Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Bd. 5 - In der Gewalt des Unholds

                                                                                                                              In der Gewalt des UnholdsI'm full of lies,

                                                                                      just hold me as you die

                                                                                      I wrench this vice,

                                                                                      My human sacrifice

                                                                                      You beg and I feed,

                                                                                      Your blood is all I need

                                                                                      Rapture, ecstasy

                                                                                      It’s time to bleed for me

(Annihilator, Hunger)

1. Kapitel:

Oliver Fröhlich

In der Gewalt des Unholds


Walter Krasser nahm einen Schluck aus der großen Weinbrand-Fla­sche, verschraubte sie, steckte sie wieder in die Seitentasche seines viel zu weiten, abge­tragenen Mantels und sah in den Himmel. Seit ein paar Stunden schneite es in dicken, schweren Flo­cken und die Tempera­tur lag knapp unter dem Ge­frierpunkt.

Der schneidende Wind verbiss sich in Krassers zerfurchter Gesichtshaut und gab ihm das Gefühl, dass es deutlich kälter wäre. Krassers Atem konden­sierte vor seinem Mund und dass er nicht so­fort gefror, verdankte er wahr­scheinlich nur der Tatsache, dass ein gehöriger Anteil Alkohol darin enthal­ten war.

Wo war nur diese verdammte Hütte, von der Geezer ihm erzählt hatte?

„Raus aus Eher­nau Richtung Fuß­ball­platz“, hatte Geezer gesagt - oder Gisel­her, wie sein schon lange ver­schwunde­ner Aus­weis ihn in seinem noch länger ver­schwundenen Le­ben genannt hatte. „Nachm Sportplatz geht’s links in den Wald. Dem Weg folgste eine Viertel­stunde oder so und schon biste bei die­ser ollen Hütte der Forstverwaltung. Steht seit nem halben Jahr leer, die Bude. Und es sind sogar nochn paar Decken drin. Da kannste herrlich dei­nen Rausch aus­schlafen, Wally! Ich penn heut Nacht bei nem Kumpel, also kannst von mir aus heute du mal da hin.“

Das war ein Angebot, das Krasser natürlich nicht ausschlagen konnte. Bevor er wieder stundenlang ein halbwegs warmes Plätzchen in Ehernau suchte, von dem er dann doch nur wieder vertrieben wurde, wickelte er sich lieber in die Decken in der Waldhütte. Also schnappte er sich seine Weinbrand-Flasche, die Plastiktüte mit seinen wenigen Habseligkeiten und machte sich auf den Weg.

Hinter dem Sportplatz links in den Wald. Genau. Und dann eine Viertelstunde laufen und schon war man dort. Prima! Ganz toll. Blöd nur, dass nach nicht einmal zehn Minuten eine Gabelung kam, die Geezer vorsichtshalber mit keinem Wort erwähnt hatte. Links oder rechts? Rechts oder links?

Walter „Wally“ Krasser hatte sich für links entschieden. Und das war wohl ein Fehler gewesen. Der Weg führte nämlich keineswegs kerzengerade durch den Wald, sondern machte hier einmal eine Rechtskurve, dort eine Linkskurve und irgendwann eine Spitzkehre. Und das alles an einem Spätnachmittag im Dezember. Die Sonne hatte schon seit einigen Minuten Feierabend und im Wald war es entsprechend dunkel. Die Schneedecke erschwerte es noch einmal zusätzlich, einem Weg zu folgen oder ihn überhaupt zu erkennen.

Und so stapfte Wally durch den Wald, seine Füße kalt und gefühllos. Nach der Gabelung folgte er zehn Minuten lang dem, was er für den Weg hielt. Keine Hütte. Also wanderte er noch einmal zehn Minuten. Mit dem gleichen Ergebnis.

Vermutlich war es doch die falsche Abzweigung gewesen. Also kehrte er um, stapfte wieder gefühlte zwanzig Minuten durch den Wald. Wieder fand er keine Hütte. Und schlimmer noch: Er fand nicht einmal mehr die Abzweigung! Seine Spuren waren von Wind und Schnee verwischt und inzwischen war es finsterer als in einem zugenähten Bärenarsch.

Wahrscheinlich hielt er sich zu weit links. Oder?

Er korrigierte leicht nach rechts und noch ehe er sich versah, wurden die Rotbuchen etwas lichter und er watete durch kniehohe Schneewehen. Nach fünf Minuten begannen seine Oberschenkel wegen der ungewöhnlichen Belastung zu brennen. Noch einmal fünf Minuten später hatte Wally das Gefühl, seine Beine müssten jeden Augenblick platzen. Er blieb stehen. Seine Lungen stachen, seine Finger kribbelten. Und von seinen Füßen wäre er froh gewesen, wenn sie wenigstens das getan hätten.

Was sollte er jetzt machen, verdammt? Er wusste nicht, wo die Hütte war, er wusste nicht, wo der Rückweg war, er wusste nicht, wo er selbst war. Er steckte bis zum Hals in der Scheiße.

Wally lachte auf.

Wenn es nur mal so wäre! Wenn er nur mal bis zum Hals in der Scheiße stecken würde. Dann hätte er es wenigstens warm! Aber stattdessen steckte er bis zu den Knien im Schnee.

Er gab sich noch einmal fünf Minuten, dann würde er ...

Ja, was würde er dann?

Er wusste es nicht.

Noch ein Schluck aus der Pulle, der ihm wenigstens für einen Augenblick die Illusion von Wärme gab, dann stakste er weiter durch den Schnee. Ein Schritt und noch einer. Sofort war das Brennen in den Oberschenkeln wieder da. Das Stechen der Lunge fühlte sich an, als würde er Nadeln atmen. Linkes Bein anheben, ganz hoch, raus aus dem Schnee, vorsetzen und wieder eintauchen in den Schnee. Rechtes Bein anheben, ganz hoch, raus aus dem ...

Und plötzlich war das Tiefschneefeld zu Ende. So plötzlich, dass Wallys Bewegungsablauf durcheinander geriet und er der Länge nach hinschlug.

Sein erster Gedanke war: Gott sei Dank!

Sein zweiter: Die Flasche!

Seine rechte Hand schoss in die Manteltasche und zog die Pulle heraus. Nicht zerbrochen! Noch einmal: Gott sei Dank.

Sein dritter Gedanke war: So sehr viel besser sieht’s jetzt immer noch nicht aus.

Nach wie vor stand er mitten im Wald - ein verirrter Hänsel ohne Gretel -, am Rand einer Lichtung, die er gerade überquert hatte. Das konnte er deshalb so genau sehen, weil die Wolkendecke aufgerissen war und der Mond die Szenerie mit einem käsigen Licht überzog.

Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien.

Wally versuchte, seinen rasselnden Atem unter Kontrolle zu bringen, und lauschte. Aber er hörte nichts außer einem gelegentlichen Knarren der Bäume. Keine Stimmen, keine fahrenden Autos, kein Hundegebell. Nichts, was auch nur annähernd einen Hinweis darauf gegeben hätte, in welcher Richtung der Ort lag. Wahrscheinlich hatte er sich schon zu weit entfernt.

Wally rappelte sich wieder hoch. Also dann weiter. Irgendwann musste er doch wieder auf einen Weg stoßen. Oder auf den Waldrand. Oder auf ein Häuschen aus Pfefferkuchen. Oder noch besser: aus Schnapspralinen.

Trotz seiner bescheidenen Lage kicherte Wally.

In den nächsten Minuten kam er schneller voran. Die Rotbuchen waren zwar wieder etwas enger zusammengerückt (Wahrscheinlich ist ihnen auch kalt, dachte Wally und kicherte wieder), dafür war der Schnee nicht annähernd so tief wie vorhin. Von einem Weg war zwar immer noch weit und breit nichts zu sehen, aber so lange der Mond noch vom Abendhimmel grinste, konnte Wally versuchen immer geradeaus zu gehen. Irgendwann musste er dann ja einmal auf einen Weg stoßen. Oder eine Straße. Oder ...

... eine Hütte!

Wally stockte. Er zwinkerte einmal, noch einmal, aber das Bild blieb. Vor ihm kauerte sich tatsächlich eine kleine Holzhütte zwischen die Bäume. Sie hatte vielleicht die Größe des Kiosks in Ehernau, in dem er die Weinbrand-Flasche geklaut hatte, und wirkte erbarmungswürdig windschief. Auf dem flachen Dach lag eine flauschige Daunendecke aus Schnee, die leicht über die Ränder hing.

Sollte er die ganze Zeit im Kreis gelaufen sein? Hatte er die Hütte, von der Geezer ihm erzählt hatte, großräumig umgangen und sie nun doch noch gefunden? Nein, das glaubte er nicht. Dann hätte er doch Geräusche aus dem Ort hören müssen, oder nicht? Außerdem war diese Bruchbude vor ihm wesentlich verfallener, als er sie sich nach Geezers Erzählung vorgestellt hätte.

Aber egal. Hauptsache er hatte für die Nacht ein Dach über dem Kopf. Morgen würde er dann weitersehen!

Wally zog die Pulle aus der Manteltasche, schraubte sie auf und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck auf seinen Erfolg. Dann stolperte er zur Tür und wollte sie aufdrücken.

Es ging nicht!

Obwohl Wally kein Schloss in der Tür entdecken konnte, ließ sie sich nicht öffnen. Sie bewegte sich einen, höchstens zwei Millimeter nach innen und wurde dann blockiert.

Eigenartig.

Wally ging einmal um die Hütte herum. Er fand keine weitere Tür, aber zwei Fenster, die von innen zugenagelt waren.

Als er wieder vorne ankam, blieb er stehen und trank noch einen Schluck. Was sollte er jetzt tun? Die Tür aufbrechen? Oder versuchen, die Bretter an den Fenstern in die Hütte zu drücken? Oder sollte er ...?

Waren das Schritte in der Hütte?

Wally hielt die Luft an und lauschte.

Tatsächlich! Leise Schritte, ab und zu ein Knarren. So als wäre jemand in der Hütte, dem der Holzfußboden den Plan versaute, nicht gehört werden zu wollen.

„Hallo?“, fragte Wally. „Is’ jemand da drin?“

Die Schritte verstummten. Aber er erhielt keine Antwort.

„Ich hab mich verlaufen und such nen Platz für die Nacht. Täten Sie mich reinlassen?“

Keine Antwort.

„Oder könnense mir sagen, wie ich zum nächsten Ort komm? Hallo?“

Keine Antwort.

„Ich willse wirklich nicht belästigen. Aber wennse mich hier draußen stehen lassen, hab ich n echtes Problem!“

Keine Antwort.

Stattdessen hörte Wally, wie erst ein Balken und gleich danach ein zweiter zur Seite geschoben wurden.

Die Tür öffnete sich und ein Mann kam heraus, dessen Kleidung der Witterung völlig unangemessen war. Sie war viel zu ... na ja, irgendwie frühlingshaft. Ein leichtes Hemd, eine dünne Stoffhose. So etwas konnte man vielleicht in einem milden Mai tragen, aber nicht im Dezember. Und schon gar nicht in einer verlassenen Hütte mitten im Wald.

Wally räusperte sich. „Äh ... das is’ wirklich nett von Ihnen“, sagte er.

„You’re welcome“, sagte der Mann und entblößte dabei zwei lange, nadelspitze Eckzähne.

Die Weinbrand-Flasche glitt aus Wallys Hand und eine bräunliche Flüssigkeit, auf die die Bezeichnung Cognac genauso gut passte, wie die Bezeichnung Gebiss auf Wallys drei braune Zähne, gluckerte in den Schnee.

Wally wollte etwas sagen, etwas tun. Sich umdrehen, um Hilfe rufen. Irgendetwas! Aber er stand da wie festgefroren.

Er sah, wie die rechte Faust des Kerls auf ihn zuraste. Er spürte, wie ihn die Faust mit der Wucht einer Branntweinsteuer-Erhöhung am Kinn traf und das Zahntrio in seinem Mund auf ein Duo reduzierte. Er hörte, wie sein Körper rückwärts mit einem gedämpften Wumpf in den Schnee fiel.

Und dann sah, spürte und hörte er nichts mehr. Die Welt um ihn herum versank in einem Strudel aus Finsternis und Schmerz.

 

***

 

Mark Larsen saß am Küchentisch im Glückshaus von Hüll und pflügte mit einem Löffel durch die grünlich-weiße Pampe eines Erbseneintopfs.

„Schmeckt’s dir nicht?“, fragte Sabrina Funke, die ihm gegenübersaß.

„Doch, doch“, murmelte Mark.

Sabrina lachte. „Da stellt man sich sekundenlang in die Küche, um eine Dose zu öffnen, und lässt den Glibber mit Liebe in einen Topf klatschen. Danach steht man für mindestens eine halbe Sekunde am Herd, um ihn einzuschalten. Und der Herr Lebensabschnittsgefährte dankt es einem, indem er widerwillig darin herumrührt.“ Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Das nächste Mal mach ich mir nicht so viel Arbeit!“

„Tu mir das nicht an, holdes Weib“, seufzte Mark. Dann schaufelte er sich einen Löffel des Erbseneintopfs in den Mund und kaute darauf herum. „Gar köschtlich diescher grüne Pframpf. Ein ehrlisch gemeintesch Lob an die Köschin.“

Hinnerk war gegen Mittag nach Hamburg gefahren, um ein paar Weihnachtseinkäufe zu machen. Und da James ihn begleitet hatte und die beiden noch nicht wieder zurück waren, hatte der Küchenherd heute Abend nur ganz kurz seinen Dienst verrichten müssen.

„Wo ist eigentlich Christine?“, fragte Mark, nachdem er mit einem Schluck Dithmarscher Pils die breiigen Erbsen runtergespült hatte. „Mag sie nicht an unserem feudalen Mahl teilnehmen? Oder kannte sie diesen Hubertus persönlich, den Maitre Erasco in den Eintopf geschnippelt hat, und will ihn nicht verspeisen?“

Sabrina schüttelte den Kopf. „Nee, die ist oben und spielt mit ihrem Nintendo. Sie hat sich nur ein Wurstbrot geschmiert und dann wieder verzogen.“

„Soll ich sie zu uns bitten?“

„Nein, lass mal. Du weißt doch, wie pubertierende Mädchen sind.“

„Woher soll ich das denn wissen?“, fragte Mark. „Es ist schon so lange her, dass ich selber eines war!“

„Lass ihr einfach die Zeit, die sie für sich braucht. Es ist für sie schon schlimm genug, dass sie sich wegen ihrer Aufgabe nicht in aller Ruhe entwickeln kann, wie jedes andere Mädchen auch.“

Mark zuckte mit den Schultern. „Wenn du es sagst.“

Er war froh, dass Sabrina inzwischen auch hier in Hüll wohnte. Nicht nur, weil er so die Frau, die er liebte, an seiner Seite wusste, sondern auch, weil sie mit Christine viel besser umgehen konnte als jeder noch so verständnisvolle Mann.

Christine war im letzten Monat dreizehn geworden und die Pubertät hielt sie fest in ihren launenhaften Krallen. Deshalb war Mark erleichtert gewesen, als nicht er mit ihr die ersten Tampons und den ersten BH hatte kaufen müssen.

Auch bei der Frage, welche Blondierung für ihre inzwischen schulterlangen Haare die richtige war, wäre er komplett überfordert gewesen. Ihn hätte viel mehr interessiert, warum sich ein 13-jähriges Mädchen überhaupt die Haare färbte. Die Eitelkeit der Pubertät? Oder ein Mittel, die Ereignisse in Edwinstowe Valley auch äußerlich hinter sich zu lassen?

Die ganze Situation war ohnehin absurd. Er war der prophezeite letzte Hüter. Seine Aufgabe wäre es gewesen, gegen die Schwarze Familie zu kämpfen, sich mit Dämonen, Werwölfen und Vampiren herumzuschlagen – und nicht mit der Frage, welche Pickelcreme die bessere sei oder welche Frisur Bill, dem Sänger von Peking Motel (oder wie immer dieser trällernde Kindergarten hieß), besser stand.

Ende August hatten sie Christine sogar zu einem Konzert dieser ... nun ja: Band nach Itzehoe begleitet. Mark standen heute noch die Haare zu Berge, wenn er daran dachte. Teenager und Frühpubertierende in Ekstase. Kreischende Mädchen. Weinende Mädchen. Zusammenbrechende Mädchen. Auch Mark war nach Kreischen, Weinen und Zusammenbrechen zumute gewesen, wenn auch aus anderen Gründen.

Hinnerk (der das Unheil angerichtete hatte, weil er Karten für das ausverkaufte Konzert auf das Betteln Christines besorgt hatte) und James hatten derweil mit einem Rudel Eltern, um einen freien Tisch im nahe gelegenen China-Restaurant gerangelt. Sie hatten gewonnen und sich eine Reistafel zu Gemüte geführt, während Mark um sein Leben bangte, als die Mädchen ob der vorgeblichen Rock-Musik der Schülerband in Wallung gerieten. Mehrfach war Mark gefragt worden, was er denn hier wolle. Das Altersheim sei zwei Straßen weiter.

Aber Christine war selig gewesen, als Mark sie auf die Schulter genommen hatte, und sie Tom berühren konnte. James hatte sie später nur unter Mühen dazu bewegen können, sich die Hand zu waschen. Sabrina hatte auch hier eingreifen müssen.

