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Bd. 7 - Dämonenwahn

                                                                          DämonenwahnTry to regain again my friend

                                                                          Your sanity

                                                                          The ritual calls to me

                                                                          Melodic agony

(Testament, The Ritual)

1. Kapitel:

Dunkle Rituale


 


Vergangenheit, Mai 2006

Der Verräter, den die anderen zwölf Meister des Ordens als einen der ihren kannten, lehnte sich in seinem Sessel zurück und ver­schränkte die Finger im Nacken. Während er die Zimmerdecke musterte, zuckte ein Lächeln über seine Lippen.

Alles lief gut. Si­cher, es lief nicht un­bedingt nach Plan, aber doch gut. Eigentlich sogar besser als ge­plant.

Mit dem Verrat der Kyffhäuser-Höhlen an die Barstow-Sippe hatte er Unruhe im Orden stiften wollen. Das war ihm trefflich gelungen!<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Der Schwarzzauberer Castragor Barstow hatte mit seinem Wiedergänger dafür gesorgt, dass der Orden seine Ver­sammlungen zukünftig woanders würde abhalten müssen.

Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen.

Der Verräter griff zu der Flasche 1999er Cabernet Sauvignon Mondavi auf dem Rokoko-Tischchen neben dem Sessel. Erst vorgestern hatte er eine Zwölferkiste aus Kalifornien be­kommen - und heute köpfte er schon die vorletzte Flasche. Er zog den Korken her­aus und schnupperte, versuchte eine be­sondere Note einzu­fangen, einen erlese­nen Duft oder sonst etwas, das den Preis rechtfertigte, den er für das Gesöff ge­zahlt hatte.

Doch da war nichts. Es roch eben, wie Wein riecht!

Er zuckte mit den Schultern, führte die Flasche zum Mund und leerte sie in einem Zug bis auf einen winzigen Rest.

Dann rülpste er, lehnte sich wieder zurück und verschränkte erneut die Finger im Nacken.

Dass er der Barstow-Sippe von den Kyffhäuser-Höhlen und Elena Tepescu von der Existenz des Drachenbluts<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> erzählt hatte, sollte dem Orden aufzeigen, wie schwach er doch war - und den Hüter in eine Richtung zwängen, die er, der Verräter, vorgab. Doch was war stattdessen geschehen? Die Halle der Geheimnisse hatte sich geöffnet. Unzählige Schätze waren aufgetaucht.

Und plötzlich hatten sich ungeahnte Perspektiven für ihn ergeben. In der Halle der Geheimnisse lagerte sicherlich genug Material, das ihn seinem großen Ziel näher bringen konnte.

Das Problem war nur, dass er nicht ungestört und unauffällig die Geheimnisse der Halle durchstöbern konnte. Denn die Ordensmeister wussten, dass sie einen Verräter in ihren Reihen hatten. Die Prophezeiung des Nazareners hatte von einem doppelten Verrat gesprochen und Lührs und dieser neue Hüter hatten sich den richtigen Reim darauf gemacht.

Die Stimmung unter den Ordensmeistern war angespannt. Keiner traute dem anderen mehr richtig über den Weg, niemand durfte sich alleine in der Halle der Geheimnisse aufhalten. Immer musste ein Wachmann der Treasure Security dabei sein.

Wie viel einfacher wäre es, wenn er die ganze Bande mit einem Zauber so einlullen könnte, dass sie nicht mehr an den bösen, bösen Verräter dachte. Ein Vergessenszauber oder ein Ritual, das sie glauben machte, vor dem Verräter in Sicherheit zu sein. Oder vielleicht ...

Er fuhr in seinem Sessel hoch. Dabei stieß er gegen das Tischchen, die Weinflasche kippte um, rollte über die Tischplatte und purzelte auf den flauschigen Teppich. Die letzten Schlucke des Cabernet Sauvignon schwappten heraus und versickerten. Zurück blieb ein großer, roter Fleck.

Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit! Vielleicht konnte er sich ja zurückziehen und den Orden in Sicherheit wiegen.

Dazu bräuchte er nur jemanden, den er für seine Pläne einspannen konnte.

Wieder Cresmonia Gwscore? Nein, die war seit ihrer schmählichen Niederlage im Edwinstowe Valley<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> spurlos verschwunden. Wahrscheinlich bejammerte sie gerade die magische Brandwunde, die der Hüter ihr zugefügt hatte, und kochte an einer Hexensalbe, mit der sie sie heilen konnte.

Wie wäre es ein weiteres Mal mit den Barstows? Würden sie ihm noch trauen, nachdem sie Castragor in den Kyffhäuser-Höhlen verloren hatten? Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht war ja gerade das hilfreich für seine Pläne! Denn niemand lässt sich leichter manipulieren als ein misstrauischer Mann. Außerdem konnte er auch nicht zu wählerisch sein.

Der Verräter stemmte sich aus dem Sessel, kniete neben der Flasche nieder und hob sie auf. Während er sie mit einer Hand wieder auf das Tischchen stellte, strich er mit der anderen ohne hinzusehen über den Weinfleck.

Der Plan, der ihm gerade durch den Kopf gehuscht war, nahm immer konkretere Formen an. Er konnte schiefgehen, sicher, aber wenn er gelang, war die Weste des Verräters wieder so rein wie der Teppich hier. Er zog die Hand weg. Der Fleck war verschwunden.

Als der Ordensmeister den Raum verließ, lachte er.

 

***

 

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Vergangenheit, 19. Mai 2006

„Es ist eine verdammte Zwickmühle“, knarzte Mephistoteles Brandfugger sein Gegenüber über den Tisch hinweg an. „Auf der einen Seite würde ich den verräterischen Ordensmeister am liebsten zerquetschen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass er sein eigenes Süppchen kocht und uns nichts davon abgeben will. So etwas ist mir zuwider.“

Belphegor Barstow nickte. Dann machte er eine beschwichtigende Geste mit den Händen.

„Vielleicht solltest du etwas leiser sprechen“, raunte er. Sein Blick flackerte durch das gotische Gewölbe des Goethezimmers in Auerbachs Keller. Brandfugger und Barstow saßen an einem Tisch unter einem der halbrunden Gemälde, das den Faustritt auf dem Weinfass zeigte. Barstow hatte jedoch keinen Blick für den kulturellen Wert der Bilder. Ihn interessierte vielmehr, dass sie bei den anderen Gästen keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregten. Doch die waren, Luzifer sei Dank, offensichtlich alle mit sich selbst oder ihrem Essen beschäftigt.

„Auf der anderen Seite“, fuhr Mephisto fort, ohne den Tonfall zu senken, „hält Asmodi ihn noch immer für nützlich. Auch wenn er den Pergamenten des Dunklen Propheten skeptisch gegenübersteht ...“

„So ein Narr!“, zischte Barstow. „Die Prophezeiung sagt voraus, dass es zum entscheidenden Kampf mit dem letzten Hüter kommen wird, und Asmodi ...“

Mephisto hob die Hand und Belphegor verstummte. „Auch wenn er den Pergamenten skeptisch gegenübersteht, so geht er vorsichtshalber dennoch davon aus, dass der neue Hüter auch der letzte sein wird. Und deshalb ist er der Meinung, dass ein Feind des Ordens ein Freund der Schwarzen Familie sein muss. Der Feind meines Feindes und so weiter.“ Mephisto wedelte mit der Hand und schüttelte den Kopf.

„Hat es Ihnen geschmeckt?“, fragte eine Stimme neben ihrem Tisch.

Mephisto sah auf und blickte in das lächelnde Gesicht eines Kellners. Ganz klassisch hatte dieser ein weißes Tuch über den linken angewinkelten Unterarm gelegt.

„Ja, danke“, sagte Mephisto und seine dunklen Augen blitzten unter den buschigen Brauen hervor. „Wenn man davon absieht, dass das, was Sie in der Karte einen Dialog vom Kalb und Rind mit Wiesenkräutersalat genannt haben, eher ein Monolog des Salats war.“

Dem Kellner sank das Kinn nach unten. „Oh, das tut ...“

„Der Rehrücken war auch nicht annähernd so rosa gebraten, wie in der Karte angepriesen. Der mit Aprikosenchutney gefüllte Brie hatte die Konsistenz eines Radiergummis und die Crème Brûlée hat zu stark nach Lavendel geschmeckt.“

Der Kellner schluckte und lief rot an. Sein Blick huschte zu den benachbarten Tischen und kehrte zurück zu Mephisto. „Ich ... ähm ... bin untröstlich. Darf ich Ihnen vielleicht eine Flasche Wein auf Kosten des Hauses anbieten?“

„Natürlich dürfen Sie das. Wir nehmen den Spätburgunder Spätlese, aber achten Sie darauf, dass er nicht korkt.“

„Selbstverständlich, mein Herr!“, versicherte der Kellner und schlich wie ein geprügelter Hund davon.

Belphegor runzelte die Stirn. „Mein Essen war ausgezeichnet!“

Mephisto zuckte mit den Schultern. „Meines auch. Aber ich wollte die Flasche Wein haben.“

Belphegor gab ein Lachen von sich, das eher nach Tuberkolose als nach Humor klang.

Mephisto zupfte sich am Ohr. „Weißt du inzwischen, was mit Castragor geschehen ist?“

„Nein. Die Flamme seiner schwarzen Kerze in unserer Familiengruft ist erloschen. Also ist er tot. Mehr weiß ich nicht.“

„Der Verräter ...“

„... hat sich noch nicht gemeldet.“ Belphegor hob die Schultern. „Keine Ahnung, was ich davon halten soll.“

„Wer ist dieser Verräter überhaupt?“

Belphegor schüttelte den Kopf. „Einer der Ordensmeister. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.“

„Woher weißt du das?“

„Das hat er bei seinem ersten Anruf gesagt.“

„Glaubst du ihm?“

„Was das angeht, schon. Er hatte zu viele und zu gute Insiderinformationen, als dass er kein Meister sein könnte.“

„Woher hatte er überhaupt deine Telefonnummer?“

„Die steht im Telefonbuch.“

„Natürlich!“, knurrte Mephisto. „Aber da wird kaum daneben stehen, dass du zur Schwarzen Familie gehörst. Also noch einmal, woher wusste er das?“

Wieder zuckte Belphegor mit den Schultern. „Offensichtlich weiß er Dinge von der Schwarzen Familie, mit denen sich der Orden in seiner Passivität bisher gar nicht befasst hat.“

Mephisto griff zur Stoffserviette, tupfte sich damit den Mund ab und warf sie in die Pfütze aus Rehrückensoße auf seinem Teller. „Es ist eine verdammte Zwickmühle“, sagte er noch einmal. „Wenn wir sicher wüssten, was er vorhat, könnten wir etwas gegen ihn unternehmen. Oder eben auch nicht. Aber so lange wir auf Spekulationen angewiesen sind, können wir keine sinnvollen Pläne machen.“

„Hast du inzwischen schon mit Randolphus darüber geredet?“

Mephisto winkte ab. „Mit Randolphus reden? Du machst Scherze! Natürlich nicht! Außerdem ist es mir zu riskant, ihn jetzt schon von der Leine zu lassen. Asmodi will, dass die Schwarze Familie in der Öffentlichkeit so wenig auf sich aufmerksam macht, wie nur möglich. Das weißt du! Aber wenn wir Randolphus einsetzen, dürfte es schwerfallen, keine Aufmerksamkeit zu erregen.“

Belphegor nickte. „Gut. Dann lass uns folgendes tun: Wir warten erst einmal ab, ob sich der Verräter bei mir meldet. Erst möchte ich aus seinem Mund hören, was mit Castragor geschehen ist, bevor wir über sein Schicksal entscheiden. Vielleicht verrät er uns ja auch seine Pläne. Aber wenn es ihm nicht gelingt, mein Misstrauen zu zerstreuen, dann muss er sterben. Asmodi hin, Nützlichkeit her.“

„Einverstanden“, knarzte Mephisto. „Oh, da vorne kommt der Kellner mit unserem Wein. Vielleicht spendiert er mir ja nachher noch ein Steak, wenn ich ihm erzähle, dass der Wein nach Kork schmeckt.“

 

***

 

Vergangenheit, Mai 2006 - Erstes Zwischenspiel der Meister

Lucio Carrabba musterte seine knochigen Hände, fast als ob er die Leberflecken darauf zählte. Er runzelte die Stirn, die dadurch aber auch nicht mehr Falten bekam, als sie ohnehin schon hatte. „Aber wie konnte der Wiedergänger in die Halle der Geheimnisse eindringen?“

„Zufall!“, antwortete der Großmeister Fabio Cassani seinem Ordensbruder.

„Zufall?“ Carrabba zeichnete mit den Fingerspitzen die Maserung der Platte des wuchtigen Mahagoni-Schreibtischs nach. „Wie kann das Zufall gewesen sein?“

Cassani beugte sich zur Seite und zog eine Schublade auf. Einen Augenblick kramte er darin herum, dann holte er einen braunen Schnellhefter hervor und warf ihn vor Carrabba auf den Tisch.

„Was ist das?“ Lucio Carrabba fummelte seine schmale Lesebrille aus der Innentasche seiner Anzugsjacke und setzte sie auf.

Fabio Cassani schwieg und sah ihn nur an.

Carrabba zog den Schnellhefter zu sich heran und schlug ihn auf. „Die Niederschrift von Hinnerks Bericht“, stellte er schließlich selbst fest.

Cassani nickte. „Ging vor einer Woche mit E-Mail an alle Meister.“

Lucio Carrabba presste die Lippen aufeinander. „Ja, ich erinnere mich. Tut mir Leid, ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen. Die Polen-Reise des Papstes stand kurz bevor und musste vorbereitet werden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du weißt ja, wie das ist.“

„Nein, weiß ich nicht. Sag’s mir.“

„Ich bitte dich! Kehr jetzt nicht den Chef heraus! Du weißt, dass ich als Kardinal auch andere Verpflichtungen zu erfüllen habe.“ Dann verstummte er und strich mit dem rechten Zeigefinger die Kanten des Schnellhefters nach. Mit leiser Stimme fuhr er schließlich fort: „Außerdem weißt du, dass ich in meinem Alter mit diesem neumodischen Technikzeug nichts mehr anfangen kann. Computer, Internet, E-Mail! Das ist nichts für mich.“

Cassanis Gesicht blieb ausdruckslos. „Deshalb habe ich dich zu mir gebeten. Um dich auf dem Laufenden zu halten. Lies es jetzt!“

Für einige Minuten war in Fabio Cassanis Arbeitszimmer nur das Ticken der großen Standuhr zu hören. Die Stille wurde nur ab und zu von Papierrascheln unterbrochen, wenn Carrabba die nächste Seite des Berichts aufschlug.

Untermalt von einem tiefen Seufzen klappte er den Schnellhefter schließlich wieder zu, legte ihn auf den Schreibtisch, bugsierte seine Brille zurück in die Innentasche seiner Anzugsjacke und faltete die Hände im Schoß.

„Dieser Schwarzzauberer hat die Halle der Geheimnisse nur entdeckt, weil sie sich just in diesem Augenblick für den prophezeiten Hüter geöffnet hat?“, fragte er schließlich.

Cassani nickte.

„Larsen hat einen Zugang von ... von ... nun ja, von der anderen Seite entdeckt, und deshalb konnten der Zauberer, der Wiedergänger und die Frauen in der Halle herumspazieren? Das war nur ein riesiger Zufall?“

„Wie ich sagte.“

„Wo ist diese andere Seite überhaupt?“ Er knetete seine Finger. „Wo ist der Schatz untergebracht nach diesem Debakel im Herrenhaus?“

Cassani zuckte mit den Schultern.

Lucio Carrabba zog eine Augenbraue hoch. „Das wissen wir nicht? Aber das muss er uns doch sagen! Wie sollen wir den Schatz sonst wirkungsvoll schützen können?“

Fabio Cassani gab ein trockenes Lachen von sich. „So wirkungsvoll wie im Herrenhaus?“

Carrabba zuckte zusammen. „Du hast Recht. So lange der Verräter in unseren Reihen noch nicht entdeckt ist, kann Larsen das nicht riskieren.“

Er beugte sich in seinem Ledersessel vor bis zum Schreibtisch und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Schnellhefter. „Warum steht da nicht drin, wer dieser Schwarzzauberer war?“

„Weil wir es nicht wissen.“

„Wie bitte? Wir haben doch seine Leiche! Wir werden doch wohl die Mittel haben, etwas über den Kerl herauszufinden!“

Cassani verzog die Lippen zu etwas, das mit viel Fantasie als Grinsen durchgehen konnte. „Wir haben die Leiche nicht. Sie war nach einem Tag vollständig verwest.“

Carrabba riss die Augen auf. „Wie ... wie kann es so etwas geben?“

„Vermutlich war er schon mehrere hundert Jahre alt. Ein Zauber!“

„Und als er starb, erlosch der Zauber“, sagte Carrabba und nickte. „Er hat das Zerfallsstadium mehrerer hundert Jahre in ein paar Stunden nachgeholt. Das könnte sein. Aber er muss doch Fingerabdrücke hinterlassen haben!“

„Hat er. Sie waren nicht zuordenbar.“ Fabio Cassani nahm die Brille ab und massierte mit zwei Fingern die Nasenwurzel. „Wir wissen zu wenig von der Schwarzen Familie.“

„Aber der Orden hat die Schwarze Familie doch zweitausend Jahre lang intensiv beobachtet!“

„Intensiv nur am Anfang. Man wollte vorbereitet sein, wenn der prophezeite Hüter kommt.“

Carrabba nickte. „Ich verstehe. Als der Orden den Glauben in die Prophezeiung verlor, vernachlässigte er diesen Teil seiner Aufgaben.“

„Richtig.“

„Was geschieht jetzt mit dem Versammlungssaal im Kyffhäuser?“

„Wir geben ihn auf.“

Lucio Carrabba musterte die Hände in seinem Schoß. Der Fingernagel seines linken Daumens war gelb und verwachsen. Im Rhythmus des Tickens der Standuhr klopfte er damit auf den Nagel des rechten Daumens. „Und was ist mit der Halle der Geheimnisse? Mit all den Schätzen, die darin lagern?“

„Das ist Tagesordnungspunkt der nächsten Versammlung.“

„Wann ist die?“

„In zehn Tagen. Hier in meinem Haus. Auch das wurde dir per E-Mail mitgeteilt.“

„Fabio, ich bin 82 Jahre alt! Verschon mich bitte mit Computer und ähnlichem neumodischen Zeug. Dazu fehlt mir der Zugang! Ich mag mich in meinem Alter nicht mehr mit so komplizierten Sachen auseinandersetzen.“

Cassani nickte. „Ist das auch das, was du beim Jüngsten Gericht dann zu deiner Verteidigung vorbringen wirst, wenn der letzte Kampf deshalb verloren geht, weil du eine E-Mail nicht gelesen hast?“

Carrabba senkte den Blick und schwieg.

„Ein Handy hast du nicht, deinen Computer benutzt du nicht. Über deine offizielle Dienstleitung beim Vatikan können wir wichtige Sachen nicht besprechen. Ich kann dich nicht immer zu mir bitten, nur um dich auf dem Laufenden zu halten!“

Carrabba räusperte sich. „Ich bin seit 50 Jahren Meister dieses Ordens! Ich finde, da habe ich doch etwas mehr Entgegenkommen und Respekt ...“

„Wir alle respektieren dich!“, unterbrach ihn Cassani. „Aber die Zeiten ändern sich. Der letzte Hüter ist gefunden. Der entscheidende Kampf steht bevor. Niemand erwartet, dass du ein Computer-Fachmann wirst. Aber ruf künftig deine E-Mails ab! Bitte!“

Carrabba schnaufte durch. „Andernfalls?“

„Andernfalls müsste ich dich um deinen Rücktritt ersuchen.“

 

***

 

Gegenwart

„Ich verstehe nicht, warum Cassani so geheimnisvoll tut!“, sagte Sabrina. Sie klang, als hätte sie Tempotaschentücher in der Nase - und zwar ein Päckchen in jedem Nasenloch.

Die Nacht, in der Connor Baigent sie und Mark auf einen Stuhl gefesselt hatte, um ihnen ungestört seine Geschichte erzählen zu können, lag knapp vier Wochen zurück. Weil die Waldhütte, in der er sie gefangen gehalten hatte, a) verfallen, b) ungemütlich und c) unbeheizt gewesen war, zu allem Überfluss Sabrina d) ihre Entführung nicht vorausgeahnt und sich deshalb e) viel zu luftig gekleidet hatte, hatte ihnen der ehemalige Hüter nicht nur viel Wissen über seine Vergangenheit geschenkt, sondern als Zugabe eine eklige Erkältung oben drauf gepackt.<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]-->

Mark hatte anschließend zwei Tage im Bett verbracht und neunzig Prozent der Zeit verschlafen. Die restlichen zehn Prozent hatte er damit ausgefüllt, widerlich riechenden Bronchialtee zu schlürfen, in den erstaunlichsten Farben schimmernde Schleimbröckchen zu husten und mindestens einen ganzen Baum in Form von Papiertaschentüchern mit seinen Nasenausscheidungen zu verunreinigen. Am dritten Tag war er aus dem Bett gehüpft wie der junge Morgen, voller Tatendrang und völlig genesen.

Sabrina waren zwar die Tage des Siechtums erspart geblieben, dafür hatte sich ihre Erkältung als wesentlich hartnäckiger erwiesen. Und selbst heute, fast vier Wochen später, sorgte sie für beglückte Gesichter bei den Geschäftsführern der Firmen Tempo und Nasivin.

Sie griff nach ihrer Tasse und nahm einen vorsichtigen Schluck. Dann verzog sie das Gesicht.

„Bäh! Bin ich froh, dass ich kaum etwas schmecke!“

Mark, der ihr am Küchentisch gegenübersaß, zuckte mit den Schultern. „Die Kräfte weckt, was eklig schmeckt!“, sagte er schließlich mit erhobenem Zeigefinger und einem Grinsen im Gesicht.

„Jawohl, Herr Doktor. Entschuldigung, Herr Doktor.“

Sofort wurde Mark wieder ernst. „Mich wundert nicht nur Cassanis Geheimnistuerei, sondern noch viel mehr, dass die Versammlung wieder einmal im Kyffhäuser stattfinden soll.“

Er sah hinüber zu Hinnerk. Oder besser gesagt, er sah zu der Qualmwolke am anderen Ende der Küche, in der er Hinnerk vermutete. Denn der frönte mal wieder seiner Leidenschaft für schwarzen, übel riechenden Tabak.

„Und du weißt auch nicht, worum es geht?“

„Nee, mien Jung!“, brummte es aus der Wolke hervor. „Aber ich hab da so eine Vermutung.“

„Ach ja? Und die wäre?“

Hinnerk kam aus seiner Wolke hervor, schlenderte zum Küchentisch und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Ich denke mal, die Sitzung ist im Kyffhäuser, weil sie mit der Halle der Geheimnisse zu tun hat. Oder mit den Sachen darin. So eine Art Ortstermin, verstehst du?“

„Hm ... kann sein. Aber warum sagt Cassani nicht, worum es geht?“

„Weil einer von den Meistern ein Verräter ist“, sagte da plötzlich Christine. Sie lag auf der kleinen Couch unter dem Fenster, die französische Ausgabe des sechsten Harry-Potter-Bandes aufgeschlagen auf ihrem Bauch.

Als sich Ende des letzten Jahres herauskristallisierte, dass im Glückshaus von Hüll nicht das Wohnzimmer der Mittelpunkt des gemeinsamen Lebens werden würde, sondern dass alle wichtigen Gespräche in der Küche stattfanden, hatte Knut Ukena kurzerhand ein kleines Sofa gekauft. Keine zehn Minuten, nachdem es seinen Platz gefunden hatte, hatte auch Christine ihren Stammplatz in der Küche gefunden.

Mark sah zu ihr hinüber und zog die Augenbrauen hoch.

„Seit wann wisst ihr von der Versammlung?“, fragte Christine.

Mark zuckte mit den Schultern und warf Hinnerk einen Blick zu.

