWright, der den telefonischen Notruf an die örtliche Polizei abgesetzt hatte. Mit einem Ohr hatte ich mitbekommen, dass er Krimi- oder Horrorautor oder beides war und prompt, quasi aus dem Stegreif, eine Story improvisierte und zusammenfabulierte, mit fliegenden Schädeln, die nach einem Unfall in einem nahegelegenen Chemiewerk ... - Irgendsowas.

Falls sein saloppes Geschwätz dazu dienen sollte, die Stimmung seiner Frau und ihres recht kompakt gebauten Sohnes aufzupäppeln, ging das augenscheinlich gerade voll in die Hose.




"Stimmt es eigentlich, Mister Wright", unterbrach seinen Wortschwall, "dass Krimiautoren am liebsten selbst bei der Polizei dienen würden, das aber in den allermeisten Fällen aus irgendwelchen Gründen nicht geklappt hat?"

Er sah mich an. Runzelte die Stirn. Schüttelte den Kopf.

"Mit Verlaub, das ist ein Märchen, Herr Oberinspektor. Feuilleton-Geschwätz."

Ich hob eine Augenbraue.

"Sicher?"

Mister McWright hatte den Schock wegen des fliegenden Schädels und der zwei Leichen in seinem Haus offenbar gut weggesteckt. Er war scheinbar schon wieder die Ruhe und Selbstsicherheit in Person. Er lächelte fein, wie ein Pädagoge, der mit einem Kind sprach.

"Absolut. Was mich persönlich angeht, Herr Oberinspektor, bin ich außerdem Anarcho-Syndikalist und lehne jede Form staatlicher Machtausübung von Grund auf entschieden ab."

Ich hob noch eine Augenbraue.

"Tatsächlich?"

Er nickte ernst. Verzog keine Miene.

"Absolut, Herr Oberinspektor."

Scheiße, dachte ich, sagte es aber nicht. Nicht im Dienst. Sukos Blick allerdings sprach Bände. Wir dachten mal wieder ziemlich genau das Gleiche ...

***

Endlich! Der Tag war gekommen!

Der Tag, an dem sie einander die Unschuld rauben wollten.

Alles war perfekt arrangiert. Kevins Eltern waren auf Besuch aus und würden vor spätabends nicht heimkehren. Das Dienstmädchen hatte seinen freien Tag, war ebenfalls außer Haus und würde erfahrungsgemäß erst am nächsten Morgen zurückkehren. Und Angelinas Eltern glaubten, Kevin habe ihre Tochter zu einem Besuch im städtischen Zoo abgeholt.

Sie waren zusammen und unbehelligt und allein, den ganzen Tag lang gehörte das Haus ihnen, und niemand würde sie stören.

Eilig hatten sie es trotzdem. Beide waren immerhin schon sechzehn. Angelina sogar noch ein paar Monate älter als Kevin.

Kevin hatte seine Freundin in sein Zimmer im ersten und einzigen Stock seines Elternhauses geführt.

Er hatte überlegt, sie auf die Arme zu nehmen und zu tragen, bei genauer Begutachtung von Angelinas üppigen Rundungen hatte ihn allerdings der Mut verlassen. Er war sich nicht mehr sicher gewesen, ob er die ganzen siebenundzwanzig Stufen hinauf durchhalten würde.

In seinem Zimmer hatten sie es sich auf dem von hereinfallendem Sonnenlicht gefluteten Bett gemütlich gemacht.
"Versprich mir eins", flüsterte das Mädchen, die feucht schimmernden, vor Erwartung bebenden Lippen dicht am Ohr des Jungen.

"Alles", gelobte er mit heiserer Stimme, ohne auch nur eine Sekunde lang seine Liebkosungen zu unterbrechen.

"Sei zärtlich ..." Die letzte Silbe klang aus in einem langgezogenen Seufzer - der jäh überging in einen schrillen Schrei!

Kevin schreckte hoch und sah das Mädchen verständnislos an.


Ihr Blick war starr auf das Fenster in Kevins Rücken gerichtet. Sie hob langsam ihren ausgestreckten Arm und deutete in diese Richtung. Ihre Unterlippe zitterte.

"D-d-da! Oh nein!"

Kevin hatte sich umgedreht und sah nun auch, was Angelina so aus der Fassung brachte. Er musste blinzeln, weil die Sonne durch Fenster hineinschien und ihn blendete. Trotzdem konnte er erkennen, was Angelina offenbar so erschreckt hatte.

Von draußen, vor dem geschlossenen Fenster, blickte jemand ins Zimmer hinein. Ein Spanner, schoss es Kevin heiß durch den Kopf. Na, warte ...

Er wollte schon aufspringen, zum Fenster laufen, es aufreißen und den Perversen mitsamt der Leiter, auf der er stehen musste, rückwärts in den Garten kippen - da hielt er mitten der Bewegung inne.

Der Schädel hob sich zwei Handbreit in die Höhe, und das Pärchen auf dem Bett machte die Entdeckung, dass unterhalb des Halses offenbar kein Körper mehr war. Der Schädel schien frei in der Luft zu schweben.

Der Schädel selbst sah aus, wie man sich die von Verwesung zerfressene Fratze eines Zombies in einem Horrorfilm vorgestellt hätte.

Ohne Vorwarnung schnellte er vor und krachte mit der Stirn gegen die Glasscheibe des Fensters. Die Scheibe - immerhin doppeltes Verbundglas - zeigte Risse, blieb aber ganz.

Kevin und Angelina schrien synchron auf. Angelina flüsterte mit zitternder Stimme: "Tu´ doch was, Kevin! Mach´, dass er weg geht!"

Kevin griff nach der Hand seiner Freundin und zog sie vom Bett Richtung Tür.

Der Schädel grinste, nahm ein weiteres Mal Anlauf, krachte in die Scheibe - und diesmal ging diese scheppernd zu Bruch, scharfe Splitter und Scherben regneten ins Zimmer und auf das zerwühlte, leere Bett.

Da waren die beiden Teenager längst zur Tür hinaus und stolperten die Treppe hinab ins Erdgeschoss.

Unten angekommen, lief Kevin zur Haustür und riss sie weit auf. Dann fasste er Angelina wieder bei der Hand, legte einen Finger auf die Lippen zum Zeichen, dass das Mädchen sich still verhalten sollte, und zog sie mit sich ins angrenzende Wohnzimmer.

Behutsam leise schloss er die Zimmertür.

Angelina zitterte wie Espenlaub. Sie schluchzte leise, Tränen liefen über ihre Wangen. Kevin nahm sie in die Arme und merkte dabei, dass er selbst mindestens genauso sehr zitterte.

"Warum sind wir nicht weggelaufen?", flüsterte das Mädchen.

Kevin sah ihr in die Augen. "Genau das soll er denken", flüsterte er zurück. "Dass wir vorne durch die Haustür raus und weg sind." Er streichelte sanft ihren Kopf. "Dann fliegt er raus. Und wir sind ihn los und in Sicherheit."

Er machte sich von dem Mädchen los und legte den Kopf seitlich an die Tür, um zu lauschen.