Sabrina hatte Christine die Geschichte erzählt von einer Band namens Aha ...

Immerhin war sie an diesem Tag nicht der Schatz, die Schützerin der Menschen und der Erde gewesen, sondern ein Teenager wie Tausende andere.

Marks Gedanken kehrten zurück von diesem erschütternden Erlebnissen zu den wichtigen Dingen des Lebens und seiner Aufgabe.

Natürlich hatte er in den letzten Monaten gegen die Schwarze Familie gekämpft. Er hatte Vampire gepfählt; er hatte ein einen Werwolf von seinem Fluch befreit; er hatte eine Horde Ghouls besiegt; er hatte es sogar mit ein paar Rockern aufgenommen, die zu Widergängern geworden waren.

Und trotzdem hatte er bisher noch nichts erreicht! Gar nichts! Er hatte kein namhaftes Mitglied der Schwarzen Familie auslöschen oder ihr sonst irgendwie schaden können. Er hatte keine der dämonischen Sippen auch nur von weitem gesehen oder ihnen in ihren Erbseneintopf spucken können. Seine ganzen Aktionen waren für die Schwarze Familie bislang genauso schmerzhaft gewesen wie ein Mückenstich für eine Kokosnuss.

Außerdem tappten Hinnerk und er nach wie vor im Dunkeln, welcher der Ordensmeister der Verräter war, der Christines letztes Versteck an Cresmonia Gwscore ausgeplaudert hatte. Dabei hatten sie sich nach dem Kampf um das Drachenblut<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> einen wirklich hervorragenden Plan ausgedacht!

„Du, Fitz Lars magst jedoch kommen und gehen wie es dir gefällt, dir und deinen Getreuen“, hatte Barbarossa zu ihm in den Höhlen des Kyffhäuser gesagt<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]-->.

Also müsse man doch nur die Ordensmeister einzeln in die Halle der Geheimnisse führen, hatte Mark behauptet. Der, der nicht hinein kann, müsse der Verräter sein! Richtig?

Falsch!

Hinnerk hatte es zwar tatsächlich geschafft, die Ordensmeister einzeln zum Kyffhäuser zu bestellen, ohne dass die in allzu großes Misstrauen ausgebrochen wären, aber mehr, als dass Mark sich jeden einmal persönlich anschauen konnte, hatte diese Aktion nicht gebracht.

Sicherlich waren sehr interessante Persönlichkeiten darunter. Da gab es mit Lucio Carrabba beispielsweise einen hochrangigen Kardinal des Vatikan. Auch Stephen Falk, ein australischer Baugigant, der weit über die Grenzen des fünften Kontinents hinaus bekannt war, war einer der dreizehn Ordensmeister. Da war Nicolas Gainsbourg, der Eigentümer eines weltweit operierenden Chemie- und Forschungslabors, das sich neben der Entwicklung von Medikamenten mit so Späßchen befasste wie der Untersuchung von Drachenblut oder der Erforschung des Vampirkeims und kristallisiertem Ghoul-Schleim. Mark hatte sogar einem der erfolgreichsten Schriftsteller unserer Zeit, Jason Bright, die Hand schütteln dürfen. Selbst die CIA war mit Peter Lord unter den Ordensmeistern vertreten.

Mark hatte Wochen gebraucht, um alle dreizehn Namen zu beherrschen und sie den richtigen Gesichtern und Branchen zuzuordnen – und er war sich sicher, dass er dabei immer noch Fehler machen würde.

Der Plan war so schön gewesen! Und so erfolglos!

Alle Ordensmeister hatten die Halle der Geheimnisse betreten können. Keiner wurde von Barbarossa oder der Höhle abgewiesen. Egal, wen Mark mitbrachte, ob Wissenschaftler, Archivar oder Putzfrau. Wahrscheinlich hätte er sogar Asmodi persönlich mitbringen können und er wäre eingelassen worden. Ausschlaggebend war offensichtlich nur, dass Mark ihn begleitete und ihm somit den Status als Getreuer verlieh.

Mark hätte gerne den Rotbart zur Rede gestellt und ihn gefragt, warum er trotz seiner strengen Sprüche auch einen Verräter am Orden einließ, aber der Herr Kaiser hatte es nach seinem kurzen Auftritt vor über einem halben Jahr vorgezogen, sich wieder in seine Höhle zu verkrümeln, sich auf die Steinbahre zu legen – von einer Bank und einem Tisch, von denen die Legende berichtete, war nichts zu entdecken - und selig weiterzuschlummern.

Eigentlich hatte Mark gedacht, dass Barbarossas Getreuenverfügung, wie er sie mittlerweile nannte, ihm das Leben erleichtern würde. Das war aber nur bedingt der Fall, denn inzwischen kam Mark sich beinahe vor wie ein Verwaltungsangestellter in der Stadtbibliothek. Mark stellte seinen Getreuen durch seine Begleitung gewissermaßen einen Büchereiausweis aus, so dass sie danach auch ohne den Hüter die Halle der Geheimnisse betreten konnten. Leider war die Gültigkeit der Ausweise offenbar beschränkt und musste von Mark immer wieder verlängert werden. Und so bestand seine Aufgabe neben der Führung von Pickelcreme- und Frisur-Diskussionen darin, die Anrufe aufgebrachter Wissenschaftler entgegenzunehmen, die wieder einmal nicht in die Halle der Geheimnisse konnten, weil ihr Ausweis abgelaufen war. Also musste Mark alles liegen und stehen lassen, durch die Küchentür in Hüll hetzen, einen Felsgang entlang hecheln, der - obwohl er nur ein paar Meter lang war - ein paar Hundert Kilometer überbrückte, und den Wissenschaftlern die Tür von innen öffnen. Dadurch verlängerte er gleichzeitig irgendwie die Gültigkeit ihrer Ausweise, aber kein Mensch konnte vorhersagen, für wie lange. Und so konnte es durchaus geschehen, dass Mark bereits am nächsten Tag wieder hetzte, hechelte, überbrückte und öffnete.

Mark seufzte.

„Das klingt ja höchst depressiv!“, sagte Sabrina. „Was ist los?“

„Ich bin unzufrieden! Wenn wir so weitermachen, können wir noch tausend Jahre gegen die Schwarze Familie kämpfen, ohne etwas auszurichten. Außerdem bin ich im Moment doch mehr damit beschäftigt, irgendwelchen Menschen die Tür zur Halle der Geheimnisse zu öffnen, als selbst etwas zu unternehmen.“

„Jetzt übertreibst du aber! Außerdem weißt du genau, dass das nicht irgendwelche Menschen sind, sondern Leute, die für den Orden und somit für einen guten Zweck arbeiten. Es dauert eben seine Zeit, bis der ganze Krempel in der Halle katalogisiert ist. Von der Zeit, bis alles identifiziert und erforscht ist, will ich gar nicht reden.“

„Ja, schon“, grummelte Mark. „Trotzdem geht mir das zu langsam. Was wäre denn, wenn die Waffe, die ich nach der Prophezeiung bekommen soll<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]-->, irgendwo da unten rumliegt?“

Sabrina lachte. „Dann wird sich Asmodi bis zu seiner Vernichtung eben so lange gedulden müssen, bis wir sie gefunden haben.“

Jetzt musste auch Mark lachen. „Du hast ja Recht. Ich muss einfach lernen, etwas mehr Geduld zu haben. Aber das fällt mir verdammt schwer. Es gefällt mir einfach nicht, nur hier zu sitzen und das Gefühl zu haben, meiner Aufgabe nicht gerecht werden zu können.“

Mark schaufelte noch etwas Erbseneintopf in den Mund. Dann nahm er noch einen Schluck von seinem Bier und stand auf.

„Und was hast du jetzt vor?“, fragte Sabrina.

„Ich gehe hinunter in die Halle“, sagte Mark. Obwohl es natürlich Blödsinn war, hatten sie sich angewöhnt, im Zusammenhang mit der Halle der Geheimnisse von hinunter zu sprechen, weil es war, als würden sie in den Keller gehen. „Vielleicht fällt mir irgendetwas auf, wenn ich einfach nur ein bisschen darin herumlaufe. Vielleicht wartet die Waffe nur darauf, dass ich sie finde. Vielleicht kann sie jemand anders gar nicht als das erkennen, was sie ist. Vielleicht ...“

„... ist sie auch gar nicht dort unten“, ergänzte Sabrina.

„Ja, vielleicht. Aber ich darf nichts unversucht lassen. Kommst du mit?“

„Das hat zwar die letzten 27 Mal auch schon nichts gebracht, aber wenn du meinst ...“

 

***

 

Für ein paar Sekunden schob sich eine Wolke vor den Mond und packte den Trampelpfad in Dunkelheit. Es hatte inzwischen aufgeklart und so wäre es selbst im Wald ein heller Abend gewesen, wenn nicht ab und zu eine widerspenstige Wolke andere Pläne verfolgt hätte.

Es war noch drei, vier Grad kälter geworden, aber das störte den Mann trotz seines leichten Hemdes und der dünnen Stoffhose nicht. Empfindungen wie Kälte war er nicht mehr zugänglich. Ihn beschäftigte ein anderes Gefühl viel stärker: Durst! Das Verlangen nach Blut.

Er leckte sich die Lippen, schüttelte dann aber sofort den Kopf. Er durfte jetzt nicht daran denken! Es gab Wichtigeres zu tun! Er musste den Weg zurück finden und dabei brauchte er Hilfe.

Außerdem hatte er dank des unverhofften Besuches vor ein paar Stunden den ersten Durst stillen können. Das musste vorerst reichen. Obwohl das Blut des Kerls widerlich muffig und unrein geschmeckt und ihn gar nicht richtig gesättigt hatte. Kein Vergleich zu dem, was in den Adern einer jungen Frau ...

Schluss jetzt! Reiß dich zusammen!

Aber es war schwer, dieses drängende Gefühl zu ignorieren. Und mit jeder Nacht, die er hier auf der Lauer lag und beobachtete, wurde es schwerer. Er brauchte Menschenblut, und wenn er es nicht bald bekam oder er wenigstens den Weg zurück fand, steckte er in Schwierigkeiten. Und die Menschen in der Umgebung auch!

Vor einer Woche hatte er ein Reh gerissen. Das Blut war sogar einigermaßen genießbar gewesen, aber es hatte keinerlei Nährwert besessen. Und danach war er beinahe noch durstiger gewesen als zuvor.

Er sah auf die Armbanduhr - ein Relikt aus seiner Zeit als Mensch. Kurz nach 21 Uhr.

Diese Nacht würde wohl laufen, wie jede einzelne der letzten Wochen. Wie jede Nacht würde er darauf warten, dass jemand die Höhle betrat oder verließ, der ihm von Nutzen war. Wie jede Nacht würde entweder gar niemand kommen oder er wäre in Begleitung bewaffneter Wachmänner. Wie jede Nacht würde er bis kurz vor dem Morgengrauen warten und sich in seine Hütte zurückziehen. Wie jede Nacht würde er sich wünschen, auch tagsüber auf der Lauer liegen zu können, wo die Chance ungleich größer war, sich jemanden schnappen zu können, sei es, weil er eine Zigarettenpause machte, sei es, weil er sich die Beine vertrat. Und wie jede Nacht würde er fluchen, dass er sich ausgerechnet die Höhlen des Kyffhäuser ausgesucht hatte, um jemanden des Ordens in die Finger zu kriegen.

Dabei hatte er sich zu seiner Entscheidung anfangs sogar beglückwünscht! Seine Wahl war auf den Kyffhäuser gefallen, weil er wusste, dass die Höhle der beliebteste Versammlungsort des Ordens war. Das hieß zwar nicht, dass die Ordensmeister hier tagtäglich ein und aus gingen, aber dennoch hoffte er, einen von ihnen alleine anzutreffen. Doch schon in der ersten Woche stellte er fest, dass hier wesentlich mehr Verkehr war, als er erwartet hatte. Jede zweite oder dritte Nacht stapften Menschen, die er noch nie gesehen hatte, zur Höhle hin oder von ihr weg. Und ab und zu sah er auch einen der Ordensmeister. Vor ungefähr drei Wochen latschte einer von ihnen sogar so nah an dem Beobachter vorbei, dass der ihm ins Ohr hätte schnaufen können, wenn er das nicht ohnehin grundsätzlich eingestellt hätte.

Aber rasch musste er feststellen, dass nie jemand alleine zur Höhle kam. Meistens war gleich eine ganze Horde von Leuten unterwegs und die war dann größtenteils auch noch in Begleitung von bewaffneten Kerlen, die der Beobachter sofort erkannte: Treasure Security!

Was war hier nur los, das so einen Aufmarsch rechtfertigte?

Immer wieder hatte er ein paar Wortfetzen aufgeschnappt, die von einer großen Halle und geheimnisvollen Gegenständen berichteten. Der Ordensmeister, dem der Beobachter ins Ohr hätte schnaufen können (Reinhold Strößner war sein Name, wenn sich der Beobachter richtig erinnerte), hatte sogar etwas von unschätzbar wertvollen Waffen gefaselt, die dort lagern mochten, die aber noch keiner als solche erkennen konnte.

Mitte letzter Woche hatte den Mann hinter den Bäumen dann die Neugier gepackt, und nach langem Zögern („Vielleicht ist im Augenblick jemand drin!“) hatte er selbst die Höhle betreten.

Er verschaffte sich mit dem extrem lächerlichen „Sesam öffne dich!“ Zugang - und fand nichts, was nicht dort hin gehört hätte. Ein paar Schritte nach dem Höhleneingang erreichte er den menschenleeren Ratssaal. Er sah den Versammlungstisch, die Stühle, den Kronleuchter. Dann folgte er dem gewundenen Gang in Barbarossas Höhle, aber auch da gab es nichts von Belang zu entdecken. Keine Spur von geheimnisvollen Gegenständen, nicht der Hauch von wertvollen Waffen und schon gar keine große Halle.

Sehr rätselhaft das Ganze!

Und so ging das nun schon seit ... Er wusste gar nicht mehr genau, seit wann. Über fünf Wochen oder noch länger hinweg latschten immer wieder Ordensmeister und Leute, die vermutlich für den Orden arbeiteten, an ihm vorbei, ohne dass er sich einen davon gefahrlos hätte schnappen können.

Und der Durst wurde immer schlimmer, immer drängender. Ohne sich dessen bewusst zu werden, leckte er sich wieder über die Lippen.

Da plötzlich schien der Berg aufzureißen. Licht sickerte aus einem Spalt, der sich stetig weiter verbreiterte.

Das Tor zu den Höhlen im Kyffhäuser war wieder dabei, sich zu öffnen ...

 

***

 

Heute war die Halle der Geheimnisse menschenleer, was in den letzten Monaten nicht selbstverständlich war. Tagsüber ging es hier oft zu wie an einem Wühltisch beim Sommerschlussverkauf. Archivare, Historiker, Physiker, Chemiker, Archäologen, Schriftgelehrte, Waffenkundler und Vertreter von Wissenschaften, die noch nicht einmal einen Namen hatten, gaben sich die Klinke in die Hand. Zuweilen waren hier mehr akademische Grade vertreten als an einer Uni zur Professorenhauptversammlung. Und sie alle hatte Mark persönlich hier hereinführen müssen, um sie vor Barbarossas Zauber zu Getreuen zu machen.

Aber nicht nur tagsüber war hier viel Betrieb. Mindestens jede zweite oder dritte Nacht blieben die Betten in einigen Akademikerhaushalten Deutschlands leer.

Doch Gott sei Dank nicht in dieser Nacht, denn sonst wäre Mark wieder umgekehrt. Wenn er nach der Waffe der Prophezeiung suchte, wollte er nicht, dass ihn wissenschaftliches Geschwätz umschwirrte wie ein hungriger Mückenschwarm.

Es hatte sich viel getan in der Halle der Geheimnisse in den letzten Monaten. Zwar sah es immer noch aus wie in einem Fundbüro, in dem eine neue Form der Chaos-Theorie erprobt wurde, aber an den meisten Fundstücken klebten inzwischen Schildchen und Zettelchen mit nützlichen Informationen.

Mark schlenderte durch die Reihen, in der Hoffnung, die Waffe der Prophezeiung würde ihm zuwinken und rufen: „Hier bin ich!“ Sabrina folgte ihm in einigen Schritten Entfernung.

Links auf einem Tisch stand ein großer, irdener Krug mit einem fest verschlossenen Deckel. Aus Sicherheitsgründen war das Gefäß inzwischen in eine Art Metallgestell gespannt, damit es nicht umfallen konnte. Das knallrote Schild an dem Gestell erklärte auch, warum das eine gute Idee war: „InvNr. 736/9: Alter nicht bestimmbar. Evtl. Büchse der Pandora. KEINESFALLS ÖFFNEN!!!

Mark hatte keine Ahnung, wie die Forscher des Ordens gerade auf diese Theorie gekommen waren, zumal er sich die Büchse der Pandora immer ganz anders vorgestellt hatte. Aber er verspürte keinerlei Verlangen danach, die Vermutung der Wissenschaftler zu widerlegen.

Auf dem Tisch daneben lagen zwischen jeweils zwei Glasplatten gepresst zwei handbeschriebene Blätter. Ob sie aus Papier, Pergament oder einem ganz anderen Material waren, konnte Mark nicht sagen. Ein gelbes Schild verkündete: „InvNr. 833/1: Alter etwa 1.200 Jahre; Merseburger Zaubersprüche (Original)“.