Der kratzte sich am Kopf. „Mitte bis Ende November ungefähr, würde ich sagen. Warum?“

Mark nickte. „Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst. Cassani hat die Versammlung so frühzeitig angekündigt, weil er wollte, dass alle Meister den Termin einplanen können. Er legt also Wert darauf, dass wirklich alle kommen. Also muss es um etwas Wichtiges gehen. Gleichzeitig wollte er aber auch vermeiden, dass der Verräter schon im November erfährt, worum es geht.“

„Genau!“, sagte Christine. „Und weil er nicht weiß, wer der Verräter ist, hat er einfach keinem was gesagt.“

„Heißt das, dass wir Cassani als Verräter ausschließen können?“, fragte Sabrina hinter einem Taschentuch hervor.

Hinnerk schüttelte den Kopf. „Es kann schon so sein, wie Christine denkt“, sagte er. „Wenn er der Verräter ist, würde er natürlich versuchen, sich so zu verhalten, als wäre er es nicht! Wenn Christine mit ihrer Vermutung Recht hat, würde er also auch dann keinem sagen, worum es in der Versammlung gehen soll, wenn er der Verräter wäre.“

„Hmpf!“, machte Sabrina. „Das ist aber kompliziert.“

Dann sah sie auf ihre Armbanduhr.

„Wann geht’s denn überhaupt los?“

„Wir müssen in ungefähr einer Stunde aufbrechen“, sagte Hinnerk und sah hinüber zu der weiß lackierten Tür, die etwa einen halben Meter neben der zum Flur lag. „Von Hüll zum Kyffhäuser ist es ja Gott sei Dank nicht so sehr weit! Die paar Hundert Kilometer können wir zu Fuß gehen.“

Plötzlich wurde die Flurtür aufgestoßen und ein Schwall kalter Luft ergoss sich in die Küche.

Im Rahmen stand Knut Ukena, das Haar noch wirrer als sonst ohnehin schon. In der rechten Hand hielt er ein paar bedruckte Blätter Papier, die er in die Höhe reckte und damit wedelte.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Mark.

„Ich hab gerade im Internet recherchiert. Das hier müsst ihr euch unbedingt mal ansehen!“ Bei diesen Worten wedelte Knut noch heftiger mit den Ausdrucken. „Vielleicht solltet ihr lieber nicht zu dieser Versammlung gehen. Ich bin da nämlich auf etwas gestoßen, das mir überhaupt nicht gefällt ...“

 

***

 

Vergangenheit, Juni 2006

Die Jugendstilvilla am Stadtrand von London bot einige Vorzüge, die Belphegor Barstow keinesfalls missen mochte. Sie war geräumig, dank vieler Fichten und Kiefern im parkähnlichen Garten herrschte in den meisten Zimmern auch tagsüber nur Dämmer (Nicht, dass ihm Sonnenlicht etwas hätte anhaben können, schließlich war er Schwarzzauberer und kein Vampir, doch er zog den Schatten dem Licht nicht nur im übertragenen Sinne vor.) und die Mauern waren so dick, dass es nur eines schwachen Abschirmungszaubers bedurfte, um sicher zu gehen, dass keine Schreie nach draußen drangen.

Und Schreie erklangen häufiger im Barstow-Anwesen.

Gerade hallten wieder welche durch den Kellerraum, brachen sich an den groben Steinen und ließen fast die Weinflaschen im Raum nebenan klirren. Die junge Frau, die sie ausstieß, riss und zerrte an den Ketten, mit denen sie wie ein geschundenes, blutiges X an das Kellergemäuer gespannt war. Vergebens!

Belphegor Barstow trat vor sie, legte den Kopf leicht schief und betrachtete die Brüste der Frau. In seinem Blick lagen weder Lust noch Begierde. Vielmehr musterte er den nackten Körper, wie ein Maler ein Bild ansehen mochte, wenn er überlegte, wo und wie er die letzten Pinselstriche setzen musste, um sein Werk perfekt zu machen.

Die Schreie verkümmerten zu einem Wimmern, das zwischen aufgeplatzten Lippen hervorquoll.

„Lassen Sie mich doch gehen!“, hauchte die Nackte. „Bitte ... bitte.“

Ihr Flehen erreichte zwar Barstows Ohren, nicht jedoch sein Herz.

Er drehte sich um und ging zu einem einfachen Regal auf der anderen Seite des Kellerraums. Die dicke Schicht aus Sägespänen auf dem Boden schluckte das Geräusch seiner Schritte. Er zog eine große Schale aus dunkelgrünem Obsidian hervor.

„Was ... was ... machen Sie?“, keuchte die Frau, als Barstow die Schale unter ihren Körper stellte.

Dann trat er einen Schritt zurück, legte den Kopf wieder für einen Augenblick schief und rückte die Schale schließlich einige Zentimeter nach links.

„Bitte ... tun Sie ... tun Sie mir nichts. Bitte nicht ... bitte nicht ... bitte ...“

Noch einmal ging Barstow zu dem Regal und als er zurückkam, hielt er einen Dolch in der Hand. Auch er war aus Obsidian gefertigt, allerdings aus schwarzem.

Als die Frau im Licht der 25-Watt-Glühbirne die gebogene Klinge entdeckte, riss sie die Augen auf.

„Oh nein! Bitte tun Sie das nicht, bitte nicht, bittenicht bittenicht bittenichtbittenicht ...“

Doch Barstow tat es!

Die wimmernde Brise aus dem Mund der jungen Frau schwoll an zu einem kreischenden Orkan, als Barstow mit fünf flinken Bewegungen ein Pentagramm in den Bauch der Frau schnitt. Die obere Spitze lag zwischen den Brüsten, die Schenkel der unteren Pentagrammzacken trafen sich im Nabel der Frau.

Nach wenigen Sekunden wurden die Schreie leiser und gingen über in ein Weinen und Schluchzen. Die Frau brabbelte unartikuliertes Zeug.

Die Laute, die aus Barstows Mund kamen, klangen nicht wesentlich artikulierter, verfolgten aber einen schrecklicheren Sinn.

„Chmarlak rgryk sjörkrugg vrutryk“, murmelte er.

Eine kurze Pause.

Und dann etwas lauter: „Btaffqueg strymas vrtryk.“

Wieder eine kurze Pause.

„Twonraxk vrtryk!“

Und wieder nach einer kurzen Pause mit einem Aufschrei: „Vrtryk!“

Dann stieß er den Obsidiandolch in das Zentrum des Pentagramms.

Die Frau zuckte zusammen, kreischte, wand sich, zerrte an den Ketten. Doch bereits nach wenigen Sekunden starb das Kreischen, starb das Zerren - starb die Frau. Das Blut, das aus der Wunde strömte, rann den Bauch hinab, sammelte sich in ihrem Schamdreieck und tropfte von dort aus in die Obsidianschale.

„Ein Telefongespräch für Sie, Sir“, sagte plötzlich eine Stimme hinter Barstow.

Er drehte sich um. Vor ihm stand Quentin, der ... nun ja, gute Geist des Hauses, soweit man in diesem Haus überhaupt von „gut“ sprechen konnte. In der Hand hielt er ein schnurloses Telefon und streckte es Barstow entgegen.

Belphegor Barstow richtete sich auf und nahm den Hörer mit der sauberen Hand entgegen. Die, die er gerade mit dem Blut der Frau besudelt hatte, hielt er Quentin vor die Nase. Wie aus dem Nichts beförderte der plötzlich ein Handtuch hervor, mit dem er seinen Herrn reinigte.

„Danke, Quentin.“ Dann wies er mit dem linken Daumen über seine Schulter auf die Frauenleiche. „Bring mir die Schale ins Ritualzimmer, wenn sie voll ist, und anschließend räumst du ... die Sauerei hier weg. Die Frau kannst du behalten.“

„Natürlich, Sir. Das ist sehr großzügig von ihnen, Sir. Danke sehr.“

Barstow grinste. Es war schon praktisch, wenn man einen Ghoul als Hausdiener beschäftigte. So musste man sich nie um die Entsorgung der Leichen kümmern.

Der Schwarzzauberer ging die Stufen der Kellertreppe hoch. Oben angekommen drückte er den Telefonhörer ans Ohr.

„Ja!“, bellte er hinein.

Erst hörte er nur Rauschen, doch dann sagte eine Stimme: „Hallo, Barstow! Ich dachte, ich melde mich mal wieder bei Ihnen. Hoffentlich störe ich Sie nicht bei etwas Wichtigem.“

Obwohl die Stimme verzerrt und magisch verfälscht klang, wusste Belphegor sofort, wen er am Apparat hatte: den Verräter!

„Sie haben ja Nerven!“, fauchte Barstow. „Erst lassen Sie nach diesem Disaster im Kyffhäuser wochenlang nichts von sich hören und dann tun Sie so, als wäre nichts geschehen!“

Er betrat das Ritualzimmer, schloss die doppelflügelige Tür hinter sich und ging hinüber zum Lesesessel. Dabei achtete er darauf, dass er das große in den Steinboden geschmolzene Pentagramm nicht betrat. Auch das Kästchen aus schwarzem Tropenholz im Zentrum des Sterns würdigte er keines Blickes.

Das Ritualzimmer war zwar das größte, aber dennoch wohl das mit Abstand am kärglichsten möblierte Zimmer in Barstows Villa. Der Lesesessel stand vor einem mannshohen Bücherregal, das überquoll vor Pergamenten, dünnen Heftchen, dicken Wälzern, astronomischen und astrologischen Tabellen und Kladden verschiedenster Größen und unterschiedlichsten Materials. An der gegenüberliegenden Wand stand ein großer Schrank, in dessen Türen die Symbole für einen schwarzmagischen Schutzzauber geschnitzt waren. Jeder, der den Schrank unbefugt öffnete, würde eiskalt überrascht werden. Oder besser gesagt: Er würde heiß überrascht werden! So heiß, dass nach ein paar Sekunden nur noch Asche von ihm übrig wäre.

Neben der Tür zur Halle stand noch ein kleines Tischchen und das war’s dann auch schon. Mehr hatte das Ritualzimmer an Möbeln nicht zu bieten. Aber umso besser kam das Pentagramm auf dem Boden zur Geltung. Direkt darüber hing ein dreizehnarmiger Kronleuchter, der den Raum in warmes, gelbliches Licht tauchte.

Das Leder des Sessels knarrte, als Belphegor sich hineinsinken ließ.

„Also“, sagte er schließlich, „was ist mit meinem Sohn passiert? Was ist da so verdammt schiefgegangen?“

„Es ist nicht so gelaufen, wie es geplant war. Das ist wahr. Aber ich würde es nicht als schiefgegangen bezeichnen!“

Belphegor Barstow schnappte nach Luft. „Wie würden Sie den Tod meines Sohnes dann bezeichnen?“

„Ach was, Barstow. Er war nicht ihr Sohn! Sie haben ihn nur angenommen! Und erzählen Sie mir nicht, dass Ihnen sein Tod nahe geht!“

Der Schwarzzauberer umklammerte das Telefon so fest, dass trotz seiner fleischigen Hände die Knöchel weiß hervortraten. „Er war einer aus meiner Sippe! Und der Tod eines Sippenmitglieds geht mir immer ... gegen den Strich!“

Barstow stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge aus schwarzem Samt einen Spalt auf. Die Schatten draußen wurden immer länger und bald würde die Sonne untergegangen sein. Dann blieb ihm nur noch eine Stunde Zeit, das Ritual mit dem Blut der Frau aus dem Keller zu vollenden. Sonst müsste er dreizehn Vollmonde abwarten, bis er es erneut durchführen konnte. Und bis dahin konnte der Verräter wer weiß was angerichtet haben!

Der Schwarzzauberer zog den Vorhang wieder zu. „Wissen Sie, was ich mich schon lange frage? Woher haben Sie all ihre Kenntnisse? Die Verhältnisse in meiner Sippe, meine Telefonnummer und all das?“

Er hörte ein raues Lachen am anderen Ende. „Nun, wie soll ich sagen? Ich war nicht immer Mitglied des Ordens.“

Barstow schwieg. Er wollte dem Verräter die Gelegenheit geben, sich ausführlicher zu äußern. Aber der war offensichtlich der Meinung, er hätte schon genug gesagt.

Nach einer halben Minute der Ruhe räusperte Barstow sich. „Ah ja“, sagte er schließlich. „Und was ist nun im Kyffhäuser geschehen?“

„Oh, einiges! Es haben sich Gänge geöffnet, von denen niemand etwas ahnte, Barbarossa ist zu unser aller Überraschung kurzfristig aus seinem Schlaf erwacht und hat Ihren Fast-so-etwas-wie-ein-Sohn getötet, und inzwischen können nur noch der neue Hüter und seine Getreuen in die meisten Gänge. Der ehemalige Versammlungssaal ist zwar weiterhin für jeden zugänglich, der die furchtbar originelle Losung kennt, mit der man die Höhlen öffnen kann. Aber genau deshalb werden dort wohl nie wieder Versammlungen stattfinden. Das war die Kurzfassung. Die muss Ihnen genügen.“

„Also wussten Sie vorher nicht, dass Castragor in den Tod gehen würde?“

Der Verräter lachte. „Haben Sie das etwa vermutet?“

Barstow zuckte mit den Schultern. Noch bevor er seiner Geste auch telefonisch Ausdruck verleihen konnte, fuhr der Verräter fort: „Denken Sie, ich habe Ihnen und Ihrem ... äh ... Verwandten eine Falle gestellt?“

Barstow war sich nicht sicher, aber für seine Ohren klang der Verräter eher belustigt als empört.

„Ich weiß es nicht. Sagen Sie mir, was ich denken soll!“

„Belphegor, Belphegor, Sie sind mir ja einer! Was hätte ich denn davon haben sollen, Ihnen eine Falle zu stellen? Welchen Vorteil bringt mir der Tod eines - entschuldigen Sie, wenn ich das so sage - unwichtigen Mitglieds ihrer Sippe?“

„Woher soll ich das wissen? Welchen Vorteil bringt Ihnen der Verrat am Orden? Sie haben mir Ihre Pläne nicht mitgeteilt, erinnern Sie sich?“

Ein Rauschen im Hörer war die einzige Antwort.

„Sie haben dieser Gwscore den Aufenthaltsort des Schatzes verraten“, fuhr Barstow fort. „Und was hat es gebracht? Der Schatz ist nun woanders untergebracht, und ich nehme an, nicht einmal Sie wissen, wo.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Sie haben uns von den Höhlen im Kyffhäuser erzählt und davon, wie man sie betreten kann. Und was hat das gebracht? Der Orden ist gewarnt und künftig werden wir es noch schwerer haben, gegen ihn vorzugehen. Und dafür ist mein Sohn gestorben? Dafür? Fast scheint es so, als hätte Ihr Verrat eher den Orden als die Schwarze Familie gestärkt. Also wundern Sie sich nicht, wenn mein Vertrauen in Sie gelitten hat.“

„Es betrübt mich, dass Sie das so sehen“, entgegnete der Verräter. Und schwieg.

„Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?“, fragte Belphegor schließlich nach einigen Sekunden.

„Was sollte ich noch dazu sagen?“

„Wie wäre es zum Beispiel damit, dass Sie mir verraten, welcher der Ordensmeister Sie sind? Sagen Sie mir Ihren Namen. Zeigen Sie mir, dass Sie mir vertrauen. Zeigen Sie mir, dass auch wir Ihnen vertrauen können. Die Enthüllung Ihrer Identität wäre schon einmal ein guter Anfang!“

Der Verräter lachte. „Jetzt werden Sie nicht albern, Belphegor! Sie wissen doch ganz genau, dass ich das nicht tun werde.“

„Dann weihen Sie mich wenigstens in Ihre Pläne ein.“

Der Verräter schnaubte. Verächtlich, wie Belphegor fand. „Nein“, war alles, was er zu diesem Vorschlag zu sagen hatte.

Ein Flügel der Tür zum Ritualzimmer öffnete sich, Quentin Lanfoy kam einen Schritt herein und blieb dann stehen. Er hielt die Obsidianschale in den Händen.

Barstow zeigte auf das kleine Tischchen neben der Tür.

Quentin stellte die Schale darauf ab, ging rückwärts aus dem Ritualzimmer und schloss den Türflügel wieder.

„Könnten Sie mir dann wenigstens verraten, warum Sie angerufen haben?“, fragte Belphegor.

„Ich habe beschlossen, mich künftig etwas bedeckt zu halten.“

„Was soll das heißen?“

„Ich weiß, dass Sie mir misstrauen. Und das bedaure ich sehr. Aber zu meinem Leidwesen, sind Sie nicht der Einzige. Auch die Ordensmeister sind misstrauisch. Sie wissen, dass sie ein schwarzes Schaf in ihren Reihen haben. Sie hatten vorhin völlig Recht. Der Orden ist wachgerüttelt. In Alarmbereitschaft. Ich muss erst etwas Gras über die Sache wachsen lassen, bevor ich es wieder wagen kann, gegen den Orden vorzugehen.“

Belphegor Barstow schloss die Augen. Das war ganz und gar nicht das, was er von dem Verräter zu hören erwartet hatte. Er hatte mit Mephistoteles Brandfugger vereinbart, dem Verräter die Chance zu geben, sich zu rechtfertigen, seine Pläne zu erklären, das Misstrauen der beiden Sippen-Führer zu zerstreuen. Doch nichts davon war geschehen.

Barstow öffnete die Augen wieder und sah hinüber zu der Schale mit dem Blut. Dann schielte er hinüber zu dem Holzkästchen im Pentagramm. Doch bereits nach wenigen Sekunden wandte er den Blick ab, denn trotz der dunkelroten Bannsymbole im Holz bereitete ihm schon das bloße Wissen um den Inhalt des Kästchens Schmerzen.

„Natürlich, das scheint mir eine vernünftige Entscheidung zu sein“, behauptete Belphegor. „Dennoch bitte ich Sie, auch meinen Standpunkt zu verstehen. Wenn Sie Wert darauf legen, dass Ihnen die Schwarze Familie vertraut, dann muss ich ein Zeichen Ihres guten Willens bekommen.“

Für einige Sekunden herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Na schön“, sagte der Verräter endlich. „Wenn der Orden die nächste Vollversammlung ansetzt, verrate ich Ihnen den Termin und den Ort. Was Sie mit diesem Wissen dann anfangen, überlasse ich Ihnen.“

Belphegor dachte einen kurzen Augenblick nach. Konnte er mit diesem Wissen etwas anfangen? So eine Versammlung war sicher zu gut bewacht, als dass ein dämonischer Angriff Erfolg versprechen würde.

Wieder sah er hinüber zu dem Holzkästchen im Pentagramm. Er zog die Oberlippe zwischen die gelben Zähne und kaute darauf herum. Und da formten sich die Umrisse eines gewagten Planes in seinem Kopf. Vielleicht konnte er mit dem Wissen der nächsten Versammlung ja tatsächlich etwas anfangen. Und zwar etwas völlig Anderes, als der Verräter vermutete ...

„Einverstanden!“ Barstow musste sich darauf konzentrieren, ein zufriedenes Grinsen aus seiner Stimme zu verbannen. „Wann etwa rechnen Sie damit?“

„Das kann ich noch nicht sagen. Die letzte war gerade erst vor ein paar Tagen. Nach den derzeitigen Unruhen könnte es aber schon ein halbes oder ein dreiviertel Jahr dauern.“

„Na schön, sei’s drum. Ich höre dann wieder von Ihnen!“

„Das werden Sie!“

Ohne ein Wort des Abschieds trennte Belphegor die Verbindung. Dann zog er den Vorhang am Fenster wieder etwas zur Seite. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Jetzt musste er sich sputen!

Er warf das Telefon auf den Lesesessel und ging zur Schale mit dem Blut. Er tauchte den linken Zeigefinger hinein und zeichnete sich einige Bannsymbole auf die Stirn und auf das rechte Handgelenk.

Dann trug er die Obsidianschale in des große Pentagramm auf dem Steinboden und stellte sie auf das Holzkästchen. Vorsichtig, ganz vorsichtig. Nur nichts verschütten! Kein Tropfen durfte das Kästchen berühren.

Barstow wiederholte dieses Ritual heute zum 25. Mal und noch immer war die Ausstrahlung des Handschuhs in dem Kästchen nahezu unerträglich. Doch das würde sich ändern! Spätestens mit der 49. und letzten Wiederholung des Rituals würde er die Magie dieses vermaledeiten Dings „entweißt“ haben.

Belphegor ging zum Utensilien-Schrank und öffnete ihn. Sofort schlug ihm der Geruch verschiedener Kräuter entgegen. Er zog eine der Schubladen hervor und holte fünf skelettierte Mäuseschädel heraus. Aus einer anderen Schublade nahm er fünf schwarz flammende Kerzen. Obwohl sie trocken waren, fühlten sie sich schmierig und kalt an.

Er huschte zurück zum Pentagramm und legte die Schädel auf die Spitzen des Sternes. Dabei achtete er darauf, dass die leeren Augenhöhlen nach Süden schauten. Die Kerzen stellte er auf die inneren Eckpunkte des Pentagramms.

Dann kniete er vor einem der Schädel nieder und murmelte einige kehlige Worte. Wie von selbst entzündete sich eine der Kerzen. Ihre Flamme brannte in ölig schimmerndem Schwarz. Sie raubte dem Raum Wärme und Licht.

Diesen Vorgang wiederholte Belphegor noch viermal, jedes Mal vor einem anderen Mäuseschädel. Und jedes Mal flammte eine Kerze auf und es wurde kälter und dunkler.

Als endlich die fünfte Kerze brannte, herrschte tiefe Finsternis im Ritualzimmer. Doch nicht lange! Denn plötzlich strahlte die Obsidianschale ein grünliches Schimmern ab. Es war nicht viel, aber es reichte Belphegor aus, um erkennen zu können, wie das Blut in der Schale zu blubbern begann. Blasen stiegen auf, zerplatzen mit einem merkwürdig trockenen Knacken, und entließen einen eigentümlichen Gestank. Eine Mischung aus Rosen, verwesendem Fleisch, Weihrauch und Exkrementen.

Schon zum 25. Mal fuhr Belphegor der Geruch in die Nase und dennoch musste er auch heute wieder gegen den Würgereiz kämpfen. Ihn widerte der Gestank nach Rosen und Weihrauch einfach an!

Als er seinen Magen unter Kontrolle gebracht hatte, begann er magische Formeln zu skandieren, wanderte von Mäuseschädel zu Mäuseschädel, murmelte, brummelte, sang, schrie und murmelte wieder.

Und plötzlich erklang ein Knall wie von einem Peitschenhieb, die Kerzen erloschen, es wurde wieder hell und warm - und die Obsidianschale war leer. Sie sah aus, als käme sie frisch aus der Geschirrspülmaschine.

Belphegor Barstow holte tief Luft. Wenn nur dieser Ritual-Zyklus endlich vorbei wäre. Er war kräfteraubender, als Barstow es vorher vermutet hätte.

Er schlurfte zum Lesesessel, griff nach dem Telefon und ließ sich in den Sessel sinken. Mit zittrigen Fingern versuchte er eine Nummer zu wählen, erwischte mehrfach die falschen Tasten, setzte erneut an, tippte wieder daneben und schaffte es endlich im dritten Versuch.

Er hielt sich den Hörer ans Ohr und lauschte.

„Mephisto?“, sagte er nach wenigen Sekunden. „Ich hab gerade mit dem Verräter telefoniert.“

Er schwieg für einen Augenblick.

„Nein, er hat mir nur einen großen Haufen Scheiße erzählt. - Das mag schon sein, aber ich weiß trotzdem immer noch nicht, was er vorhat. Ich vertraue ihm nicht mehr, als ich einem Priester vertrauen würde. - Ja, du hast Recht. Er muss sterben!“

Wieder sah er hinüber zum Pentagramm und dem Holzkästchen mit dem Handschuh darin. „Ich muss noch einige Vorbereitungen treffen, aber in etwa vier Wochen komme ich nach Augsburg. Und ich werde eurem missratenen Randolphus ein kleines Geschenk mitbringen, über das er sich freuen dürfte.“

Aus Belphegors Kehle drang das Lachen einer heiseren Krähe.