Nichts.

Machten fliegende Schädel beim Fliegen Geräusche? Im selben Moment, als er sich die Frage stellte, hätte Kevin beinah laut aufgelacht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was hier gerade passierte. Wer - oder besser: was - da gerade hinter ihm und Angelina her war.

Dann fiel ihm wieder ein, dass in seinem Zimmer das Fenster zu Bruch gegangen war, und die nächste Frage brachte ihn zumindest halbwegs wieder in die Realität zurück.

Heiliger Strohsack, wie erklär´ ich das meinen Eltern?

Der Schädel war derweil die Treppe hinab geschwebt. Auf dem unteren Treppenabsatz verharrte er kurz. Er drehte sich langsam um die eigene Längsachse, bis der Blick der trüben, toten Augen an der offenstehenden Haustür klebenblieb.

Der Schädel schoss auf die Tür zu, doch noch bevor er hindurch war, hielt er abrupt inne. Das Monstrum wandte sich auf der Stelle um, die Nüstern blähten sich auf, und der Schädel schnaufte, als ob er schwer atmen würde. Was jedoch definitiv nicht der Fall war. Der Schädel hatte es so wenig nötig zu atmen, wie alle lebenden Toten, denen die schwarze Magie zu neuem, unnatürlichem Dasein verholfen hatte. Stattdessen schnupperte und schnüffelte er in verschiedene Richtungen. Wie ein Raubtier, das Witterung aufnahm.

Drei Türen gingen vom unteren Hausflur ab, den Hauseingang nicht mitgezählt.

Eine führte in ein kleines Gäste-WC, eine gegenüber in die Küche, die dritte lag am Ende des Flurs und führte ins Wohnzimmer.

Die Türen zu WC und Wohnzimmer waren geschlossen.

Der Schädel hatte die Witterung seiner Beute aufgenommen und flog auf die Tür zum Wohnzimmer zu. Er nahm schon Anlauf, um die Tür mit Gewalt aufzurammen, da hielt er plötzlich wieder inne.

Dann wandte er sich der Tür zur Küche zu und flog hindurch.

Kevin hatte den Schädel durchs Schlüsselloch beobachtet.

"Verdammt", presste er zwischen den Zähnen hervor, "er ist nicht drauf reingefallen."

Angelina saß inzwischen auf der Couch. Hier hatte sie Jacke und Handtasche abgelegt, bevor Kevin mit ihr nach oben gegangen war.

Es wollte dem Mädchen scheinen, dass das fast schon in einem anderen Leben passiert war.

Angelina suchte in ihrer Handtasche nach der Schachtel Zigaretten, von der ihre Eltern tunlichst nichts erfahren sollten, nestelte umständlich ein Stäbchen heraus und ließ es prompt fallen, weil ihre Hände zu sehr zitterten. Sie las die Zigarette vom Teppich auf, steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie an, inhalierte und fing prompt an zu husten.

Kevin drehte sich zu ihr um und legte wieder den Finger an die Lippen.

"Pscht!"

In der Küche fand sich der Schädel vor einer weiteren Tür, die ebenfalls verschlossen war. Es war die Verbindungstür, die direkt von hier ins Wohnzimmer führte, das neben der Couchgarnitur außerdem den Familien-Esstisch beherbergte.

Kevin hatte gleich, als er mit Angelina ins Wohnzimmer geflüchtet war, überprüft und sichergestellt, dass die Tür zur Küche verschlossen war. Vorsichtshalber hatte er noch einen der Stühle vom Esstisch mit der Lehne unter die Türklinke geklemmt.

Der Schädel musste einsehen, dass alle Türen zum Wohnzimmer, in dem seine Beute mehr oder weniger in der Falle saß, für ihn verschlossen waren.

Dann fiel sein Blick auf die Wand neben der Tür.

Und die Zombie-Fratze verzerrte sich zu einem abartigen Grinsen, und in Vorfreude auf ihr bevorstehendes Mahl floss ihr stinkender Geifer aus dem Maul und klatschte in zähen Tropfen auf die Küchenfliesen.

***

"Wen rufst du an?"

Angelina hatte ihr Mobiltelefon aus ihrer Handtasche gezogen, eine Nummer gewählt und hielt das Gerät ans Ohr. Sie blies Rauch aus und aschte in den fast schon antiken Aschenbecher aus massivem Bleikristall, der auf dem niedrigen Couchtisch stand.

"Na, wen wohl? Die Bullen natürlich!"

Kevin runzelte die Stirn. "Die Bullen? Tolle Idee. Und was willst du denen erzählen?"

Angelina schnaubte und machte eine ausgreifende Geste, die den ganzen Raum einschloss.

"Na, was wohl? Was hier abgeht natürlich! Die sollen, verdammt nochmal, kommen und ..."

Kevin unterbrach sie mit einem abschätzigen Lachen.

"Wenn du den Bullen erzählst, dass ein fliegender Schädel hinter uns her ist, schicken die höchstens eine Notambulanz der städtischen Psychiatrie ..."

Weiter kam er nicht, denn im nächsten Moment ertönte ein dumpfer Knall aus Richtung der Tür zur Küche.

Kevin warf sich auf der Stelle herum.

"Scheiße, die Durchreiche!"

Neben der Tür gab es in der Wand zwischen Küche und Wohnzimmer beziehungsweise dem Esstisch eine Öffnung in der Wand, um bequem Speisen von hier nach da und leeres Geschirr und benutztes Besteck zurück zu transportieren, ohne jedesmal laufen zu müssen.

Die Öffnung, gut einen Meter breit und hoch, war durch zwei einfache Schwingtüren verschlossen. Die jedoch beim geringsten Druck nachgaben und sich öffneten.

Der Schädel war ohne viel Federlesens direkt hindurch geflogen.

Im Wohnzimmer angekommen, verharrte er regungslos in der Luft, die widerlichen, leeren, eitergelben Augäpfel auf die beiden Teenager gerichtet, die vor Schreck erstarrt schienen. Sein Maul verzerrte sich zu einer höllischen Parodie eines Lächelns. Der Schädel schüttelte sich und stieß dabei abgehackte, kieksende Töne aus. Er schien gleichsam zu feixen, so sehr genoss er offenbar den Horror, das Grauen und die nackte Todesangst, die er bei seinen beiden Opfern auslöste. Wieder blähten sich seine Nüstern, er konnte das warme, frische Blut in den Venen und Arterien der beiden jungen Menschen riechen und leckte sich mit der kleinen, schwarzen Zunge gierig die kaum mehr vorhandenen Lippen. Ja, er würde sie aussaugen bis auf den letzten Tropfen!

Der Schädel schien kurz zu überlegen, welches seiner Opfer er sich zuerst vorknöpfen sollte.

Dann stürzte er sich unvermittelt mit einem schrillen Kreischen auf das Mädchen.  
 
***

Kevin hatte noch schreien wollen: "Nein! Nimm´ mich!" - Doch zu spät! Tatenlos musste der junge Mann mitansehen, wie sich dieses grausige Etwas, das es nicht geben konnte, nicht geben durfte, auf das Mädchen stürzte, das er mehr liebte als alles andere auf der Welt.