Wie Mark in seinem Akademikerleben gelernt hatte, gab es zwei dieser Sprüche. Einen zur Befreiung von Gefangenen und den zweiten zur Pferdeheilung. Entdeckt worden waren sie von Georg Waitz Mitte des 19. Jahrhunderts in der Bibliothek des Domkapitels Merseburg in einer theologischen Handschrift aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert.

Erst in seinem Hüterleben durfte Mark dazulernen, dass dieser Georg Waitz ein Ordensmeister gewesen war. Er hatte die Originale der Zaubersprüche, bevor er sie der Öffentlichkeit überließ, so verändert, dass aus ihnen zwar hübsche, aber wirkungslose Reime wurden. Tatsächlich dienten die Sprüche nämlich der Befreiung gefangener Dämonen und der Heilung von Brüchen jedweder Art, wirksam natürlich bei Pferden, aber eben auch bei Toten. Wer weiß, wie viele Dämonen und Tote mit ordentlich verheilten Brüchen über die Welt marschiert wären, als die Bands Ougenweide und In Extremo tausend Jahre nach ihrer Entstehung die Sprüche vertonten, wenn sie Georg Waitz nicht in kluger Voraussicht entschärft hätte.

Mark passierte ein Regal, in dem ein bisher unveröffentlichtes Originalmanuskript von Jules Verne und eine schwer entzifferbare Handschrift („InvNr. 203/2: Alter etwa 400 Jahre; Schriften des Rabbi Loew mit Jugenderinnerungen und Erläuterungen zur Herstellung eines Golems“) lagerten. Gleich daneben lag ein dünnes Buch, in dessen Ledereinband ein Stern aus sechs schmalen Zacken eingebrannt war. Das Kärtchen darauf verkündete: „InvNr. 551/2: Alter etwa 500 Jahre; Verfasser unbekannt. Lässt sich nicht öffnen. Von gewaltsamen Öffnungsversuchen ist vorerst abzusehen.“

Bis vor wenigen Wochen hatten in diesem Regal auch verschiedene Aufzeichnungen von Leonardo da Vinci ihren Platz gehabt. Als die Archivare aber feststellten, dass darin unter anderem eine Abhandlung über das merkwürdige Gefährt, das aussah wie eine Postkutsche, enthalten war, wurden die Aufzeichnungen an Fachmänner des Ordens übergeben, die die Texte übersetzen und interpretieren sollten.

Abschließende Ergebnisse gab es bisher noch nicht, aber wenn es auch nur halbwegs stimmte, was in der Gerüchteküche vor sich hin brodelte, dann könnten sich dem Orden in Zukunft einige unglaubliche Möglichkeiten eröffnen.

Er schüttelte den Kopf, wollte nicht darüber nachdenken. Zu phantastisch wäre es gewesen, wenn ...

Schluss jetzt, Mark!, ermahnte er sich. Du bist aus einem anderen Grund hier!

Richtig! Er wollte die Gegenstände, die bisher noch nicht identifiziert werden konnten oder noch nicht einmal untersucht waren, auf sich wirken lassen. Und davon gab es noch mehr als genug!

Welche Waffe hat die Prophezeiung gemeint? Wo bist du? Wo hast du dich versteckt? Bist du überhaupt hier irgendwo?

Mark kam an einer mannshohen Spirale vorbei, die aussah wie eine überdimensionierte Autofeder aus reinem Silber („InvNr. 823/8: Herkunft und Zweck bislang unbekannt“). Sicherlich könnte man damit einen Werwolf erschlagen, für den alltäglichen Gebrauch war dieses Monstrum aber doch eher unhandlich – es sei denn, man hätte ein Waffenhalfter in Form eines Tiefladers dabei.

Mark strich mit der Hand über ein gläsernes Kästchen, in dem eine handgroße bläuliche Flamme tanzte. Wieder legte ein knallrotes Schildchen dem Betrachter nahe, das Kästchen möglichst nicht zu öffnen.

„Was ist das denn?”, murmelte Sabrina hinter ihm.

Mark drehte sich um und sah, wie sie einen offenen Karton unter einem Tisch hervorzog. Darin lagen: ein versilbertes Kreuz mit den Anfangsbuchstaben der Erzengel an den Balkenenden; ein handtellergroßes Amulett mit den Tierkreiszeichen und anderen pseudogeheimnisvollen Krakeln, das genauso gut Modeschmuck wie eine Waffe sein konnte; an einer silbernen Kette eine ebenfalls handtellergroße weiße Scheibe mit der Gravur „Dämonendiskus – Made in Germany – Zum Vergrößern von der Kette lösen“; ein silberner Bumerang, den sicherlich irgendjemand auf dieser Welt vermisste; eine Röhre, aus der drei lederne Riemen fielen, wenn man damit einen Kreis über den Boden schlug; ein silbernes Feuerzeug mit eingravierten Kritzeleien und zwei Knöpfen. Auf dem Karton stand: „InvNr. keine; Ramsch, kann auf den Müll.“

Mark zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Sabrina holte das Feuerzeug aus dem Karton. „Das wäre doch was für Hinnerks Lungentorpedos!“

Sie drückte auf einen der Knöpfe und eine knapp einen Meter lange Feuerlanze schoss an Marks Ohr vorbei. „Allmächtiger, nee!“, kiekste Sabrina und ließ den Knopf wieder los.

Mark ging auf sie zu und drehte ihr das Feuerzeug aus der Hand. Auf der Rückseite fand er eine Gravur: „Eigentum der Friedrich Morland und A. F. Tenkrat GmbH – Benutzung nur durch autorisierte Personen“.

Er warf es wieder in den Karton, schob ihn anschließend mit dem Fuß unter den Tisch und sagte: „Gescheite Dämonenjäger brauchen so einen Kram nicht. Außerdem sind wir nicht autorisiert.“

„Dann halt nicht“, sagte Sabrina. „Wie lange willst du eigentlich noch hier bleiben?“ Sie sah auf ihre Uhr. „Kurz nach neun. Wir sind schon seit fast drei Stunden hier unten. Sicherlich sind Hinnerk und James schon wieder da und fragen sich, wo wir sind.“

„Ich hab ihnen einen Zettel auf den Tisch gelegt. Sie wissen genau, wo wir sind. Und wenn was ist, brauchen sie nur herkommen. Die paar Hundert Kilometer sind ja nicht aus der Welt. Noch ein paar Minuten, ja?“

„Außerdem weißt du doch, wie wenig es mir hier unten gefällt. Jeder Quadratzentimeter erinnert ...“ Sabrinas Stimme wurde brüchig und sie musste neu ansetzen, um den Satz zu Ende zu bringen. „Jeder Quadratzentimeter erinnert mich an ... an Conny. Es ist lächerlich, aber manchmal glaube ich, den Widergänger zu riechen. Und dann sind die Bilder wieder da. Wie er Conny gepackt hat, wie er ... wie er ...“

„Schschsch“, machte Mark, nahm Sabrina in die Arme und strich ihr übers Haar. „Ich weiß. Du hast Recht. War blöd von mir. Lass uns wieder ins Haus gehen.“

Sabrina lächelte ihn aus feuchten Augen an. „Nein“, sagte sie dann und schüttelte den Kopf. „Ich weiß doch, wie wichtig es dir ist, nach der Waffe zu suchen. Aber lass uns einen Augenblick vor der Höhle frische Luft schnappen.“

„Einverstanden.“

Hand in Hand durchquerten sie die Halle der Geheimnisse und gingen durch den Stollen, der sie direkt zum ehemaligen Ratssaal führte. Nach der Entdeckung der Höhlen durch die Schwarze Familie hatten die Ordensmeister beschlossen, sie nicht mehr für Versammlungen zu nutzen. Die Halle der Geheimnisse hingegen war sicher genug, da sie durch Barbarossas Zauber vor den Augen Unbefugter geschützt war. Na ja, wenn man mal von den Augen des Verräters absah.

Wenn Sabrina dabei war, nahmen sie immer diesen Umweg durch den Ratssaal zum Höhlenausgang. Der direkte Weg hätte sie durch das Stollensystem geführt, in dem Sabrinas beste Freundin Cornelia das Opfer eines Widergängers geworden war<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]-->. Und wenn sich Sabrina schon in der Halle nicht wohl fühlte, wie mochte es ihr dann erst am Ort von Connys Tod gehen?

Mark und Sabrina umrundeten den großen Tisch, der noch immer hier stand, weil sich bisher kein besserer Platz dafür gefunden hatte. Nur ein paar Sekunden später standen sie vor dem geschlossenen Felsentor.

„Sesam öffne dich“, sagte Mark. Wie jedes Mal kam er sich reichlich albern dabei vor.

Das Tor schwang auf und ein Schwall eisiger Luft schwappte in die Höhle.

„Puh, ist das kalt“, hauchte Mark, als sie die Höhle verließen. Er schlug sich auf die Oberarme, um der Kälte Herr zu werden. Ein Unternehmen, das zum Scheitern verurteilt war. „Wir sind nicht wirklich passend angezogen, Sabbi. Vielleicht sollten wir doch wieder reingehen!“

„Du hast Recht“, gestand Sabrina. „Lauschig ist etwas Anderes. Geh du wieder rein. Ich komme gleich nach. Ich will nur eben zu Hause anrufen und sehen, ob James schon wieder da ist. Nicht, dass Christine aus ihrem Zimmer kommt und uns sucht.“

Mark lachte. „Sabrina! Christine ist dreizehn. Sie hatte bereits ihre erste Monatsblutung und ihr wachsen Brüste. Und sie kann sogar schon lesen. Ich denke, wenn sie den Zettel findet, hat sie eine gute Chance zu erfahren, wo wir sind.“

Sabrina verdrehte die Augen. „Ja, ja. Nenn mich meinetwegen eine alte Glucke, aber ich will trotzdem mal anrufen.“ Dann zog sie ihr Handy aus der Hosentasche.

„Wie du meinst. Aber beschwer dich morgen nicht bei mir, wenn du ein Schnüpfchen hast. Denn gegen Viren und Bazillen ist sogar ein Hüter machtlos.“ Mark gab ihr einen langen Kuss. „Noch einen auf den Weg. Denn ab morgen bist du vielleicht ansteckend!“

Dann drehte er sich um und ging wieder in die Höhle.

 

***

 

Verdammt, es sind schon wieder zwei!, zuckte es durch das untote Hirn des Vampirs, als der Mann und die Frau aus der Höhle kamen.

Komisch! Diese Beiden hatte er hier noch nie gesehen. Das waren keine der Weißkittel und Anzugträger, die sonst hier ein und aus gingen. Was mochten die wohl mit dem Orden zu tun haben?

Er schlich sich etwas näher an den Höhleneingang. Der lockere Schnee war sein Verbündeter und schluckte die Geräusche seiner Schritte.

Vielleicht ergab sich ja heute eine Gelegenheit. Mit zwei Menschen konnte er es aufnehmen, ohne dabei Angst um seine Existenz haben zu müssen. Sein altes Kampftraining würde ihm da sicherlich von Nutzen sein.

Er legte sich gerade einen Plan zurecht, wie er die Beiden überwältigen könnte, als er aus ihrem Gespräch ein paar Namensfetzen auffing, die ihn erstarren ließen.

James - Christine!

Und dann: „Denn gegen Viren und Bazillen ist sogar ein Hüter machtlos.“

Er schüttelte den Kopf. Das war unglaublich! Der Kerl da vor ihm war der neue Hüter? Er konnte sein Glück gar nicht fassen. Der Orden würde alles tun, um seinen Hüter zurückzubekommen! Sogar einem Vampir den Rückweg zeigen nach ...

Ja, wohin eigentlich?

Er wusste es selbst nicht. Aber auch dabei würde ihm der Orden helfen. Würde es müssen!

Doch noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, verschwand der Hüter wieder in der Höhle. Nur die Frau, die er mit Sabrina angeredet hatte, blieb stehen und tippte auf ihrem Handy herum.

Alleine! Sie war ganz alleine!

Der Vampir grinste in sich hinein, als sein Plan Gestalt annahm.

 

***

 

Mark ging zurück in die Halle der Geheimnisse. Diesmal nahm er den Weg durch das Stollensystem. Er beschloss, dass er Sabrina nach ihrer Rückkehr nach Hüll eine heiße Dusche verordnen würde. Und um zu gewährleisten, dass sie seinen Anweisungen folgte, würde er sich gleich mit darunter stellen.

Er betrat die Halle und wie immer, wenn sich dieser riesige Felsdom mit seiner skurrilen Einrichtung und seinen fluoreszierenden, phosphoreszierenden, lumineszierenden oder sonst wie szierenden Wänden vor ihm öffnete, fragte er sich, wer diese Sammlung zusammengetragen hatte. Hinnerk hatte ihm von einer Legende erzählt, nach der drei Meister des Ordens und drei Magier von dieser Halle gewusst, sie vielleicht sogar angelegt hatten. Aber irgendwann seien die drei Magier verschwunden. Jetzt, nachdem einiges dafür sprach, dass das mehr als eine Legende war, vermutete Hinnerk sogar, dass es unter den Ordensmeistern welche geben müsse, die einem Geheimbund angehörten. Und die alle Gegenstände hier benennen und identifizieren könnten, wenn sie wollten. Warum sie allerdings offenbar nicht wollten, dazu hatte Hinnerk noch keine Theorie entwickelt.

Geiler Orden!, dachte Mark. Ein paar Geheimniskrämer, die den Mund nicht aufbekommen, und ein Verräter. Und für diesen Verein arbeite ich!

Wieder schlenderte Mark durch die Reihen und ließ seinen Blick schweifen. Wie oft hatte er das jetzt schon getan? Zehnmal? Zwanzigmal? Mark wusste es nicht. Er wusste nur, dass er bisher nicht den Hauch einer Spur gefunden hatte, die ihm der prophezeiten Waffe näher gebracht hätte. Und so schwer es ihm auch fiel, langsam würde er sich wohl mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass die Waffe gar nicht in der Halle der Geheimnisse war. Oder war es denkbar, dass er sie einfach nur nicht erkannte? Aber er war der letzte, der prophezeite, der kämpfende Hüter! Wenn einer die Waffe erkennen würde, dann doch wohl er! Oder etwa nicht?

Mark seufzte.

Es musste ja nicht gleich die Waffe der Prophezeiung sein. Aber es wäre schon hilfreich, wenn er etwas in Händen hätte, das ihm den Kampf gegen die Schwarze Familie erleichtern würde.

Er blieb neben einem Gerät stehen, das er für einen Sextanten gehalten hätte. Wie ihm aber einer der Professoren (weiß der Geier welcher Fakultät!) mit dozierendem Tonfall erklärt hatte, fehle der Indexspiegel auf der Alhidade. Außerdem sei der Gradbogen nicht in die üblichen sechzig Grad eingeteilt, sondern zeige stattdessen eigenartige Symbole. Mark hatte zwar kein Wort verstanden, aber er schwor sich eines: Sollte er mal eine Schifffahrt unternehmen müssen, so würde er weder den angeblichen Sextanten, noch den Professor mitnehmen. Sabrina würde ihm als Begleitung vollkommen ausreichen.

Beim Gedanken an Sabrina drehte er sich um und sah zum Halleneingang. Wo blieb sie überhaupt? Sie würde sich da draußen noch den Tod holen, wenn sie nicht bald erst in die Halle und dann unter die Dusche käme.

Mark runzelte die Stirn. Konnte sie wirklich so lange für ein kleines Telefonat brauchen?

Er verließ die Halle der Geheimnisse wieder und stapfte in den Ratssaal. Sabrina kam ihm nicht entgegen. Also umrundete er wieder den Versammlungstisch und ging Richtung Höhlenausgang.

Sofort schlug ihm kalte Luft entgegen.

„Wo bleibst du denn, Sabbi?“, fragte er, als er die Höhle verließ. „Hast du Hinnerk er...?“

Sabrina war nicht da.

Nanu? Sollten sie sich etwa verfehlt haben? Sollte Sabrina durch das Stollensystem in die Halle der Geheimnisse gegangen sein, während Mark den Weg über den Ratssaal gewählt hatte?

„Sabbi?“

Keine Antwort.

Mark eilte durch die Stollen zurück.

„Sabrina?“, rief er, als er die Halle erreicht hatte.

Wieder keine Antwort.

SABRINA?!?!?!

Mark rannte zum Ratssaal, von dort zum Höhleneingang, über das Gangsystem in die Halle der Geheimnisse und wieder zurück zum Höhleneingang.

Nichts! Keine Spur von Sabrina.

„Sabrina! Wo bist du?“, plärrte er in den Wald hinaus. Bis auf das aufgeschreckte Schuuu-Huuu einer Eule erntete er keine Reaktion.

„Scheiße!“

Und da sah er etwas, das ihm gar nicht gefallen wollte! Der Schnee vor der Höhle war über eine große Fläche niedergewalzt. Nicht, als wäre jemand dort herumgetrampelt, sondern eher, als hätte sich jemand auf dem Boden gewälzt.

„Shit!“, fluchte Mark und sah sich um.

Da stockte ihm der Atem. War der dunkle Fleck im Schnee dort etwa ...?

Er machte einen Schritt auf den Fleck zu, bückte sich, griff sich etwas von dem Schnee und rannte damit ins magisch verstärkte Licht der Höhle.