 


                                               Order them not into damnation

                                               To eliminate those who would trespass against you

(Marillion, Forgotten Sons)

2. Kapitel:

Der vergessene Brandfugger


 


Vergangenheit, Juni 2006 - Zweites Zwischenspiel der Meister

Peter Lord verzog das blasse, teigige Gesicht und stellte den Kaffeebecher wieder auf den Schreibtisch neben den Aktenstapel. Er sah auf die schmucklose Uhr über seiner Bürotür: kurz vor elf. Nachts!

Kein Wunder, dass der Kaffee kalt war. Vor einer Stunde hatte Lord ihn aus dem Automaten gezogen, einen Schluck genommen, den Becher neben den Aktenstapel gestellt - und ihn vor lauter Arbeit vergessen.

Lord seufzte und lehnte sich zurück. Mit Daumen und Zeigerfinger einer Hand rieb er sich die Augen und gähnte. Dann seufzte er noch einmal, stand von seinem komfortablen Drehstuhl auf und schnappte sich den Kaffeebecher.

Auf dem Weg nach draußen kippte er das Getränk mit der Temperatur und der Farbe, aber leider nicht mit dem Geschmack einer Coke an eine seiner Zimmerpflanzen. Mit einem gezielten Wurf schleuderte er den Becher mindestens einen Meter neben den Mülleimer. Dann verließ er sein Büro und trat hinaus in den Gang.

Es war angenehm ruhig in dieser Abteilung des CIA-Hauptgebäudes. Sicherlich war auf anderen Gängen, in anderen Stockwerken mehr los, trotz der Uhrzeit. Aber hier, in einem unbedeutenden Verwaltungstrakt, kehrte spätestens gegen acht Uhr abends Ruhe ein.

Wie immer musste er grinsen, wenn er an die ahnungslosen Leute dachte, die hier beschäftigt waren. Schätzungsweise neunzig Prozent von ihnen wussten nicht, wer er war oder dass es ihn überhaupt gab. Und die restlichen zehn Prozent glaubten, seine Aufgabe bestünde in der Kontrolle der Klopapier-, Seifen- und Radiergummi-Bestände.

Er erreichte den Kaffeeautomaten, warf ein paar Cent ein und drückte auf einen der Knöpfe. Der Automat erwachte zu rumpelndem Leben.

Sicherlich, er war keiner von den Virginia Farm Boys, wie die Agenten gerne genannt wurden. Und das sah man auf den ersten Blick: Der Schwimmring und die Hängebacken zeigten, dass er sich häufiger auf einem Bürostuhl aufhielt als in einem Fitness-Studio oder auf dem Trainingsgelände. Er hätte auch in der Tat jederzeit Auskunft über den Klopapier-, Seifen- oder Radiergummi-Bestand geben können. Das lag aber daran, dass er als einer der Wenigen (wenn nicht sogar als Einziger) allumfassenden Zugriff hatte auf Archive, Daten, Programme, Akten und was es sonst noch so gab.

Was immer auf der Welt geschah: Wenn die CIA es erfuhr, erfuhr es auch Peter Lord.

Und mit ihm erfuhr es der Orden.

Als einer der Ordensmeister war Peter Lord einer von vielleicht sechzehn oder siebzehn Menschen weltweit, die wussten, dass die CIA zu einem großen Teil vom Orden finanziert wurde. Und hier waren die dreizehn Meister schon mitgezählt ...

Lord schlenderte zurück zu seinem Büro. Noch im Gehen nahm er einen Schluck vom Kaffee, der für Automatenbrühe erstaunlich aromatisch schmeckte.

Kaum saß er wieder hinter seinem Schreibtisch, stellte er den Becher neben den Aktenstapel, zog die Tastatur des PCs heran und begann darauf herumzutippen.

Dass der Orden die CIA finanzierte, lag nicht daran, dass er auf diesem Weg Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen wollte. Er hieß die Mittel, die die Agency zuweilen anwandte, auch nicht immer gut. Doch er akzeptierte sie mehr oder weniger zähneknirschend, wenn er dafür nur das erhielt, was der eigentliche Sinn der Sache war: Informationen, Zugang zu Daten und den einen oder anderen Gefallen.

Natürlich waren die Geldtransfers immer gut versteckt, nicht selten sogar hinter angeblichen illegalen Machenschaften der CIA wie Drogen- oder Waffenhandel. Auf diese Idee war ein ehemaliger Großmeister des Ordens gekommen. Sollte ein Reporter seine Nase einmal zu tief in die Finanzen der CIA stecken, würde er sehr kräftig Luft holen müssen, um auch nur den Hauch einer Unregelmäßigkeit zu erschnuppern. Sollte ihm das aber tatsächlich gelingen, so würde er beispielsweise auf ein „sorgfältig verstecktes und verschleiertes“ Drogengeschäft stoßen - und vor lauter Begeisterung nicht bemerken, dass alles nur getürkt war. Denn wer würde schon einen rufschädigenden Skandal und illegale Machenschaften vortäuschen, um damit von etwas Legalem abzulenken?

Bisher war dieser Plan aufgegangen und gerade war Peter Lord dabei, fünfzig Millionen legale Dollar zu stückeln, in diversen zweifelhaften Geschäften zu verstecken und das schmutzige Geld auf die Konten der CIA zu transferieren.

Eine etwas andere Art der Geldwäsche, wenn man so wollte.

Kurz vor Mitternacht waren endlich sämtliche Transaktionen hinreichend verschleiert und Peter Lords Kaffee wieder kalt. Er schloss die Programme auf seinem Rechner und widmete sich stattdessen dem Aktenstapel.

Es handelte sich um Kopien von allen möglichen Unterlagen aus dem Dritten Reich: Gesprächsprotokolle, Tagesbefehle, Referate und einiges mehr. So unterschiedlich diese Unterlagen auch sein mochten, so hatten sie doch alle eines gemeinsam: Sie beschäftigten sich mit Okkultismus und Mythen.

Peter Lord konnte zwar perfekt Deutsch, mit der alten deutschen Schrift tat er sich aber dennoch sehr schwer. Und so war er jetzt schon seit mehreren Tagen mit dem Studium dieser Kopien beschäftigt.

Um herauszufinden, worum es sich bei den einzelnen Gegenständen handelte, die in der Halle der Geheimnisse gefunden worden waren, hatte der Orden einige Hebel in Bewegung gesetzt. Archive wurden durchforstet, archäologische Verzeichnisse gewälzt und vieles mehr. Der größte Teil der Arbeit wurde dabei auf vertrauenswürdige Wissenschaftler abgewälzt, aber es gab auch einige Dinge, um die sich die Meister selbst kümmerten. Das Aktenstudium von Unterlagen, von denen kaum einer wusste, dass sie überhaupt existierten, gehörte dazu.

Sicherlich wäre es einfacher gewesen, die Fundstücke aus der Halle der Geheimnisse an einen Ort zu bringen, an dem sie einfacher untersucht werden könnten. Schließlich unterstanden dem Orden unzählige Labors oder sonstige Forschungscenter. Bei der letzten Versammlung ging es wegen dieses Themas auch heiß her! Die eine Fraktion, zu der zum Beispiel Nicolas Gainsbourg oder Reinhold Strössner gehörten, wollte unbedingt, dass die Erforschung einzelner Gegenstände unter die Oberaufsicht der entsprechenden Meister gestellt wurde. Eine andere Fraktion, der vor allem der Großmeister Fabio Cassani und George Sandford angehörten, war strikt dagegen, die Fundstücke aus dem relativen Schutz der Halle der Geheimnisse zu entfernen, so lange der Verräter nicht enttarnt war. Die Debatte ging mehrere Stunden lang hin und her, ohne dass sich die Standpunkte der Meister geändert hatten. Schließlich kam es zur Abstimmung, in der mit acht gegen fünf Stimmen beschlossen wurde, die Erforschung vor Ort in der Halle der Geheimnisse vorzunehmen und die Fundstücke dort zu lassen.

Und so saß Peter Lord nun also hier, starrte in Akten und verglich sie mit Fotos der Gegenstände, anstatt mit den Fundstücken selbst arbeiten zu können. Da er es aber seit Jahren gewohnt war, bis über beide Ohren in Akten zu stecken, hielt sich seine Enttäuschung darüber in Grenzen.

Die nächsten drei Stunden versank Peter Lord ganz in einigen wilden Spekulationen Heinrich Himmlers. Er blätterte vor zu einer Stelle, die mit einem gelben Klebezettel markiert war, betrachtete verschiedene Zeichnungen, blätterte zurück zu einem roten Klebezettel, studierte das Gesprächsprotokoll von Himmler mit einem Archäologen, warf zwischendurch immer wieder einen Blick auf eines der unzähligen Fotos, blätterte wieder vor, las, blätterte zurück.

Endlich schloss er den Aktendeckel und schnaufte durch. Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer vom Großmeister des Ordens, Fabio Cassani. Er machte sich nicht die Mühe auszurechnen, wie spät es gerade in Rom war.

Bereits nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben. Cassani war gleich selbst am Apparat.

„Guten Morgen“, sagte er auf Italienisch. „Schau dir doch mal die Inventarnummer sieben-drei-sechs Schrägstrich neun an.“

Er wartete einen Augenblick und musterte noch einmal eines der Fotos.

„Richtig“, sagte er schließlich, „dieser irdene Krug. Ich habe hier etwas gefunden, das ich dir gleich noch durchfaxen werde. Heinrich Himmler war auf der Suche nach einer Waffe, mit der Hitler den Krieg zu seinen Gunsten hätte entscheiden können. Es gibt hier einige Zeichnungen, die diesem Krug sehr ähnlich sehen.“

Er lauschte, während Cassani einige knappe Worte von sich gab.

„So wie es aussieht, sind das Zeichnungen der Büchse der Pandora. - Ja, ich weiß, dass das ein Krug und keine Büchse ist. Nach den Unterlagen handelt es sich bei dem Wort „Büchse“ um einen Übersetzungsfehler. - So ist es. Wie auch immer, ich würde dieses Ding vorerst nicht aufmachen. - Ja, eine Warnung wäre wahrscheinlich angebracht. Möglichst auf einem knallroten Schild, dass man sie nicht übersehen kann.“

Als Peter Lord aufgelegt hatte, sah er wieder auf die Uhr über der Tür. Gleich halb vier. Er sollte besser langsam Schluss machen für heute. Aber zu allererst würde er sich noch einen Becher Kaffee holen.

 

***

 

Gegenwart

„Könntest du bitte mal aufhören, mit den Blättern zu wedeln?“, erkundigte sich Mark bei Knut. „Und mach endlich die Tür zu. Du lässt die ganze Wärme und den Zigarettengestank raus.“

Hinnerk brummelte etwas von „Duft, kein Gestank“, aber niemand achtete darauf.

Knut Ukena warf die Küchentür zu, kam zum Tisch, schob Marks Colaglas und Sabrinas Teetasse zur Seite und legte die Blätter hin.

Jetzt sah Mark, dass es sich um Ausdrucke von Internetseiten handelte. Nachrichtenseiten, um genau zu sein.

„Das müsst ihr euch mal ansehen“, sagte Knut und sein Atem klang, als hätte er gerade einen Gewaltmarsch hinter sich.

Christine legte ihren Harry Potter auf den Fußboden und setzte sich auf dem Sofa auf.

„Also, ich hab mal ein bisschen im Internet gestöbert. Fragt mich nicht, warum, aber irgendwie war mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass ihr euch alle wieder dort versammelt, wo die Schwarze Familie schon einmal ihre Opfer gefordert hat.“ Er sah hinüber zu Sabrina, die beim Gedanken an ihre Freundin Conny den Kopf senkte. Cornelia Bender war zum Opfer eines Wiedergängers geworden, der unter der Regie eines Schwarzzauberers fast auch noch Sabrina getötet hatte<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]-->. Seit den Ereignisse im Kyffhäuser war der Ratssaal nicht mehr für Versammlungen der Meister genutzt worden. Bis heute. „Diese Höhlen scheinen das schwarze Gesindel regelrecht anzuziehen. Denk an den Untoten, denk an Connor Baigent, denk an ...“

„Den kannst du aber nicht wirklich als schwarzes Gesindel ansehen“, unterbrach Mark. „Sicher, er ist ein Vampir, aber keiner, der auf der Seite des Bösen steht.“

Knut winkte ab. „Sicher. Aber der Keim des Bösen ist in ihm. Lass ihn lange genug ungeschützt aus seinem selbstgewählten Exil und er wird jemandem an die Schlagader wollen. Aber darum geht’s mir auch gar nicht. Also, ich hab mich in diversen Suchmaschinen rumgetrieben, auf Seiten von Nachrichtendiensten, hab einfach instinktiv gesurft. Ohne wirklichen Plan. Und da bin ich auf die Sache mit der Eishockey-Mannschaft gestoßen. Damit hörte alles auf. Angefangen hat es ein paar Monate vorher in diesem Kino.“ Er fuchtelte mit dem Zeigefinger über den Ausdrucken herum, zeigte mal hierhin, mal dorthin. „Aber auch in den Monaten dazwischen ist es immer wieder passiert, nur an anderen Orten. Da geht was vor, verstehst du? Die Fälle unterscheiden sich, aber sie haben auch Gemeinsamkeiten, und die Gemeinsamkeiten sind es, die mir Angst machen, weil ich einfach nicht weiß, was es zu bedeuten hat. Schaut euch nur mal die Orte an, an denen was passiert ist, dann werdet ihr erkennen, dass ...“

„Warte mal einen Moment“, unterbrach ihn Mark. „Kann es vielleicht sein, dass du an Logorrhö leidest?“

„Äh“, machte Knut. „Woran?“

„Logorrhö! Sprechdurchfall.“

„Sehr witzig!“

„Wie auch immer, ich verstehe kein Wort von dem, was du uns da sagen willst.“

Mark sah Sabrina an, die schief grinste und mit den Achseln zuckte. „Tja, ich konnte dir auch nicht wirklich folgen.“

„Also“, sagte Mark. „Fang einfach noch einmal von vorne an. Langsam, überlegt und die großen Buchstaben zuerst.“

Knut schnaufte einmal tief durch. „Okay, ihr habt Recht. Entschuldigung. Also, werft mal einen Blick hierauf.“

Knut kramte eines der Blätter hervor und legte es auf die anderen.

„Eishockey-Mannschaft spurlos verschwunden“, las Mark die Überschrift vor.

Knut nickte. „Zusammengefasst steht da drin, dass die Spieler des ERC Ehernau nach einem Training nicht nach Hause gekommen sind. Es war das Abschlusstraining vor einem Spiel am nächsten Tag. Besorgte Spielerfrauen haben die Polizei alarmiert. Der Streife bot sich in der Trainingshalle ein grausiges, aber eigenartiges Bild. Das Eis des Spielfelds war voller Blut, genauso wie diese durchsichtigen Schutzbanden aus Plexiglas oder Kunststoff oder woraus auch immer die sind, es lagen zerbrochene Eishockey-Schläger herum, ein paar vereinzelte Handschuhe, Helme und Schlittschuhe - aber von den Spielern und dem Trainer fehlte jede Spur. Die normale Kleidung der Spieler hing in der Kabine, Wertgegenstände, Uhren, Geldbeutel, Handys - alles noch da. Man könnte glauben, die hätten sich gegenseitig verprügelt und wären danach in ihrer Eishockey-Kluft einen trinken gegangen.“

„Das ist tatsächlich mysteriös“, mischte sich nun Hinnerk ein. „Aber was hat das mit uns zu tun?“

„ERC Ehernau? Sagt dir der Name nichts?“

„Ehernau ... Ehernau“, brummte Hinnerk. „Kommt mir bekannt vor.“

„Das ist ein Ort in der Nähe der Kyffhäuserhöhlen.“

Hinnerk schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Natürlich!“

„Und wann ist das geschehen?“, fragte Sabrina.

„Vor zwei Tagen.“

Sabrina runzelte die Stirn. „Meinst du, Connor Baigent könnte etwas damit zu tun haben? Er hat sich ja lange genug in der Gegend herumgetrieben.“

Knut schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Der sitzt in seinem Vampirparadies und denkt über die Zukunft nach.“

Mark zog den Artikel zu sich heran und überflog ihn. „Und jetzt meinst du, dass das Gleiche auch bei der Ordensversammlung geschehen könnte?“

Knut hob die Schultern. „Keine Ahnung. Aber das mit der Eishockey-Mannschaft ist ja auch nur der Anfang. Oder das Ende, wenn man so will.“

„Jetzt redet er wieder wirr“, unkte Hinnerk.

Knut ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er ging zum Küchenschrank und holte sich ein Glas heraus. Das schenkte er bis zum Rand mit Cola voll und trank es in einem Zug leer. Dann stieß er kurz auf, hielt jedoch sofort die Hand vor den Mund und schaute hinüber zu Christine. Die kicherte.

„Der Anfang“, fuhr er endlich fort, „war das hier.“

Er zog ein weiteres Blatt aus dem Stapel und legte es obenauf.

Wieder gab Mark den Vorleser: „LKW erfasst Fußgänger - Tot!“

„Das war im August“, erklärte Knut. „Augenzeugen berichten, dass ihnen dieser Fußgänger schon ein paar Minuten vorher aufgefallen ist. Er ist über den Gehweg getorkelt, als wäre er stockbesoffen. Nur wurde später bei der Untersuchung ein Blutalkoholspiegel von 0,0 Promille festgestellt. Und jetzt ratet mal, wo sich der Unfall ereignet hat? Wie? Was? Also, jeder, der Ehernau sagt, hat 100 von 99 erreichbaren Punkten. Das Opfer war, wie der Artikel es formuliert, Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes.“

„Treasure Security?“, fragten Sabrina und Mark wie aus einem Mund.

„Treasure Security!“, bestätigte Knut.

„Oh ja“, nickte Hinnerk. „Jetzt kann ich mich ganz dunkel daran erinnern. Wenn ich mich nicht irre, war das einer der Kyffhäuser-Wachmänner. Der Orden und die TS konnten sich damals nicht erklären, warum er sich so weit von seinem Arbeitsplatz entfernt hat. Es herrschte zwar für einige Tage erhöhte Alarmbereitschaft, die flaute aber wieder ab, als sich in den Höhlen nichts Ungewöhnliches ereignete.“

„In den Höhlen nicht!“, sagte Knut.

„Wie meinst du das?“

„In den Höhlen ereignete sich nicht Ungewöhnliches. Aber in Ehernau. Und zwar nur wenige Minuten nach dem Unfall des Wachmanns.“

Knut blätterte in dem Papierstapel und zog ein weiteres Blatt hervor. „Sieben Tote bei Amoklauf in Kino“, las er diesmal die Schlagzeile selbst vor.

Sabrina schlug die Hand vor den Mund. „Mein Gott!“, hauchte sie. „Was ist passiert?“

Knut sah ihr in die Augen und schabte sich über das stoppelige Kinn. Dann zuckte er mit den Schultern. „Das weiß man nicht. Nach einer Vorstellung kam keiner der Zuschauer aus dem Saal. Als eine Platzanweiserin nachsah, fand sie alle sieben Gäste tot vor. Viel muss von ihnen allerdings nicht mehr zu erkennen gewesen sein. Sie waren fürchterlich verstümmelt, zum Teil auch zerrissen, als wären sie einer Horde wilder Tiere zum Opfer gefallen. Es muss widerlich gewesen sein. Gedärme waren quer über den Kinosaal verteilt, Körperteile ...“

„Danke, wir können’s uns vorstellen“, sagte Mark mit einem Blick auf Christine, die mit großen Augen auf dem Sofa saß und zuhörte. „Aber wie kann so etwas geschehen?“

„Das ist das große Rätsel, nicht wahr? Niemand, kein Kartenverkäufer, kein Platzanweiser, kein Eisverkäufer hat nach Beginn der Vorstellung jemanden den Saal betreten oder verlassen sehen. Die Notausgänge waren verschlossen. Sie hätten sich auch gar nicht öffnen lassen, ohne dass es irgendwo ein Signal gegeben hätte. Aber das ist in meinen Augen noch nicht einmal das größte Rätsel.“

„Nicht?“

„Nein! Noch interessanter finde ich die Frage, wie das mit sieben Menschen geschehen konnte, ohne dass auch nur einer um Hilfe gerufen hat? Warum ist niemand geflohen oder hat es zumindest versucht? Wer auch immer das war, er kann ja schlecht alle sieben gleichzeitig zerfleischt haben.“

Trotz der Wärme in der Küche, huschte eine Gänsehaut über Marks Rücken.

„Das ist schrecklich!“, flüsterte Sabrina. „Aber trotzdem sehe ich die Verbindung zum Orden noch nicht.“

Mark nickte. „Ja, so furchtbar das Ganze ist, weiß ich nicht, ob die Nähe zum Kyffhäuser wirklich ein Indiz dafür ist, dass das etwas mit dem Orden zu tun hat. Oder ist in Ehernau noch mehr passiert?“

Knut schüttelte den Kopf. „Nein, nicht in Ehernau. Aber ich hab mal nach vergleichbaren Fällen weltweit gesucht.“

„Und?“

„Ich habe sieben oder acht mysteriöse Verbrechen gefunden. Aber nur vier von ihnen passen in unser Muster wie Arsch auf Eimer.“

Vom Sofa her erklang ein giggelndes Kichern.

Knut grinste Christine an, wurde aber gleich wieder ernst. Dann breitete er den Papierstapel auseinander und zeigte auf eine der Seiten.

„Ein Amoklauf in einem Restaurant. Alle Gäste, Kellner, Köche tot, das Lokal verwüstet, ein einziges Schlachtfeld. Natürlich keine Zeugen, aber zwischen dem letzten Gast, der gegangen ist, als noch alles in Ordnung war, und dem ersten Gast, der das Schlachtfeld betreten hat, lagen gerade mal fünf Minuten!“

Knut schenkte sich noch einen Schluck Cola nach. Mit der anderen Hand zeigte er auf einen weiteren Ausdruck. „Blutbad in einem Autohaus. Am helllichten Tag. Vier Verkäufer, zwei Geschäftsführer, zwei Sekretärinnen und alle Kunden, darunter eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Insgesamt 15 Tote. Alle Autos demoliert, die Polster aufgerissen, die Windschutzscheiben gesplittert, Spiegel abgerissen. Und obwohl die Ausstellungshalle ein Glaspalast an einer Hauptverkehrsstraße war, gab es keine Zeugen. Einem Passanten ist zwar die Sauerei aufgefallen, aber da war schon alles vorbei.“

Sabrina schüttelte den Kopf. „Oh mein Gott, wie ist so etwas nur möglich?“

Christine stand vom Sofa auf, kam an den Tisch und legte Sabrina die Hand auf die Schulter. Mark starrte auf die Ausdrucke, die Augen ungläubig aufgerissen. Hinnerk drehte sich eine Zigarette, doch das Ergebnis war so erbärmlich, dass er sie wieder auseinander rupfte und den Tabak zurück ins Päckchen bröselte.

Knut nahm einen Schluck Cola und fuhr fort: „Ein ungeklärtes Gemetzel in einem Großraumbüro einer Versicherung. Hier haben wir noch eine Besonderheit: Das ganze Gebäude wird von unzähligen Kameras überwacht. Aber auf den Aufnahmen ist nichts Brauchbares zu erkennen. Erst sieht man die Belegschaft fleißig arbeiten oder plauschen, dann setzt das Bild für nicht einmal zwei Sekunden aus, und als es wieder einsetzt, ist schon alles vorbei. Auch auf den Aufnahmen der Treppenhäuser, Aufzüge und Flure des Gebäudes ist nichts Verwertbares drauf.“

Er zeigte auf den letzten Ausdruck. „Aber dieser Letzte hier ist der Schlimmste. Ein Blutbad in einem vollbesetzten Theater. Es gab keine Überlebende im ganzen Gebäude, von den Besuchern über die Schauspieler bis hin zum Requisiteur, von der Garderoben- bis zur Klofrau: alle tot.“

Mark musste schlucken. Doch dann sagte er: „Ich verstehe es aber immer noch nicht. Die Fälle sind in der Tat geheimnisvoll. Und vielleicht haben sie ja sogar einen dämonischen Hintergrund. Vermutlich sollten wir uns sogar darum kümmern, auch wenn ich finde, dass wir paar Leute uns nicht um alle dämonischen Auftritte kümmern können. Aber warum du meinst, wir sollten nicht zu der Versammlung gehen, kann ich noch nicht erkennen.“

Knut deutete auf die Ausdrucke, die jetzt nebeneinander auf dem Tisch lagen. „Sieh dir die Orte an, an denen diese Bluttaten stattfanden!“

Mark starrte auf die Blätter. Auch Sabrina las mit gerunzelter Stirn noch einmal die Artikel. Hinnerk hatte endlich eine Zigarette gebaut, die nicht aussah wie ein verkrüppelter Regenwurm, und klemmte sie sich zwischen die Lippen.