Das konnte, durfte er nicht zulassen!

Als Angelina den kreischenden Schädel auf sich zu rasen sah, griff sie, einem Instinkt folgend, in ihre Handtasche und zog wahllos das erste heraus, was sie in die Finger bekam.

Es war eine kleine Dose Haarspray.

Ohne überhaupt zu überlegen, richtete sie blitzschnell die Sprühöffnung dem heranrasenden Schädel entgegen und presste den Daumen auf die kleine Plastikhaube oben auf der Dose.

Zischend spritzte der nebelartige Schwall in die abscheuliche Fratze und hüllte sie in eine süßlich parfümierte Wolke.

Der Schädel kreischte abermals auf, raste dicht am Kopf des Mädchens vorbei und krachte in den Vitrinenschrank mit Kevins Sportauszeichnungen.

Kevin hatte sich derweil nach etwas umgesehen, was er als Waffe gegen den Schädel einsetzen konnte, und war am gemauerten Kamin, der eine Ecke des Raums einnahm, fündig geworden. Er riss mit beiden Händen den gusseisernen Schürhaken aus der Halterung neben dem Rost, auf dem noch ein paar verkohlte Holzreste lagen.

Der Schädel hatte sich wieder aufgerappelt und in die Luft gehoben. Er glänzte feucht von dem chemischen Frisurfestiger, mit dem Angelina ihn eingedeckt hatte. Noch eher er reagieren konnte, war Kevin bei ihm und verpasste ihm mit dem Schürhaken einen derartigen Schlag gegen die Schläfe, dass das Geräusch, mit dem der Schädelknochen barst, deutlich zu hören war. Der Schädel wurde zur Seite geschleudert, prallte gegen die tapezierte Wand, fing sich jedoch wieder und trudelte in die Gegenrichtung davon.

Genau in Richtung der Öffnung des Kamins.

Angelina war von der Couch aufgesprungen. Als der Schädel an ihr vorbei trudelte, deckte sie ihn blitzschnell mit einer weiteren Dosis aus ihrer Sprühdose ein.

Gemeinsam, Kevin mit dem Schürhaken, Angelina mit der Dose, deren Inhalt auf den teuflischen Schädel wirkte wie Pfefferspray, trieben sie den Schädel zurück, bis der den Kamin im Rücken hatte.

Kevin holte aus, traf den Schädel mitten im Gesicht und prügelte ihn rücklings auf den Kaminrost. Dort blieb der Schädel wie betäubt liegen. Seine Augen waren halb geschlossen, die blutverschmierte Unterlippe zitterte, Kevin und Angelina glaubten beinah, ihn leise wimmern zu hören.

Unvermittelt riss der Schädel die Augen wieder auf. Im selben Moment wurde Angelina bewusst, dass sie immer noch die mittlerweile weitestgehend heruntergebrannte Zigarette zwischen den Lippen hielt.

Sie sog daran, spürte und schmeckte den Rauch.

Die Zigarette brannte also noch, hatte noch Glut.

In einer einzigen, geschmeidigen Bewegung riss sich das Mädchen die Zigarette aus dem Mund und schnippte sie gekonnt in Richtung des Schädels. Kaum hatte die Glut des Stummels  in berührt, entzündete sich mit einem hohlen Fauchen das Haarspray, mit dem Angelina ihn eingedeckt hatte.

Im Nu brannte der Schädel lichterloh!

Er begann bestialisch zu kreischen, krachte rechts und links gegen die gemauerten Wände innerhalb des Kamins. Dann schoss er vor, aber Kevin hatte mit einer solchen Aktion gerechnet und drosch ihn mit einem gezielten Hieb mit dem Schürhaken zurück in den Kamin.

Dort blieb der Schädel einen Moment lang regungslos liegen, und die beiden Jugendlichen dachten beinah schon, jetzt sei es vorbei, als das Bündel bläulich-grün züngelnder Flammen plötzlich hochschoss - und im nächsten Augenblick verschwunden war.

Der Schädel war brennend den Kaminschacht hinauf geflohen.

Kevin ging schnell zwei Schritte vor, bückte sich, schob den Kopf in den Kamin und verdrehte den Hals, um den Kaminschacht empor blicken zu können.

Alles, was er sah, war ein quadratischer Ausschnitt des tiefblauen Nachmittagshimmels.

Der Schädel hatte es offenbar geschafft.

Er war entkommen.

Kevin richtete sich wieder auf und sah seine Freundin an. Ihre schulterlangen dunkelblonden Haare waren zerzaust, ihr Gesicht war gerötet und sie hatte Rußflecken auf Stirn und Wangen.

Stumm, ohne überflüssige Worte, die eh nichts von dem hätten ausdrücken können, was gerade in ihnen beiden vorging, nahmen sie einander in die Arme.

Dann küssten sie sich. Wieder und wieder und wieder.

Sie sahen einander tief in die Augen, und Angelina ergriff Kevins Hand und zog ihn schweigend zur Tür und von dort aus in den Flur. Sie machte Anstalten, ihn weiter die Treppe hinaufzuführen, doch er hielt sie mit sanftem Widerstand zurück.

"Bist du sicher? Ich meine, nach all dem ..."

Angelina legte ihm einen Finger auf die Lippen als Zeichen, still zu sein. Sie küsste ihn; dann blickte sie ihm tief in die Augen.

"Wann, wenn nicht jetzt?"





 
 ***

Der dritte Schädel war also auch vernichtet. Aber wie viele gab es nun überhaupt insgesamt?

Einer der Schädel, die wir hatten neutralisieren können, hatte offensichtlich zu einem der toten Gangster auf der Lichtung im Wald gehört. Die anderen beiden waren jedoch offenbar uralt und weiblich gewesen. Sollte es sich hierbei tatsächlich um Hexenschädel handeln, und standen diese wiederum in einem Kontext mit der lokalen Mythe oder Legende, an die Deputy Corbijn sich zu erinnern glaubte, dann war davon auszugehen, dass sich noch mindestens ein weiterer fliegender Schädel in Maidenhead und Umgebung herumtrieb.

"Wer, hatten Sie gesagt, hat Ihnen einmal etwas über die alte Richtstatt in Zusammenhang mit drei Hexen erzählt, Deputy?"

Corbijn zog die Stirn kraus. "Die alte Miss Rutherford aus der Stadtbibliothek." Sie blickte auf ihr Smartphone.

"Ist gleich sechs, dann schließt die Bücherei. Wenn wir jetzt hinfahren, können wir sie vielleicht noch abfangen."

Ich sah zu Suko.

Mein Partner zuckte die Achseln. "Haben wir gerade was besseres vor?"

"Fahren wir."


***

Wir rollten just in dem Moment auf den Parkplatz vor der Stadtbücherei von Maidenhead, als eine Frau in einem langen braunen Mantel von außen die Doppeltür am Eingang zu den Räumlichkeiten abschloss.