„Oh, Kacke!“, hauchte Mark.

Der Schnee, den er in der Hand hielt, war rot gesprenkelt. Blut! Das Blut eines Tieres? Mark konnte nicht daran glauben.

„Sabrina!“, schrie er wieder. „Wo bist du, verdammt?“

Diesmal antwortete ihm nicht einmal mehr die Eule.

 

***

 

Immer wieder kreiselte Mark um seine eigene Achse und rief den Namen seiner Freundin. Doch mit jedem Rufen wurde seine Stimme leiser, bis sie schließlich zu einem Wimmern wurde.

Er sank auf die Knie.

Was sollte er denn jetzt machen?

Da sah er die Fußspuren im Schnee! Natürlich! Ihnen brauchte er nur zu folgen. Sie würden ihn ganz sicher zu Sabrina führen.

Und wohin noch? In einen Hinterhalt? In den Tod? In ein Dämonennest?

Egal! Er musste ihnen einfach folgen!

Egal! Er musste ihnen einfach folgen!

Doch schon nach wenigen Schritten löste sich sein Vorsatz in Wohlgefallen auf. Oder besser: Er verlief sich im Unterholz. Denn nach etwa fünf Metern verließen die Spuren den Trampelpfad und führten in den Wald. Und noch einmal zehn Meter später wurde der Wald, das Gestrüpp und das Unterholz so dicht, dass Mark der Spur nur hätte folgen können, wenn sie geleuchtet oder wenigstens laut gesungen hätte. Wenn da noch eine Spur war (und Mark zweifelte nicht daran), dann sah er sie nicht mehr!

„So ein Rotz!“, fügte er den bisher erwähnten Körperausscheidungen eine weitere hinzu.

Mit hängenden Schultern kehrte er zum Höhleneingang zurück. Jetzt bin ich genauso weit wie vorher, dachte er. Und was fällt mir jetzt noch Kluges ein?

Hinnerk! Er musste Hinnerk informieren. Der hatte bestimmt eine gute Idee.

Mit steifen Fingern fummelte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer des Glückshauses in Hüll.

 

***

 

Hätte jemand Christine gefragt, wie lange sie auf ihrem Nintendo DS Animal Crossing spielen könne, hätte sie ihm sicherlich eine Antwort gegeben, die irgendwo im Tagebereich gelegen hätte. Die Wahrheit war allerdings, dass sie schon nach drei Stunden das Gefühl hatte, nicht mehr geradeaus schauen zu können. Das Gerät in dezentem Lollie-Pink schien auf und ab zu hüpfen, der

Bildschirm pulsierte.

Also klappte sie das elektronische Spielzeug zu und schwang sich noch einmal aus dem Bett. Auf nackten Füßen tapste sie hinunter in die Küche. Kein Mensch daheim. Hinnerk und James waren wahrscheinlich noch in Hamburg. Aber wo waren Mark und Sabrina?

Auf dem Tisch sah sie einen Zettel, der aus einem der Schulhefte herausgerissen war, in die sie sonst ihre Übungen machte.

Seit sie hier in Hüll untergekommen waren, ruhte sogar Christines Unterricht bei Privatlehrern. Hinnerk und Mark wollten ihr Versteck nicht mehr Menschen offenbaren, als unbedingt nötig war. Deshalb waren sie neben ihren Tätigkeiten als Ordensmeister bzw. Dämonenvernichter zu nebenberuflichen Pädagogen mutiert. Sie hatten sich in einem Buchladen mit diversen Schulbüchern eingedeckt, wie sie in der siebten Klasse verwendet wurden, und quälten Christine nun Tag für Tag mit Fragen wie denen, ob ein Dreieck mit einem stumpfen Winkel rechtwinkelig sein konnte, welche Funktionen Rückenflosse, Schwanzflosse und Schwimmblase eines Fisches hatten, oder welche drei Arten der Reibung es gab. All ihre Erkenntnisse verewigte Christine in den Schulheften, von denen Hinnerk so viele eingekauft hatte, dass sie bis an ihr Lebensende täglich einen fünfseitigen Aufsatz hätte schreiben können. Da sie das aber nicht vorhatte, war es nicht allzu verwerflich, dass Mark eines der Hefte dazu benutzt hatte, eine Nachricht zu hinterlassen.

„Sind in der Halle der Geheimnisse und sehen uns etwas um. Mark und Sabrina“, stand da zu lesen.

Christine lächelte. Natürlich! Was sollte Mark auch sonst machen, wenn er nicht gerade Dämonen vernichtete, bei einem Zwerg Kampfunterricht<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> nahm oder ihr lateinische Grammatik erklärte?

Sie ging zum Kühlschrank, nahm einen Schluck Milch aus der Flasche, schloss den Kühlschrank und trug den frisch erworbenen weißen Bart hinauf ihn ihr Zimmer. Dann legte sie sich wieder ins Bett, setzte die Kopfhörer ihres Discmans auf und ließ sich von Jessica Simpson berichten, wie wunderschön die sich fühlte, seit sie mit ihrem Freund zusammen war.

Keine zwei Minuten später war Christine eingeschlafen. Das Telefon, das unten im Flur zu klingeln begann, hörte sie nicht.

 

***

 

Mark ließ es zwei ihm unendlich lange erscheinende Minuten klingeln, aber in Hüll hob niemand ab. War Hinnerk vielleicht noch unterwegs?

„Shit“, sagte er. Mit dem Handy am Ohr drehte er sich noch einmal im Kreis. Auch wenn er nicht daran glaubte, glomm in ihm ein winziger Funken Hoffnung, dass Sabrina aus dem Gebüsch gesprungen käme und rufen würde: „April, April! Hier bin ich!“

Die Kälte nagte an seinen Knochen und ein Schaudern huschte durch seinen Körper.

Mark drückte auf das rote Knöpfchen. Dann wählte er eine andere Nummer: die von Hinnerks Handy.

 

***

 

„So’n Schietkram!“, schimpfte Hinnerk. „Ich hab Hunger! Ich hab Durst! Ich will eine rauchen! Und was tu ich stattdessen?“

„Sie stehen im Stau“, brachte James auf dem Beifahrersitz des BMW die Lage mit erstaunlich wenig Worten auf den Punkt.

Hinnerks Blick hätte selbst hartgesottene Menschen in die Flucht schlagen können. Sensiblere Gemüter hätte er vermutlich sofort getötet. „Eigentlich wollte ich gar keine Antwort haben!“

James sah ungerührt nach vorne. „Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben: Es war vermutlich nicht die klügste Entscheidung, den Elbtunnel zu nehmen, zumal es in der Vorweihnachtszeit ...“

„Ich erlaube nicht!“, unterbrach ihn Hinnerk. „Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sich die Verkehrsgötter gegen uns verschwören und sämtliche Hamburger Staus zu einem einzigen vereinen? Woher hätte ich wissen sollen, dass wir zwar in den Tunnel reinfahren können, uns da dann aber Meter für Meter vorwärtsparken müssen? Woher hätte ich das wissen sollen, häh?“

„Nun, wissen konnten Sie es freilich nicht. Aber in Anbetracht des hohen Verkehrsaufkommens ...“

„Ich wollte schon wieder keine Antwort, James!“

„Oh!“, machte der Butler. „Dann bitte ich um Verzeihung.“

Hinnerk klopfte sich auf die Hosentaschen. „Wo ist eigentlich mein Handy?“

James schwieg und starrte geradeaus.

Hinnerk wiederholte seine Frage, doch wieder blieb James stumm wie ein geknebelter Fisch.

„Warum sagen Sie denn nichts?“, brauste Hinnerk auf.

„Ich war mir nicht sicher, ob sie diesmal eine Antwort wollten.“

Hinnerk seufzte. „Ja, diesmal will ich eine. Also, wo ist ...?“

„Hier!“, sagte James und hielt ihm das Telefon entgegen. „Sie hatten es mir vorhin zur Verwahrung anvertraut.“

Hinnerk schnappte sich das Nokia und begann, eine Nummer zu tippen. Doch schon nach zwei oder drei Tasten hielt er inne. Sein Blick war auf das Display gefallen.

„Schietkram!“, sagte er noch einmal. „Warum haben wir ausgerechnet jetzt kein Netz?“

„Ich vermute, dass die Tunnelwände aus ...“, begann James, doch als er nach links schaute und Hinnerks verkniffenes Gesicht sah, verstummte er für einen Augenblick. „Oh, Sie wollten wieder keine Antwort.“

Hinnerk holte tief Luft. Dann gab er James das Handy zurück, legte die Hände aufs Lenkrad und sah selbst geradeaus durch die Windschutzscheibe.

„Tja“, sagte er nach ein paar Sekunden. „Dann muss es Mark eben genügen, dass wir ihm erst nachher sagen, wo wir so lange waren. Bleiben wir also noch ein wenig hier und genießen die Aussicht und die gute Luft.“

 

***

 

Wieder nichts! Zwar meldete sich Hinnerks Mailbox, aber noch bevor Mark darüber nachdenken konnte, ob er eine Nachricht hinterlassen sollte oder nicht, hatte er einem Impuls folgend schon wieder aufgelegt.

Inzwischen zitterte Mark am ganzen Körper. Hätte er wenigstens eine Jacke an oder ein paar Handschuhe dabei!

Was sollte er jetzt machen? Die Polizei anrufen? Nein, Quatsch! Da hätte er zuviel erklären müssen, was er nicht erklären wollte.

Nach Hüll zurückkehren? Etwas Anderes blieb ihm wohl kaum übrig, denn in der Kälte konnte er ohnehin nichts mehr ausrichten.

Wenn doch nur Hinnerk erreichbar wäre! Wen konnte er noch informieren? Die Treasure Security? Fabio Cassani, den Großmeister des Ordens? Einen der anderen Meister? Keiner von denen könnte auf die Schnelle etwas ausrichten.

Oder sollte er vielleicht ...?

Der Gedanke hatte noch gar nicht richtig Gestalt angenommen, da wählte Mark auch schon eine weitere Nummer: die von Sabrinas Handy.

Es tutete. Einmal, zweimal, dreimal.

Wenigstens ging nicht gleich die Mailbox ran.

Viermal. Fünfmal.

Sabrina meldete sich nicht. Natürlich nicht! Wie hätte sie das auch tun sollen? Hätte sie sagen sollen: Entschuldigen Sie bitte, Herr Verschlepper, aber dürfte ich mal eben den Anruf entgegennehmen?

Nein, auf allzu viel Verständnis wäre sie da wohl nicht gestoßen.

Sechsmal. Siebenmal.

Wenn sie überhaupt noch etwas sagen konnte! Wenn sie wirklich nur verschleppt worden war! Wenn sie - mein Gott! - überhaupt noch lebte!

Achtmal. Neunmal. Zehnm...

„Mark?“

Sabrinas Stimme erklang so überraschend aus Marks Handy, dass ihm zuerst nichts Sinnvolleres einfiel als: „Sabrina?“

Er spürte einen Stich im Herzen! Sie lebte! Gott sei Dank!

Dann endlich hatte er sich wieder soweit unter Kontrolle, dass er klarer denken konnte.

„Sabrina? Wo bist du? Was ist passiert?“

„Mark, hör mir bitte zu und unterbrich mich nicht.“ Ihre Stimme klang gepresst. „Ich bin ... in der Gewalt eines Mannes, den ich nicht kenne. Er hat gesagt, ich sei in Sicherheit und mir geschehe nichts, wenn du tust ... wenn du tust, was er sagt. Wo bist du im Moment?“

„Vor der Höhle. Sabbi, sag dem Kerl ...“

„Bleib ... vor der Höhle. Er wird sich gleich wieder bei dir melden und dir sagen, was zu tun ist. Und Mark, bitte ruf niemanden an! Ich weiß nicht, was er sonst ...“ Sabrinas Stimme versagte.

„Sabbi, bitte, sag dem Kerl ...“

Doch Sabrina hatte schon aufgelegt.

Mark starrte das Handy an.

Bleib vor der Höhle. Ruf niemanden an!

Er hätte lachen mögen, wenn es nicht so traurig gewesen wäre! Wen hätte er denn anrufen können? Es war ja nicht so, dass er es nicht schon versucht hätte!

Mark umklammerte das Handy und wartete darauf, dass sich der Kerl bei ihm melden würde.

 

***

 

Die Kälte war in Marks Schuhe gekrochen und knabberte an den Zehen. Mark tänzelte auf der Stelle, um sich etwas aufzuwärmen, aber da hätte er auch versuchen können, einen Eisberg mit einem Streichholz abzuschmelzen.

Verdammt! Warum meldete sich der Kerl nicht endlich?

Zehn Minuten waren seit dem kurzen Gespräch mit Sabrina vergangen. Zehn unendlich lange Minuten!

Vielleicht sollte er für einen Augenblick in die Höhle gehen und seinen tief gefrorenen Gliedern etwas Wärme gönnen. Aber das hatte er vor ungefähr fünf Minuten schon einmal versucht. Bereits nach fünf oder sechs Schritten hatte er feststellen müssen, dass er mit dem Handy kein Netz mehr bekam. Wenn der Kerl also genau in dem Augenblick anrie Kerl also genau in dem Augenblick anrief , in dem Mark versuchte, seine Füße aufzutauen, wäre er nicht erreichbar.

Wer weiß, was dann mit Sabrina geschehen würde!

Oder sollte er noch einmal versuchen, Hinnerk zu kontaktieren? Vielleicht war der inzwischen zuhause angekommen oder hatte wenigstens das Handy wieder angeschaltet.

Aber auch hier galt: Wenn Sabrinas Entführer genau in diesem Augenblick anrief, bekäme er nur ein Besetztzeichen. Und Mark wollte sich nicht unbedingt darauf verlassen, dass der Kerl großmütig genug war, es einfach später noch mal zu versuchen.

Also blieb ihm tatsächlich nichts Anderes übrig, als weiter hier in der Kälte zu stehen, mit den Zähnen zu klappern und darauf zu warten, dass etwas geschah.

Weitere zehn Minuten tropften dahin.

Da hörte er hinter sich ein Knacken im Wald!

So schnell es ihm seine lädierten Füße erlaubten, fuhr er herum.

Nichts zu sehen.

„Hallo?“, rief Mark und schimpfte sich im gleichen Augenblick einen Narren. Erwartete er etwa, dass der Kerl antworten würde, wenn überhaupt er es gewesen war, der das Geräusch verursacht hatte?

Da knackte es wieder. Diesmal in einer ganz anderen Richtung.

Und wieder war niemand zu sehen.

Ruhig, Mark! Bleib ruhig! Das sind die normalen Laute eines Waldes. Noch dazu im Winter. Tiere laufen durchs Unterholz, Äste ächzen, Schnee fällt von den Bäumen. Ganz normal alles! Ganz normal! Also bleib ruhig.

Dennoch schlug ihm das Herz bis zum Hals.

Da klingelte das Handy!

Mark zuckte zusammen und hätte es beinahe fallen lassen. Auf dem Display erkannte er Sabrinas Nummer. Er zitterte den steifen Zeigefinger auf den Knopf mit dem grünen Hörer.

„Ja?“

Nichts! Keine Antwort, kein Geräusch, kein Atmen. Nichts!

„Hallo? Sind Sie das?“

Natürlich war er das! Schließlich hatte es Sabbis Nummer angezeigt. Was für eine sinnlose Frage! Wieder wurde sie keiner Antwort gewürdigt.

„Sagen Sie doch was! Wie geht es Sabrina?“

Schweigen. Eine Sekunde, noch eine Sekunde.

„Hören Sie, was soll das? Warum rufen Sie an und sagen nichts? Hallo?“

Da hörte Mark ein Klicken. Der Anrufer hatte aufgelegt!

Na super! Und was sollte das jetzt?

Er stopfte das Handy in die Hosentasche, rieb die Hände, hauchte hinein, klemmte sie sich unter die Achseln – ohne Erfolg. Sie blieben eisig.

Was jetzt? Warum hatte der Kerl aufgelegt? Würde er sich noch einmal melden, oder war’s das gewesen? Konnte Mark jetzt endlich in die Höhle? Sabrina war sicherlich nicht damit geholfen, wenn er hier im Wald erfror, während er auf einen Anruf wartete.

Zwei Minuten vergingen. Dann noch eine und noch eine.

Vielleicht war das ja auch der Plan des Kerls! Vielleicht wollte er sich nicht die Hände schmutzig machen und einfach dem Ehepaar Mutter Natur und Väterchen Frost den Job überlassen!

Nein! Schluss! Aus! Er würde nicht warten, bis ihm die Ohrläppchen ab- fielen. Es reichte! Er würde in die Höhle gehen.

Doch kaum hatte Mark sich umgedreht und zwei Schritte Richtung Tor gemacht, das klingelte es aus seiner Hosentasche. Das Vibrieren des Handys kitzelte unangenehm am Oberschenkel.

„Leg bloß nicht wieder auf!“, brummelte Mark, während er versuchte, das Telefon aus der Hose zu nesteln – was, wie er feststellen musste, wesentlich kniffliger war, als es vorhin hineinzustopfen. Die Haut am Handrücken war knallrot und protestierte, als der harte Jeansstoff darüber rieb.

Endlich hatte Mark das Handy befreit. Wieder zeigte das Display Sabrinas Nummer an.

„Ja?“

Und wieder herrschte nur Schweigen.