Nach einer Minute schüttelte Mark den Kopf. „Ich weiß nicht, was du meinst. Das ist doch alles quer über den Globus verteilt. Ich sehe da keinen Zusammenhang.“

„Aber ich!“, sagte da Hinnerk plötzlich.

Alle Blicke zuckten herum.

„Und?“, fragte Sabrina.

Hinnerk nestelte das Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete die Selbstgedrehte an. Er nahm einen Zug, bevor er sagte: „An jedem dieser Orte wohnt ein Ordensmeister!“

 

***

 

Vergangenheit, Juli 2006

Belphegor Barstow schlenderte mit Mephisto Brandfugger durch den nicht enden wollenden Park um das Brandfuggersche Anwesen. Unter dem Arm trug er eine braune Schachtel von der Größe eines Schuhkartons. Immer wieder starrte er zu der Villa hinüber. Doch was hieß hier Villa? Schloss wäre zutreffender gewesen.

Er wusste nicht, wo oft er schon hier gewesen war, doch der prachtvolle Bau begeisterte ihn jedes Mal wieder. Die verspielten Türmchen, die kunstvollen Verzierungen an den Wänden. Da nahm sich Barstows Villa beinahe schon ärmlich dagegen aus.

Diesmal saßen sie nicht wie sonst üblich im Schwarzen Salon und tranken ihren Kaffee, denn kaum war Belphegor eingetroffen, hatte Mephisto ihm einen Arm um die Schultern gelegt und gesagt: „Komm mit, heute zeige ich dir den Keller des Badehauses.“

Der Kies des geharkten Wegs knarrte unter ihren Füßen. Schwere, schwarze Wolken verhüllten die Sonne, die Natur schwieg in Erwartung eines Unwetters. Mit anderen Worten: Es war ein schöner Tag! Ein perfekter Tag, um ein Mordkomplott zu schmieden.

„Ich habe es satt, mich von diesem Kerl verarschen zu lassen!“, sagte Belphegor, als sie gerade drei Stufen hinabstiegen, die sie auf den nächsten Weg brachten. „Er ist schuld, dass der Schatz untergetaucht ist. Er ist schuld, dass Castragor tot ist. Das kann meine Sippe nicht auf sich sitzen lassen! Der Verräter muss sterben!“

„Das muss er“, knarzte Mephisto. „Mir ist aber noch immer nicht klar, wie du das bewerkstelligen willst. Wir wissen nicht, wer er ist!“

Belphegor lachte. „Randolphus wird uns helfen!“

„Randolphus ist nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen! Ich glaube nicht, dass er uns behilflich sein kann.“

„Oh, ich denke, bald wird er uns sogar sehr behilflich sein.“

Mephisto zuckte mit den Schultern. „Hier müssen wir links“, sagte er, als sie eine Abzweigung erreichten. Der Weg verlief zwischen zwei mannshohen Hecken und führte schließlich zu einem Pool. Ein Blitz zuckte aus einer der Wolken hervor und spiegelte sich im kristallklaren Wasser. „Und wie willst du es bewerkstelligen, dass wir keinen Ärger mit Asmodi bekommen? Du weißt, dass er den Verräter für nützlich hält.“

„Auch dabei wird uns Randolphus helfen.“

Bei diesen Worten klopfte er gegen die Schachtel, die er unter dem Arm trug.

„Was hast du da eigentlich?“, fragte Mephisto.

Belphegor lachte. „Lass dich überraschen! Ein kleines Gastgeschenk für den vergessenen Brandfugger. Mehr verrate ich aber noch nicht.“

Sie umrundeten den Pool und gelangten zu einem schmuck-und fensterlosen Ziegelhaus mit einem Glaskuppeldach. Mephisto zog einen Bund mit einigen klobigen Schlüssels aus der Hosentasche und öffnete mit einem davon die Tür.

„Nach dir“, sagte er und machte eine einladende Handbewegung.

Ein sonderbarer Geruch schlug Belphegor entgegen, als er das Haus betrat. Da war zum einen Chlor, wie er sofort erkannte. Aber es schummelte sich noch ein anderer Geruch darunter. Wild, herb ... fast ein wenig wie in einem Löwenhaus im Zoo!

Mephisto betätigte einen Lichtschalter und schloss die Tür. Eine Leuchtstoffröhre überschwemmte den kleinen, kahlen Raum, in dem sie standen, mit sterilem Licht. Drei weiße Türen in der gegenüberliegenden Wand, mehr gab es hier nicht zu sehen. Auf der linken Tür stand in verschnörkelter Schrift „Umkleide Damen“, auf der rechten „Umkleide Herren“. Die mittlere Tür hingegen verkündete „Schwimmhalle“.

Brandfugger sperrte sie mit einem anderen Schlüssel auf. Belphegor betrat die Schwimmhalle und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Das Becken war gesäumt von mannsdicken römischen Säulen. An den vier Ecken kauerten Wasserspeier, streckten ihre gespreizten Flügel in die Höhe und machten ihrem Namen alle Ehre. Aus jedem der aufgerissenen Mäuler schoss ein Schwall Wasser und krachte unter tosendem Brodeln ins Becken. Im Zentrum ragte ein Podest mit einer Skulptur aus dem Wasser, die mit ihrem Dreizack eine gewisse Ähnlichkeit mit Neptun hatte - dank ihrer Hörner, Fangzähne und Krallen, vor allem aber dank des täuschend echt nachgebildeten frischen Herzens, das sie mit der anderen Hand umklammerte, wirkte sie jedoch ungleich unfreundlicher.

An der Längsseite des Beckens führte eine breite Treppe mit schwarzen, weißen und goldenen Fließen ins Wasser und bis hinab zum Grund. Das Schwimmbecken mochte zwei Meter tief sein. Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Das war durch die Verzerrung des Wassers schwer zu schätzen.

Aus den venezianischen Kacheln an den Wänden ragten unzählige verschnörkelte Halterungen, in denen schwarze Kerzen flackerten und tanzende Reflexe auf die Wasserfläche zauberten.

„Beeindruckend!“, sagte Belphegor und nickte Mephisto zu. Dann ließ er seinen Blick noch für einige Sekunden schweifen. „Allerdings sehe ich keine andere Tür, die in einen Keller führen könnte!“

„Und das ist das eigentlich Beeindruckende an dieser Halle. Folge mir!“

Mit diesen Worten marschierte Mephisto auf die Treppe zu, die hinab ins Becken führte - und ging sie ohne zu zögern hinunter. Er stand schon bis zur Brust im Wasser, als er sich umdrehte.

„Na komm schon!“, herrschte er Belphegor an, der noch auf der obersten Stufe stand und mit zur Nasenwurzel gezogenen Augenbrauen ins Wasser starrte. „Das ist ein Illusionszauber, Mann! Ein sehr guter, wie ich mich rühmen möchte, aber dennoch nur ein Zauber.“

Barstow zuckte mit den Schultern, ging eine Stufe hinunter, dann noch eine und dann die nächste - die erste, die unter Wasser lag! Und tatsächlich: Er hatte zwar für einen Augenblick das Gefühl, eine dünne Haut zu durchstoßen, aber er wurde nicht nass.

„Beeindruckend!“, murmelte er noch einmal. Diesen Zauber so zu weben, dass er permanent wirksam war, hatte sicher einiges an Kraft erfordert. Auch wenn er nur eine Spielerei war, er bewies die Macht, die ein Schwarzzauberer wie Mephistoteles Brandfugger besaß!

Als sie den Grund des Beckens erreicht hatten, legte Barstow den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Von dieser Seite war von der Illusion nichts mehr zu erkennen. Kein Wasserspiegel, keine Sturzfluten aus den Mäulern der Wasserspeier. Stattdessen sah er durch die Glaskuppel den schwarzen Gewitterhimmel.

„Ist dir das Recht, dass durch das Glasdach jeder hereinschauen kann?“

Mephistos rechte Augenbraue zuckte hoch und er verzog die Mundwinkel. „Da ruht natürlich auch ein Zauber drauf, was dachtest du denn! Von außen sieht man nur das, was man in einer normalen Schwimmhalle erwarten würde.“

Belphegor konnte es sich gerade noch verkneifen, seiner Faszination zum dritten Mal Ausdruck zu verleihen.

„So, da wären wir“, sagte Mephisto, als sie den Fuß des Sockels erreichten, auf dem die Neptunfigur mit Herz stand. Jetzt erst sah Barstow, dass das Podest mit Ornamenten übersät war. Sie alle stellten Symbole der schwarzen Magie dar.

Brandfugger strich über die Darstellung einer Blutdistel, fuchtelte ein paar Symbole in die Luft, murmelte einige schwarze Silben und drückte schließlich auf das Bild einer Alraune. Belphegor war sich sicher, dass das alles nur irreführender Blödsinn war, der vom eigentlichen Öffnungsmechanismus ablenken sollte.

Und genau darum handelte sich! Denn plötzlich tat sich inmitten des Sockels eine schmale Tür auf, hinter der eine enge Wendeltreppe in die Tiefe führte.

Mit dem Blick auf die Treppe kam der Gestank. Die Illusion des Chlorgeruchs war unterhalb der nicht vorhandenen Wasseroberfläche erloschen und übertünchte nun auch nicht mehr den Tiergeruch. Doch als sich die Tür öffnete, fiel ein bestialischer Gestank förmlich über Belphegor her und drehte ihm den Magen um.

Belphegor Barstow war ja viel gewohnt. Blut, Exkremente, Verwesung, all das ertrug er. Aber das hier, diese ... diese olfaktorische Kakophonie aus wildem Tier, nein, falsch, aus wildem wütenden Tier, packte ihn an der Speiseröhre, quetschte sie zusammen, traktierte den Magen.

Er keuchte, kämpfte gegen den Brechreiz.

Und Mephisto Brandfugger stand daneben, die Arme vor der Brust verschränkt, und schaute zu. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.

Kaum ließ der Brechreiz nach, durchzuckten Hitzewellen Belphegors Glieder. Sein Herz begann zu rasen, seine Atmung beschleunigte sich zu einem flachen Hecheln. Und er stellte fest, dass es hier nicht nur nach wildem Tier stank. Nein, es stank nach Gewalt, nach Hass, nach Mordlust, nach ungezügelter Blutgier.

Was hatte Brandfugger, dieser verlauste Bastard, dieser verschissene Angeber mit seinem widerlich protzigen Schloss, so dämlich zu grinsen? Machte es ihm etwa Spaß, Barstow leiden zu sehen? Er sollte ihm die Kehle durchbeißen, das Gefühl genießen, wenn der Adamsapfel unter seinen Zähnen zerbarst, er sollte ihm die Zunge und das Herz herausreißen, dass diese verfluchte Neptunstatue wirklich mal etwas Frisches in der Hand halten könnte, er sollte diesen von Fliegen umsurrten Haufen Hundescheiße an seinen Gedärmen aufhängen und ihn ...

Belphegor schüttelte den Kopf. Was war los mit ihm? Was dachte er da nur?

Sein Atem beruhigte sich wieder, auch sein Herz schaltete einen Gang zurück. Er atmete tief durch und sah Mephisto an. Hatte er tatsächlich gerade noch gedacht, er sollte ihn an seinen Gedärmen aufhängen?

Mephisto lächelte immer noch. „Geht es wieder?“, fragte er.

Belphegor krächzte.

„Keine Sorge, gleich bist du wieder wie neu. So geht es jedem, der zum ersten Mal hier steht.“

„Was ... was ... war ... das?“

„Dämonenwahn! Oder wenigstens schwache Ausläufer davon.“

„Schwache Ausläufer?“, hauchte Belphegor. Mit gerunzelter Stirn warf er einen Blick auf seine Schachtel. Doch dann atmete er noch einmal tief durch, richtete seinen Körper auf und sah Mephisto in die dunklen Augen: „Lass uns gehen!“

„Wie du willst.“

Mephisto ging voran, Belphegor folgte ihm.

Die Stufen der Wendeltreppe waren in den Stein gehauen und unregelmäßig. Bei jedem Schritt musste Belphegor auf seine Füße schauen, schließlich wollte er nicht riskieren, den Rest der Treppe mit Mephisto im Gepäck hinunterzupurzeln. Die einzige Lichtquelle waren auch hier schwarze Kerzen an der Wand, deren Flackern trügerische Schatten auf die Stufen warf und Fels vorgaukelte, wo keiner war.

„Wie oft gehst du hier runter?“, wollte Belphegor wissen, als sie den Fuß der Treppe erreicht hatten.

„Nicht sehr oft.“

„Und wie ... wie bekommt Randolphus sein Essen?“

„Es gibt einen Schacht im Verwalterhaus, der in seine Höhle führt. Mein Diener wirft ihm sein Futter einfach hinunter.“

„Einen Schacht? Kann er dadurch nicht entkommen?“

„Nein, er ist mit demselben Zauber geschützt wie seine Höhle. So, hier müssen wir lang. Ich gehe wieder vor.“

Mephisto führte Belphegor durch einen Höhlengang, der sich ohne Abzweigungen mehrere hundert Meter durch den unterirdischen Fels schlängelte. Belphegor hatte jegliches Orientierungsvermögen verloren, aber nach dem, was Mephisto gerade gesagt hatte, gingen sie wohl auf das Verwalterhaus zu. Oder besser gesagt: auf eine Höhle unter dem Verwalterhaus.

Der Gang machte einen letzten Knick, ging noch zehn Meter weiter und endete vor einer Tür aus schwarzem Metall. Sie hatte einen Knauf, aber keinen Türdrücker. Und sie war voller schwarzmagischer Symbole. Wenn Belphegor sich an den Ritual-Zyklus der letzten Wochen zurückerinnerte, war er sich sicher, dass auch diese Symbole mit dem Blut einer Jungfrau aufgemalt waren. Da sie jährlich erneuert werden mussten, hieß das, dass schon 131 Jungfrauen ihr Leben dafür hatten geben müssen, Randolphus hier einzusperren.

Die Tür sah massiv und schwer aus, was sie ohne die Bannsymbole aber auch nicht sicher gemacht hätte. Nur in Kopfhöhe gab es eine quadratische Öffnung von vielleicht 30 Zentimeter Seitenlänge. Sie war vergittert mit Stäben aus dem gleichen schwarzen Metall.

Mephisto trat zur Tür und donnerte mit dem Fuß ein paar Mal dagegen. Ein metallisches Wummern durchtoste die Höhle.

„Hier sind wir also. Bienvenue chez Randolphus! Und jetzt willst du mir sicher endlich erzählen, wie ausgerechnet Randolphus uns bei unserem Plan helfen kann und was du ihm da mitgebracht hast!“

Belphegor ging auf die Tür zu und sah durch das Fenster hinein. Die Höhle hinter der Tür war so groß, dass ihre Ausmaße durch diese kleine Luke gar nicht abschätzbar waren. In fünfzig Metern Entfernung konnte Belphegor zwar eine Felswand erkennen, vor der ein paar alte zerfetzte Decken lagen, oder was auch immer sonst das sein mochte. Doch vor der Wand führte ein Gang nach links und verschwand aus Belphegors Sichtbereich. Der Gang konnte in einen Felsdom führen, aber auch nur in ...

WUMM!!!

Etwas prallte gegen die Metalltür. Barstow zuckte zurück, blieb mit dem linken Fuß am rechten hängen und kippte nach hinten um. Sein Herz raste.

Schon wieder! Er, der hartgesottene Schwarzmagier, der plante, gegen Asmodis Befehl zu handeln, hatte sich erschrocken. Na toll!

Und da war auch wieder dieser Geruch, nach ungezügeltem Verlangen und wildem Tier. Doch diesmal brachte er Belphegors Blut nicht wieder so zum Kochen.

Als sich sein Herzschlag halbwegs wieder beruhigt hatte, rappelte er sich auf und sah zur Tür.

Die beiden äußersten Gitterstäbe in der Sichtluke wurden von schmutzigen, blutverschmierten Finger umklammert. Die Daumennägel - und nur die konnte Belphegor sehen - waren lang und eingerissen. Unter ihnen war soviel Dreck, dass man einen Toten damit hätte begraben können.

Zwischen den mittleren Gitterstäben war ein Gesicht, nein, eine Fratze zu sehen, verzerrt, die Augen verdreht. Aus den Nasenlöchern lief gelber Rotz, sammelte sich auf der rissigen Oberlippe und bildete dort Krusten. Die Haare starrten vor Schmutz, Schweiß und anderen Dingen, die mit Sch beginnen. Sie standen wirr vom Kopf ab wie Stroh.

Der Mund war zu einer debilen Grimasse verzogen, Geifer rann heraus. Belphegor konnte die Zunge sehen, die wie eine schwarze Qualle im Mund der Kreatur pulsierte und zuckte.

Belphegor bückte sich, hob die Schachtel auf, die er bei seinem Sturz verloren hatte, und machte erneut einen Schritt auf die Tür zu.

„Hallo, Randolphus!“, sagte er.

Das Ding hinter der Tür zog sein Gesicht etwas von den Gitterstäben zurück und legte den Kopf schief, als es seinen Namen hörte. Dann gab er ein blubberndes Husten von sich, dem eine Art Bellen folgte.

„...olph...olph...olph...“

Belphegor verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Ich glaube, du könntest deinem Onkel Mephisto und mir einen großen Gefallen tun. Einen wirklich großen Gefallen.“

„...olph...olph...olph...“, machte Randolphus und schielte zu der Schachtel, die Belphegor in der rechten Hand hielt. Zumindest mit einem Auge tat er das. Das andere starrte in eine völlig andere Richtung.

Barstow sah seinen Blick und lachte. Dann streckte er die Schachtel vor.

„Ich habe dir auch ein Geschenk mitgebracht!“

„...olph...olph...olph...“

Belphegor hätte schwören können, dass Randolphs Bellen wesentlich besser gelaunt klang als noch vor wenigen Augenblicken.

Er lachte und sah Mephisto an.

„Doch!“, sagte er schließlich. „Ich bin mir sicher, dass er uns von Nutzen sein kann. Von großem Nutzen! Vertrau mir!“


 

 


                                                            I knew the moment had arrived

                                                            For killing the past and coming back to life

(Pink Floyd, Coming Back to Life)

3. Kapitel:

Rückkehr ins Leben


 


Vergangenheit, 13. April 1875 - Paris

„Es wäre hilfreich, wenn Asmodi den Zugang an einen anderen Ort verlegen würde“, schimpfte Randolphus Brandfugger, als er sich durch die Brandruine des Palais des Tuileries kämpfte. „Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass man sich durch Zentner von Schutt und Ruß graben muss, bevor man die Schwarze Bibliothek erreicht.“

Aermrinh Elrel Jildisch Tolregun blieb stehen. Als Randolphus bemerkte, dass die Schritte hinter ihm verklungen waren, stoppte auch er und drehte sich zu seinem Gefährten um. „Was ist denn?“

Aermrinh musterte Randolphus von oben bis unten, dann sah er ihm mit einem spöttischen Grinsen in die Augen. „Erstens: Wenn Asmodi wüsste, dass du überhaupt einen Zugang kennst, würden wir wahrscheinlich schon im Höllenfeuer schmoren. Zweitens: Wenn wir mit unserem Plan Erfolg haben, wird Asmodi nicht mehr lange etwas zu sagen haben, sondern wir. Bald kannst du die Zugänge verlegen, so oft und wohin auch immer du willst. Und drittens: Ich kenne nicht viele Schwarzzauberer, die sich in einen Cutaway kleiden, bevor sie durch eine Brandruine klettern.“

Randolphus verdrehte die Augen. „Nur weil ich der Schwarzen Seite angehöre, heißt das noch lange nicht, dass ich keinen Wert auf mein Äußeres zu legen brauche. Aber das kann ein Dämon wie du natürlich nicht nachvollziehen.“

Aermrinh machte eine abfällige Handbewegung. „Meinst du nicht, dass es Wichtigeres gibt, als die Kleiderordnung für Schwarzmagier? Zum Beispiel, dass die geballte Macht, die in der Schwarzen Bibliothek ruht, endlich uns allen zugänglich gemacht wird und nicht nur einigen Auserwählten - und selbst denen nur nach vorheriger Genehmigung durch Asmodi?“

Randolphus senkte den Blick. „Natürlich.“ Dann drehte er sich wieder um und stieg über einen verkohlten Holzbalken, der ihm den Weg versperrte. „Hier geht es entlang - glaube ich.“

Aermrinh schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dann folgte er dem Schwarzzauberer. „Und du kennst dich hier wirklich aus?“

„So gut man sich an einem Ort auskennen kann, an dem man zum ersten Mal ist!“, kicherte Randolphus.

Als er bemerkte, dass Aermrinh hinter ihm schon wieder stehen bleiben wollte, fügte er schnell noch hinzu: „Jetzt komm schon! Ich habe auf Onkel Mephistos Schreibtisch einen Plan von dem Gebäude gefunden, in dem der Zugang eingezeichnet war.“

Er erreichte eine Abzweigung und blieb stehen. Der Gang, der nach links führte, lag voller Trümmer und endete nach wenigen Metern vor einem Schutthaufen, der Gang nach rechts war frei. Randolphus zog ein weißes Taschentuch aus seinem Cutaway, tupfte sich das Gesicht ab, verteilte dadurch den Ruß gleichmäßig auf Nase und Wangen und steckte das nun nicht mehr ganz so weiße Taschentuch wieder ein. Er machte einen Schritt in den linken Gang hinein, dann blieb er stehen, drehte sich um, ging zwei Schritte in den rechten Gang und blieb wieder stehen.

Auch Aermrinh blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich dachte, du hast einen Plan gefunden!“

Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Ja, schon. Aber auf dem Plan war das Palais noch nicht abgebrannt. Es ist etwas schwierig, sich zurechtzufinden.“

„Etwas schwierig, ja?“

Eine Augenbraue des Dämons zuckte in die Höhe, verharrte dort für eine Sekunde und sank wieder nach unten. Dann schloss Aermrinh die Augen. Sein Brustkorb hob und senkte sich, so als atmete er tief durch. Als Dämon musste er das natürlich nicht wirklich, aber in seiner menschlichen Gestalt ahmte er unbewusst auch menschliche Verhaltensweisen nach.

Dann öffnete er die Augen wieder zu schmalen Schlitzen und sah Randolphus an. „Du schaffst das schon.“

Randolphus nickte. „Wir müssen diesen rechten Gang nehmen. Ich glaube, wir sind gleich da.“

Sie gingen noch einige Meter, stiegen wieder über verkohlte Trümmer, umrundeten Löcher im Fußboden und gelangten schließlich an ein zerborstenes Fenster. Und tatsächlich: Vor dem Fenster schwebte senkrecht ein hauchdünner Schatten, nicht mehr als ein mit Kohlestift in die Luft gezeichneter Strich.

Aermrinh ging zu dem Fenster, sah hinaus - und erkannte gute fünf Meter neben sich den Eingang zur Brandruine, durch den sie vor über einer Stunde das Palais des Tuileries betreten hatten. Er warf Randolphus einen giftigen Blick zu, den der aber nicht zur Kenntnis nahm.