Deputy Corbijn sprang aus dem Wagen und lief auf die Frau zu, die sich umgedreht hatte.

"Miss Rutherford?"

Sie blieb bei der Frau stehen und wechselte einige Worte mit ihr, die wir nicht verstehen konnten. Dann kamen beide auf unseren Wagen zu.

Suko und ich stiegen ebenfalls aus.

Miss Rutherford war eine rüstige Dame in den Sechzigern, mit einem stahlgrauen Haardutt auf dem Kopf und verwegen viel Make-up im Gesicht für eine Frau ihres Alters.

Corbijn erklärte ihr andeutungsweise, weshalb wir hier waren und was wir von ihr wollten, und Miss Rutherford schlug vor, dass wir uns in ein Café schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite setzen sollten, um in Ruhe reden zu können.

Wir fanden einen Fensterplatz zur Straße hin. Suko und mir knurrten die Mägen, schließlich hatten wir seit mittags nichts mehr gegessen, und ich zudem auch bloß die Fish & Chips.

Trotzdem blieben wir tapfer und bestellten uns bloß Kaffee beziehungsweise Tee. Miss Rutherford trank Earl Grey. Deputy Corbijn bestellte sich eine zuckerfreie Coke.

"Die Sache mit dem alten Richtplatz und den drei Hexen, das wollen Sie also genau wissen, soso." Miss Rutherford lächelte hintergründig. "Und darf man erfahren, woher Ihr Interesse stammt?"

Deputy Corbijn sah erst meinen Partner, dann mich an. Ich zuckte die Achseln. Sollte sie der Bibliothekarin meinetwegen von den fliegenden Schädeln erzählen. Die Sache würde eh noch in der Öffentlichkeit die Runde machen. Spätestens dann, wenn Dennis McWright demnächst seinen neuesten Gespenster-Krimi veröffentlichen würde.

Immer vorausgesetzt, dass er für eine Krimi-Story mit fliegenden Schädeln überhaupt einen Verlag fand.

Aber Deputy Corbijn schien sich anders entschieden zu haben.

"Das erzähl´ ich Ihnen, nachdem Sie uns die Geschichte erzählt haben. Ist sie eigentlich echt?"

Miss Rutherford blinzelte.

"Echt?"

Corbijn zuckte die Achseln. "Na, real. Entspricht sie den Tatsachen? Oder ist das bloß ein Märchen? So wie der Rattenfänger von Hameln?"

"Oha", beeilte ich mich einzuwenden, "Der Rattenfänger von Hameln ist mitnichten ..."

Miss Rutherford schnitt mir mit einer knappen Geste den Satz ab. Sie lächelte entschuldigend.

"Nein. Es ist kein Märchen."

Ihr Blick wanderte von einem zur anderen.

"Es ist alles andere als ein Märchen."

Dann begann die alte Dame zu erzählen ...

***

Maidenhead, 1729 n. Chr.

Das ganze Volk von Maidenhead war auf den Beinen. Der Zug der Einwohner des idyllischen, gut anderthalb Tagesreisen westlich von London gelegenen Dorfes folgte der Hauptstraße Richtung Süden, bis er an einer bestimmten Stelle in eine Einmündung im dichten Wald abbog.

Die Leute gingen langsam, die Häupter gesenkt. Hier und da lärmte ein Kind, das schnell wieder zur Ruhe gebracht wurde. Die Erwachsenen hüllten sich vollends in Schweigen.

Doch die Idylle trog.

Es war keine fromme Prozession, die die Gemeinde hier abhielt.

Zwar führte ein Geistlicher den Zug an, doch war es kein Pfarrer oder Priester oder Bischof, sondern ein Inquisitor der Heiligen Anglikanischen Kirche. Und direkt hinter ihm folgte ein offener Wagen, der von zwei schwarzen Pferden gezogen wurde. Auf die Ladefläche des Wagens waren drei Frauen gekettet, die ihrem Tod entgegen fuhren.

Die drei waren der Hexerei angeklagt, geprüft und für schuldig befunden worden.

Geprüft?

Wahrhaft grausam hatte man sie geschunden. Kaum einen Flecken heiler Haut trugen die drei Hexen noch an den gemarterten Leibern. Die Folterknechte der Gesandtschaft der Heiligen Anglikanischen Inquisition hatten ganze Arbeit geleistet.

Dabei war so lange alles gut gegangen. Die Frauen hatten abseits der Gemeinde, wo man sie nur die Kräuterfrauen nannte, allein in einer Hütte im Wald gelebt. Und niemanden gestört. Und man hatte sie in Ruhe gelassen, abgesehen von den paar Malen, wenn einigen Kindern nach einer Mutprobe war und sie die Holzhütte, in der die Frauen wohnten, aus der Deckung, die das Unterholz des Waldes ringsum bot, mit Steinen beworfen hatten.

Dann war irgendwann die Tür der Hütte langsam von innen geöffnet worden, und die Kinderbande verschwand schreiend im Wald.

Ja, lange war alles gut gegangen. Als die Pest in London gewütet hatte und auch nach Middlehead überzuspringen drohte, waren die drei Kräuterfrauen am Samstag auf dem Markt erschienen, mit einem Bottich voll von einer milchigen, fettigen Substanz darin, die wohl auf Rindertalgbasis hergestellt war. Die Frauen erklärten den Marktbesuchern, es handle sich bei dem aromatisch duftenden Fett um ein Mittel gegen die Pest. Später hieß es, von denen, die sich an jenem Tage mit dem Mittel aus dem Bottich die Stirn eingerieben hatten, hätten alle die Pest unbeschadet überlebt.

Lange war alles gut gegangen; doch dann war etwas geschehen. Niemand in der langsam aber stetig zu einer Stadt heranwachsenden Gemeinde wusste Genaues; oder wollte Genaues wissen.

Ein Trupp Jäger, hieß es, sei im Wald auf der Jagd nach Wild gewesen und dabei zufällig auf die Kräuterfrauen gestoßen.

Die drei Frauen - die eine blond, die zweite schwarzhaarig, die dritte fuchsrot - waren alles andere als attraktiv. Wer sie gesehen hätte, hätte sie vielleicht auf Ende zwanzig geschätzt.

Es gab einige Spekulationen, kichernd hinter vorgehaltener Hand, was die drei ganz ohne Mann des nachts in ihrem Haus im Wald wohl treiben mochten.

Drei Frauen.

Mehr als zehn Männer, im Rudel auf der Jagd.

Allein im Wald.

Ohne Zeugen.

Niemand wusste nichts Genaues, aber Jede und Jeder konnte sich alles in aller Deutlichkeit selbst denken.

Kurz nach dieser Episode ging es los.

Zuerst verschwanden Tiere. Hier eine Katze, dort ein Hund.

Dann verschwanden Kinder.

Jugendliche, die sich im Wald herumgetrieben hatten, berichteten, sie hätten die drei Frauen gesehen, wie sie mit einem riesigen Ziegenbock getanzt hätten.

Dass die Frauen dabei nackt gewesen waren, erzählten sie nicht.