„Hören Sie! Ich weiß nicht, was Sie mit diesen Spielchen bezwecken, aber wenn Sie etwas von mir wollen, dann melden Sie sich!“

Der Anrufer meldete sich nicht.

„Was soll die Scheiße? Sagen Sie mir endlich, was der Mist soll!“

Der Anrufer sagte es ihm nicht.

„Verflucht noch mal!“, plärrte Mark in das Telefon. „Willst du mich verarschen?“

Auch die Tatsache, dass Mark zum vertraulichen Du übergegangen war, veranlasste den Anrufer nicht, zu diesem Sachverhalt Stellung zu nehmen.

„Okay! Ich zähl bis drei. Wenn du dann immer noch nichts gesagt hast, leg ich auf. Eins ...“

Das Ultimatum schien den Anrufer kalt zu lassen. Er reagierte nicht.

„... zwei ...“

Mark fragte sich, ob er wirklich auflegen sollte. Denn damit vergab er wohl jede Chance, mit dem Kerl, der Sabrina entführt hatte, in Kontakt zu treten. Auf der anderen Seite: So hatte das ja auch keinen Sinn!

„... drei!“

Mark nahm das Handy vom Ohr. Und  gerade als er auflegen wollte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Äste brachen, Schnee knirschte.

Mark zirkelte herum und riss die Augen auf.

Ein Kerl rannte auf ihn zu, der für das Wetter noch umpassender angezogen war als Mark. In der linken Hand hielt er ein Handy. Sabrinas Handy! Die rechte war zur Faust geballt und raste auf Mark zu.

Mark war viel zu verdattert, um reagieren zu können. Nur ein Gedanke schoss ihm noch durch den Kopf. Dieser Telefonterror diente nur dazu, mich zu zermürben und abzulenken – und das ist gelungen.

Dann traf ihn die Faust an der linken Schläfe und es wurde dunkel um ihn. Wenigstens hatte die Kälte nun ein Ende!

 

***

 

Pochen ...

Pulsieren ...

Pumpen ...

Kopfschmerzen. Unerträgliche Kopfschmerzen.

Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle.

Mark wollte die Hände gegen die Schläfen pressen, aber etwas hielt sie hinter seinem Rücken fest. Er öffnete die Augen zu Schlitzen.

Ein flackernder Schein. Nicht sehr hell, aber ausreichend, um eine weitere Panzerkolonne durch seinen Kopf rattern zu lassen.

Als der Schmerz endlich etwas nachließ, öffnete er die Augen ganz.

„Bist du in Ordnung?“, hörte er eine Stimme neben sich.

Sabrina!

Er drehte den Kopf zur Seite, was der ihm mit einem Konzert für Presslufthammer in Schmerz-Moll dankte.

Sabrina saß auf einem Stuhl. Ihre Hände waren hinter der Lehne gefesselt und auch der Oberkörper war von Seilen umschlungen. Die Fußgelenke waren an die Stuhlbeine gebunden. Der rechte Unterarm war blutverschmiert.

Mark sah an sich herab. Auch er saß auf einem einfachen Holzstuhl. Und er war genauso gut verschnürt!

„Mehr oder weniger“, würgte er hervor. „Wo sind wir hier? Was ist mit deinem Arm?“

„Keine Ahnung. In einer Hütte in der Nähe der Höhle würde ich sagen, aber mehr weiß ich auch nicht. Und mein Arm? Was ist damit? Er tut weh, aber ich weiß nicht, was passiert ist. Und sehen kann ich ihn nicht.“

„Wahrscheinlich hast du dich verletzt. Du blutest!“

„Na ja, halb so wild.“

Mark versuchte so viel wie möglich vom Inneren der Hütte zu erkennen, ohne dass ihm dabei der Kopf platzte. Sie befanden sich in einem kleinen Raum, vielleicht drei auf vier Meter groß. Da war eine Tür, die mit zwei schweren, breiten Holzbalken verriegelt war. An zwei schmucklosen Wänden waren ein paar Bretter kreuz und quer übereinander genagelt worden. Mark vermutete, dass man mit etwas mehr Brecheisen und etwas weniger Fesselung dahinter die Fenster hätte finden können. Einen Meter vor sich sah Mark einen knorrigen Tisch, auf dem vier Kerzen standen, die für das flackernde Licht verantwortlich waren. In der Wand gegenüber der verbarrikadierten Tür entdeckte Mark eine weitere Tür, die einen Spalt offen stand.

„Wo ist der Kerl, der uns entführt hat?“

Da öffnete sich die zweite Tür.

„Hier!“, sagte eine Stimme, die Mark noch nie zuvor gehört hatte.

Der Kerl machte einen Schritt nach vorne, hinein in das Flackern der Kerzen.

Mark wurde der Hals eng. Nicht etwa, weil er den Kerl kannte (obwohl er ihm irgendwie bekannt vorkam), sondern weil sein Mund blutverschmiert war. Und wegen der ebenfalls blutverschmierten spitzen Eckzähne.

„Sie sind also der neue Hüter! Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Obwohl es ja schon fast erschreckend einfach war, Sie zu überwältigen!“

Mark runzelte die Stirn. Woher wusste der Typ das? „Hüter? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

Der Vampir trat vor Marks Stuhl und ging in die Knie. Er kam mit seinem Gesicht ganz nahe an Marks heran.

„Tatsächlich? Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Sollte der Orden etwa einen Mann mit Gedächtnisschwund zu meinem Nachfolger gemacht haben?“

„Zu Ihrem ...?“

„Nachfolger, richtig. Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle? Mein Name ist Connor Baigent, ehemals Hüter des Schatzes und nun Kreatur der Nacht. Ein interessanter Branchenwechsel, finden Sie nicht auch?“

Connor Baigents Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und das Blut darauf glitzerte im Kerzenschein. Es war noch frisch!

Oh, Scheiße!

Marks Blick huschte hinüber zu Sabrina, zu ihrem Unterarm, zu dem Blut ...

Ein Gedanke drängte sich Mark auf und ihm wurde ganz schlecht.



                                                                        I'm alive my friend

                                                                        I can feel the shadows everywhere

                                                                        I'm alive

                                                                        I left the shadows

                                                                        far behind me

                                                                        another one is waiting in the dark

(Blind Guardian, I’m alive)

2. Kapitel:

Oliver Fröhlich/Oliver Müller

Auf dunklen Pfaden


 


Er konnte ein Stöhnen hören, lang gezogen und von Schmerzen erfüllt. Es dauerte lange, bis Walter Krasser bemerkte, dass er selbst es ausgestoßen hatte. So hatte sich seine Stimme noch nie angehört, nicht einmal nach dem schlimmsten Rausch seines Lebens.

Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er um das Doppelte angeschwollen, sein Kinn stand in Flammen. Mit geschlossenen Augen tastete er danach.

Wassn los mit mir? Was is passiert? Warum lieg ich hier in der Gegend rum?

Da war sein Kumpel Geezer gewesen, der ihm einen Tipp gegeben hatte, wo er die Nacht verbringen konnte. Das wusste er noch. Und dann? Was war dann?

Wally schüttelte den Kopf, was der ihm mit pulsierenden Schmerzen dankte. Dennoch sickerte die Erinnerung in zähflüssigen Tropfen in seinen Verstand.

Er hatte sich im Wald verlaufen. Dann war da die Hütte gewesen, die Tür, die sich nicht öffnen ließ.

Tropf.

Aber es war jemand in der Hütte gewesen. Ein Mann!

Tropf.

Ja, ein Mann hatte ihm die Tür geöffnet. Und dann? Dann hatte er etwas auf Englisch zum ihm gesagt…

Tropf.

…und zwei lange Eckzähne entblößt.

Tropf!

Wally setzte sich auf. Ein Vampir! Meine Fresse, das war’n Vampir!

Wie von selbst zuckte seine rechte Hand hoch zum Hals. Tastete die linke Seite ab, dann die rechte. Doch da war nichts. Keine Wunde, keine kleinen Löcher. Keine Bisse.

Ein Lächeln huschte über Wallys geschwollenes Gesicht.

 Natürlich is da nix! Das is doch lächerlich! Vampire gibts nich! Andererseits täts aber erklären, warum der Kerl im Winter nur so’n dünnes Stoffhöschen und n Hemd getragen hat, ohne zu erfrieren.

Jetzt erst öffnete Wally die Augen. Viel sehen konnte er trotzdem nicht. Er saß im Dunkeln.

So ne Kacke! Wo bin ich?

Wally rappelte sich auf, machte zwei, drei Schritte wie ein neugeborenes Kalb und ging dann mit ausgestreckten Armen vorwärts. Nach nicht einmal zwei Schritten stieß er mit der Hand gegen eine Flasche oder ein Glas. Gleich darauf hallte ein Klirren durch die Dunkelheit. Das scharfe Aroma von Alkohol fuhr Wally in die Nase.

Mist! So’ne Verschwendung!

Er tastete sich nach links, strich mit den Fingern über weitere Flaschen, die diesmal alle heil blieben, und erreichte endlich eine Wand. Und nach nicht einmal zwei Sekunden stieß er auf das, wonach er gesucht hatte: einen Lichtschalter.

Er drückte ihn und eine Reihe von Neonröhren erwachte zum Leben.

Wallys Kinnlade sackte nach unten und bot einen Panoramablick auf seine dezimierte Zahnpracht.

Wie komm ich’n ausgerechnet hier her?

Er stand an einem Ort, den er nur zu gut kannte. Vor ein paar Stunden (oder wie lange auch immer es her sein mochte) hatte er hier eine Weinbrand-Flasche geklaut! Das hier war der Verkaufsraum des einzigen Kiosks in Ehernau.

Bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, welches gütige Schicksal ihn inmitten von Spirituosen hatte erwachen lassen, entdeckte er an seinem rechten Handgelenk einen Verband.

Was war das denn jetzt wieder? Wer hatte ihm den Stoff um das Handgelenk gebunden? Und warum? Wally schabte sich übers Kinn und hätte fast aufgejault, als er dadurch die Schmerzen zu einer neuerlichen Attacke anstachelte.

Der Vampir!, zuckte es ihm durch den Kopf.

Das hatten wir doch schon! So was wie Vampire gibt’s nich!

Komischerweise glaubte er sich selbst kein Wort.

Er wickelte den Verband ab ‑ und entdeckte am Handgelenk zwei lange, frische Schnitte, zum Glück mit ausreichendem Sicherheitsabstand zur Schlagader.

Also doch ein Vampir! Aber was issn das für einer, der einen nich beißt, sondern…. na ja, der sein Getränk zapft wie von ‚nem Bierfass? Und der einen anschließend verbindet und an ‚nen warmen Ort schafft? Ein Vampir mit Zahnschmerzen und ‚nem guten Herzen?

Und plötzlich brach es aus ihm hervor. Er hätte nicht sagen können, warum, aber er musste einfach kichern. Aber es war ein Kichern, das einem Zuhörer einen Schauer über den Rücken gejagt hätte. So lachten Wahnsinnige und Geisteskranke, aber keine normalen Menschen. Das Kichern steigerte sich zu einem hysterischen Lachen, das durch den Raum dröhnte.

Da öffnete sich die Hintertür des Kiosks und zwischen zwei Regalen mit Chio-Chips und Twix-Riegeln stand plötzlich ein bulliger Kerl.

Wallys Lachen verkümmerte zu einem Krächzen und brach schließlich ganz ab.

„Hallo, Ronny“, sprach Wally den Besitzer des Kiosks an.

„Walter?“ Er verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust. „Das ist ja ein starkes Stück! Reicht es dir nicht, mich tagsüber zu beklauen?“

„Ich… äh… du…?“

„Denkst du etwa, ich hätte das nicht bemerkt? Aber musst du jetzt auch noch nachts hier einbrechen?“

„Ich bin hier nich eingebrochen, Ronny. Ehrlich! Das… na ja, das muss dieser Vampir gewesen sein. Der hat mich hergebracht! Ganz echt!“

„Sicher, Walter, sicher. So wird es gewesen sein. Am besten erzählst du das auch Polizei!“

Dann ging Ronny zum Telefon und wählte die 110. Keine Sekunde ließ er Wally aus den Augen.

Der ließ sich an der Wand nach unten gleiten. Es war ihm egal, dass ihn die Polizei wegen eines Einbruchs verhaften würde. „Im Gefängnis isses wenigstens warm. Und dort gibt’s keine Vampire“, kicherte er. Dann griff er nach einer Flasche Wodka, nahm einen tiefen Schluck und harrte der Dinge.

 

***

 

Die beiden jetzt so ungleichen Männer sahen sich an, die Blicke ruhig und abwartend. Vor gar nicht langer Zeit wären sie sich beide noch sehr ähnlich gewesen, doch ohne die Vorfälle, die Connor Baigent zu dem gemacht hatten, was er nun war, wäre auch Mark Larsen nie zu dem geworden, was er jetzt war.

Der ehemalige Hüter und Beschützer Christines und sein Nachfolger zusammen in einem Raum! Ein Unding, denn normalerweise gab es immer nur dann einen neuen Hüter, wenn der alte das Zeitliche gesegnet hatte.

Auf eine gewisse Art und Weise stimmte das ja auch. Connor Baigent lebte nicht mehr wirklich, er war ein Vampir. Sein Blick flackerte hinüber zu Sabrina. Auch sie saß gefesselt auf einem Stuhl ‑ und von ihrem Unterarm tropfte Blut!

Mark sah wieder zu Connor Baigent. Er mochte etwa fünfzig sein. Seine ergrauten Haare fielen bis fast auf die Schultern. Und dann wanderte Marks Blick weiter zu Baigents blutverschmierten Lippen und Zähnen.

„Genug gemustert?“, fragte der ehemalige Hüter.

Mark räusperte sich. Er musste zweimal ansetzen, bevor er etwas sagen konnte. Doch als die ersten Töne über seine Lippen drangen und er den Entführer ansprach, war seine Stimme eiskalt.

„Wenn du Bastard sie gebissen hast…“

Bevor Connor antwortete, huschte seine Zunge über die blutig glänzenden Lippen. „Was dann? Nichts kannst du tun, gar nichts. Du sitzt gefesselt vor mir, bist mir ausgeliefert.“ Er lächelte Mark an.

Wieder fuhr die Zunge zwischen den Lippen hervor, um auch noch die letzten Tropfen genießen zu können. Mark kam es beinahe vor wie das Züngeln einer Schlange, denn genauso gefährlich war der Blutsauger vor ihm auch.

„Aber es zeigt mir doch, dass der Orden eine gute Wahl getroffen hat. Ein junger Mann, zu allem bereit und…“

„Hast du sie gebissen?“ Diesmal war die Frage schon mehr ein Schrei und Mark keuchte die Luft heraus.

Der Vampir musste nicht mehr atmen, legte aber dennoch eine Kunstpause ein, als müsse er Luft holen. Diese kurze Pause reichte aus, um Marks und noch mehr Sabrinas Nerven zum Zerreißen anzuspannen.

„Das Blut war äußert schmackhaft. Der Lebenssaft einer jungen Frau ist eben etwas ganz Besonderes.“

Sabrina schloss die Augen, Wut und Angst verzerrten ihr Gesicht. Aber sie wollte Klarheit haben.

„Hast du… hast du mich…“

Sie schaffte es nicht, die Frage komplett auszusprechen.

Wieder diese Pause, diese Stille, die so absolut war. Dann die Antwort. „Nein, ich habe dich nicht gebissen.“

„Und das sollen wir dir jetzt glauben?“, sagte Mark.

„Es wird euch gar nichts anderes übrig bleiben.“

„Was ist nur aus dir geworden, Connor Baigent? Du warst einmal der Hüter, Teil des Ordens.“

Der ehemalige Hüter holte sich aus einer Ecke der Hütte einen Stuhl und setzte sich in die Nähe seiner beiden Gefangenen.

„Was aus mir geworden ist? Das will ich euch gerne sagen. Genau zu diesem Zweck habe ich euch… nun ja, zu mir eingeladen.“

 

***

 

Mai 2006

Connor lag auf dem Bett und starrte zur Decke. Das Flackern der defekten „Witch-Stone-Motel“-Leuchtreklame nahm er schon seit Stunden nicht mehr wahr, obwohl es sein Zimmer immer wieder in blutiges Rot tauchte.

Sein Zimmer!

Connor lachte auf. Das hier war genauso wenig sein Zimmer, wie das, was er führte, sein Leben war. Wenn man bei dem, was ein Untoter führte, überhaupt von einem Leben sprechen konnte.

Jeder Schriftsteller hätte seine Freude an ihm gehabt, einem Vampir, der mit einem Fahrrad und einer Aktentasche voller Geld durch England irrte. Na ja, zumindest das Fahrrad hatte er nach drei oder vier Nächten stehen lassen. Da er versuchte, einen Weg durch die Wälder zu nehmen, wann immer es möglich war, war ihm das Gefährt auf der Flucht vor den Vampiren einfach zu hinderlich geworden.

Elena Tepescu hatte sicher getobt, als sie feststellen musste, dass er trotz ihres Blutkusses nicht zu ihrem Diener geworden war. Seine Hand glitt zur Hemdtasche und fühlte durch den Stoff das kleine Leinenkissen. Diesem unscheinbaren Ding war es zu verdanken, dass er trotz seines Daseins als Kreatur der Nacht nicht auch auf die Seite der Nacht gewechselt war.