Stattdessen zeigte der Schwarzzauberer auf den Schatten, umrundete ihn ein paar Mal und sagte: „Da siehst du es! Auf mich ist Verlass! Ich habe gesagt, ich weiß wo der Zugang ist. Und hier stehen wir!“

„Hervorragend.“ Aermrinh sah noch einmal aus dem Fenster. Sie befanden sich tatsächlich im Erdgeschoss. Zwischen hier und dem Eingang lagen kaum Trümmer. Sie hätten also ohne weiteres gleich hier durchs Fenster steigen können. Aermrinh drehte sich um und klopfte Randolphus auf die Schulter. „Gut gemacht.“

Randolphus nickte. „Da ist er! Und nur schwarzmagische Wesen können ihn sehen. Wesen wie wir.“

„Richtig. Jetzt brauchen wir nur noch ...“

„Normale Menschen würden einfach daran vorbeigehen, so, wie sie es tun, seit es diesen Zugang gibt. Aber ich habe ihn gefunden!“

„Sehr gut. Aber jetzt brauchen wir noch ...“

„Du hast sicher gedacht, ich könnte dich nicht hierher führen. Aber ich habe es geschafft! Hier stehen wir und ...“

„Randolphus!“, fauchte Aermrinh.

Randolphus kehrte aus dem Universum der Selbstbeweihräucherung heim und sah den Dämon an. „Ja?“

„Wir brauchen noch den Zauber, mit dem wir das Tor öffnen können!“

Randolphus runzelte die Stirn. „Zauber?“

Gerade als Aermrinhs Gesicht rot anlief, hob der Schwarzmagier beschwichtigend die Arme.

„War nur ein Scherz!“, sagte er und grinste. „Der Spruch hat auch auf dem Plan gestanden.“

Aermrinh seufzte und presste die Lippen aufeinander.

„Rtietnit stiswa tgerheb riwd“, leierte Randolphus.

Es sah so aus, als hätte der Künstler, der schon den Strich in die Luft gemalt hatte, wieder zu seinem Kohlestift gegriffen, und zeichnete nun den Rest. Nach und nach schälten sich die Umrisse eines Portals aus dem Nichts. Erst ein Torbogen, dann die Spalten zwischen und Sprünge in den einzelnen Steinen. Als alle Umrisse erkennbar waren, füllten sie sich mit Wirklichkeit.

Randolphus streckte den Arm aus, berührte einen der Steine, klopfte dagegen.

„Massiv!“, stellte er fest.

Aermrinh schwieg. Er versuchte zu erkennen, was hinter dem Torbogen lag. Aber es gelang nicht. Das Portal war gefüllt mit treibenden, bläulich schwarzen Schlieren, wie Lampenöl, das auf dem Wasser schwamm, undurchdringlich selbst für dämonische Blicke.

Der Dämon machte eine einladende Armbewegung und verbeugte sich leicht vor Randolphus.

„Nach dir“, sagte er. „Du hast den Zugang geöffnet. Dir gebührt die Ehre, die Schwarze Bibliothek als erster zu betreten.“

Randolphus machte einen Schritt nach vorne, auf die Ölschwaden zu und hindurch. Die Portalschlieren wirbelten durcheinander, schlugen Wellen, und ein kurzes Knacken erklang, wie das Zerbrechen eines Astes. Doch nach nicht einmal einer Sekunde beruhigten sich die Wellen wieder und trieben so träge dahin wie vor Randolphus’ Passieren.

Aermrinh wartete einen Augenblick und beobachtete den Durchgang. Die Knie waren leicht gebeugt, die Arme angewinkelt, der ganze Körper stand unter Spannung. Doch als sich nach drei oder vier Sekunden nichts ereignete, richtete der Dämon sich auf, griff mit der rechten Hand unter sein Jackett und trat ebenfalls durch das Portal.

Auf der anderen Seite erwartete ihn schon ein breit grinsender Randolphus und der Geruch nach Rosmarin und Schwefel.

„Unglaublich, nicht wahr? Von dem Übergang ist nichts zu merken. Im einen Augenblick steht man noch in einer Brandruine und im nächsten ...“

„Ich weiß“, sagte Aermrinh. „Ich bin auch gerade durchgegangen. Du erinnerst dich?“

Das Grinsen auf Randolphus Gesicht wurde noch breiter. „Natürlich! Entschuldige.“ Er breite die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. Dabei sah er aus wie ein Kind, das einen Stein an der Schnur herumwirbelt. „Und was sagst du hierzu? Ist es nicht fantastisch?“

Auch Aermrinh drehte sich einmal im Kreis, allerdings wesentlich langsamer.

Sein erster Blick ging zum Portal. Es war noch da. Und es sah genauso aus wie auf der anderen Seite.

„Sehr gut“, murmelte Aermrinh.

Und dann endlich betrachtete er das eigentliche Ziel seiner Begierde: die Schwarze Bibliothek. Wieder ahmte sein Körper menschliche Verhaltensweisen nach: Er riss die Augen auf und der Unterkiefer sank nach unten.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, fragte Randolphus.

Aermrinh konnte nur nicken. Die Hand hielt er noch immer unter dem Jackett verborgen.

Hinter ihm befand sich eine Wand mit dem Portal darin, aber in alle anderen Richtungen erstrecken sich steinerne Regale weiter als das Auge sehen konnte. Sie reichten bis unter die Decke. Die Seitenflächen waren verziert mit gemeißelten Dämonenköpfen, glotzenden Fratzen mit weit aufgerissenen Mäulern und triefenden Fangzähnen. Aermrinh sah geflügelte Wesen, gehörnte Bestien, Kreaturen mit geschuppten Schwänzen. Sämtliche Regale, die die beiden Eindringlinge sehen konnten, waren vollgestopft mit großen Alben, Pergamentrollen, kleinen Bänden, Skripten auf Menschenhaut, dicken Wälzern mit Ledereinband, Notizen auf Dämonenhaut, Büchern mit und ohne Titeln auf dem Rücken, Papierstapeln, gelblich qualmenden Folianten, Zeichnungen von Ritualen, Büchern mit roten, alles beobachtenden Augen.

Aermrinh sah nach oben. Der Raum (wenn man das überhaupt so nennen konnte) war gut und gerne zehn, fünfzehn Meter hoch. Die Decken waren geschmückt mit Malereien von höllischen Gelagen, Zeremonien zu Ehren Luzifers, Blutopfern und vielem mehr.

„Wie viele Sprüche, wie viele Zauber, wie viel Macht mag es hier geben?“, fragte Aermrinh.

„Unglaublich viel!“, hauchte Randolphus. „Wie wird man wohl an die ganzen Bücher kommen? Ich sehe nirgends Leitern oder Treppen! Und ich sehe hier niemanden, aber wirklich niemanden, der sich das ganze Wissen zunutze macht. Wir sind tatsächlich die Einzigen hier!“

„Das seid Ihr nicht“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie klang wie zerbrochenes Glas.

Randolphus und Aermrinh zirkelten herum. Vor ihnen stand ein etwa zwei Meter großer Glatzkopf mit ausgezehrtem Gesicht und tiefen Augenringen. Er trug einen langen, schwarzen Umhang. Mit der linken Hand hielt er eine aufgeschlagene Kladde, mit der rechten einen schwarzen Federkiel.

„Mein Name ist Chrunkagur. Ich bin der Bibliothekar. Und ich werde Euch aus den Regalen holen, was Ihr wünscht. Natürlich nur, sofern Asmodi Euren Besuch gestattet hat.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und enthüllten eine Reihe gebogener Hauer.

„Und das hat er sicherlich, denn sonst müsste ich Euch töten.“

Dann wandte er sich Randolphus zu, feuchtete den Federkiel mit seiner feuerroten Zunge an und fragte: „Ihr seid ...“

„Randolphus Brandfugger“, sagte er wie von selbst und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten die Zunge abgebissen.

Chrunkagur warf einen Blick in seine Kladde, sah dann wieder Randolphus an, schaute erneut in die Kladde und wandte sich schließlich Aermrinh zu.

„Und Ihr seid ...“

„... nicht angemeldet“, sagte Aermrinh, zog eine Athame unter seinem Jackett hervor und stach zu.

Die zweischneidige Klinge des Ritualdolchs flackerte für einen Sekundenbruchteil rot auf, dann entließ sie in einem einzigen zerstörerischen Augenblick den darin gespeicherten Feuerzauber.

Chrunkagur riss die Augen auf. In seinen Augen tanzten Flammen, über die Glatze huschten Entladungen, die Augenbrauen qualmten. Und plötzlich ging auch die Kutte in Flammen auf. Da erst ließ Chrunkagur die Kladde fallen und stieß einen schrillen, weibischen Schrei aus. Doch der währte nur für einen Moment, denn dann zerplatzte der Bibliothekar in einem wilden Funkenregen.

Aermrinh ließ die Athame sinken. Auf seiner Stirn pulsierten zwei dick geschwollene Adern.

Randolphus glaubte für eine Sekunde, unter der menschlichen Gestalt des Dämons dessen wirkliches Aussehen erkennen zu können, doch vielleicht bildete er sich dieses aus unzähligen Haut- und Fleischfetzen bestehende Gesicht auch nur ein.

„Was ... was hast du ge-getan?“, stammelte Randolphus.

„Wonach sah es denn aus?“, fragte Aermrinh. „Dachtest du, wir kommen hier einfach so rein, bedienen uns an den Schätzen der Bibliothek, und niemand kümmert sich um uns?“

Randolphus sah zu dem Brandfleck auf dem Boden, wo gerade noch Chrunkagur gestanden hatte. „Nein, natürlich nicht, aber ... aber ...“

„Aber was?“

Randolphus zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Ich ... ich fürchte, ich habe dich falsch eingeschätzt. Was machen wir denn jetzt?“

Aermrinh deutete auf die Regale. „Jetzt, wo dieser lächerliche Aufpasser nicht mehr ist, werden wir die mächtigsten Sprüche und Zauber heraussuchen, und mit ihnen die Schwarze Familie unter unsere Führung bringen!“

Randolphus deutete auf die Athame. „Und wer sagt mir, dass du mich nicht auch niederstechen wirst, wenn ich dir lästig werde?“

„Das würde ich doch niemals tun!“

„Bis vorhin hätte ich das auch geglaubt. Dennoch könntest du dich anschleichen, während ich in den Regalen stöbere. Und weil du einer von diesen kalten Dämonen bist ...“

„Benutz bitte nicht diesen lächerlichen Ausdruck!“

„Und weil du einer von diesen Dämonen bist, die keine schwarze Aura habe, würde ich dich nicht einmal bemerken.“

Aermrinh hob die Hände. „Dein Misstrauen enttäuscht mich. Aber ich habe keine Lust, mich hier mit dir zu streiten. Wir haben Wichtigeres zu tun.“ Er reichte Randolphus den Ritualdolch hin, mit dem Griff voraus. „Nimm du ihn!“

Randolphus zögerte.

„Na nimm ihn schon! Und dann lass uns endlich anfangen.“

Der Schwarzzauberer packte die Athame, spürte ein kurzes Kribbeln in den Fingerspitzen, vermutlich Reste des Feuerzaubers, und steckte sich den Ritualdolch in den Hosenbund unter seinen Cutaway. „Danke.“

Dann runzelte er die Stirn, sah Aermrinh in die Augen, zwinkerte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, hätte aber vergessen, was.

„Danke“, wiederholte er.

Aermrinh klatschte in die Hände. „Also, an die Arbeit. Ich werde mal sehen, ob ich in diesem Regal hier etwas finden kann. Versuch du es doch etwas weiter vorne.“

Randolphus nickte und drehte sich um. Er schritt an drei, vier Regalreihen vorbei, blieb zwischendurch aber immer wieder stehen und rieb sich die Schläfe. Seine Kopfhaut juckte, als würden fünftausend Läuse darauf Fangen spielen.

Was war nur los mit ihm? Gerade war doch noch alles in Ordnung gewesen! Bis zu dem Augenblick, als der Bibliothekar aufgetaucht war. Nein, das stimmte nicht. Da ging es ihm noch gut!

Er blickte zu Boden, rieb sich wieder die Schläfe.

Da war dieses Kribbeln gewesen, als er die Athame an sich genommen hatte! Das, was er für den Rest des Feuerzaubers gehalten hatte! Konnte diese Magie schuld an seinem eigenartigen Zustand sein?

Ohne sich dessen bewusst zu werden, griff er unter seinen Cutaway und zog den Dolch hervor. Von dem Kribbeln war nichts mehr zu spüren. Vielleicht sollte er ihn doch zurückgeben an ...

Wie war noch gleich sein Name?

Randolphus drehte sich um, wollte gerade nach

(Erwin? War das der Name? Aber so hieß doch kein Dämon!)

rufen, doch stattdessen drang ein Laut aus seiner Kehle, der an das letzte Klagen einer erwürgten Gans erinnerte.

Vor ihm stand eine Gestalt, deren Garderobe noch unpassender war als Randolphus’ Cutaway. Sie trug einen Smoking, darunter ein weißes Hemd und eine weiße Fliege. Aus der linken Tasche lugte ein sorgfältig drapiertes Einstecktuch. Am Revers prangte eine rote Knopflochblume, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Rose hatte, aber keine war. Die Hände des Mannes steckten in weißen Handschuhen und waren auf den Elfenbeingriff eines Spazierstocks gestützt. Das Skurrilste an der Erscheinung war aber der hohe Zylinder.

Obwohl der Smoking-Träger nur eine Armlänge von Randolphus entfernt stand, konnte der das Gesicht seines Gegenübers nicht erkennen. Stattdessen sah er zuckende Schatten, eine Verheißung der Verdammnis.

Obwohl Randolphus die Gestalt noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er sofort, wen er da vor sich hatte.

„Asmodi“, hauchte er.

„Ich kann mich nicht erinnern, dir den Zutritt zur Schwarzen Bibliothek gestattet zu haben“, sagte eine Stimme aus den Gesichtsschatten. Sie klang samtig und süß wie vergifteter Wein.

„Äh ... ich ... äh ... öh ... äh ...“

„Ah ja“, sagte Asmodi. „Und da hast du dir gedacht, du vernichtest den Bibliothekar, der mir über lange Jahre treue Dienste geleistet hat, und holst dir einfach selbst, was dir nicht zusteht.“

„So ... so war ... das nicht“, stammelte Rudolphus. „Ich habe den Bliblio ... Bibilo ... Bilbo ... ich habe deinen Diener nicht vernichtet.“

Obwohl in Asmodis Schattengesicht auch keine Augen zu erkennen waren, wusste Randolphus, ja, spürte er förmlich, dass der Herr der Schwarzen Familie den Blick senkte. Auf die Athame, die Randolphus in der Hand hielt.

Der Schwarzzauberer zuckte zusammen.

„Iieek“, machte er und ließ den Dolch fallen. „Das ist nicht so, wie es aussieht!“

Ein Lachen drang aus dem Schattengesicht. Es klang herzlich und ehrlich. „Natürlich nicht! Es ist nie so, wie es aussieht!“

„Aber ich habe deinen Diener wirklich nicht getötet.“

„Wer war es dann?“

„Ein Dämon! Sein Name ist ... äh ... ich hab ihn vergessen. Es war etwas Langes, Kompliziertes.“

Randolphus sah zu Boden, starrte den Dolch zu seinen Füßen an. Dann zuckte sein Kopf hoch. „Er hat mir die Athame gegeben! Da muss ein Zauber darauf gelegen haben, ein Vergessenszauber. Er hat mich reingelegt, er wollte sich die Macht nicht mit mir teilen, er wollte ...“

Asmodi nickte. „Ein Dämon, ja? Mit einem langen, komplizierten Namen, richtig?“

Randolphus nickte eifrig.

„Und warum spüre ich hier keinen Dämon? Warum spüre ich zwar einen Schwarzmagier, der sich vor Angst bald die Hose beschmutzt, aber keinen Dämon?“

Randolphus riss die Augen auf und fuchtelte mit den Händen. „Weil er ein kalter Dämon ist. Man kann ihn nicht spüren! Und er hat mich reingelegt!“

„Ein kalter Dämon! Natürlich, das erklärt einiges.“

„Du glaubst mir?“

Asmodi nickte. Nach einer Sekunde sagte er dann: „Natürlich nicht! Wofür hältst du mich?“

In seiner Stimme lag Erheiterung.

Gerade als Randolphus zu einer Erwiderung ansetzen wollte, sah er einige Meter hinter Asmodi jemanden zwischen den Regalreihen hervorhuschen. Das war er! Das war dieser Dämon, dieser Intrigant, dieser Verräter!

„Da ...“, würgte Randolphus hervor.

Der Dämon blieb einen Schritt vor dem Portal stehen und sah zu Randolphus und Asmodi. Über Asmodis Schulter hinweg konnte Randolphus sehen, wie dieser Scheißkerl (Wenn ich mich doch nur an seinen Namen erinnern könnte!) einen Arm hob und ihm mit einer Pergamentrolle zuwinkte. Er grinste, nickte Randolphus noch einmal zu und trat durch das Portal.

„Da ist er!“, brachte Randolphus endlich hervor. Aber es war natürlich zu spät.

Asmodi drehte sich nicht einmal um.

Randolphus glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als der Herr über die Schwarze Familie sagte: „Ich danke dir.“

„Du ... du dankst mir?“

„Natürlich. Du hast mir gezeigt, dass die Schwarze Bibliothek eine zu große Verlockung darstellt. Sobald du draußen bist, werde ich sie versiegeln und sämtliche Zugänge sperren.“

„Sobald ich draußen bin? Du willst ... mich nicht töten?“

Randolphus gestattete sich ein zaghaftes Lächeln.

„Nein, ich werde dich nicht töten. Wie ist dein Name, Schwarzmagier?“

„Randolphus Brandfugger.“

„Ein Verwandter von Mephistoteles?“

Randolphus nickte. „Sein Neffe!“

„Schön, Randolphus Brandfugger. Du kannst gehen.“

„Da... danke!“

Randolphus stolperte an Asmodi vorbei und auf das Portal zu. Ein dümmliches Grinsen lag auf seinem Gesicht.

Da hatte er ja noch einmal Glück gehabt! Wenn er wieder zu Hause war, würde er Onkel Mephisto nach einem Spruch fragen, mit dem er den Vergessenszauber des Dämons rückgängig machen konnte. Und wenn er erst einmal wusste, wer dieser Mistkerl war, dann würde er keine Gnade ...

„Randolphus?“

Der Schwarzzauberer zuckte zusammen als er Asmodis Stimme hörte. Nur wenige Zentimeter vor dem Portal blieb er stehen.

„Ja?“, fragte er, drehte sich um - und erstarrte.

Asmodi stand noch an der gleichen Stelle wie vorhin, aber statt eines Smokings und eines lächerlichen Zylinders trug er nun ein Gewand aus lodernden Flammen. Der Spazierstock hatte sich in einen Feuerspeer verwandelt. Seine Spitze war auf Randolphus gerichtet.

„Du wolltest Macht?“, fragte Asmodi. Seine Stimme war nicht länger samten und süß. Sie war ein Messer aus Eis. „Du sollst Macht bekommen! Ich werde dich nicht töten. Das wirst du selbst tun. Benutz deine Macht und stirb!“

Ein Flammenstrahl jagte aus dem Speer, traf Randolphus in Herzhöhe und schleuderte ihn durch das Portal.

 

***

 

Vergangenheit, Juli 2006 - Drittes Zwischenspiel der Meister

Nicolas Gainsbourg klappte den Aktendeckel zu, als es an der Tür klopfte. Eine automatische Reaktion, über die er gar nicht mehr nachdachte.

„Entrez!“, rief er.

Die Tür zu seinem Luxus-Büro öffnete sich und herein kam ein Mann in einem leichten weißen Anzug und einem Panamahut der gleichen Farbe. Er war braungebrannt und trug einen sorgfältig getrimmten Dreitagebart. Als machte das sein Aussehen nicht schon verwegen genug, war sein Hemd (natürlich ebenfalls weiß) bis knapp über den Nabel geöffnet und ermöglichte den ungehinderten Blick auf eine wuchernde, graue Brusthaar-Plantage.

Das Klischeebild eines kolumbianischen Drogenbarons, dachte Nicolas Gainsbourg und musste grinsen.

Tatsächlich war der Besucher kein Kolumbianer, sondern Spanier. Und er handelte auch nicht mit Drogen, sondern mit Hotelzimmern. Das aber im ganz großen Stil.

„Ruben!“, sagte Gainsbourg, stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Auf Englisch fuhr er fort: „Was führt dich denn nach Marseille?“

Ruben Hernandez griff nach der Hand, die Nicolas ihm entgegenstreckte, und schüttelte sie einige Sekunden lang.

„Tut mir Leid, dass ich hier einfach so hereinplatze“, sagte er ebenfalls auf Englisch, aber mit deutlich hörbarem spanischen Akzent. „Deine Sekretärin war nicht an ihrem Platz.“

„Ich hab sie entlassen, weil sie immer jeden zu mir vorgelassen hat“, lachte Nicolas. „Nein, war nur Spaß. Sie wird wohl gerade ihre Pause machen. Setz dich doch!“

Die beiden gingen zu einer Rattansitzgruppe und Ruben Hernandez ließ sich in einen der Sessel sinken. Seinen Panamahut legte er auf den Glastisch.

„Ich freue mich immer, einen Meister des Ordens auch mal außerhalb der Versammlungen zu sehen“, sagte Gainsbourg, nachdem er sich ebenfalls gesetzt hatte. Dann hielt er für einen Augenblick inne. „Zumindest war das früher mal so“, fügte er dann hinzu. Wesentlich leiser und wesentlich ernster.

Hernandez nickte. „Bevor wir wussten, dass wir einen Judas in unseren Reihen haben.“

„So ist es. Aber was sollen wir machen? Uns nur noch mit gegenseitigem Misstrauen beschnüffeln wie die Hunde? Und dabei unsere Arbeit, unsere Berufung vernachlässigen? Oder weitermachen wie bisher? Ach, ich weiß auch nicht.“ Gainsbourg zuckte mit den Schultern. „Also, was führt dich her? Hast du genug von den glutäugigen Frauen in Cordoba?“

„Nichts Spezielles. Ein reiner Höflichkeitsbesuch. Ich bin gerade dabei, einige meiner Hotels zu inspizieren. Unter anderem das in Marseille. Also dachte ich mir, ich schaue mal auf einen Sprung herein.“

Ruben Hernandez nannte eine gigantische Hotelkette sein Eigen. Rubandez Resorts wurde in den entsprechenden Kreisen in einem Atemzug mit Ketten wie Ritz-Carlton, Mandarin Oriental oder Hilton genannt. Er zählte nicht nur hochkarätige Stars zu seinen Gästen, die bekannt waren aus Film, Funk und Finanzamt, sondern auch einflussreiche Industrielle, Manager, Politiker, Wirtschaftsbosse und die sonstigen Schönen und Reichen eines Landes. Die Gewinne - und deren gab es reichlich - flossen in die Kassen des Ordens.

„Das war eine gute Idee!“, sagte Nicolas und sah auf seine Armbanduhr. Kurz vor elf.