Und was die Frauen sonst noch mit dem Bock getrieben hatten.

Dann war das Wasser in sämtlichen Brunnen plötzlich über Nacht so abgestanden, dass man es kaum noch trinken konnte.

Und einigen der Älteren fiel es nun auch wie Schuppen von den Augen. Die Pest, das war vor über fünfzig Jahren gewesen. Und in all der Zeit seither schienen die drei Kräuterfrauen um keinen Tag gealtert.

Am nächsten Tag hatte der Bürgermeister einen berittenen Boten nach London geschickt. Zum Sitz des Bischofs. Mit der schriftlichen Bitte um Beistand.

Drei Tage später war der Tross aus Soldaten ihrer Majestät und Männern der Heiligen Anglikanischen Kirche in Maidenhead eingetroffen, in der Morgendämmerung, im strömenden Regen.

Noch am selben Tag war man in den Wald eingedrungen, hatte die drei Frauen aus der Hütte gezerrt und in den Verliesen unterm Rathaus mit der peinlichen Befragung begonnen.

Die Heilige Inquisition der anglikanischen Kirche stand der der katholischen in nichts nach.

Allen bekannten Folterpraktiken hatte man die drei Frauen unterworfen, mit Ausnahme derer, die bei längerfristiger Anwendung zwangsläufig zum Tode geführt hätten. Denn der Inquisitor wollte ein Geständnis. Doch zu welchen Bestialitäten er auch griff - die Frauen schrien zwar, aber sobald die unmittelbare Qual vorüber war, lachten sie ihn schon wieder aus.

Und gestanden - rein gar nichts.

Zumindest nicht das, was er hören wollte.

Dass sie nämlich mit dem Teufel im Bunde standen.

Die Folterknechte hatten auch die Hexenprobe angewandt, hatten glühende Nadeln in schwarze, schorfige Warzen gerammt. Und die vermeintlichen Hexen hatten gewimmert und geschrien, aber der Inquisitor hatte intuitiv gespürt, dass die Pein nur vorgespielt war. Rein gar nichts hatten die Hexen gespürt. Und da wusste er, dass er es tatsächlich mit Hexen zu tun hatte. Und er fühlte, wie eine eiskalte Hand mit spitzen Fingernägeln seinen Rücken hinabfuhr.

So wurden die drei Frauen anhand von Indizien als Hexen überführt. Die Strafe war indes die selbe.

Der Tod.

Da die drei Verurteilten jedoch bis zuletzt standhaft geleugnet hatten, mit dem Teufel im Bunde zu sein, konnte man sie gemäß Kirchenrecht nicht lebendig dem Feuer übergeben, sondern musste sie vorher enthaupten. Erst danach sollten Köpfe und Körper vom reinigenden Feuer zu Asche verbrannt werden.



***

Das Ziel der Prozession, die ein Todesgeleitzug war, an jenem sonnigen Freitag, war die im Wald gelegene Richtstatt. Hier stand der Galgenbaum, hier lag das Schafott. Die weite, natürliche Lichtung ringsherum um letzteres würde heute bis auf den letzten Stehplatz gefüllt sein.

Neben dem Schafott, einer kreisrunden, mehrere Stufen hohen Tribüne, auf der ein gewaltiger pechschwarzer Baumstumpf stand, war eine Grube ausgehoben, groß genug, drei Körper zu fassen. Ausgelegt war die Grube mit Reisig und reichlich trockenem Holz.

Hier sollten die drei der Hexerei überführten Frauen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Der Zug stoppte vor dem Schafott. Soldaten in schimmernden Rüstungen ketteten die Frauen los, zerrten und stießen sie brutal vom Wagen. Peitschten sie die Stufen zum Schafott hinauf. Der Inquisitor und sein Schreiber folgten. Und dann ein Mann, der ganz in eine schwarze Kutte gehüllt war, mit spitzer Kapuze und Gesichtsmaske, die nur einen schmalen Streifen für die Augen freiließ. Es war der Henker, der Vollstrecker. Das Beil trug er bei sich. Der breite Stiel hatte etwa Armlänge. Die mondsichelförmige Klinge steckte in einem Futteral aus braunem Wildleder.

Derweil ergoss sich das nachrückende Publikum auf die Lichtung.

Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde, bis sich alles so weit beruhigt hatte, dass der Inquisitor das Wort ergreifen konnte.

Nochmals verlas er Anklage- und Urteilsschrift, bestätigte das Urteil abschließend im Namen der Heiligen Anglikanischen Kirche und war gerade im Begriff, dem Henker aufzutragen, seines Amtes zu walten, als plötzlich eine der drei zum Sterben verdammten Frauen - es war die Rothaarige - laut aufheulte.

"Ihr alle", spie sie in die Runde der Männer auf der Blutstätte und ins Publikum ringsum, "ihr alle habt keine Ahnung, was ihr hier tut! Aber ihr werdet es nie wieder tun, das versprechen wir euch, meine Schwestern und ich!"

Der Inquisitor gab einem der Soldaten den Befehl, die Frau zum Schweigen zu bringen. Der Soldat schlug der Frau hart ins Gesicht, so hart, dass ihre Nase brach und das Blut auf ihre nackte, von schwelenden Brandwunden übersähte Brust spritzte. Die Frau steckte den Schlag weg, wie sie all die Foltern zuvor weggesteckt hatte, und sprach unbeirrt weiter, wobei mit Blut vermischte Spucke von ihren Lippen spritzte.

"Nie wieder werdet ihr an diesem Ort, auf dieser Lichtung, dieser Richtstatt einen Menschen töten, richten, morden, nennt es, wie ihr wollt. Nie wieder, hört ihr! Wenn es nur einer von euch wagen sollte, an diesem Ort, an dem ihr mich und meine Schwestern vernichten wollt, wenn es nur einer von euch wagt, hier nach uns jemals wieder Blut zu vergießen - dann werden wir wiederkommen. Und dann werdet ihr uns wahrhaft kennen lernen."

Wieder schlug der Soldat zu, und diesmal brach die rothaarige Frau in die Knie.

Sie wurde als Erste ohne ein weiteres Wort vor den gewaltigen, von wer weiß wie altem Blut schwarzen Baumstumpf geschleift. Der Henker brauchte zwei Hiebe, um den Kopf vollständig vom Rumpf zu trennen.

Bei den anderen beiden Frauen reichte jeweils ein Hieb.

Das schmatzende Geräusch, mit dem die Klinge des Beils Fleisch, Muskeln, Arterien, Venen und Knochen durchtrennte, gefolgt vom dumpfen Pochen, wenn die Klinge in das Holz des Richtblocks fuhr, hallte über die ansonsten totenstille Lichtung.

Alle hatten den letzten Fluch der Hexe gehört.

Danach entzündete man den Reisig und das Holz in der bereits ausgehobenen Grube und warf die Leichen der Frauen sowie ihre Köpfe hinein.

Die Hinrichtung war vorüber, nach und nach zogen die Menschen zurück auf dem Weg, den sie gekommen waren, durch den Wald und dann die Hauptstraße in nördlicher Richtung, zurück nach Maidenhead.