Dieses Kleinod des Ordens hatte ihn zu einem Wanderer zwischen den Fronten gemacht. Denn er war nicht nur auf der Flucht vor Elena Tepescu und ihren Schergen, sondern auch auf der Flucht vor dem Orden. Sicherlich würde der Connor sofort vernichten, wenn er ihn in die Finger bekäme.

Und er war auf der Flucht vor dem Sonnenlicht. Vor dem Blutdurst, den ihm auch das Leinenkissen nicht nehmen konnte. Und auf der Flucht vor seinen Erinnerungen.

Doch wohin er auch ging, wo er auch unterkroch, die Erinnerungen holten ihn immer wieder ein. Obwohl nun schon Wochen vergangen waren, sah er immer wieder die gleichen Bilder vor sich.

Der Überfall auf das Herrenhaus. James und Christine, die er weggeschickt hatte, um ihnen die Zeit zur Flucht zur verschaffen. Das war sein vorletzter Dienst im Namen des Ordens gewesen. Sein letzter war der Kampf gegen die Vampire, die in das Herrenhaus eingedrungen waren.

Natürlich hatte er keine wirkliche Chance gegen diese Übermacht, aber er vernichtete noch eine ganze Reihe ihrer blutgierigen Vasallen. Doch irgendwann lag er am Boden und Elena saugte ihm das Blut aus. Und dann ließ sie ihn einfach liegen und machte sich weiter auf die Suche nach dem Schatz. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell wieder zu sich kommen würde. Und womit sie vor allem nicht gerechnet hatte: Er stand nicht unter ihrem Bann. Er schlich nach oben und stopfte so viel Bargeld in eine Aktentasche, wie er finden konnte. Als ein paar Vampire zurückkamen, um ihn zu suchen, vernichtete er sie. Ein Vampir, der andere Vampire tötete! Dann floh er. Mit einem Fahrrad!

Er konnte noch sehen wie die Vampire das Haus niederbrannten, das für so lange Zeit das Versteck des Schatzes gewesen war.<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]-->

Sein erstes Ziel war eine Jagdhütte, die dem Orden gehörte. Doch nach einer Nacht wurde er unruhig. Er brauchte Blut! Und er wusste, dass er hier nicht sicher war.

Natürlich war die Hütte ein gutes Versteck vor dem Tageslicht, aber für den Orden saß er hier wie auf dem Präsentierteller. Deshalb wartete er nur den Untergang der Sonne ab und wanderte weiter. Er wusste, dass er immer nur wenige Stunden hatte, um weiter zu kommen, während ihn der Orden Tag und Nacht jagen würde. Vielleicht hielt der Orden ihn ja auch für tot und verfolgte ihn nicht, aber darauf verlassen wollte Connor sich nicht.

Und dann war da noch der Blutdurst. Zum Glück traf er bereits in der zweiten Nacht einen Jogger. Sein Hunger hätte ihn sonst in den Wahnsinn getrieben. Also schlug er ihn nieder und zog ihn in eine stille Ecke. Dort krempelte er ihm den Ärmel hoch und schnitt ihm tief in den Arm. Dann trank er sein Blut. Er hielt sich den verletzten Arm über den Mund und ließ das Blut hineintropfen. Es war mühsam, sehr mühsam hiervon satt zu werden. Aber er wollte es einfach nicht riskieren, die Wunde mit seinen Lippen zu berühren und den Jogger womöglich mit dem Vampirkeim anzustecken.

Der Geschmack des frischen Blutes war unglaublich, gab ihm nie geahnte Kräfte. Und stillte ein Verlangen, das so stark war, wie er es sich als Mensch nie hätte vorstellen können. Noch nie hatte er solch eine Gier gekannt. Eine Gier, die immer wieder kam.

Nacht für Nacht hatte ihn nach Blut gedürstet. Er hatte versucht zu widerstehen, doch nach zwei, spätestens drei Nächten hatte er wieder jemanden überfallen und ihm das Blut stehlen müssen. Wieder und wieder und wieder.

Connor seufzte und drehte sich zur Seite. Die Bettfedern quiekten, doch das nahm er ebenso wenig wahr wie das Flackern der Leuchtreklame.

Witch-Stone-Motel! Was für ein hochtrabender Name für ein so armseliges Etablissement. Und der größte Witz war, dass die Hexensteine, denen das Motel seinen Namen verdankte, nicht einmal in der Nähe waren. Das quietschbunte Prospekt am Empfang wusste zu berichten, dass man nach nicht einmal einer Stunde Autofahrt die berühmten Steine erreichen würde.

Sie waren so berühmt, dass Connor noch nie von ihnen gehört hatte! Wahrscheinlich waren sie nur ein Stonehenge für Arme und hatten mit einer Sehenswürdigkeit so viel zu tun wie dieses Motel mit Gemütlichkeit. Charlotte hätte die Steine vielleicht, er nicht. Charlotte hatte von allem irgendwie schon einmal gehört. Früher, als sie noch…

Connor fuhr aus dem Bett hoch und stemmte die Hände in die Hüften. Nicht schon wieder an Charlotte denken! Er hatte genug Erinnerungen, mit denen er fertig werden musste. Da konnten ihm die an Charlotte und den Froschfresser gestohlen bleiben.

Er ging zum Fenster und sah hinaus. Die Vorhänge hatte er aufgezogen, kaum dass die Sonne untergegangen war. Vor zwei Stunden dürfte das gewesen sein. Er konnte es nicht ertragen, Tag und Nacht hinter geschlossenen Vorhängen zu existieren. Und da es tagsüber gar nicht anders ging, wollte er sie wenigstens nachts offen haben.

Draußen war niemand zu sehen. Das war gut so, denn so konnte auch ihn niemand sehen.

Es wurde Zeit für ihn, die Zelte hier abzubrechen. Die letzten drei Tage an einem Ort zu bleiben, war riskant genug gewesen. Jetzt musste er weiter. Er schnappte sich die Aktentasche mit dem Geld, ging zur Tür, öffnete sie und schlich hinaus in die Nacht. Er hatte wieder Durst…

 

***

 

Casey Sittler saß am Lagerfeuer und starrte in die Flammen. Zum ungefähr 498. Mal fragte er sich, was er hier eigentlich tat. Er schob den weiten Ärmel seiner weißen Kutte zurück und sah auf die Armbanduhr. Die Leuchtziffern behaupteten, dass es 4:09 Uhr sei.

Casey seufzte. Für Mai war es eine lausig kalte Nacht. Und während das Lagerfeuer dafür sorgte, dass er vorne schwitzte, klapperte hinten der Arsch mit den Zähnen. Das heißt, er hätte mit den Zähnen geklappert, wenn er nicht schon total lahm und gefühllos gewesen wäre. Vermutlich war er schon mit dem Baumstamm verwachsen, auf dem er seit einer halben Stunde thronte.

Erst eine halbe Stunde! Casey kam es vor wie eine Woche! Wann würde Richard nur mit seiner dämlichen Zeremonie anfangen? Casey wollte endlich in sein Bett und nicht auf die Rückkehr eines uralten…

„Was ist los mit dir?“, riss ihn eine Stimme aus den Gedanken.

Casey drehte den Kopf nach links, doch die Kapuze seiner albernen Kutte nahm ihm die Sicht. Also klappte er das Ding zurück.

„Was soll los sein, Ralph?“, fragte er, als er seinen Bruder erkannte.

„Du hast jetzt zum was-weiß-ich-wievielten-Mal auf die Uhr geschaut. Sei doch nicht so ungeduldig!“

„Ich bin nicht ungeduldig.“

„Was ist es dann? Freu dich doch, dass du Zeuge eines  einmaligen Ereignisses werden darfst.“

„Ich freu mich ja“, leierte Casey.

„Das merkt man! Was soll Vosenius denn von dir denken, wenn er von den Göttern zurückkehrt und dein langes Gesicht sieht?“

„Jetzt hör bloß auf! Du wirst doch diesen Scheiß nicht glauben, den Richard dauernd erzählt! Es ist doch total bescheuert, in einer affigen Ku-Klux-Klan-Verkleidung hier zu hocken und darauf zu warten, dass ein zweitausend Jahre alter Keltenhäuptling durch diese Steine da tritt.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er hinüber zu den Witch Stones.

Ralph zuckte zurück. „Was soll das denn nun wieder? Wie kannst du es wagen, so über unseren Meister zu sprechen? Hast du vergessen, was du ihm alles zu verdanken hast?“

„Nein.“

„Hast du vergessen, dass es Richard war, der dir eine neue Heimat gegeben hat? Der dich so akzeptiert hat, wie du bist? Der dich gegen alle Anfeindungen verteidigt hat?“

Casey schüttelte den Kopf.

„Also, wie kommst du dazu, so über unseren Meister zu sprechen?“

Über das Feuer hinweg sah Casey hinüber zu Richard Moore, dem Meister, wie alle von Vosenius’ Kindern ihn nannten. Er redete gerade auf ein anderes Mitglied der Gruppe ein, das Casey wegen der hochgeklappten Kapuze nicht erkennen konnte. Doch dass der Angesprochene den Blick nach unten gerichtet hatte und den Boden anstarrte, das konnte Casey sogar trotz der Kapuze erkennen.

Sollte Casey Sittler seinen Bruder daran erinnern, wie Richard Moore einem sechsjährigen Mädchen auf der Straße einen Zahn ausgeschlagen hatte, nur weil es über die weißen Kutten gekichert hatte? Sollte er Ralph daran erinnern, wie der verehrte Meister einem seiner Jünger den Zeigefinger gebrochen hatte, weil der es gewagt hatte, bei einer von Richards Predigten in der Nase zu bohren?

Er sah Ralph in die Augen, entdeckte das Funkeln darin, das immer einsetzte, wenn der Name Vosenius fiel. Nein, es brachte nichts, mit seinem Bruder darüber zu diskutieren. Der war von diesem Wahn schon genauso besessen wie Richard Moore. Casey würde nur seinen eigenen Rauswurf damit provozieren. Und das auch nur, wenn Richard gute Laune hatte. Aber Richard hatte selten gute Laune!

Casey klappte seine Kapuze wieder hoch und starrte in die Flammen.

„Du hast Recht“, murmelte er schließlich. „War blöd von mir. Bin wahrscheinlich übermüdet. Klar freu ich mich, bei… bei Vosenius’ Rückkehr dabei sein zu dürfen.“

Ralph lachte auf und boxte seinem Bruder gegen den Oberarm. „Na, siehst du? So ist es richtig! Und keine Bange, es dauert sicher nicht mehr lange, bis sich das Tor öffnet. Richard wird bald mit der Zeremonie beginnen.“ Dann stand er auf und verschwand in der Dunkelheit.

„Na sicher wird sich das Tor bald öffnen.“ Casey verdrehte die Augen, was er aber nur wagte, weil es unter der Kapuze niemand sehen konnte.

Was war nur aus Ralph geworden? Wie konnte er nur blind diesem Wahnsinnigen nachlaufen?

Casey presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Vielleicht sollte er lieber vor seiner eigenen Tür kehren. Schließlich rannte auch er diesem Wahnsinnigen nach, wenn auch nicht blind. Wie oft hatte er die Gruppe schon verlassen wollen? Wie oft hatte ihm dann doch immer der Mumm dazu gefehlt? Außerdem musste er auf seinen großen Bruder aufpassen, so wie der früher auf ihn aufgepasst hatte.

Die Sittler-Brüder hatten eine behütete Kindheit gehabt. Zumindest bis Casey elf Jahre alt war. Doch dann fiel ihre Mutter einem Vergewaltiger zum Opfer, der sie eine Woche lang gefangen hielt, bevor er gefasst werden konnte. Vorher war Kate Sittler eine lebenslustige Frau gewesen, doch nach ihrem Martyrium fiel sie in ein Loch, aus dem sie nie wieder herausstieg. Sie verlor jeden Lebensmut, wurde apathisch und starrte in die Gegend. Sie erkannte weder ihren Mann noch ihre zwei Söhne. Nur noch einmal konnte sie sich dazu aufraffen, selbständig etwas zu tun: Ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung stürzte sie sich aus einem Fenster im fünften Stock der Klinik, in der sie behandelt wurde. Sie beendete ihr Leben mit einem splitternden Knall auf der demolierten Kühlerhaube eines Ford Escort. Ihr Krankenhaushemd war bis über die nackten Brüste gerutscht, die Beine hingen links und rechts von der Motorhaube herunter und schienen eine obszöne Offenheit zu signalisieren, die die schüchterne Kate zu Lebzeiten nie gehabt hatte.

Casey war inzwischen zwölf, Ralph fünfzehn Jahre alt. Zwei Wochen nach dem Tod ihrer Mutter verloren sie auch noch den Vater. Der suchte in einem Pub in unzähligen Ale-Krügen Trost, konnte ihn aber wohl in keinem finden. Als er nach Hause torkelte, war er so betrunken, dass er es für eine gute Idee hielt, die Abkürzung über das Bahngelände zu nehmen. Auf einem der Gleise stolperte er, schlug sich den Kopf an und wurde bewusstlos. Drei Minuten später überrollte ihn ein Nahverkehrszug.

Also wuchsen Ralph und Casey bei Tante Marge auf, der Schwester ihrer Mutter, einer verhärmten Frau, die nichts mehr vom Leben erwartete. Fast sechzehn Stunden täglich rackerte sie sich mit zwei Putzstellen ab, um genug Geld für die Alkoholsucht ihres Göttergatten Fred heranzuschaffen. Marge hatte keine Zeit, sich um die Jungs zu kümmern, und Fred hatte kein Interesse. Und falls er doch einmal welches hatte, war es aus dem Alkohol geboren und beschränkte sich darauf, Casey zu verprügeln.

Es war die Hölle für den Jungen. Doch nicht nur zu Hause wurde er als das perfekte Opfer angesehen. Auch die Straßenkinder setzten ihm zu, schubsten ihn herum, verprügelten ihn einfach nur deshalb, weil er mit seinem weichen Gesicht dazu einlud, fragten ihn, ob seine Mutter schon wieder mal die Beine für einen Kerl auf einer Motorhaube gespreizt habe, oder sangen: „Casey Sittler’s stupid Dad is much too drunk to sleep in bed.“

Zuerst bemerkte Ralph nichts vom Leid seines Bruders. Er war drei Jahre älter als Casey und hatte sich inzwischen seinen eigenen Freundeskreis aufgebaut. Doch eines Tages kam er zufällig an dem Bolzplatz vorbei, auf dem Casey gerade von drei anderen Jungs vermöbelt wurde. Ralph hatte im Supermarkt gerade ein paar Flaschen Bier für seine Kumpels geklaut und war nun auf dem Weg zurück zu seiner Clique. Doch als er seinen Bruder sah, der auf dem Boden lag, aus Nase und Mund blutete, ließ er die Flaschen einfach fallen, und noch bevor sich die drei Prügler versahen, lag einer von ihnen mit einem gebrochenen Arm neben Casey im Gras und ein anderer hielt beide Hände vor seine zertrümmerte Nase. Der dritte floh in den Wald.

In diesem Augenblick wurde Ralph zu Caseys Schatten. Er ließ ihn keine Sekunde mehr aus den Augen und nahm ihn sogar mit zu seiner Clique. Dort lernte Casey dann Richard Moore kennen, den Anführer der Clique. Er erzählte ihm von der Tristesse, die jetzt sein Zuhause war. Er erzählte ihm von Onkel Fred und den Prügeln, die umso heftiger ausfielen, je grundloser sie waren.

Als er etwa zwei Wochen später einmal nach Hause kam, lag Onkel Fred in einer imposanten Lache aus Erbrochenem und Blut im Wohnzimmer. Einbrecher hatten ihm ein Ohr abgeschnitten, sieben Finger gebrochen und einige interessante Sachen mit seiner Männlichkeit angestellt. Ab diesem Tag erhob er nie wieder die Hand gegen Casey.

Erst Jahre später wurde Casey klar, dass das wohl Richard Moores Werk gewesen war. Aber sicher wusste er es bis heute nicht.

„Na, auch so gespannt auf den großen Moment wie ich?“, fragte eine Stimme.

Casey blickte auf. Neben ihm stand Peter Sanderson, ein Lächeln auf den schmalen Lippen.

„Klar!“, sagte Casey und hoffte, ausreichend Begeisterung geheuchelt zu haben.

Peter setzte sich neben ihn auf den Baumstamm. „Ich beobachte dich schon eine ganze Weile, Casey.“

„Ach ja?“

„Ja. Und ich glaube, dass wir von diesem… Zirkus hier das gleiche halten.“

„Wie meinst du das?“, fragte Casey. Er konnte einen lauernden Unterton nicht verhindern.

„Machen wir uns doch nichts vor! Das hier ist doch totale Kinderkacke!“

Casey schwieg.

„Glaubst du tatsächlich, dass sich nachher zwischen den Steinen ein Tor zu den Sternen oder zu den Göttern oder wohin auch immer öffnen wird?“

Casey starrte ins Feuer.

„Glaubst du daran?“, fragte Peter noch einmal.

„Nein“, hauchte Casey. „Nein, natürlich nicht.“

„Siehst du? Ich auch nicht!“ Er griff nach einem Ast, der im Gras lag, und stocherte damit im Feuer herum. „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, Richard hat in den letzten Jahren langsam aber sicher den Verstand verloren. Etwas merkwürdig war er ja schon immer, aber seit er auf diesen Unsinn mit dem Keltenhäuptling gestoßen ist, ist er völlig durchgeknallt.“

Casey wusste nicht, was er sagen sollte. Also sagte er nichts.