„Wir sollten uns heute Abend unbedingt zum Essen treffen. Ich lade dich ein. Und dann erzählst du mir ganz genau, welcher Prominente in der letzten Zeit bei dir gewohnt und wie er sich benommen hat.“

Ruben lachte. „Das machen wir. Aber bald wirst du nicht mehr auf meine Berichte angewiesen sein, sondern kannst live dabei sein.“

„Wie das?“

Hernandez grinste und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Moderne Überwachungstechnik. Wir sind gerade dabei, die wichtigsten Häuser damit auszurüsten.“

Nicolas schlug sich gegen die Stirn. „Natürlich, ich erinnere mich. Der Beschluss der letzten Versammlung!“

„Ja. Den Kampf gegen die Schwarze Familie wird nicht unbedingt der gewinnen, der die besseren Waffen hat“, versuchte er erfolglos die Stimme des Großmeisters Fabio Cassani nachzuahmen. Dabei hob er dozierend den rechten Zeigefinger. „Den Kampf wird der gewinnen, der die besseren Informationen über den Feind hat!“

„Da hat Fabio ja nicht ganz Unrecht. Wir glauben zu wissen, dass die Schwarze Familie ihre Finger auch in der großen Politik und in der Wirtschaft hat. Also warum nicht Informationen von denen gewinnen, die in deinen Hotels logieren?“

„Na, ich weiß nicht, ob das wirklich etwas bringt. Der neue Hüter ist jetzt seit drei Monaten im Amt und plötzlich soll alles umgeschmissen werden. Das gefällt mir nicht.“

Gainsbourg breitete die Arme aus. „Was soll man machen? Er ist nicht nur der neue Hüter, er ist auch der prophezeite letzte Hüter. Der Orden wird zukünftig aktiver in den Kampf gegen die Schwarze Familie eingreifen. Der Hüter kann das alleine gar nicht schultern. Sieh dir nur an, wie sie die Treasure Security nach und nach von einem Sicherheitsdienst in eine Eingreiftruppe umwandeln.“

„Ja, das ist auch so etwas. Den Orden gibt es jetzt seit fast zweitausend Jahren! Muss man denn jetzt alles so schnell ändern? Was hältst du überhaupt von dem neuen Hüter?“

Gainsbourg ließ die rechte Hand hin und her wippen. Comme ci comme ca! „Ich kann noch nichts über ihn sagen. Hinnerk scheint große Stücke auf ihn zu halten. Ich hab ihn erst einmal gesehen, als ich in der Halle der Geheimnisse war. Ganz netter Kerl. Er macht mir nur noch einen etwas unbeholfenen Eindruck.“

Hernandez lachte laut auf. „Unbeholfen! Da hast du Recht. Ich habe ihn auch in der Halle kennen gelernt. Und wenn ich ehrlich sein soll: Mir gefällt er nicht! Er versteckt den Schatz nicht nur vor der Schwarzen Familie, sondern auch vor uns. Und trotzdem gelang es zwei Vampiren, sie zu entführen!“

„Aber das war Teil der Prüfung“, erinnerte Nicolas ihn.

Ruben Hernandez winkte ab. „Ach was! So etwas darf einem Hüter trotzdem nicht passieren. Und dann die Sache mit dem Drachenblut! Ein Botendienst! Ein ganz einfacher Botendienst! Und was tut er? Er vermasselt es! Nein, tut mir Leid, aber ich fürchte, wenn er tatsächlich der prophezeite kämpfende Hüter ist, dann wird der Kampf nicht allzu lange dauern. Und der Verlierer wird nicht die Schwarze Familie sein.“

„Sieh das nicht alles so schwarz. Connor Baigent war am Anfang auch nicht der toughe Kerl, der er am Ende war. Und er hatte in seinen ersten drei Jahren nicht so viele Kämpfe zu bestehen, wie Larsen in seinen ersten drei Monaten.“

„Trotzdem! Die Sache mit dem Drachenblut hätte er sicher nicht verpatzt.“

„Was heißt hier verpatzt? Wer weiß, wie die Geschichte ohne den Hüter ausgegangen wäre.“

Ruben Hernandez griff zu seinem Hut und schob ihn auf dem Tisch hin und her. „Was habt ihr eigentlich mit den Blutresten angestellt?“

„Noch gar nichts. Das, was wir noch hatten, ist ja zu Staub zerfallen. Die Analysen laufen noch, sind aber bisher ergebnislos. Ich überlege schon, ob ich den Staub nicht einfach wegwerfe. Aber ich bringe es nicht übers Herz. Das ist aber nicht das einzige Problem.“

„Nein? Was gibt es denn noch?“

Nicolas Gainsbourg stand auf, ging zu einem der großen Fenster, sah hinaus und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Gainsbourg Chemicals ist mit gut 400 Gesellschaften auf allen fünf Kontinenten vertreten. Wir haben weltweit 140.000 festangestellte Mitarbeiter, von denen etwa ein Prozent für den Orden beschäftigt ist. Das sind 1.400 Chemiker, Laboranten, Wissenschaftler. Dazu kommen noch einmal ungefähr 1.500 freie Mitarbeiter weltweit, die unter der Führung von Gainsbourg Chemicals ausschließlich für den Orden arbeiten.“

Nicolas drehte sich um und ging zum Schreibtisch. Er schnappte sich den Aktendeckel und hielt ihn in die Höhe. „All diesen Menschen in Diensten des Ordens zahlen wir Unsummen an Gehalt. Und dennoch ist keiner fähig, eine Flüssigkeit zu analysieren!“

Mit drei Schritten war er bei der Rattansitzgruppe und warf den Aktendeckel auf den Glastisch.

Ruben Hernandez zog ihn zu sich heran, klappte ihn auf und nach einigen Sekunden wieder zu.

„Das strotzt ja vor Fachbegriffen! Damit kann ich nichts anfangen.“

Gainsbourg seufzte. „Es geht um Jeckylls Elixier. Wir haben in der Halle der Geheimnisse das Rezept dazu gefunden. Du wirst dich erinnern, dass wir außerdem in einer Schatulle fünf Fläschchen mit einer Flüssigkeit gefunden haben. Auf der Schatulle sind Jeckylls Initialen, also könnte es sich um fertiges Elixier handeln. Aber die Flüssigkeit entzieht sich jeder Analyse. Wir stehen vor einem Rätsel.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Auch das Rezept bringt uns nicht weiter“, fuhr er fort. „Manche Passagen sind kaum zu entziffern. Bei den Ingredienzien sind Substanzen dabei, von denen wir noch nie etwas gehört haben. Vielleicht ist es auch ein Code, den wir noch nicht begreifen. Ich wollte es schon George Sandford zum Decodieren zuschicken, aber der bereitet gerade etwas Anderes vor.“

Ruben Hernandez griff in die Innentasche seiner Jacke und holte ein silbernes Etui heraus, aus dem er ein langes, dünnes Zigarillo fischte. Er klemmte es sich zwischen die Lippen.

„Gebt doch einfach dem neuen Hüter einen Schluck davon“, sagte er. Sein Gesicht blieb dabei todernst. „Damit könntet ihr das Elixier testen und diesen Larsen in einen draufgängerischen Helden verwandeln.“

Er zog ein edles Silberfeuerzeug aus der Jacke und steckte das Zigarillo an. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger die beiden eingravierten verschnörkelt umschlungenen R’s nach.

„Wenn das jetzt ein Witz war, fand ich ihn nicht sehr lustig“, sagte Nicolas Gainsbourg.

Ruben Hernandez saß mit übereinander geschlagenen Beinen da, lehnte sich zurück, stieß eine Rauchwolke aus und schwieg.

„Lass dem Jungen einfach die Zeit, die er braucht, sich zu entwickeln“, sagte deshalb Gainsbourg. „So etwas geht nicht von heute auf morgen!“

„Wenn aber die Schwarze Familie schon heute etwas plant und nicht erst morgen? Was dann?“

Gainsbourg zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es doch auch nicht. Lass uns einfach hoffen, dass sie im Augenblick nichts vorhat.“

„Und wenn doch? Wenn sie auf dieses Greenhorn stößt, sieht es düster aus. Ganz düster! Das muss sich schnellstens ändern!“

Nicolas Gainsbourg grinste. „Gerade hast du noch gesagt, dir sind die schnellen Änderungen nicht recht. Und jetzt klingst du, als könnte es dir nicht schnell genug gehen. Versuche dein südländisches Temperament in den Griff zu bekommen und gib dem Jungen eine Chance.“

Ruben seufzte. „Etwas Anderes wird mir auch gar nicht übrig bleiben.“

 

***

 

Vergangenheit, Juli 2006

Mephisto nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse wieder auf den Tisch. Er verzog das Gesicht und griff nach der Zuckerdose. Dann warf er noch einmal drei Würfel Zucker in die Tasse und rührte um.

„Er materialisierte vielleicht zwei Meter neben dem Stuhl, auf dem du gerade sitzt“, sagte er zu Belphegor Barstow. „Asmodi hat für einen Augenblick hier ein Portal errichtet und Randolphus nach Hause geschickt. Noch etwas Kaffee?“

Barstow schüttelte den Kopf. „Nein, zwei Tassen reichen mir. Danke.“

Sie saßen inzwischen inmitten von aromatischen Rauchwolken im Schwarzen Salon von Mephistos Anwesen und ließen sich ihren Kaffee, einen Cognac und eine kubanische Zigarre schmecken. Und die hatten sie sich redlich verdient!

Barstow sah immer noch Randolphus’ irres Gesicht vor sich, das ihn durch die Gitterstäbe hinweg angestarrt hatte. Unter dem ständigen „...olph...olph...olph...“ des vergessenen Brandfuggers hatte Belphegor die Schachtel geöffnet, die er mitgebracht hatte.

Er musste jetzt noch in sich hineingrinsen, wenn er an das Gesicht dachte, das Mephisto gemacht hatte, als er einen Blick in die Schachtel hatte werfen können.

„Bist du wahnsinnig?“, hatte Mephisto gerufen, das Gesicht ähnlich verzerrt wie sein Neffe. Dann kreuzte er die Hände vor dem Gesicht, die Handflächen nach außen. So, als wolle er einen Angriff abwehren. „Nimm das weg!“

Doch Belphegor dachte gar nicht daran!

„Entspann dich!“, lachte er. „Hast du ihn also erkannt?“

Mephisto lugte hinter seinen Händen hervor. „Natürlich hab ich ihn erkannt! Er hätte uns damals fast das Leben gekostet!“

In der Schachtel lag ein Handschuh aus Schweinsleder. Er hatte einst Patrick O’Bannalow gehört, einem irischen Hexen- und Dämonenjäger, dessen Plan es gewesen war, die Schwarze Familie auszulöschen. Und der Handschuh hatte ihm dabei helfen sollen. Er war in der Tat eine gefährliche Waffe gewesen, denn mittels eines Zaubers waren silberne Fäden in das Leder eingearbeitet, die starke weißmagische Symbole formten. Dem Handschuh hatte eine so mächtige Bannmagie innegewohnt, dass die bloße Berührung bereits mehrere Mitglieder der Schwarzen Familie auf der Stelle getötet hatte.

Der Plan, die Schwarze Familie auszurotten, war natürlich lächerlich, trotz der Stärke der Waffe.

Eine Fliegenklatsche war auch eine mächtige Waffe und absolut tödlich für die entsprechenden Wesen. Aber genauso wenig, wie man mit einer Klatsche der weltweiten Fliegenpopulation zu Leibe rücken konnte, konnte der Handschuh der gesamten Schwarzen Familie gefährlich werden. Was freilich nur den Fliegen ein Trost war, die bisher keine Begegnung mit der Klatsche gehabt hatten.

Belphegor und Mephisto erlebten ihre Begegnung mit der Fliegenklatsche in der Neujahrsnacht des Jahres 1900. Sie wollten im Keller von Belphegors Villa ein Blutritual vollziehen, dass das neue Jahrhundert dazu einladen sollte, ein schwarzmagisch erfolgreiches zu werden.

Leider hatte es auch Patrick O’Bannalow eingeladen. Woher er wusste, dass er in der Villa Schwarzmagier antreffen würde, war bis heute ungeklärt. Geklärt war hingegen, wie er in das Haus gekommen war: Er hatte einfach geklopft!

Barstows damaliger Diener hatte die Tür geöffnet und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte ihm der Hexenjäger einen Kinnhaken mit der behandschuhten Hand verpasst und damit sein Ende besiegelt.

Dann war er schnurstracks in den Keller gestapft, in dem Belphegor und Mephisto gerade eine keifende, wehrhafte Frau an die Wand ketten wollten. Die Ringe um die Fußgelenke und einer um das Handgelenk waren bereits geschlossen, das andere Handgelenk war noch frei. Und das war die Rettung der Schwarzmagier!

Als O’Bannalow den Keller betrat, spürten Barstow und Brandfugger sofort die Ausstrahlung des Handschuhs und erstarrten, teils aus Furcht, teils wegen der magischen Wirkung. Der Hexenjäger hätte die Schwarzmagier nur noch berühren müssen, um sie zu vernichten, doch während er im Raum stand und überlegte, welchen der Zauberer er zuerst töten sollte, erkannte die Frau an der Wand ihre Gelegenheit.

In ihrer Todesangst reagierte sie völlig falsch. Statt einfach zu warten, bis O’Bannalow sie rettete, fummelte sie mit der losen Hand den gefesselten Arm frei, wollte davonlaufen - und kippte wegen ihrer angeketteten Beine nach vorne weg. Dabei stürzte sie auf den Hexenjäger, riss ihn um und begrub dessen rechten Arm und dadurch auch den Handschuh unter sich.

Vom Bann befreit warf sich Belphegor auf O’Bannalow und rammte ihm einen Dolch ins Herz. Der Frau brach er das Genick.

Durch O’Bannalows Tod hatte der Handschuh einen kleinen Teil seiner Kraft verloren. Als Belphegor die Leiche der Frau zur Seite rollte, stellte er fest, dass die bannende Wirkung verflogen war. Stattdessen verursachte die Ausstrahlung der weißmagischen Symbole unglaubliche Schmerzen. Und eine Berührung war vermutlich nach wie vor tödlich.

Mephisto wollte die Leichen und den Handschuh an Ort und Stelle verbrennen, doch Belphegor bestand darauf, den Handschuh aufzubewahren. Es dauerte Stunden, bis sie ihn unter Schmerzen mit Hilfe von Schürhaken, Zangen und ähnlichen Instrumenten von O’Bannalows Hand befreit und in ein schwarzmagisch abgeschirmtes Kästchen aus Tropenholz bugsiert hatten.

Und jetzt, über hundert Jahre später, sah Mephisto diesen Handschuh vor sich in einer Schachtel liegen.

Belphegor nickte. „Richtig, er hätte uns damals fast das Leben gekostet. Aber heute wird er für uns arbeiten.“

„Wie ist das möglich? Warum hat er seine weiße Ausstrahlung verloren? Warum leiden wir keine Schmerzen?“

Barstow dachte zurück an die 49 Abende, an die 49 Rituale in der Stunde nach Sonnenuntergang, an die Schmerzen während der ersten 21 Rituale, an das Übelkeitsgefühl während der zweiten 21. Erst im siebten und abschließenden Siebenerzyklus hatte der Handschuh endlich seine weißmagische Wirkung aufgegeben.

„Ich hab ihn entweißt. Was sehr aufwendig war, wie du dir vorstellen kannst.“

„Und was willst du damit?“

„Wir ziehen ihn Randolphus an! Dann gehen wir ins Haus, trinken einen Kaffee und unterhalten uns.“

So einfach dieser Plan klang, so schwer war er durchzuführen. Randolphus dazu zu bringen, den rechten Arm zwischen den Gitterstäben durchzustecken, war noch der unkomplizierteste Teil. Dazu musste Mephisto nur nahe genug zur Tür gehen und schon versuchte sein Neffe, nach ihm zu greifen und zu schlagen.

Untermalt natürlich von ständigem enervierendem „...olph...olph...olph...“-Gebelle.

Doch den Arm dann festzuhalten und den Handschuh darüber zu streifen, gestaltete sich als eine Stunden währende Geduldsprobe. Zu groß war Randolphus’ Kraft, zu lang waren seine Fingernägel, zu schmerzunempfindlich war er selbst. Erst nach massivem Einsatz von Ketten und Fesseln war es ihnen schließlich gelungen.

Und jetzt saßen sie im Schwarzen Salon, tranken Cognac und pflegten ihre eigenen Kratzer und Abschürfungen.

„Warum wolltest du Randolphus’ Geschichte hören?“, fragte Mephisto. „Du kennst sie doch schon! Sag lieber endlich, was es mit dem Handschuh auf sich hat!“

Belphegor nahm einen Zug von der Zigarre. „Natürlich! Aber erzähle mir vorher bitte noch, was sich nach Randolphus’ Rückkehr ereignet hat.“

Mephisto seufzte, was bei ihm allerdings eher nach einer knarrenden Tür klang. „Na schön. In den ersten Tagen war keine starke Veränderung zu erkennen. Er hat mir natürlich sofort gebeichtet, was geschehen war. Ich war sehr beunruhigt wegen Asmodis Fluch, deshalb sperrte ich Randolphus in einen schwarzmagisch gesicherten Raum.“

Er strich sich mit einem Finger über die Augenbrauen, dann fuhr er fort: „Ich wollte sehen, welche Auswirkungen der Fluch hat. Wie gesagt, in den ersten Tagen hatte er gar keine. Aber nach etwa einer Woche ...“

Mephistoteles stockte.

„Große Macht!“, fuhr er schließlich fort. „Das war es, was Asmodi ihm versprochen hatte. Eines Abends, ich gab gerade ein kleines Bankett für einige ausgesuchte Mitglieder der Schwarzen Familie, brachte ich ihm eine Auswahl von unserem Buffet aufs Zimmer. Mit ganz ruhiger Stimme bat er mich, ihn wieder herauszulassen. Aber ich lehnte ab.

Und plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall und ich flog mitsamt der Zimmertür und den Häppchen quer durch den Flur. Im Türrahmen stand Randolphus - und er sah unglaublich verwirrt aus. Nein, nicht verwirrt. Überrascht! Ich denke, er wollte einfach nur die Tür öffnen. Die mit Bannern gesicherte Tür, wohlgemerkt. Aber dass er sie gleich meterweit durch die Luft schleuderte, damit hatte er selbst nicht gerechnet.“

Mephisto griff zu seinem Cognac und nahm einen kleinen Schluck. Belphegor schwieg, wollte den Erzählfluss nicht unterbrechen.

„Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges“, knarzte Mephisto. „Im einen Moment stand da Randolphus im Türrahmen, überrascht zwar, verunsichert von seiner Kraft, aber eben doch Randolphus. Im nächsten Moment war er verschwunden. Natürlich war er nicht wirklich verschwunden, aber er hatte sich - ja, verwandelt. In ein Ding, das nur noch wie Randolphus aussah. Er sagte nur ein Wort: Hunger! Das war alles. Hunger! Und dann stürzte er sich auf mich. Oder besser gesagt, auf die Tür, unter der ich lag. Aber ich hatte Glück!

Von dem Radau angelockt, kamen gerade ein paar meiner Gäste die Treppe herauf. Als Randolphus sie sah, ließ er von mir ab. Wieder brüllte er nur dieses Wort. Hunger! Und noch ehe meine Gäste wussten, was geschah, war er auch schon mitten unter ihnen, hatte zweien die Kehle durchgebissen und von einem anderen die Leber oder was weiß ich in der Hand. Ein paar der Magier versuchten ihn zu überwältigen, doch er schüttelte sie einfach ab wie lästige Insekten. Also ließen wir ihn in Ruhe ...“

Mephisto räusperte sich.

„... in Ruhe fressen. Und dann war alles vorbei. Genauso plötzlich, wie das Ding, das nicht Randolphus war, aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden. Stattdessen war es wieder mein Neffe, der da inmitten dreier Leichen kniete, von oben bis unten mit Blut besudelt, ein Stück Leber im Mund. Ein Stück Leber von seinesgleichen! Es waren keine normalen Menschen, die er da angegriffen hatte. Es waren verdiente Mitglieder der Schwarzen Familie! Und sie hatten sich nicht gegen ihn wehren können. In diesem Augenblick erkannte ich, welchen Fluch Asmodi über ihn verhängt hatte.“

„Dämonenwahn!“, sagte Belphegor.

Mephisto nickte. „Dämonenwahn! Das, von dem du die Ausläufer gespürt hast, als wir den Zugang zum Keller öffneten. Einer der hinterhältigsten Flüche, die es gibt. Er verleiht dir unglaubliche Macht und schwarze Gaben. Aber wenn du sie anwendest, zehrt dich ihr Gebrauch so aus, dass du völlig außer Kontrolle gerätst. Du musst anderen ihre Energie rauben, verfällst dadurch in einen Blutrausch, wendest deine Macht an, um Beute zu machen und deinen Hunger zu stillen, wodurch der Hunger noch mehr wächst. Es ist buchstäblich ein Teufelskreis. Du wirst von unkontrolliertem Hass auf alles gepackt, was Energie in sich trägt. Und irgendwann - nun, irgendwann überfrisst du dich an dieser Energie. Und das ist das Ende.“

Mephisto trank seine Kaffeetasse leer.

„Wir hatten damals das Glück, dass Randolphus in den gesicherten Raum gesperrt war. Ich vermute, er wäre nicht wieder zu sich gekommen, wenn der Dämonenwahn ohne die schwarzen Banner ausgebrochen wäre. Aber so hatten wir die Gelegenheit, die Schwarze Familie und die restliche Welt vor ihm zu schützen. Aber es war auch ein Schutz für ihn vor sich selbst. Wir haben ihn in das Verlies gesteckt, in dem wir vorhin waren, und es mit unzähligen Sprüchen, Gegenflüchen und Dunkelzaubern versehen. Das blockierte wenigstens seine Fähigkeiten und machte ihn ... harmlos. Den Wahnsinn, den Hass konnten wir dadurch nicht mildern. Vielleicht wäre es besser gewesen, Asmodi hätte ihn gleich ...“

Mephisto stockte. Und schwieg.

Belphegor griff nach seinem Cognac-Schwenker und ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin kreisen. Er wartete einen Augenblick, ob Mephisto seinen Satz zu Ende bringen wollte. Doch schließlich sagte er: „Und hier kommt der Handschuh ins Spiel. Ich bin auf ein uraltes etruskisches Ritual gestoßen. Du weißt ja, dass wir Barstows der etruskischen Magie sehr zugetan sind. Mit diesem Ritual ist es gelungen, den weißen Zauber in einen schwarzen umzupolen. Sieh dir nur mal die magischen Fäden an. Vor dem Ritual waren sie silbern, jetzt sind sie dunkelrot.

Wenn es funktioniert, und ich bin überzeugt davon, dass es funktionieren wird, blockiert der Handschuh nicht Randolphus’ Macht. Sie anzuwenden wird also auch weiterhin an seinen Kräften zehren. Das heißt, dass auch der Hunger nicht ausbleiben wird. Aber er wird nicht in einen Blutrausch geraten. Wenn sein Hunger gestillt ist, kann er sich heimlich, still und leise aus dem Staub machen.“

Mephisto runzelte die Stirn. „Moment! Willst du mir hier gerade erzählen, dass du ihn mit diesem Handschuh geheilt hast?“

Belphegor lachte auf. „Nein. Leider nicht. Ich fürchte, die Wirkung ist beschränkt. Der Handschuh, nun ja, er frisst den Wahn und den Blutrausch in sich hinein. Aber irgendwann ist auch er gesättigt. Und dann kann er Randolphus nicht mehr schützen.“

„Was soll das Ganze dann bringen? Ich kann da noch keinen Plan erkennen!“

Belphegor Barstow sah Mephisto lange in die Augen. „Bevor ich ihn dir erkläre, möchte ich dir eine Frage stellen.“

Barstow drehte sich zur Tür des Schwarzen Salons um. Sie war geschlossen. Er war mit Mephisto allein.

Randolphus war nur wenige Minuten, nachdem sie ihm den Handschuh angezogen hatten, in einen tiefen Schlaf gefallen. Der Hass, die Gier, der Wahn hatten ihn über lange Jahre nahezu ununterbrochen wachgehalten. Und jetzt forderte der Körper seinen Tribut, selbst wenn es der Körper eines Schwarzmagiers war. Mephistos Diener hatte ihnen geholfen, Randolphus in sein altes Zimmer zu tragen. Und dort lag er noch immer und holte den Schlaf von über hundert Jahren nach.

Belphegor wendete sich wieder Mephisto zu. Dann nahm er einen Schluck Cognac und stellte das Glas auf das Tischchen. „Wärst du bereit, Randolphus für den Tod des Verräters zu opfern?“

Mephisto kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und musterte sein Gegenüber. Dann nickte er. „Natürlich bin ich dazu bereit. Eigentlich ist er seit über 100 Jahren tot. Und so ist er wenigstens noch einmal nützlich.“

Belphegor atmete auf. „Gut. Also, die Situation ist folgende: Wir wollen den Verräter beseitigen. Asmodi will es nicht. Das ist ein Problem, aber nicht das einzige. Denn wir wissen ja noch nicht einmal, wer der Verräter ist. Genau genommen kennen wir nicht einmal die Identität der Ordensmeister. Aber ich glaube, dass uns Randolphus’ Fähigkeiten bei allen Problemen helfen können.“

Mephisto überlegte für einige Sekunden. „Na, ich weiß nicht. Sicherlich ist es für ihn nicht schwer, den Verräter zu entlarven. Aber wie willst du ihn dazu bringen, gegen Asmodis Willen zu verstoßen? Das hat ihn ja gerade erst in seine Situation gebracht.“

Belphegor presste die Fingerspitzen beider Hände vor dem Mund aufeinander. Mit den Zeigefingern klopfte er sich auf die Lippen. Wenn es nicht so absurd gewesen wäre, hätte man meinen können, er bete.