Immer noch schweigend.

Alle hatten sie den Fluch der Hexe gehört.


Und er hallte wider in ihren Köpfen, wieder und wieder.

Das Feuer in der Grube brannte zwölf Stunden. Dann waren die Körper der Frauen restlos zu Asche verbrannt.

Die Körper, ja.

Nicht jedoch ihre Köpfe.

Als nur noch schwache Glut in der Grube glomm und man die grauweiße Asche durchstocherte, rollten erst einer und dann auch die anderen beiden Schädel aus ihr hervor.

Alle drei Schädel sahen noch genau so aus, wie sie vom Rumpf getrennt worden waren.

Keinem einzigen hatte das bis tief in die Nacht lodernde Feuer irgendetwas anhaben können.

Blankes Entsetzen, purer Horror erfasste das gute Dutzend Männer, die abgestellt waren, die Grube mit Erde wieder zu schließen.

Was sollten sie tun?

Der Inquisitor und seine Entourage waren unmittelbar nach der Hinrichtung der Hexen wieder abgereist. Ihn konnten die Männer nicht mehr um Rat fragen.

Schließlich beschloss man, die Grube mit den unversehrten Schädeln darin wieder zuzuschütten. Die Anwesenden schworen einander, niemals ein Wort über die Schädel zu verlieren.

Einer tat es dann aber schließlich doch. Im Vollrausch, im Pub, vor einem Gästepublikum, das wohl genauso besoffen war wie er selbst.

Der Mann berichtete nicht nur, dass die drei Schädel völlig unversehrt gewesen seien; sondern behauptete auch, mindestens einer der Schädel habe die Augen bewegt und versucht zu sprechen.

Ein, zwei Jahrzehnte später bekam ein Lokalreporter Wind von der Sache, witterte eine brauchbare Story und suchte nach Augenzeugen, die damals bei der Verbrennung dabei gewesen waren. Es stellte sich heraus, dass offenbar alle Männer, die damals zugegen gewesen waren, kurz danach einen brutalen oder sonstwie äußerst unschönen Tod gestorben waren.

Suff, Selbstmord, schlimme Unfälle mit landwirtschaftlichem Gerät ...

Kurz nach der Hinrichtung der drei Hexen - dass es sich bei den drei Verurteilten um solche gehandelt hatte, zog nach der Nachricht von den feuerfesten Schädeln niemand mehr ernsthaft in Zweifel - fand zudem eine Sondersitzung im Rathaus von Maidenhead statt ...

***

"Auf dieser Sitzung wurde einstimmig beschlossen, dass vom Gericht in Maidenhead verkündete Todesurteile fürderhin nicht mehr vor Ort in Maidenhead, sondern in London vollstreckt werden sollten."

Miss Rutherford machte eine Pause und trank einen Schluck von ihrem Tee.

"Ein Protokoll der Sitzung wird übrigens bis heute im Rathausarchiv verwahrt." Die alte Dame lächelte charmant. "Ich habe es gelesen."

***

Deputy Corbijn runzelte noch die Stirn, aber bei mir war der Dime schon auf halber Strecke der Erzählung der Bibliothekarin gefallen.
 

Ich sah Suko an, der zog einen Flunsch und nickte.

Wir hatten beide die selben Schlüsse gezogen.

Das also war des Pudels vielzitierter Kern.

Von wegen fahrender Scholast. Vielmehr ein alter Hexenfluch. Ein Bannfluch, ein Bann, der gebrochen worden war, ein Fluch, der in Erfüllung gegangen war.

Getriggert, also ausgelöst, durch die Hinrichtung, die die Gangster am Ort des Geschehens durchgezogen hatten.

"Das ist ja ein Ding", staunte mein Partner.

Nie wieder hatte auf der alten Richtstatt ein Mensch getötet werden sollen. Und man hatte sich daran gehalten und dort nie wieder jemanden hingerichtet.

Bis die Gangster kamen und dort einen der ihren ermordeten.

Der Frevel war getan, also ging der Fluch der Hexen in Erfüllung, indem ihre Köpfe, die man nicht hatte verbrennen können, aus ihrem Grab, der Feuergrube, zurückgekehrt waren, um Angst, Schrecken und Tod zu verbreiten.

Was ihnen bisher durchaus gelungen war, und das sogar am Tage des Herrn.

Wenn andere Leute in Ruhe und Frieden ihr Wochenende genießen.

Ach, egal.

"Und nun Sie", sagte Miss Rutherford leise. "Warum hat Sie diese Geschichte so brennend interessiert?" Sie ließ ihren Blick über unsere kleine Runde schweifen, und er war stockfinster.

"Ist es das, was ich denke?"

Deputy Corbijn sah mich wieder fragend an, und wieder nickte ich. Daraufhin erzählte sie Miss Rutherford in groben Zügen, was seit dem Mittag passiert war.

Als Corbijn geendet hatte, schüttelte die Bibliothekarin nur schweigend den Kopf.

"Haben Sie damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde, Miss Rutherford?", beendete Suko, an Miss Rutherford gewandt, die Stille.

Sie sah uns an. "Damit, dass die Schädel der Hexen eines Tages aus der Feuergrube empor fahren würden, um sich an den vermeintlichen Nachkommen ihrer Peiniger zu rächen?" Sie schüttelte entschieden den Kopf. "Nein. - Aber man sagt, jeder Fluch fällt irgendwann auf denjenigen zurück, der ihn ausspricht. Und dann ist das, was hier geschieht, nur folgerichtig. Denn indem sie sich wieder manifestiert haben, haben die drei Hexen gleichzeitig Ihnen" - dabei sah sie Suko und mich an - "die Möglichkeit gegeben, die Teufelsbrut endgültig dahin zu jagen, wo sie hingehört. Nämlich in die Hölle."

Wow.

Schön formuliert.

Ich lächelte wohl. Miss Rutherford zwinkerte mir zu.

Suko machte den erhabenen Augenblick ziel- und treffsicher zunichte.

"Noch haben wir erst zwei der drei Hexenschädel erwischt."

Ich verdrehte die Augen und winkte ab.

Ich wollte etwas sagen und blickte zu Miss Rutherford. Sie hatte den Kopf gedreht, sah in Richtung Fenster und hatte mir dabei ihr scharf geschnittenes Profil zugewandt.
 

Ich sah, wie der im Dämmerlicht des Cafés mausgraue Dutt leicht zitterte. Gleichzeitig spürte ich, wie sich das Kreuz auf meiner Brust in Sekundenschnelle intensiv erwärmte. Mein Blick folgte dem von Miss Rutherford.

Wie heißt es so schön? - Wenn man vom Teufel spricht ...

Draußen vorm Fenster schwebte der letzte verbliebene der drei fliegenden Hexenschädel.

"Schau´ an. Wenn man von Schädeln spricht ...", hörte ich Suko flüstern. "Aller guten Schädel sind drei. Wie sieht´s aus? Packen wir sie uns? Jetzt oder nie!"