„Kann ich dir vertrauen?“, fragte Peter.

Casey zuckte mit den Schultern. „Klar kannst du mir vertrauen.“

„Dann verrat ich dir was: Wenn morgen alle aus der Gruppe festgestellt haben, dass zwischen den Steinen weder ein Außerirdischer, noch ein Keltenhäuptling aufgetaucht ist, werde ich dafür sorgen, dass Richard die Gruppe nicht weiter anführt. Er ist einfach nicht mehr zu ertragen in seinem Wahn!“

Casey starrte Peter an.

„Ich hoffe, ich kann auf dich zählen“, fuhr Peter fort.

Noch bevor Casey eine Antwort geben konnte, fegte eine laute Stimme über den Platz.

„Vosenius’ Kinder, erhebt euch!“, rief Richard Moore. Er hatte beide Arme erhoben. „Wir wollen mit der Zeremonie beginnen!“

 

***

 

Gegenwart

Marks Finger kribbelten und sein Steißbein schmerzte. Er versuchte, auf dem Stuhl ein wenig hin und her zu rücken, aber die Fesselung verhinderte selbst das.

„Ungemütlich?“, fragte Connor Baigent.

„Geht schon“, log Mark. Wieder wanderte sein Blick hinüber zu Sabrina blutendem Unterarm. Vielleicht hatte Baigent vorhin ja doch die Wahrheit gesagt. Vielleicht hatte er Sabrina ja tatsächlich nicht gebissen. Das hatte er mit seinen anderen Opfern ja auch nicht gemacht, zumindest so weit Mark es aus Baigents Erzählung bisher wusste.

„Wer war eigentlich Charlotte?“ Sabrinas Stimme klang zittrig und erschöpft.

„Was?“ Connors Kopf zuckte herum. Seine Augen bekamen den Blick eines geprügelten Hundes.

„Diese Charlotte, die du erwähnt hast. War sie deine Frau?“

Ein trauriges Lächeln huschte um Connor Baigents Lippen. „Du wühlst in ganz alten Wunden! Dennoch werde ich euch auch davon erzählen, denn es gehört zu meiner Geschichte dazu. Es ist nun schon über ein Vierteljahrhundert her, wenn ich bis zu den Anfängen zurückgehen will. Und das muss ich. Damals wusste ich noch nichts vom Orden, geschweige denn davon, dass ich einmal eine wichtige Rolle in ihm ausüben würde. Auch von dem Kampf, der unbemerkt und im Stillen tobt und der doch entscheidend für die ganze Welt ist, ahnte ich nichts. Ich war noch ein junger Kerl von 23 Jahren. Und das Einzige, was mich in diesen Tagen interessierte, war Charlotte. Charlotte Linlay, meine Verlobte.“

Connor stockte. Sein Blick wanderte von Sabrina zu Mark und zurück.

„Ich kann euch ansehen, dass ihr ein Pärchen seid. Genau wie wir damals. Wir waren glücklich, zumindest glaubte ich das bis zu dem Tag, an dem dieser… dieser Froschfresser in unser Leben trat.“

 

***

 

Vor 27 Jahren

Connor Baigent stieg die ausgetretenen Stufen zu dem Mietshaus hoch, in dem seine Wohnung lag. Der Arbeitstag war hart und stressig gewesen und hatte sich sogar in eine Arbeitsnacht verwandelt.

Connor war Jura-Student. Doch im Augenblick waren Semesterferien und deshalb leistete er ein Praktikum bei Stafflinger, Resnick & Partners ab. Auch wenn er dort nur die Ablage erledigen oder Schriftsätze auf Tippfehler durchlesen musste, spannten ihn seine Arbeitgeber gewaltig ein. Heute musste er Altakten von ihren Metallteilen befreien und dann in den Reißwolf werfen. Nach seinem Gefühl hatte er heute über einige Hunderttausend Blätter, Briefbögen, Eingaben, Widersprüche und ähnlichen Kram in der Hand gehabt. Er hätte nie geglaubt, dass es so lange dauert, Akten zu zerstören. Aber besser er gewöhnte sich jetzt schon an diese Arbeitszeiten, denn wenn er selbst erst einmal Anwalt wäre, wären die wahrscheinlich keine Seltenheit mehr.

Na ja, aber für heute hatte er es ja geschafft. Seit Stunden freute er sich darauf, sich erst unter einer heißen Dusche und danach in den Armen seiner Verlobten zu entspannen. Seit knapp einem Jahr war er nun mit Charlotte verlobt, zusammen waren sie schon seit über drei Jahren. Eine Beziehung, die bald durch die Geburt eines Kindes die absolute Krönung erhalten sollte.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und drückte die Haustür auf. Dann wandte er sich noch einmal um und betrachtete die nächtliche Straße. Sie war nahezu menschenleer. Kein Wunder um diese Zeit. Nur auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte der Lieferwagen eines Klempners. Wie Connor im Schein der Straßenlaternen erkennen konnte, saß hinter dem Steuer ein junger, blonder Mann mit zerfurchtem Gesicht.

Was macht der denn so spät noch hier?

Connor stutzte. Irgendwie kam ihm der Bursche bekannt vor. Hatte er den heute nicht schon einmal vor dem Stafflinger-Komplex gesehen? Er ging die Treppe wieder zwei Stufen hinunter, als der Kerl den Wagen anließ und davonfuhr.

Connor schüttelte den Kopf und kehrte um. Eigenartig! Wenn er irgendwas zu verbergen gehabt hätte, wäre er sich jetzt vielleicht beobachtet vorgekommen. Aber wer sollte ihn schon beschatten? Ihn, einen popeligen Jura-Studenten?

Er zuckte mit den Schultern und ging hinauf zur Wohnung im ersten Stock.

„Charlotte, ich bin wieder da. Entschuldige, dass es heute wieder so spät geworden ist.“

Er erhielt keine Antwort. Mit dem Absatz schob er die Tür zu und rief wieder nach seiner Freundin. „Charlotte? Wo bist du denn?“

Und wie zuvor erhielt er keine Antwort.

„Charlotte? Schatz? Bist du schon im Bett?“

Seine Schritte führten ihn ins Wohnzimmer. Und dort saß sie. Auf der vordersten Kante des Sessels, die Beine fest zusammengepresst, die Hände auf den nackten Knien. Sie wirkte, als wäre sie hier nur zu Besuch.

Der kurze schwarze Rock zeigte viel von ihren Beinen, um die sie viele Frauen beneideten. Das ebenfalls dunkle T-Shirt konnte den Babybauch nicht mehr ganz verdecken, immerhin war sie im siebten Monat. Abgerundet wurde das alles von einem ebenmäßigen Gesicht mit vollen roten Lippen unter der zarten Stupsnase, umrahmt von dunklem Haar. Zwei braune Augen sahen meistens lachend in die Welt hinein. Heute allerdings nicht. Heute blickte Charlotte verbissen und in sich gekehrt eher an Connor vorbei, als dass sie ihn wahrnahm.

Connors Blick fiel auf das schwarze Tuch, dass sich Charlotte um den Hals gebunden hatte.

„Liebes, was ist denn? Warum antwortest du nicht? Bist du krank?“

Immer noch konnte sich die junge Frau keine Antwort abringen. Connor spürte, wie seine Handflächen feucht wurden.

Etwas stimmte hier nicht!

Er setzte sich auf die Lehne des Sessels und wollte seine Hand auf den Bauch legen, unter dem sein Kind auf die Geburt wartete.

„Lass das!“

Die Stimme hatte so hart geklungen, dass Connor zusammenzuckte und sofort seine Hand zurückzog.

„Aber… aber, Liebling, ich wollte…“ Connor fand keine Worte, zu sehr hatte ihn dieser Befehl aus der Fassung gebracht.

Und endlich sah ihm Charlotte in die Augen. Doch ihr Blick war kalt und abschätzend. Genauso kalt wie ihre Stimme, die wie ein Messer in Connors Welt eindrang und sie förmlich zerfetzte. Connor fröstelte.

„Es ist vorbei!“

Er war nicht fähig zu antworten.

Vorbei? Hatte sie das gerade gesagt?

„Charlotte, was…?“, setzte er an.

„Versuch nicht, mit mir zu diskutieren. Meine Entscheidung steht fest.“

„Ich wollte doch gar nicht… Ich meine, warum…?“

„Ich liebe dich nicht mehr.“

Plötzlich war sein Kopf wie in Watte gepackt. Er hatte die Worte zwar gehört, aber er weigerte sich, sie bis zu seinem Verstand vordringen zu lassen.

Ich liebe dich nicht mehr.

Das konnte unmöglich wahr sein! Schließlich trug sie sein Kind unter ihrem Herzen. Nein, nicht sein Kind. Ihr gemeinsames Kind!

„Es ist vorbei“, sagte sie noch einmal, stand auf, ging zwei Schritte und blieb mitten im Wohnzimmer stehen.

Wie betäubt nahm er den Satz wahr, der immer und immer wieder in seinem Kopf aufklang und ihn wie Peitschenhiebe quälte.

Vorbei! Vorbei! Vorbei!

Er konnte nicht sagen, wie lange er Charlotte angestarrt hatte. Es mochten Sekunden vergangen sein, vielleicht aber auch Minuten oder Jahre. Zwei Geräusche aus der wirklichen Welt erklangen und es schien ihm, als wäre das etwas, woran er sich festhalten konnte. Zum einem schlug die große alte Standuhr zehn Mal, zum anderen erfüllte das Schellen der Türklingel den Raum.

„Ich mach schon auf“, sagte er, als ob es ihm dadurch gelänge, die Normalität zu wahren.

Wie unter Hypnose schlurfte er aus dem Wohnzimmer, schleppte sich zur Tür und öffnete sie.

Vor ihm stand ein Mann in einer dunklen Jeans und einem in Farbe und Stoff passenden Hemd. Noch bevor Connor etwas sagen konnte, ging der Mann an ihm vorbei.

„Ist Charlotte da?“, sagte er mit einem typischen Akzent.

Franzose!, fiel es Connor sofort auf.

Eine Antwort wartete der Mann gar nicht ab, sondern ging ohne Umwege ins Wohnzimmer.

Warum kennt der sich hier aus?

Connor schloss die Tür und ging dem Mann nach. Und kam gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie Charlotte und der Mann sich küssten! Dabei ließ der Franzose seine Hände in einer Art über ihren Körper wandern, die selbst er sich nicht einfach so getraut hätte. Überall fasste er sie an, während er ihr die Zunge tief in den Mund schob.

Connor wollte die Augen schließen, doch er konnte es nicht. Und ließ so den Tränen freien Lauf, die einfach aus ihm herausrannen, ohne dass er es überhaupt bemerkte.

Nach einer endlos langen Zeitspanne trennten sich Charlotte und der ihm bisher unbekannte Mann endlich. Beide sahen ihn an. Der Franzose mit einem süffisanten Lächeln, das nur Sieger tragen können. Und Charlotte, seine Charlotte, mit unverhohlener Verachtung.

„Connor, das ist Pascal Tureille.“

Den Namen hatte er noch nie gehört. Aber er wusste, dass er ihn nie wieder vergessen würde.

„Was soll das alles?“, schaffte er es endlich eine Frage zu stellen.

Charlotte lachte auf.

„Was das soll? Nun, ich dachte du willst vielleicht den Mann kennen lernen, der nun an meiner Seite ist. Dich brauche ich nicht mehr!“

„Aber… unser Kind…“

„Es ist mein Kind! Wage ja nie wieder, es dein Kind zu nennen! Hörst du?“

Hätte ihm gestern jemand erzählt, dass eine Stimme soviel Hass enthalten könne, hätte er darüber nur den Kopf geschüttelt. Jetzt konnte er den Hass nahe zu körperlich spüren.

„Nun, Connor, willst du noch was zum Abschied sagen? Wenn nicht, ich schon. Es ist nur ein kleiner Rat, aber du solltest ihn besser befolgen: Versuche niemals, mich zu finden! Vergessen wirst du mich eh nicht können.“

Ein gemeines Lachen beendete ihren Rat, dann gingen sie los. Und ließen ihn einfach in seiner Wohnung stehen. Zusammen mit den Scherben seines Lebens, die er wohl nie wieder würde zusammenkleben können. Denn Charlotte hatte Recht mit ihrem letzten Satz. Er würde sie nie vergessen können. Das Zuschlagen der Wohnungstür war wie der Schlussstrich unter eine Tragödie, die er gar nicht richtig begriffen hatte. Zu schnell war alles gegangen, es hatte überhaupt keine Anzeichen gegeben dafür. Er ließ sich zu Boden sinken und weinte, wie er seit Jahren nicht mehr geweint hatte.

Irgendwann griff er zum Whisky in der Bar. Ein Glas brauchte er nicht, er trank direkt aus der Flasche. Und er trank, wie er noch nie in seinem Leben getrunken hatte. Um zu vergessen. Doch mehr als ein Verdrängen wurde es nicht. Nicht mal, als er im Vollrausch einschlief, fand er Ruhe. Denn in seinen Träumen wurde er weiter gequält. Von Charlottes hämischem Grinsen, der lächelnden Fratze dieses arroganten Froschfressers ‑ und von dem Halstuch, das Charlotte getragen hatte.

 

***

 

Es war nun schon mehr als drei Wochen her, dass Charlotte ihn verlassen hatte. Oder war schon über ein Monat vergangen? Connor warf einen Blick auf den Kalender, aber gleichzeitig war er sich nicht sicher ob er überhaupt noch Blätter davon abgerissen hatte.

Ist ja auch scheißegal! Sie ist weg, einfach weg… ist doch egal seit wann… Und wenn es mich wirklich interessiert, brauche ich ja nur in den Kündigungspapieren von Stafflinger nachschauen!

In den Tagen nach der Trennung hatte er seine Wohnung nur noch verlassen, um seine Vorräte an teurem Whiskey und billigem Wein aufzufüllen. Im Büro meldete er sich krank. Als er dann nach durchzechtem Wochenende die Kanzlei wieder betat, kassierte er eine Ermahnung wegen Trunkenheit. Am Dienstag folgte eine Verwarnung und am Mittwoch die Kündigung.

Das hatte seine Talfahrt nur noch beschleunigt, die letzten sozialen Kontakte zu seinen Kollegen waren abgebrochen worden. Nicht einer hatte sich mehr nach ihm erkundigt.

Connor quälte sich aus dem Bett und ging ins Bad. Der Blick in den Spiegel hätte ihn eigentlich wach rütteln müssen, denn das Gesicht, das ihn aus leeren Augen anstarrte, war unrasiert und hätte auch einem Penner gehören können.

Was für ein Tag war heute eigentlich? Freitag? Endlich Wochenende, dachte Connor und musste über seinen eigenen blöden Gedanken grinsen.

Zeit, um raus zu gehen und ein paar Bierchen zu trinken.

Connor zog von Kneipe zu Kneipe und trank, bis man ihn rauswarf. Gegen fünf Uhr morgens, nachdem er herzlich an eine Hauswand gekotzt hatte, beschloss er, für heute Schluss zu machen.

Er hatte Glück heute, ein paar Münzen und ein kleinerer Schein waren noch in seiner Geldbörse, so dass er sich ein Taxi leisten konnte. In seinem Zustand dauerte es sonst wieder eine Ewigkeit, bis er zu Hause ankam.

Ein Taxistand war in der Nähe, er wankte zum ersten Wagen hin und zog die Tür auf.

Der Taxifahrer war in die Lektüre eines Groschenromans vertieft, so dass er leicht aufschrak, als Connor sich in den Wagen fallen ließ. Es verschlug ihm fast den Atem, denn sein neuer Fahrgast brachte eine Alkoholfahne mit in den Wagen, die sich gewaschen hatte. Und auch sonst roch er nicht mehr ganz so frisch. Aber die Höflichkeit des schon älteren Mannes siegte dann doch.

„Wohin soll es denn gehen?“

„Nach Hause.“

„Und wo wohnen Sie?“

„Erster Stock, ist ganz nett die Bude. Nur so traurig leer“, sagte Connor, als wäre damit alles erklärt.

Der Fahrer seufzte. Aus diesem Mann war kein vernünftiger Satz herauszubekommen. Aber er hatte schließlich jahrelange Berufserfahrung, auch mit Betrunkenen.

„Zeigen Sie mir mal ihre Brieftasche.“

„Ich hab genug Geld, verdammt noch mal!“, brauste Connor auf.

„Ja, das glaube ich Ihnen schon. Aber ich will mir ihre Adresse raussuchen, damit wir losfahren können.“

„Sag das doch gleich, alter Freund.“

Connor warf dem Mann seine Brieftasche rüber, die der Fahrer öffnete. Vom Ausweis las er die Adresse ab.

„Alles klar, dann kann es ja losgehen.“

Er stecke den Ausweis zurück und gab die Brieftasche zurück an Connor. Dann fuhr er los. Er fuhr sehr langsam an, denn er hatte keine Lust, dass ihm dieser Besoffene den Wagen voll kotzte.