„Woher soll er denn wissen, dass er gegen Asmodis Willen verstößt? Ich werde es ihm nicht verraten. Im Gegenteil. Wir sagen ihm, dass der Verräter ein doppeltes Spiel spielt und der Schwarzen Familie Schaden zufügt. Wenn Randolphus den Verräter stellen und töten kann, wird sich Asmodi sicherlich erkenntlich zeigen und den Fluch von ihm nehmen.“

Mephisto wiegte den Kopf hin und her. „Das könnte klappen.“

„Ich stelle mir das so vor: Zunächst soll er herausfinden, wer der Verräter ist, ihn aber noch nicht töten. Das wird er erst tun, wenn der Orden seine nächste Versammlung hat.“

„Warum soll er es nicht gleich tun?“

„Weil das zu leicht ist. Der Verräter wäre tot, Randolphus noch am Leben und wir in Asmodis Augen die Drahtzieher. Vor allem, wenn Randolphus verlangt, dass er den Fluch von ihm nimmt. Nein, dein Neffe muss bei dem Angriff selbst sterben, wenn wir sicher sein wollen! Deshalb soll er in die gut bewachte Versammlung platzen. Vorher tauschen wir seinen schützenden Handschuh gegen einen normalen aus und lassen ihn unter den Meistern wüten. Dabei wird er dann entweder von den Sicherheitskräften eliminiert oder er überfrisst sich und erliegt dem Dämonenwahn. Und wir können behaupten, seine Kräfte wären so groß geworden, dass er aus seinem Verlies fliehen konnte.“

Mephisto nickte. „Und wie willst du es Randolphus gegenüber rechtfertigen, dass er den Verräter nicht gleich töten darf?“

„Asmodi ist nicht gerade für seine Gnade bekannt. Vielleicht reicht ihm der Tod des Verräters aus, den Fluch von Randolphus zu nehmen. Vielleicht aber auch nicht. Deshalb muss dein Neffe versuchen, Asmodi noch mehr zu beeindrucken. Und wie könnte er das besser, als wenn er den Verräter vor dem versammelten Orden eliminiert, noch zwei oder drei der Meister umbringt und sich dann aus dem Staub macht? Dass er dank des Wahns und des vertauschten Handschuhs dazu keine Gelegenheit haben wird, ahnt Randolphus natürlich nicht.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Randolphus kam herein. Er sah noch immer ungepflegt und zerzaust aus, aber der Wahnsinn aus seinem Gesicht war verschwunden. Es würde sicher noch ein paar Wochen dauern, bis die Geschwüre abgeheilt waren und er in einem vorzeigbaren und somit unauffälligen Zustand war.

„Was ahne ich nicht?“, fragte er.

„Wie gute Chancen du hast, von deinem Fluch geheilt zu werden und gleichzeitig etwas für die Schwarze Familie zu tun“, sagte Mephisto.

„Tatsächlich?“ Randolphus’ Augen begannen zu leuchten. Er klatschte in die Hände und tänzelte von einem Fuß auf den anderen. „Wann kann ich anfangen? Was soll ich machen? Ihr müsst mir alles ganz genau erzählen.“

Und das taten Belphegor und Mephisto.


 


                                                             Stalking the land for the scent of my prey

                                                             Stopping for nothing don't get in my way

                                                             Left to the vultures your life is denied

                                                             I rule the jungle I rule it with pride

(Annihilator, King of the kill)

4. Kapitel:

Dämonenwahn


 


Gegenwart

Mark starrte auf die Blätter auf dem Küchentisch. Noch einmal überflog er die Artikel: Sieben Tote bei einem Amoklauf im Kino, ein weiterer Amoklauf in einem Restaurant, ein Blutbad in einem Autohaus, Gemetzel in einem Großraumbüro, noch ein Blutbad in einem vollbesetzten Theater. Und dann war da noch die spurlos verschwundene Eishockey-Mannschaft.

Er sah zu Hinnerk, hoffte auf ein erklärendes Wort, eine Interpretation der Geschehnisse, irgendetwas! Aber der Alte war gerade wieder mal dabei, sich eine Zigarette zu drehen.

Als er Marks Blick auf sich spürte, sah er auf und grinste. „Ick will mol noch ne Züchte smöken, bevör dat Zimmer nich mehr so good röökt!“

„Schön“, sagte Mark und sah Knut an. „All diese Morde sind an Wohnorten von Ordensmeistern geschehen. Und was hat das jetzt zu bedeuten?“

„Das ist die Frage“, murmelte Knut Ukena.

„Und was ist die Antwort?“

„Das will ich dir gerne sagen!“ Knut holte tief Luft, sah Mark fest in die Augen und nickte ihm mehrfach zu. Dann beugte er sich über den Tisch, senkte verschwörerisch die Stimme und sagte: „Ich habe keine Ahnung!“

„Oh“, machte Mark.

Christine kicherte.

Sabrina musste niesen. „Du hast gesagt, du hast außer den Fällen in Ehernau nur diese vier anderen gefunden?“, sagte sie schließlich.

„Gesundheit!“, sagte Knut und nickte.

„Es gibt aber dreizehn Meister. Hast du die Wohnorte der restlichen auch gecheckt?“

„Soweit es möglich war, ja. Aber da war nichts, was ins Muster passt.“

„Und wie passen die Vorfälle in Ehernau ins Muster?“, fragte Hinnerk. „Da wohnt kein Meister.“

„Nein, aber die Kyffhäuserhöhlen sind in der Nähe.“

„In denen aber keine Versammlungen mehr stattfinden“, gab Mark zu bedenken.

„Wenn man von der absieht, zu der ihr gleich gehen werdet.“

„Auch wieder wahr. Aber kann es nicht trotzdem ein großer Zufall sein?“

Knut schüttelte den Kopf. Dann ging er zum Kühlschrank und holte eine Erdbeer-Milch heraus.

Er öffnete den Becher und nahm einen großen Schluck. Als er den Becher wieder absetzte, hatte er einen rosa Oberlippenbart und sagte: „Alles Müller, oder ...“

„Was?“, fragte Mark und runzelte die Stirn.

Diesmal war es Sabrina, die kichern musste.

„Wo ist eigentlich James?“, fragte Knut. „Die Milch ist als Abendessen nicht wirklich magenfüllend.“

„Der ist ins Bett gegangen, als du in deine Internet-Recherche vertieft warst. Er ist furchtbar erkältet. Wahrscheinlich hat Sabrina ihn angesteckt.“

„Ich? Du spinnst wohl?“, empörte sich Sabrina und nieste.

„Gesundheit!“, sagte Knut. „Und was soll ich jetzt essen?“

„Bestell dir eine Pizza“, sagte Mark. „Also, kann es nicht vielleicht doch nur Zufall sein?“

„Nein, glaube ich nicht. Wenn ich einen oder zwei ähnliche Fälle an Orten gefunden hätte, die mit dem Orden nichts zu tun haben, dann vielleicht. Hab ich aber nicht! Ich bin sicher, dass da ein Zusammenhang besteht.“

„Der besteht auch!“, sagte Christine.

Alle Blicke zuckten zu dem dreizehnjährigen Mädchen. Doch sofort war allen klar, dass sie im Augenblick nicht das dreizehnjährige Mädchen war, sondern der alterslose Schatz. Der bisher letzte Spross der Blutlinie Jesu, von dessen Wohlergehen das Schicksal der Menschheit abhing. Ihre großen braunen Augen starrten blicklos in die Ferne, als beobachteten sie etwas, das nur sie sehen konnten.

„Es wird Tote auf der Versammlung geben“, fuhr Christine fort. Ihre Stimme klang seltsam tonlos. „Nicht alle Meister werden den morgigen Tag erleben.“

Hinnerk zuckte zusammen und presste die Kiefer aufeinander.

Christine nahm das nicht zur Kenntnis und sprach weiter. „Auch ihr beiden seid nicht sicher. Einer von euch wird die Schwelle des Todes überschreiten und der andere wird es nicht verhindern können!“

Damit musste sie Mark und Hinnerk meinen, auch wenn sie sie nicht ansah. Eisige Schauer huschten über Marks Rücken.

„Und dennoch müsst ihr zu dieser Versammlung gehen“, sagte Christine. Während der letzten Sekunden hatte sie nicht ein einziges Mal gezwinkert. „Der Kampf gegen die Schwarze Familie wird nicht dort entschieden werden. Aber auf ihr werden die Weichen gestellt. Für die Zukunft und für die Vergangenheit. Ergebt euch in euer Schicksal und akzeptiert, was kommt. Es wird zum Wohle der Menschen sein.“

Jetzt endlich zwinkerte Christine. Dann sah sie jedem Einzelnen in die Augen und lächelte ihr patentiertes Gleich-läuft-dir-das-Herz-über-Lächeln.

„Und jetzt muss ich noch ein paar Seiten lesen“, sagte sie. „Ich kann einfach nicht glauben, dass Dumbledore wirklich tot ist. Das ist bestimmt nur eine Finte, um Snape glaubhaft in Voldemorts Kreise einschmuggeln zu können.“

Mark starrte das Mädchen an. Er hatte keine Ahnung, wovon es da gerade sprach.

„Harry Potter“, hauchte Sabrina, die Marks verständnislosen Blick gesehen hatte. Dann nieste sie.

„Gesundheit!“, sagte Knut. Er klang, als würde er jeden Augenblick anfangen wollen zu heulen.

 

***

 

Vergangenheit, August 2006

Durch den Wald schlich der Tod. Und er trug einen Handschuh aus Schweinsleder.

Randolphus grinste.

Das wäre ein guter Titel für ein Buch.

Der Tod trägt einen Handschuh aus Schweinsleder.

Na gut, vielleicht etwas sperrig, aber auf jeden Fall geheimnisvoll.

Der Tod trägt Leder.

Ja, das war besser.

Aber las heutzutage überhaupt noch jemand ein Buch? Oder vergnügten sich die Menschen nur noch mit Sachen, für die es Abkürzungen gab? DVD, PC, WWW, TNT, SMS?

Randolphus konnte es zuerst gar nicht glauben, wie sich die Welt innerhalb der letzten 130 Jahre verändert hatte. Es hatte Onkel Mephisto einiges an Mühe gekostet, ihm klarzumachen, dass nichts davon auf Magie beruhte, selbst wenn es so aussehen mochte. Um sich mit jemandem über gigantische Entfernungen hinweg zu unterhalten, brauchte man heute kein Ritual, sondern ein eigenartiges Ding namens Handy oder ICQ. Um Musik zu hören, musste man keinem Orchester mehr lauschen, sondern man benutzte einen MP3-Player.

Was auch immer das sein mochte. Um sich von erfundenen Geschichten unterhalten zu lassen, brauchte man nicht mehr ins Theater zu gehen (obwohl es die immer noch gab, wie Mephisto ihm erklärt hatte), sondern man ging ins Kino oder sah sich einen Film im TV oder auf VHS oder DVD an.

Hervorragend!

Nichts als Abkürzungen!

CD, PS2 und HDTV. Fast konnte man glauben, hinter all diesen Kürzeln, die Mephisto ihm erklärt, von denen er aber mehr als die Hälfte schon wieder vergessen hatte und vom Rest nicht mehr wusste, was sie bedeuteten, fast konnte man glauben, hinter all diesen Kürzeln steckten doch schwarze Zauber.

Und wie sich die Menschen kleideten! Unglaublich, wie man freiwillig so herumlaufen konnte! Junge Männer trugen Hosen, auf die mindestens zehn Quadratmeter zu viel Stoff verwendet wurden und die deshalb an ihnen herumschlackerten wie Säcke. Die Beine waren viel zu lang und stauchten sich auf den offenen, dreckigen Schuhen zu zahlreichen Wulsten.

Der Stoff, der unnötigerweise in die Herrenbekleidung gesteckt wurde, fehlte dann bei der Anfertigung der Frauenkleider! Oder wie ließ es sich sonst erklären, dass die meisten Frauen halbnackt herumliefen?

Wo waren nur die guten Sitten geblieben?

Die Smokings?

Die Anzüge aus edlen Stoffen?

Rüschenhemden und Lackschuhe? Gab es keine vernünftigen Schneider mehr in dieser Zeit?

Randolphus sah an sich herab und ihn schauderte. Seine Beine wurden verhüllt von groben, blauen Hosen. Statt eines Hemds trug er ein so genanntes T-Shirt. Die Füße steckten in etwas, das ihm Mephisto als Turnschuhe vorgestellt hatte. Dabei wollte er gar nicht turnen!

Am liebsten hätte er sich einen Anzug aus Seide anfertigen lassen. Aber Onkel Mephisto hatte darauf bestanden, dass er so unauffällig wie möglich unterwegs war. Und deshalb hatte es auch fast sechs Wochen gedauert, bis Mephisto ihn nach der Befreiung aus seinem Kerker in die Welt hinausgelassen hatte.

In der Zwischenzeit hatte sich Randolphus’ Haut erholt, er hatte einen vernünftigen Haarschnitt, vernünftige Kleidung (nun ja, das was Mephisto als vernünftig ansah) und einen Schnellkursus in der Geschichte der letzten 130 Jahre erhalten. Er hatte gelernt, dass der reichste Mann der Welt ein Amerikaner namens Ronald McDonald war. Er hatte alles erfahren über Einkaufsstraßen, über das Schicksal der Pferdekutschen, über Licht in gläsernen Birnen oder Röhren, und natürlich über die unvermeidlichen Abkürzungen: Kfz, PKW, LKW, AKW.

Und Mephisto hatte ihm alles über den Orden erzählt, was er selbst wusste. Darüber, dass er von zwölf oder dreizehn Meistern geführt wurde, deren Namen allerdings weder die Brandfuggers noch die Barstows kannten. Er hatte von dem Verräter erzählt. Und davon, wie Randolphus sich mit einem grandiosen Schlag gegen den Verräter und den Orden die Gnade Asmodis erkaufen konnte.

Erst als Mephisto mit Randolphus’ Lernfortschritten zufrieden gewesen war, hatte er ihm gestattet, hinauszugehen.

Das war vor drei Tagen gewesen.

Die ersten zwei Tage hatte er darauf verwendet, durch die Straßen zu latschen und die gelernte Theorie in der Praxis zu betrachten. Doch am dritten Tag war er zu dem Ort aufgebrochen, an dem nach Mephistos Erzählung ein Mitglied der Barstow-Sippe sein schwarzes Leben ausgehaucht hatte.

Und nun schlich er hier durch den Wald in der Nähe der Kyffhäuser-Höhlen und lauerte darauf, einen Bediensteten des Ordens in die Finger zu bekommen.

Zunächst musste er herausfinden, wer die Ordensmeister waren. Aber das dürfte kein allzu kniffliges Problem sein. Er hatte dank seiner Fähigkeiten einige sehr wirksame Verhörmethoden.

Da! Das da vorne musste der Trampelpfad sein, der zum Höhleneingang führte.

Randolphus näherte sich seitlich aus dem Unterholz, blieb aber gute zwei Meter vom Pfad entfernt im Wald stehen und lauschte. Alles ruhig. Nur ein paar Vögel, die sich stritten, ein paar Insekten, die durch die Luft summten und brummten.

Also weiter!

Die nächsten fünf Minuten wanderte er parallel zum Pfad durch den Wald. Sicher, es wäre auch schneller gegangen, aber er wollte seine Fähigkeiten erst anwenden, wenn es nötig war. Denn auch, wenn er dank des Handschuhs nicht mehr in einen unkontrollierte Blutrausch verfiel, verbrauchte die Anwendung seiner Kräfte doch soviel Energie, dass er sich danach erst einmal wieder satt essen musste.

Endlich stieß er auf die Felswand, in der der Höhleneingang verborgen sein musste. Und er hatte Glück! Denn kaum war er in Sichtweite, öffnete sich der Fels und ein Mann trat heraus.

Er trug eine Uniform, wie sie Randolphus noch nie gesehen hatte. Aber das wollte nichts heißen, denn in dieser Zeit gab es viel, was er noch nie gesehen hatte.

Auf der Brust des Uniformierten prangten die Buchstaben T und S. Um die Hüfte trug er einen Gürtel mit einem Halfter.

Mephisto hatte Randolphus einiges über die Waffen erzählt, die es heute so gab. Aber es war nichts darunter, vor dem Randolphus sich tatsächlich hätte fürchten müssen.

Der Uniformierte zog aus einer breiten Hosentasche in Höhe des Oberschenkels (Wie kann man ausgerechnet an dieser auffälligen Stelle eine Tasche anbringen? Und dann noch eine so große?) eine kleine rot-weiße Schachtel. Aus ihr holte er eine Zigarette hervor.

Randolphus überlegte für einen Augenblick, ob er dem Kerl noch die Freude des Tabakgenusses lassen sollte, denn es würde die letzte Freude in seinem nicht mehr allzu langen Leben sein. Doch beinahe in der selben Sekunde entschied er sich dagegen und handelte.

Ohne wirklich zu wissen, wie genau er das machte, bremste er den Zeitverlauf ab, ließ die Zeit gerinnen wie Milch. Sofort verstummten sämtliche Laute um ihn herum.

Neben ihm hing eine Fliege regungslos in der Luft. Nein, halt! Doch nicht ganz regungslos! Aber ihre Flügel bewegten sich so langsam, dass Randolphus die Bewegung kaum wahrnahm. Er war so fasziniert von diesem Anblick, dass er darüber fast den Sinn dieser Aktion vergaß.

Randolphus hatte keine Ahnung, wie viele Flügelschläge in der Sekunde so eine Fliege machte. Dreihundert? Vierhundert? Oder noch mehr?

Da! Jetzt hatte sie einen Flügelschlag komplett. Wie viel Zeit mochte für ihn inzwischen vergangen sein? Fünf Sekunden?

Möglich.

Das würde heißen, dass die Zeit um ihn herum 1500 bis 2000 mal langsamer ablief. Oder verrechnete er sich da? Und mal ganz davon abgesehen: Wen interessierte das schon?

Für den Rest der Welt war er schnell. Sehr schnell. Und nur das zählte.

Er schlenderte zu dem Mann vor der Höhle. Es kam ihm vor, als würde er durch ein lebensechtes Gemälde laufen. Was für eine Macht hatte ihm Asmodi da nur verliehen? Es war berauschend!

Er blieb vor dem Mann stehen, presste die Nasenspitze gegen die des Uniformierten und sah ihm in die Augen.

„Na?“, fragte er. „Siehst du mich schon kommen?“

Da erst fiel ihm auf, dass er auch seine Stimme nicht hören konnte. Aber wozu auch? Er wusste ja, was er gesagt hatte!

Randolphus lachte auf - genauso lautlos.

Dann umklammerte er den Mann an der Hüfte, hob ihn hoch, als wäre er nur ein Kleiderständer (Ein Uniformständer, dachte Randolphus und lachte sein gespenstisch stummes Lachen), warf ihn sich über die Schulter und trug ihn den Trampelpfad hinab.

Weg von der Höhle! Er war sich zwar sicher, diesen Zustand der Zeitverlangsamung noch lange genug aufrecht erhalten zu können, aber wirklich wissen konnte er es natürlich nicht.

In all den Jahren seiner Gefangenschaft hatte er die Fähigkeiten in sich gespürt, hatte gewusst, was er konnte - hatte sie aber wegen der magischen Blockierung nie benutzen können. Er war wie ein Marathonläufer mit gefesselten Beinen gewesen.

Doch jetzt waren die Fesseln gelöst. Und endlich konnte er seine Fähigkeiten anwenden. Aber da es für ihn das erste Mal war, war er sich seiner Sache noch nicht sicher genug, um seinen Gefangenen schon gleich hier ...

Hunger.

Randolphus stockte. Erstmalig spürte er die Auswirkung des Energieverbrauchs. Noch war der Hunger gut auszuhalten, aber er sollte sich dennoch beeilen.

Nach etwa einer halben Stunde, die in Wirklichkeit eine Sekunde gewesen sein mochte, trat er aus dem Wald und sah vor sich eine kleine Ortschaft. Er sah Fußgänger, die in ihrer Bewegung erstarrt waren. Da waren diese Metallkutschen, deren Namen auch wieder Abkürzungen waren: VW, BMW, ADAC. Sie standen auf den Straßen, ihrer stinkenden Magie beraubt.

In ein paar Metern Entfernung sah Randolphus drei Kinder beim Seilspringen. Das Mädchen in der Mitte hing in der Luft, ein blonder Zopf stand waagrecht vom Kopf ab, der zweite zeigte nach oben. Das Seil hatte sich um einen Fuß verheddert und würde dafür sorgen, dass das selige Lächeln bald aus dem Gesicht des Mädchens verschwinden würde. Genauso wie vielleicht ein oder zwei Zähne.

Randolphus ging mit der Last auf seinen Schultern wieder zwei Schritte zurück in den Wald und lud den Uniformierten ab. Er legte ihn zu Boden und kniete sich neben ihn.

Hunger!

Randolphus schüttelte den Kopf. Nein! Er musste noch warten. Erst musste er seinen Auftrag erfüllen, dann konnte er sich der Völlerei hingeben!

Der Schwarzmagier legte Zeige- und Mittelfinger beider Hände an die Schläfen des Uniformierten. Dann schloss er die Augen - und drang in den Verstand des Mannes ein.

Und er sah!

Seine Verlobte hieß Manuela und er würde sie nächstes Jahr heiraten wenn nichts dazwischen kam und die Treasure Security keine Einwände hätte denn die sahen verheiratete Mitarbeiter gar nicht gerne weil die sich nicht mit der nötigen Konzentration ihrem Job widmen konnten sondern immer nur an Frau und Kinder dachten wenn sie sich in Gefahr begaben und das war ...

Randolphus zuckte, sein linkes Bein schlug einmal aus. Unwichtig, alles unwichtig! Er versuchte im Verstand des Uniformierten zu blättern wie in einem Buch.

... sich vielleicht sogar ein Haus kaufen und wenn das der Treasure Securtiy nicht passte würde er eben kündigen und seine Fähigkeiten anderen Wachdiensten zur Verfügung stellen bei denen es nicht so stressig zuging mit all den Fortbildungen dem Kampftraining und neuerdings irgendwelchen Auswahlverfahren für Team Beta und Team Gamma was auch immer das sein mochte ...

Unwichtig, alles unwichtig! Blättern, blättern, blättern.

... erst mal eine Currywurst bevor er nach Hause ging und dann noch etwas auf dem Sofa sitzen und fernsehen was sollte er auch sonst anderes tun wenn Manuela nicht da war außerdem würde der Tag morgen wieder stressig werden denn da hatte sich einer der Ordensmeister angesagt und da musste man wieder besonders große Aufmerksamkeit heucheln da konnte man sich nicht mal eben aus der Höhle schleichen und eine rauchen weil einen dann nämlich schon die vor der Höhle aufgestellten Posten blöd anmaulen würden und ...

Fast! Fast hätte er einen der Namen gehabt. Aber jetzt wusste Randolphus, wo er ansetzen musste. Er packte den Gedanken an den Ordensmeister, klammerte sich an ihm fest. Er war rutschig, glitschig, flüchtig, dennoch ließ er nicht los. Und dann driftete er durch den Verstand des Uniformierten, erst ziellos, nur dem Gedankenstrang folgend, dann immer schneller, noch schneller. Und endlich sah er sie: Die Namen der Ordensmeister! Zumindest die, die der Uniformierte kannte. Sieben waren es. Das war schon einmal ein Anfang!

Hunger!!!

Ein Stöhnen drang an Randolphus’ Ohren. Der Uniformierte hatte es ausgestoßen. Er hörte das Brummen der Metallkutschen, das Lachen von Kindern. Plötzlich brach das Lachen ab und wurde abgelöst von kreischendem Weinen.

Das Mädchen mit den blonden Zöpfen!

Die Zeit lief wieder normal ab.