Ich nickte, ohne ihn anzusehen. Manchmal ging er mir schon ein kleines bisschen auf die Nerven.

"Unglaublich", flüsterte Miss Rutherford. "Dass ich das noch erlebe ..."

Bevor noch eine oder einer von uns reagieren konnte, handelte der Schädel.

Prompt war mal wieder die Hölle los.

Und das - auch das waren wir hinlänglich gewohnt - nicht nur sprichwörtlich.


***

Mit einem infernalischen Krachen knallte der Schädel durch die Glasscheibe. Scherben regneten auf uns hinab. Im Hintergrund hörte ich überraschte Schreie; dann entsetztes Schreien. Stühlerücken, Rufe, schnelle Schritte in Richtung des Ausgangs in meinem Rücken.

 Ein heißer Wind fegte durch das zerbrochene Fenster in die Gaststube, bei dem es sich definitiv um kein Wetterphänomen handelte. Der Schädel schoss in den Raum, haarscharf über unsere blitzschnell eingezogenen Köpfe hinweg.

Suko und Deputy Corbijn waren praktisch gleichzeitig auf den Tisch zwischen uns gesprungen, Corbijn ihre Dienstwaffe, Suko die schlagbereite Dämonenpeitsche in der Hand.

Der Schädel flog eine sanfte Kurve, wobei er die auf einem Regal hinter der Theke aufgereihten Whisky-, Schnaps- und Likörflaschen abräumte.

Noch mehr Gekrache, noch mehr Scherben.

Ein kurzer Blick in die Runde genügte, um festzustellen, dass alle anderen Anwesenden offenbar aus dem Café geflüchtet waren.

Im Sitzen zog ich die Beretta und legte auf den Schädel an.

Der ahnte womöglich, was ich vorhatte, spürte vielleicht sogar instinktiv, dass die Waffe mit Kugeln aus geweihtem Silber geladen war, gegen das für ihn kein Kraut gewachsen war, und ging blitzschnell hinter dem Tresen auf Tauchstation.

Im nächsten Moment ertönte aus genau dieser Richtung ein spitzer Schrei.

Jemand wirbelte hinter dem Tresen hoch. Es war die junge Kellnerin, das Mädchen, das uns an unserem Tisch mit Getränken versorgt hatte. Offensichtlich war sie, anstatt wie alle anderen schnurstracks die Beine in die Hand zu nehmen und den Laden zu verlassen, hinter der Theke in Deckung gegangen.

Sie taumelte, sprang herum und drehte sich mehrmals um die eigene Achse und schrie dabei die ganze Zeit weiter.

Dann sah ich, was los war.

Der Schädel hatte sich anscheinend im Nacken des Mädchens verbissen.

"Verdammt!", hörte ich Corbijn und Suko unisono im Chor fluchen. Miss Rutherford flüsterte hinter vorgehaltener Hand: "Oh mein Gott!" Ihre Augen waren groß wie Untertassen; und mindestens ebenso starr.

Corbijn und Suko fluchten, weil es unmöglich war, in dieser Situation dem Schädel mit Peitsche oder Pistole zu Leibe zu rücken. Die Gefahr war zu groß, den Schädel zu verfehlen und das Mädchen zu treffen.

Ich reagierte blitzschnell.

Mit der freien Hand riss ich mir das Kreuz vom Hals, wobei die Kette, an der ich es trug, zu Bruch ging.

Die Kette war egal. Das Kreuz war gefühlt siedend heiß.

Ich streckte es dem Schädel im Nacken des Mädchens entgegen und brüllte die Formel!

"Terra pestem teneto - salus hic maneto!"

Ich selben Moment brach das Mädchen schreiend hinter der Theke zusammen und entschwand unseren Blicken.

Plötzlich herrschte Totenstille.

Ein, zwei Sekunden rührte sich niemand.

Mag sein, wir hielten sogar alle kurz den Atem an.

Dann sprangen Suko und Corbijn vom Tisch. Im nächsten Moment waren beide mit einem Satz auf dem Tresen, wobei sie den Raum dahinter mit ihren Waffen sicherten.

Corbijn sprang hinter die Theke, drei Sekunden später tauchte sie wieder auf, das völlig verängstigte, zitternde und wimmernde Mädchen im Arm.

Der Schädel, der ihr im Nacken gesessen hatte, war von dort verschwunden.

Blut lief in einem dünnen Rinnsal ihren Nacken hinab und tränkte den Rücken ihrer weißen Bluse. Ich blickte Miss Rutherford an. Die alte Dame hatte sich offenbar blitzschnell wieder gefasst. Sie verstand sofort, griff nach ihrem Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, und rief einen Notarzt.

Die Gesichtsfarbe des Mädchens fiel mir auf. Sie war aschfahl, grau wie das Antlitz einer Toten. Einer Toten, die nicht erst gestern oder vor ein paar Minuten gestorben war.

Ihre kurzen, gerade noch - wie ich deutlich erinnerte - pechschwarzen Haare wiesen dieselbe Farbe auf wie das Gesicht.

Aschfahl.

Totengrau.

Deputy Corbijn klärte die Situation und die Erscheinung auf, indem sie dem Mädchen die kurzen Haare verstrubbelte.

Feine graue Asche nieselte heraus, auf ihre Schultern und zu Boden.

Die letzten sterblichen Überreste des letzten der drei dämonischen fliegenden Hexenschädel.

Der Fluch war gebannt. Nein, er war aufgehoben. Die Schädel waren vernichtet. Und die Hexen konnten nun endlich zur wohlverdienten Hölle fahren.

Deputy Corbijn lächelte mir zaghaft zu.

Ich lächelte zurück und nickte.

Der Spuk der fliegenden Sch臈el war vorbei.

***

Der Abend dämmerte bereits, als wir uns von Deputy Melanie Corbijn verabschiedeten. Der Audi hatte eine nagelneue Frontscheibe.

"Man muss nur die richtigen Leute kennen", grinste Deputy Corbijn und wackelte vergnügt mit dem Kopf. Ich ermahnte sie, Ernst zu wahren, immerhin waren an jenem Tag zwei ihrer und auch unserer Kollegen auf grausame Art und Weise ums Leben gekommen.

"Aber jetzt ist es vorbei, oder?"

Nun war es an mir und meinem Partner, mit den Köpfen zu wackeln.

"Das können wir nur hoffen, Deputy. Genau weiß man das bei der anderen Seite nie."

Deputy Corbijn schien nachzudenken.

"Die andere Seite ist wichtig, oder?"

"Nun", sagte ich lächelnd, "für ein paar Ganztagsstellen beim Yard allemal wichtig genug."

"Sicher." Sie grinste. Wir schüttelten einander zum Abschied die Hände. "War auf alle Fälle nett, mal wieder mit Leuten aus der Stadt zu tun zu haben. Und wie heißt es so schön: Man trifft sich immer zweimal im Leben."

"Das nächste Mal dann hoffentlich unter angenehmeren Umständen."  

"Grüße an Big Ben."

"Machen wir glatt."

***
 
Auf der Rückfahrt verglichen Suko und ich unsere Bodycounts.

"Headcounts trifft es in diesem Fall wohl eher", sinnierte mein Partner laut, dem ich wieder das Steuer überlassen hatte. Sukos harte Birne schien von der brachialen Begegnung mit dem Lenkrad des Audi keine schwerwiegenden Schäden davon getragen zu haben. Sein Schädel war offenbar unkaputtbar.

"Na schön. Wer hat wie viele Schädel erledigt?"

"Mal sehen." Ich zählte an den Fingern ab beziehungsweise auf. "Ich hab´ den Schädel des Gangsters mit einer Silberkugel erwischt."

"Zählen wir den mit?", erkundigte sich mein Partner grinsend.

"Natürlich. Warum nicht?"

"Ich frag´ ja nur. - Okay. Also ein Punkt für dich."

"Daraufhin hast du den ersten Hexenschädel mit der Peitsche geknackt."

"Eins zu eins. Suko gleicht aus zum Remis. Das Publikum tobt vor Begeisterung."

Ich hob warnend den Zeigefinger. "Abwarten."

"Warten? Worauf?" Mein Partner hupte einen PKW auf den Seitenstreifen, in dem ein älteres Ehepaar saß. Als wir sie überholten, zeigte uns die Frau vom Beifahrersitz aus den Stinkefinger.

"Festnehmen?", schlug ich grinsend vor. "Mit Leibesvisitation und allem Pipapo?"

Suko verzog das Gesicht. "Ne, lass´ mal, irgendwann muss auch mal Feierabend sein. Wo war ich stehen geblieben?"



"Schädel Nummer drei."

"Genau. Jener welcher, der ebenfalls Zorros Rache anheimgefallen ist ..."

"Tatsächlich?" Ich tat überrascht. "Wenn ich mich recht entsinne, habe ich ihm das Kreuz auf die Stirn gedrückt und ihn damit in ein Häufchen Asche verwandelt."

Suko sah mich an und schüttelte den Kopf. "Wenn ich mich recht entsinne, war er da schon so gut wie tot. Sogar toter als tot, wenn man in Betracht zieht, dass die Schädel ja die ganze Zeit über schon tot waren."

"Machen wir halbe-halbe", schlug ich vor, schon um des lieben Friedens willen.

"Dann steht´s immer noch remis", resümierte der Inspektor.

"Tja. Womit wir bei Schädel Numero Quattro wären." Ich kratzte mich demonstrativ am Kinn. "Den - da dürften wir uns ausnahmsweise einig sein - meine Wenigkeit mithilfe des Kreuzes erledigt hat."

"Du?" Suko tat mehr als erstaunt. "Du hast gar nichts. Dein Kreuz hat ihn erledigt. Ganz allein. Du warst bloß Stichwortgeber. Wie jedesmal."

"Moment mal ..." Ich dachte nach.

Suko grinste von einem Ohr zum anderen. "Stimmt´s oder hab´ ich recht?"

"Das Kreuz ist die ultimative Waffe des Sohns des Lichts", fing ich an, hörte aber selber, wie lahm ich dabei klang.

"Denk´ mal drüber nach", sagte Suko. "Bis dahin gilt: anderthalb Punkte für Inspektor Suko, anderthalb Punkte gehen an Oberinspektor Sinclair. Remis."

Ich war zwar immer noch nicht überzeugt, ließ es aber darauf beruhen. Darüber nachdenken würde ich später aber bestimmt nochmal.

Auf der anderen Seite der Rechnung standen fünf tote Gangster, zwei tote Polizisten und eine tote Austauschschülerin.

Die Gangster waren uns herzlich egal, aber das Mädchen und die Kollegen waren Verluste, die uns trotz aller Flachserei an die Nieren gingen.

Eine Stunde später waren wir wieder in London. Nach der beinah ländlichen Idylle in Maidenhead schlugen uns der Lärm und das Gewühl der Stadt wie eine geschlossene Faust
entgegen.

"Ich habエ einen Mordshunger."

"Verdammt, jetzt wo du´s sagst ..."

"Luigi´s?"

"Hat der noch offen?"

"Sonntags abends? Was denkst du denn?"

"Dann nichts wie hin!"

***

Eine letzte Wendung erhielt der Fall der fliegenden Schädel am folgenden Tag, als mich ein Anruf von Franklin von der Spurensicherung erreichte.

Sie hatten alle Toten aufgrund der Papiere in ihren Taschen identifizieren können, denjenigen, der den Kopf verloren hatte, inklusive. Sein Name war William Hill gewesen.

Alle drei hatten ersten Erkenntnissen zufolge auf der Lohnliste eines gewissen Mikey O´Bannon gestanden, einer in jeder Hinsicht gewichtigen Figur in der Londoner Unterwelt. Der kriminellen, nicht der schwarzmagischen.

"Und jetzt kommt´s", kündigte Franklin den Knüller an, den er meinte, mir mitteilen zu müssen.

"Bin ganz Ohr", sagte ich.

"In Dolans Jackentasche haben wir einen Schlüssel gefunden. Für ein Gepäckschließfach am Flughafen Heathrow. Wir konnten es uns nicht verkneifen, mal einen Blick hinein zu werfen, und was finden wir da?"

Er machte eine Kunstpause.

"Sie werden es mir gleich sagen."

"Eine Sporttasche voller Banknoten. Vom Hunderter an aufwärts. Insgesamt fast 80.000 Pfund Sterling."

"Darum ging es also?", fragte ich.

"Was meinen Sie?", fragte Franklin zurück.

"Deswegen mussten fünf Männer sterben?"

Franklin zögerte. "Vielleicht war es auch die Bezahlung dafür. Dass jemand sie umbrachte."

"Oder das Geld hat mit der ganzen Sache gar nichts zu tun. Mikey O´Bannon wird´s wissen."

"Tja. Das rauszufinden ist Ihr Job, nicht meiner."

"Nicht wirklich. Mein Job ist in diesem Fall schon erledigt." Ich überlegte kurz. "Danke für die Info, Franklin", sagte ich und beendete das Gespräch.

Wieder dachte ich an die fliegenden Schädel und konnte selbst nur den Kopf schütteln. Aus der dunklen Vergangenheit, die Jahrhunderte überdauert, begraben in tiefer Erde, hatte der Fluch uns heimgesucht.

Wer wusste schon, was sonst noch alles in Englands und aller Kontinente Erde begraben lag und nur darauf wartete, sein Haupt zu erheben und aufzuerstehen.

Welche Bedrohungen, Gefahren, Bestien und bösen Geister?

Eins war klar.

Es würde nie aufhören.

Nie.

Immerhin, dachte ich, als ich zum Wagen ging. Auch mal in Maidenhead gewesen.

Ich griff zum Telefon und rief einen Kollegen aus der Personalabteilung an, der mir noch einen Gefallen schuldete. Am Ende des Gesprächs zeigte er sich zuversichtlich, dass für Deputy Melanie Corbijn bald wieder eine Stelle beim städtischen Polizeidienst frei werden könnte.

Ende

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