Randolphus sank neben dem Uniformierten zu Boden und ächzte. Auf seiner Stirn glitzerten die Schweißtropfen. Jeder Muskel schmerzte. Und dennoch fühlte er sich prächtig! So lebendig! Wäre da nur nicht dieser ...

HUNGER!!!

Randolphus rappelte sich hoch. Er sah gerade noch, dass auch der Uniformierte aufgestanden war und aus dem Wald taumelte. Wenige Sekunden später erschallte zuerst der Klang eigenartiger Hörner, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Quietschen und einem Knall. Und dann wurde das Mädchen mit den blonden Zöpfen in ihren Schreien von noch einigen anderen Kreischern unterstützt.

Randolphus verließ den Wald. Auf der Straße sah er eine der großen Metallkutschen, fast so lang wie ein Eisenbahnwaggon. Auf dem hinteren Teil der Kutsche stand „So lange man einen Apfel nicht per E-Mail verschicken kann, müssen wir uns die Straße noch teilen“.

Randolphus hatte keine Ahnung, was dieser Satz aussagen sollte. Vielleicht hätte ihm der Kopfinhalt des Uniformierten Auskunft darüber geben können. Da dieser Kopfinhalt aber quer über die Straße verteilt war, dachte Randolphus nicht länger darüber nach.

Er sah gerade noch, wie ein Mann, dessen gewaltiger Bauch das fürchterliche, karierte Hemd beinahe sprengte, aus der Kutsche sprang. Sein Gesicht war eine Grimasse, bei der es schwer war zu entscheiden, ob der Mund oder die Augen weiter aufgerissen waren.

„... nicht gesehen ... einfach vor den Wagen gelaufen ... muss betrunken gewesen sein ...“, hörte Randolphus ihn noch stammeln. Dann drehte er sich um und ging in den Ort hinein.

Bereits nach wenigen Schritten hatte er den stotternden Kutscher vergessen, denn etwas Anderes erweckte seine Aufmerksamkeit. Es war ein prächtiges Haus mit Glastüren. Über den Türen hing ein großes Schild, das mit großen blauen Lettern verkündete: „Central-Kino“. Darunter stand in roten, noch größeren Lettern: „Superman Returns“.

Das musste eines dieser berühmten Kinos sein!

Superman returns!

In der Tat!

Randolphus grinste.

Er würde jetzt einen Happen essen gehen.

 

***

 

Vergangenheit, August 2006 - Viertes Zwischenspiel der Meister

„Wie läuft die Lesereise?“, fragte Stanley Henley.

Jason Bright grinste und um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. „Ich bin zufrieden. Für einen Schotten komme ich in den USA ganz gut an.“

„Ganz gut? The Prado Is Hell war gerade auf dem Markt, da stürmte es auch schon auf Platz 1 der Bestsellerlisten! Stephen King ist gegen dich inzwischen ein kleines Licht!“

Brights Grinsen wurde noch breiter. „So etwas würde ich nie behaupten! Schau dich doch mal in diesem Café um! Was siehst du?“

„Ich sehe drei Kellnerinnen, die hinter ihrer Theke herumwuseln.“

„Wie viele Gäste siehst du?“

„Wie viele mögen das sein? Dreißig oder vierzig?“

„So in etwa. Und jetzt schau dir das Schaufenster an.“

Stanley Henley wandte den Kopf nach links. Er sah das spiegelverkehrte Logo von Starbucks an der Scheibe und den Verkehr von Los Angeles durch die Straße quellen.

„Wie viele hysterische Fans kannst du entdecken, die sich ihre Nasen an der Scheibe platt drücken?“, fragte Bright.

„Keinen.“

Bright biss ein Stück von seinem Doughnut ab. „Richtig. Und wie viele Leute hier starren mich an? Wie viele wünschen sich ein Autorgramm oder ein Kind von mir, trauen sich aber nicht zu fragen?“

„Keiner.“

„Zum Abschluss meiner Beweisführung noch folgende Frage: Glaubst du, Stephen King könnte genauso unbehelligt hier sitzen und zu Apfelkuchen und Doughnut einen Kaffee schlürfen?“

Henley winkte ab. „Du bist albern! Natürlich könnte er das nicht. Aber nur, weil man ihn im Gegensatz zu dir auf der Straße erkennt. Und das liegt nicht daran, dass er erfolgreicher ist als du, sondern dass du kein Foto mehr von dir auf deinen Büchern willst, seit du Ordensmeister bist. Außerdem: Wer will schon ein Kind von Stephen King?“

Jason Bright lachte. „Vielleicht sitzt hier tatsächlich jemand, der meint, ich hätte eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem schottischen Schriftsteller. Aber wirklich erkennen tut mich keiner! Es hat schon seinen Grund, dass ich eher mit den Buchstaben in meinen Büchern als mit den Fotos von mir außen drauf Aufmerksamkeit erregen will. Außerdem glaube ich, dass allzu großes öffentliches Interesse für den im Verborgenen arbeitenden Orden nicht wünschenswert wäre. Ich will ganz ehrlich sein: Mir ist es so, wie es ist, schon fast zu viel! Ich mag diesen Rummel nicht. Am liebsten würde ich jetzt am PC sitzen und an meinem nächsten Roman arbeiten. Gar keine Öffentlichkeit wäre für mich mehr als genug.“

„Tja, das ist eben der Preis des Ruhms. Und der Preis der vielen Millionen, die du kassierst.“

„Die ich brav mit dem Orden teile!“, grinste Bright.

„Aber warum so scheu?“, wollte Henley wissen. „So kenn ich dich gar nicht. Hast du Angst, von einem verrückten Fan überfallen zu werden? Oder was auch immer verrückte Fans mit ihren Idolen zu tun pflegen.“

Jason Bright trank einen Schluck von seinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Dann öffnete er den Mund, als wollte er etwas sagen, und schloss ihn wieder. Stattdessen nahm er noch einen Schluck.

„Was denn?“, fragte Stanley, dem das aufgefallen war.

Jason Bright schüttelte den Kopf. „Nein, Quatsch. Ich hab keine Angst vor Fans.“

„Was ist es dann? Jetzt sag schon. Wir sind doch so gut wie unter uns. Mit ein paar dreißig oder vierzig Gästen!“

Bright lächelte. „Na ja, der PC ist der einzige Ort, an dem ich mich in andere Welten flüchten kann. In Welten, in denen ich nicht über einen Verräter nachdenken muss.

Wer ist er?

Was hat er vor?

War die Arbeit des Ordens während der letzten zweitausend Jahre umsonst? Wem kann man noch vertrauen, wem nicht?

Mich nervt das einfach. Wir plauschen hier gemütlich und dabei weiß ich nicht, ob ich nicht gerade mit dem Verräter rede.“

Stanley Henley hob abwehrend die Hände. „Tust du nicht! Aber ich verstehe, was du meinst.“

„Entschuldige. Eigentlich wollte ich dich gar nicht volljammern. Mich interessiert viel mehr, wie weit die Pläne für die Verfilmung von Prado is Hell gediehen sind.“

Stanley Henley war der Eigentümer von GMP, was für „Global Motion Pictures“ stand. Die Firma war ein Garant für hochklassiges Kino. Egal ob Action, Komödie, Science Fiction oder Drama. Wenn es ein Erfolg wurde, hatte mit Sicherheit die GMP ihre Finger im Spiel gehabt.

Die GMP produzierte aber nicht nur selbst Kassenschlager, sie hatte auch ihre Mittelsmänner in anderen Produktionsfirmen sitzen.

„Das Drehbuch ist fertig“, sagte Henley. „Und es ist hervorragend geworden. Als Hauptdarsteller hätten wir gerne Tom Cruise.“

„Tom Cruise? Ist der nicht seit ewigen Zeiten bei MGM unter Vertrag?“

„Bei Paramount Pictures. Aber die werden seinen Vertrag nicht verlängern.“

„Warum das denn?“

Henley zuckte mit den Schultern und grinste. „Willst du die offizielle Version oder die, die in einem geheimen Vertrag zwischen Paramount und GMP festgehalten wurde?“

Jason lächelte. „Keine. Die eine interessiert mich nicht und bei der anderen ist es wahrscheinlich besser, ich kenne sie nicht.“

„Wie du willst. Da fällt mir ein: Ich habe die Drehbücher, die du haben wolltest, alle komplett. Soll ich sie dir per Mail schicken?“

„Ja, das wäre mir am liebsten. Dann kann ich mich morgen gleich an die Arbeit machen.“

Stanley runzelte die Stirn. „Was willst du denn eigentlich damit?“

„Fabio Cassani hat mich gebeten, ihm kurze Handlungsabrisse von den Filmen zu geben.“

„Der Großmeister höchstselbst? Und warum fragt er da dich? Ich komm doch an die Drehbücher viel einfacher ran als du.“

„Es geht nicht nur um Drehbücher. Dazu kommen noch Romane, Kurzgeschichten, Essays.“

„Was will er denn damit?“

Jason Bright beugte sich über den Tisch und automatisch kam Stanley ihm etwas entgegen. „Butterfly Effect, 12 Monkeys, Forever Young, Groundhog Day“, raunte er. „Du hast die Liste ja selbst gesehen.“

„Ja. Und sie war erheblich länger. Aber es waren ja nicht nur Filme, es waren auch Serien dabei. Ein paar Folgen von Futurama, Charmed, Star Trek, Superman und einigen mehr. Also, was will er damit?“

Jason lächelte und wieder gruben sich die Krähenfüße in die Haut neben seinen Augen. „Fällt dir nicht auf, was diese Filme und Serien gemeinsam haben?“

Henley lehnte sich wieder zurück und überlegte. Dann hellte sich seine Miene auf. „Du meinst doch nicht etwa ...?“

Er stockte und sah Jason fragend an. Der lächelte nur immer weiter und schwieg.

„Aber ... aber das wäre ja unglaublich! Darüber musst du mir unbedingt mehr erzählen!“

„Das bleibt aber unter uns!“, sagte Jason Bright.

Stanley Henley hob die Hand wie zum Schwur.

„Natürlich!“

Also erzählte Jason ihm von all seinen Vermutungen.

 

***

 

Gegenwart

„Ich weiß, dass das etwas spät ist“, schnauzte Hinnerk in sein Handy. „Aber wir haben das auch gerade erst erfahren! Ja, danke.“

Dann legte er auf und sagte: „Du mich auch!“

Mark sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

Hinnerk schob sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen und zündete sie an. „Er ist schon auf dem Weg zum Kyffhäuser, sagt Fabio! Die Versammlung wird von der Treasure Security hinreichend gut bewacht, sagt Fabio! Es ist nicht möglich, die Sicherheitsvorkehrungen so kurzfristig noch zu verstärken, sagt Fabio! Er tut, was er kann, aber er glaubt nicht, dass das sehr viel ist, sagt Fabio!“

Hinnerk sog an seiner Zigarette und stieß den Rauch wütend wieder aus. Sein Gesicht war knallrot.

„Das alles sagt Fabio! Weißt du, was Hinnerk sagt? Der olle Fabio kann mi mol am Mors kleien!“

„Soll das heißen, wir gehen nicht?“, fragte Mark.

„Natürlich gehen wir! Du hast die Deern doch gehört.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Los, verabschiede dich. Wir müssen.“

Der Abschied fiel schwer und tränenreich aus. Sabrina versuchte zwar nicht, Mark und Hinnerk davon abzuhalten, zur Versammlung zu gehen. Das hieß aber nicht, dass sie sie frohen Mutes dort hin schickte. Zu deutlich klangen ihr noch Christines Worte in den Ohren.

Einer von euch wird die Schwelle des Todes überschreiten und der andere wird es nicht verhindern können!

Auch Knut war die Anspannung vom Gesicht abzulesen. Er wirkte verkniffen, die Lippen fest aufeinander gepresst. Er schüttelte Hinnerk die Hand und packte ihn mit der anderen an der Schulter. Dann ging er zu Mark und spendierte ihm eine kurze, aber kräftige Umarmung.

„Passt auf euch auf!“, sagte er. Dann hetzte er aus der Küche.

Nur Christine lag auf dem Sofa und schmökerte in ihrem Harry Potter. Als Mark und Hinnerk durch die magische Tür unter dem Zeichen der Rose Richtung Kyffhäuser aufbrachen, lächelte sie ein wenig, schielte an ihrem Buch vorbei und sagte: „Viel Erfolg!“

Und schon war sie wieder in die Welt von Harry, Ron und Hermine eingetaucht.

Hinnerk ging die Treppe hinunter und Mark stapfte hinterher.

Den Blick zu Boden gerichtet.

Schweigend.

Vor der unteren Bohlentür blieb Hinnerk stehen und ließ Mark sie öffnen. Dann ging es ein paar Schritte in einem Stollen entlang, bis sie rechts die zweite Bohlentür erreichten. Auch die öffnete Mark und gemeinsam betraten sie die Halle der Geheimnisse.

Ohne zu bemerken, an welcher Stelle genau der magische Sprung erfolgt war, hatten sie mit wenigen Schritten einige hundert Kilometer überbrückt, denn nun befanden sie sich bereits tief im Herzen des Kyffhäuser.

Plötzlich blieb Mark stehen.

„Hinnerk?“

„Wat is, mien Jung?“

„Darf ich dich noch etwas fragen, bevor wir da raufgehen?“

„Klor, immer ruut damit!“

Mark schluckte. „Glaubst du an das, was Christine gesagt hat?“

Hinnerk sah Mark einen Augenblick in die Augen. Dann nickte er.

„Ja, das tu ich.“

„Das heißt, einer von uns wird sterben?“

Hinnerk schwieg und sah Mark nur an.

„Aber ... aber kannst du das nicht verhindern?“, fragte Mark.

„Ich? Wie sollte ich das denn verhindern?“

Mark lachte auf und klang dabei völlig humorlos. „Jetzt tu doch nicht so unschuldig. Du bist doch nicht das drollige, tappige hanseatische Urgestein, als das du dich ausgibst.“

„Bin ich nicht?“

Mark schüttelte den Kopf. „Nein! Wer von uns hat denn Cresmonia mit Blitzen verjagt? Wer von uns hat denn die Druckwelle einer Explosion schon mal mit bloßen Händen aufgehalten? Wer von uns hat denn Connor Baigent mal eben ein Ticket nach Avalon gelöst? Nach Avalon, mein Gott! Ein Land, von dem ich nicht einmal wusste, dass es das tatsächlich gibt! Wer von uns war das denn? Ich nicht!“

„Du weißt inzwischen, dass es Vampire gibt. Werwölfe, Schwarzzauberer, Dämonen, Drachen.“ Hinnerks Stimme klang weich und behaglich. „All das hast du schon kennen gelernt. Warum sollte es also gerade Avalon nicht geben?“

„Aber wo hört das dann auf? Was ist mit Lemuria? Was ist mit Atlantis und Mu? Was ist mit Camelot? Was mit Eldorado, Xanadu und dem Schlaraffenland? Wo hört die Realität auf? Wo fängt die Sage an?“

„Hältst du das für einen geeigneten Zeitpunkt, über diese Dinge nachzudenken?“

„Nein. Aber ich möchte endlich wissen, wer du bist. All die Wochen habe ich dich nicht danach gefragt, weil ich mir sicher war, sowieso keine Antwort zu bekommen.“

Mark stemmte die Hände in die Seiten.

„Ich dachte mir, irgendwann wirst du es mir schon freiwillig erzählen“, fuhr er fort. „Aber wenn bei dieser Versammlung nur ... nur einer von uns überlebt, könnte das ein kleines logistisches Problem geben. Denn entweder ist dann der, den es interessiert, nicht mehr am Leben, oder der, der es erzählen könnte. Also, wer bist du? Was bist du? Woher kannst du so viele Dinge?“

Hinnerk lächelte Mark an.

„Du hast Recht, mien Jung!“

„Womit?“

„Damit, dass du keine Antwort bekommst.“

„Na toll!“

„Mark, es gibt auch in meinem Leben Dinge, die ich am liebsten vergessen würde. Über die ich nicht gern spreche. Akzeptiere das bitte. Aber ich verspreche dir, dass du früher oder später genug über mich erfahren wirst.“

„Wenn ich dann noch lebe!“

Hinnerk lachte. „Das ist natürlich Voraussetzung!“

„Aber wenn ich noch lebe, dann wirst du tot sein. Wie soll ich dann mehr über dich erfahren?“

Hinnerk zuckte mit den Schultern. „Frag meine Verwandtschaft!“

„Verwandtschaft? Heißt das ...?“

„Mark!“, unterbrach Hinnerk ihn. „Lass gut sein jetzt. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was vor uns liegt.“

Mark schnaufte tief durch.

„Na gut, von mir aus.“

Dann drehte er sich um und durchquerte die Halle der Geheimnisse Richtung Versammlungssaal.

Er hatte das Gefühl, zu seiner eigenen Beerdigung zu gehen.

 

***

 

Vergangenheit, September 2006 - Fünftes Zwischenspiel der Meister

Henry Fullbright schloss die Tür seiner kleinen Berghütte hinter sich und sperrte nicht nur die Appalachen, sondern auch New York City, Fullbright & Lieberman und eine stressige Woche aus. Vor ihm lag ein Wochenende der Erholung. Keine Anwaltskanzlei, keine unleserlichen Schriftsätze seines Partners Gerald Lieberman, keine Arbeit.

Na ja, fast keine Arbeit.

Er musste nur noch das Memo für Fabio Cassani fertig machen und ihm per Mail zukommen lassen. Da es aber ein sehr kurzes Memo werden würde, hätte er noch reichlich Zeit, unten am Fluss ein paar Forellen zu fangen.

Und wenn er keine erwischte, gab es heute Abend Bohnen aus der Dose. Dazu ein gutes Tröpfchen Wein und der Tag war perfekt.

Er warf die Tasche mit den Unterlagen für den Orden auf den Tisch und seufzte. Sein Laptop setzte er etwas vorsichtiger ab.

Als er es aufgeklappt und eingeschaltet hatte, holte er sich eine Dose Budweiser aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Schreibtisch.

Er verband den Laptop mit seinem Handy und ging online. Dann rief er seine E-Mails ab.

Zuletzt hatte er sein elektronisches Postfach gecheckt, kurz bevor er sein Büro in New York City verlassen und sein Auto mit Fahrziel Appalachen bestiegen hatte. Und dennoch warteten schon wieder 14 neue Mails auf ihn.

Er strich sich über das ehemals schwarze Haar, dessen eine Hälfte inzwischen vollständig ergraut und dessen andere Hälfte gar nicht mehr vorhanden war.

Zehn der Mails stammten von Kollegen aus der Kanzlei, die ihm zum Sieg gegen eine Müllverwertungsfirma gratulierten. Grund für ihre Freude war aber wohl weniger der Sieg als der erkleckliche Erfolgsanteil an den 150 Millionen Dollar Schadenersatz, die die Firma zu berappen hatte.

Drei Mails erinnerten ihn an den Ablauf von Revisionsfristen innerhalb der nächsten Woche.

Er nahm einen Schluck Budweiser und rülpste herzhaft. Dann musste er grinsen.

Ja, Euer Ehren! Henry Fullbright, die Lichtgestalt der Anwaltszunft, der Mann, der in vierzig Jahren nur drei Fälle verloren hat, der Mann, den jeder gerne als Anwalt hätte, den sich aber kaum einer leisten kann, der Mann, der mit seiner Überzeugungskraft fünf Tonnen Sand in die Sahara und hundert Kühlschränke an Eskimos verkaufen könnte, der Mann, von dem seine Gegner behaupten, mit dieser Erfolgsquote müsse er mit dem Satan im Bunde sein, dieser Mann rülpst, wenn er alleine ist!

Die letzte Mail war von Fabio Cassani.

„Memo erledigen!“, stand da.

Kein „Lieber Henry“, kein „Viele Grüße“ und erst recht kein „Bitte“. Einfach nur „Memo erledigen!“. Mit Ausrufezeichen!

Typisch Cassani.

Henry Fullbright öffnete die Tasche und holte einen Papphefter heraus. Dafür, dass der die Ergebnisse wochenlanger Recherchen enthielt, war er erschreckend dünn. Was aber daran lag, dass auch das Ergebnis der Recherchen erschreckend dünn war.

Er klappte den Hefter auf.

Auf die Innenseite des Umschlags war ein Ausdruck auf Hochglanzpapier geklebt. Er zeigte eine golden schimmernde Tafel mit einem eingravierten Text.

Erdacht von Leonardo da Vinci, gebaut von Gregory van Vos, Universität Leyden, 1899.

Es war das Schild aus der Kutsche, die der Hüter und Hinnerk Lührs in der Halle der Geheimnisse gefunden hatten.

Der Name Leonardo da Vinci war allen Meistern des Ordens hinreichend geläufig gewesen. Aber keiner hatte bisher etwas von einem Gregory van Vos gehört. Also wurde Henry Fullbright die Aufgabe zuteil, etwas über diesen ominösen Herrn herauszufinden.

Henry blätterte weiter.

Zuerst hatte er natürlich zu ermitteln versucht, in welchem Zusammenhang van Vos mit der Universität Leyden stand. War er Student? War er Professor? War er der Gärtner?

Er fand heraus, dass die Schreibweise veraltet war und man die Stadt inzwischen „Leiden“ schrieb. Er fand heraus, dass die Universität 1575 gegründet worden und somit die älteste in den Niederlanden war. Er fand heraus, dass Abraham van Helsing, Bram Stokers berühmter Vampirjäger, Professor an der Uni gewesen war.

Nur von einem Gregory van Vos hatte man dort noch nie etwas gehört. Dank seiner Kontakte war es Fullbright gelungen, die Studentenverzeichnisse bis ins Gründungsjahr zurück einzusehen. Er hatte die Listen aller Professoren gewälzt.

Dabei stieß er fünf oder sechs Mal auf den Namen van Vos. Allerding hieß keiner von ihnen Gregory, weder mit erstem noch mit sonstigem Vornamen. Auch zeitlich passten die Gefundenen nicht ins Bild.

Dennoch ließ Fullbright sie überprüfen. Was machten die van-Vos-Studenten nach ihrem Studium? Wo lehrten die van-Vos-Professoren vorher? Henry schüttelte auch ihre Stammbäume, so weit es möglich war, aber aus keinem fiel ein Apfel namens Gregory.

Er forschte in Einwohnerämtern, in den historischen Registern diverser holländischer Städte. Er versuchte unterschiedliche Schreibweisen des Namens. Er grub sich durch unzählige Archive genauso unzähliger Standesämter, er durchstöberte Bibliotheken, Kunstverzeichnisse, juristische und nicht juristische Dateien.

Die Ergebnisse waren niederschmetternd!

Aber ein Gutes hatte das Ganze: Sein Memo konnte er in wenige Worte fassen.

„Suche erfolglos“, tippte er. „Alle denkbaren und einige undenkbare Quellen ausgeschöpft. Keine Spuren von GvV gefunden. Zusammenhang mit LdV nicht ermittelbar.“

Beim Gedanken an Fabio Cassanis Gesicht, das der ziehen würde, wenn er diese Mail las, musste Fullbright grinsen. Selbst machte er nie viele Worte, erwartete aber von allen anderen stets ausführlichste Berichte.

Henry hatte das Laptop gerade wieder zugeklappt, als es an der Haustür klopfte.

Er runzelte die Stirn. Dann stand er auf, ging zum Fenster neben dem Eingang und lugte hinter dem Vorhang nach draußen.

„Nanu!“, murmelte er. „Was macht der denn hier?“

Er ging zur Tür, öffnete sie und bat den Besucher herein.

Und damit holte er sich das Verderben ins Haus!


 

Wird fortgesetzt

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<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Siehe Hüter Nr. 3 „Rotbarts Fluch“ von Horst von Allwörden

<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> siehe Hüter Nr. 4 „Kampf um das Drachenblut“ von Stefan Albertsen

<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> siehe Hüter Nr. 2 „Sie stirbt, wenn du nicht würdig bist ...“ von Oliver Fröhlich

<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> siehe Hüter Nr. 5 „Auf dunklen Pfaden“ von Oliver Fröhlich und Oliver Müller

<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> s. Hüter Nr. 3 „Rotbarts Fluch“ von Horst von Allwörden

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