Die Fahrt dauerte einige Minuten, während denen Connor aus dem Fenster blickte. Es waren kaum Menschen unterwegs um diese Uhrzeit, deshalb fielen ihm das Pärchen auch sofort auf, das auf dem Bürgersteig lief. Die beiden bewegten sich schnell, als müssten sie zu einer Verabredung noch unbedingt pünktlich kommen.

Das ist doch…

Nein, niemals! Das kann sie nicht…

Und wenn sie es doch…

Viele unvollendete Gedanken jagten ihm durch den Kopf und er starrte jetzt förmlich zu dem Pärchen hinüber.

„Hupen Sie.“

„Bitte?“, fragte der Fahrer etwas begriffsstutzig.

„Sie sollen hupen, verdammt noch mal!“

„Um diese Uhrzeit? Warum denn?“

Connor hatte keine Lust mehr auf eine Debatte. Er ließ sich tief in den Sitz sinken und drückte gleichzeitig auf die Hupe. Dabei sah er weiter aus dem Fenster. Und genau das, was er geplant hatte, geschah. Der Mann und die Frau wandten ihre Gesichter dem Wagen zu.

Charlotte! Sie ist es tatsächlich!

Aber wie sah sie aus? So bleich war sie noch nie in ihrem Leben gewesen.

„Los, geben Sie Gas! In die nächste Seitenstraße.“

Der Fahrer folgte der Anweisung nun ohne zu zögern. Wahrscheinlich wollte er diesen Spinner so schnell wie möglich loswerden. Als er hielt, zahlte Connor ohne ein Wort zu verlieren und verließ den Wagen. Er kannte nur ein Ziel, seine Charlotte. Selbst wenn er sie nicht zurückbekommen konnte, diesem Typen würde er eine  Abreibung verpassen.

Den Schutz der Dunkelheit und Hausecken nutzend schlich er sich wieder an die Hauptstraße. Charlotte und der Mann, er vermutete, dass es dieser Froschfresser Tureille war, waren an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn zu entdecken. Connor ließ ihnen einige Meter Vorsprung, dann folgte er ihnen. Nach zehn Minuten Fußweg erreichten sie ein kleines Haus. Er wartete noch einige Minuten, dann schlich er ihnen nach. Die Büsche im Vorgarten gaben ihm ausreichend Deckung.

Als er die Hauswand erreichte, presste er sich fest dagegen. Hatte ihn jemand entdeckt? Er warf einen Blick zur Straße hin. Nein, von dort konnte man ihn nicht sehen. Zentimeter für Zentimeter schob er sich näher an das Fenster zu seiner rechten Seite. Dann blieb er stehen und lauschte. Doch es war nichts zu hören.

Aus dem Fenster fiel Licht, während es sonst im Haus dunkel war. Er ging in die Hocke und robbte direkt unter das Fenster. Ein Glück, dass es im Erdgeschoss war, und er nicht versuchen musste, in das Haus einzubrechen.

Langsam hob er den Kopf und blickte hinein. Der Schreck ließ ihn zusammenfahren.

Ein junges Mädchen saß nackt auf einem Stuhl, die Arme hinter der Lehne gefesselt. Pascal Tureille, er konnte ihn nun deutlich erkennen, stand im Zimmer. Nur wenige Schritte neben ihm Charlotte. Sie grinste diabolisch. Dann sagte sie etwas zu Pascal, das er nicht verstehen konnte. Der schien aufzulachen und zeigte dann gönnerhaft auf das Mädchen.

Nun setzte sich Charlotte in Bewegung, überwand die wenigen Schritte sehr schnell und packte brutal zu. Sie drehte den Kopf des armen Opfers beiseite und legte so die Halsschlagader frei. Ihre Lippen öffneten sich und entblößten zwei lange, spitze Augenzähne. Kurz verharrte sie in dieser Stellung, als wolle sie Connor die Gelegenheit geben, jedes noch so kleine Detail in sich aufsaugen zu können. Dann biss sie zu!

Blut spritzte auf, da sie nicht alles mit ihrem Mund auffangen konnte.

Jetzt konnte Connor einen Schrei nicht mehr unterdrücken.

„Neeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiin!“

Gleichzeitig sprang er auf und schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe.

Pascals Kopf zuckte herum und auch Charlotte ließ von ihrem Opfer ab.

„Connor!“, schrie sie.

Trotz seines Vollrausches überwand er seinen Schock in Sekundenschnelle, dann rannte er los, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Zuerst durch den Garten, dann die Straße entlang. Und dann einfach immer weiter. Er wusste nicht, dass die bald aufgehende Sonne ihn rettete.

Weder Pascal noch Charlotte konnten es wagen, ihn nun zu verfolgen.

Er rannte, bis er nicht mehr konnte, minutenlang. Das abscheuliche Bild hatte ihn schlagartig ernüchtern lassen. Irgendwann konnte er nicht mehr, die Lunge brannte genau so wie die Augen, in die ihm der Schweiß gelaufen war. Erschöpft sank er zu Boden und atmete tief durch. Dann erst blickte er sich um, aber er konnte keine Verfolger ausmachen.

„Verdammte Scheiße, was war das?“

Er konnte nicht fassen, was er gesehen hatte. Und das war auch das Problem, niemand würde ihm glauben. Er hatte Unmengen Alkohol im Blut, die Polizei würde ihn höchstens in eine Ausnüchterungszelle stecken, aber nicht nachsehen, ob sein Schauermärchen wahr war.

Gleichzeitig wusste er, dass Charlotte und Pascal ihn nicht so laufen lassen würden. Und sie wussten, wo er wohnte. Er konnte nicht zurück in seine Wohnung.

 

***

 

Gegenwart

„Pascal Tureille war also ein Vampir. Und er hat Charlotte ebenfalls zu einer Blutsaugerin gemacht“, unterbrach Mark nun die Geschichte, obwohl sie ihn fesselte.

Die Geschichte hat mich sogar an den Stuhl gefesselt, dachte Mark.

„Ja, so war es, Hüter.“

„Aber warum ist das wichtig für uns?“, ertönte nun zum ersten Mal seit längerer Zeit Sabrinas Stimme.

„Das hat schon seinen Grund.“

„Diese Geschichte hat mit unserem Dasein als verschnürtes Paket zu tun?“

„Indirekt auf jeden Fall, hört einfach weiter zu.“

Connor schien sich kurz zu sammeln, dann fuhr er fort.

„Wochenlang versteckte ich mich in verschiedenen Hotels und Gasthäusern, die Stadt jedoch verließ ich nie. In den ganzen Wochen wurde ich nicht gefunden und ich hörte und sah auch nichts von Charlotte und Tureille. Es müssen so zwei Monate vergangen sein, in dieser Zeit lebte ich von Aushilfsarbeiten und von dem Geld, das noch auf meinem Konto war. Irgendwann fühlte ich mich sicher genug, um nach Hause zu gehen. Nicht, dass ich dort hätte wohnen wollen. Aber ich wollte wenigstens noch ein paar Dinge abholen, bevor ich mich endgültig aus dem Staub machte. Aber das war ein großer Fehler, denn ich wurde dort schon erwartet.“

 

***

 

Vergangenheit

Im Schutz der hereinbrechenden Nacht war Connor zu dem Haus gefahren, das er jahrelang als sein Zuhause angesehen hatte. Und jetzt schlich er wie ein Einbrecher die Treppen hoch, sah immer wieder hinter sich, ob ihm nicht doch jemand gefolgt war. Aber bis auf einen abgerissenen Penner mit zerfurchtem Gesicht war dort niemand. Dennoch konnte er das mulmige Gefühl nicht ablegen, das ihn leicht zittern ließ. Vor der Wohnungstür lauschte er noch einmal, ob er etwas hörte. Stille. Mit einem tiefen Atemzug machte er sich selber Mut und schloss die Tür auf. Ganz langsam drückte er sie nach innen und trat über die Schwelle. Es war dunkel im Haus und seine Hand tastete nach dem Lichtschalter. Mit einem leisen Klicken flammte die Lampe an der Decke auf. Ein schneller Blick durch den Flur… nichts. Gut!

Er schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer. Auch hier schaltete er das Licht ein. Die Luft war stickig und verbraucht. So wie es eben in einer Wohnung riecht, in der seit Monaten nicht mehr gelüftet wurde. Er kippte das große Fenster und setzte sich erst mal in den Sessel. Würde er je wieder ein normales Leben führen können, nach allem was passiert war?

Seine Grübelei wurde jäh unterbrochen. Durch ein böses Kichern. Connor krallte seine Hände in die Sessellehnen. Dann folgten Schritte und nach wenigen Sekunden stand Charlotte in der Tür.

„Willkommen zu Hause“, höhnte sie.

„Charlotte…“, stöhnte Connor mehr, als dass er es sagte.

„Wir haben auf dich gewartet.“

„Wir?“

„Natürlich, Pascal ist auch hier.“

Erst jetzt erkannte Connor, dass seine Ex-Verlobte wieder schlank war. Sie musste das Baby inzwischen geboren haben. Oder ihr untoter Vampirkörper hatte es abgestoßen. Sofort wollte er nach dem Kind, seinem Kind, fragen, aber er wagte es nicht.

Nun trat auch Pascal in sein Blickfeld.

„Was habt ihr mit mir vor?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

„Doch, aber ich will es von dir hören.“

„Wir werden dein Blut trinken.“

„Was seid ihr?“

„Stellt ihr Engländer immer so dämliche Fragen?“ Als Connor den herablassenden Tonfall und diesen schleimigen Franzmann-Akzent hörte, hätte er kotzen können. „Wir sind das, was auch du sein wirst, wenn wir mit dir fertig sind“, fuhr Tureille fort.

Connor wollte aufstehen.

„Bleib sitzen! Du kannst nicht fliehen!“, zischte die Blutsaugerin und entblößte wieder ihr todbringendes Gebiss.

Connor antwortete nicht mehr. Was hatte er Idiot sich nur dabei gedacht, nach Einbruch der Dunkelheit zu seiner Wohnung zu gehen? Im Schutz der Nacht! Ha! Was für eine Lachnummer!

Du kannst nicht fliehen!

Er würde versuchen, ihr das Gegenteil zu beweisen. Unvermittelt sprang er auf und riss den billigen Tisch mit hoch, der vor ihm stand. Fast im gleichen Moment sprang Charlotte vor. Die Tischplatte stoppte ihren Vorwärtsdrang, dann griff auch Tureille ein. Er griff sich den Tisch und schleuderte ihn mit ungeheurer Wucht zur Seite. Das billige Holz krachte, als es gegen die Wand flog und der Tisch wurde in seine Einzelteile zerlegt.

Connor wich zurück, doch weit kam er nicht. Nach wenigen Schritten hatte er die Wand im Rücken. Er wusste, dass er diesen Blutbestien nichts entgegenzusetzen hatte.

Ich Idiot! Warum hab ich mir nicht einfach ein Kreuz besorgt? Oder Weihwasser?

Doch dafür war es jetzt zu spät.

Tureille ging auf ihn zu, den rechten Arm schon zum Schlag erhoben. Dann sauste er nieder. Connor warf sich noch zur Seite, trotzdem wurde er an der Schulter getroffen. Er hatte das Gefühl, als würde sein Arm in Flammen stehen, besonders das Schultergelenk fühlte sich an, als hätte ein Elefant dagegen getreten. Schon kam der nächste Schlag, dieses Mal auf seinen Körper gezielt. Er ließ sich einfach fallen. Der Schlag ging vorbei, krachte gegen die Wand. Hätte er ihn getroffen, wäre es vorbei gewesen.

Doch es blieb ihm keine Zeit, sich über diesen minimalen Erfolg zu freuen, ein Tritt in die Seite raubte ihm nun endgültig die Luft. Seine Rippen gaben ein bedrohliches Knacken von sich.

„Lass mich ihn zuerst beißen“, hörte er wie durch einen Schleier Charlottes Stimme.

„Pass auf, Charlotte.“

„Ach was, er ist fertig.“

Connor war wirklich am Ende, aber es ging um sein Leben. Und das wollte er nicht einfach so aufgeben. Er quälte sich in eine sitzende Haltung und war froh, die Wand im Rücken als Stütze zu haben.

Schwer keuchend presste er seinen schmerzenden Arm auf den ebenfalls schmerzenden Bauch, das rechte Bein hatte er an seinen Körper heran gezogen.

Charlotte kam näher und hockte sich vor ihn hin.

„Das hättest du auch schmerzloser haben können. Aber es war ein netter Zeitvertreib, es hat sogar länger gedauert, als wir gedacht hatten. Und jetzt wehr dich nicht mehr, lass dir einen Kuss geben. Einen besonderen Kuss, den Vampirkuss.“

„Eines…will ich dir… noch geben“, keuchte Connor.

„Und was soll das sein?“

„Das!“, schrie er und trat mit dem rechten Fuß mitten in Charlottes Gesicht, das ihm wie die Fratze des Todes vorkam.

Die Vampirin wurde zurückgeschleudert, genau in die Arme von Pascal Tureille. Ihre Nase war zertrümmert und der linke Nasenflügel lag an der Wange an, aber nicht ein Tropfen Blut drang aus der Riechruine.

Der Tritt hatte Connor eine Genugtuung gebracht, wie er sie nie zuvor gekannt hatte.

„Aaaaah!“ Charlottes Wutschrei drohte fast sein Trommelfell zu zerreißen. Sie sprang vor und ließ sich auf Connor fallen. Ihre Hände umschlossen nun seine Kehle.

„Du Bastard! Das wirst du mir büßen, dich wird mehr erwarten als der Tod.“

Ihr Griff war knallhart und drückte ihm bereits nach wenigen Sekunden die Luft ab.

Connor versuchte den Stahlgriff zu lösen, aber nicht einen Finger konnte er zur Seite biegen. Schon tanzten schwarze Flecken vor seinen Augen. Seine Arme sanken herab, fuhren ziellos über den Boden, auf der Suche nach einer Waffe. Und als er schon glaubte, dass es vorbei wäre, fühlten seine Finger etwas. Ein Stück Holz, ein abgebrochenes Tischbein!

Er griff nach diesem Rettungsanker, umschloss es so hart, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Dann presste er den provisorischen Pfahl zwischen sich und den Körper der Vampirin. Und stieß zu!

Er hörte Knochen krachen, als das Holz sich seinen Weg in das verfaulte Herz der Untoten bohrte.

„Aaaaaaaaah!“

Der Schrei nun enthielt keine Wut mehr, war stattdessen von Panik und Schmerz erfüllt. Schlagartig lockerte sich der Griff um seinen Hals. Connor sog die Luft ein, keuchte und röchelte, aber langsam klärte sich sein Blick.

„Charlotte! Neeeeein!“ Pascal fing die nach hinten taumelnde, tödlich Getroffene auf. In seinem Armen verging sie zu Staub.

„Du dreckiger Bastard!“

Doch noch bevor er sich auf Connor stürzen und den Tod seiner Geliebten rächen konnte, geschah etwas völlig Unerwartetes und warf seine Pläne über den Haufen.

Mit einem lauten Splittern flog die Wohnungstür aus den Angeln. Fünf Männer stürmten herein. Vier trugen Uniformen mit dem Aufdruck TS. Der fünfte war der Penner mit dem zerfurchten Gesicht.

„Wir sehen uns noch, Baigent!“, stieß der Vampir hervor. Es waren seine letzten Worte, dann sprang er einfach durch das Fenster im ersten Stock.

„Wenn wir uns wieder sehen, werde ich dich vernichten“, flüsterte Connor. Und es klang wie ein Versprechen.

„Ihr zwei verfolgt ihn!“, rief eine befehlsgewohnte Stimme. Dann wandte sich jemand an Connor.

„Sind Sie in Ordnung? Wurden Sie gebissen?“

„Ähm… nein… nein, es ist alles in Ordnung.“

Der Penner mit dem Kratergesicht, der wohl der Anführer dieser seltsamen Truppe war, musterte ihn durchdringend. Und jetzt erst erkannte ihn Connor.

„Sie sind dieser Klempner! Ich hab Sie schon mal gesehen. Vor ein paar Wochen, hier vor dem Haus!“

„Ja, wir haben Sie beobachtet.“ Dann, an die zwei Uniformierten gewandt, die in der Wohnung geblieben waren: „Untersucht ihn.“

Sie suchten nach Bissspuren und hielten ihm ein Kreuz vor. Als er weder auf den Anblick des christlichen Symbols reagierte und auch keine Bissverletzung gefunden wurde, hielt man ihn für sauber und half im auf die Beine.

Die zwei Männer, die Tureille verfolgt hatten, kamen zurück. „Er ist uns entkommen, Captain.“

„Verdammt. Aber auch den werden wir noch kriegen. Wo ist eigentlich seine Verbündete?“

„Charlotte meinen Sie? Die habe ich gepfählt“, sagte Connor.

„Sie?“

„Ja, dort liegt ihr Staub. Aber ich musste eh mal wieder saugen“, versuchte er einen Witz, der allerdings niemand zum Lachen bewegte.

„Nicht schlecht, ich gratuliere zu dieser Leistung. Aber ich habe auch nichts anderes erwartet.“

„Wer seid ihr überhaupt?“

„Wir sind von…“

 

***

 

Gegenwart

Wieder unterbrach Mark seinen Vorgänger im Job des Hüters: „Treasure Security!“

„Ganz recht, Hüter. Ich wurde schon seit längerer Zeit beobachtet. Doch irgendwann hatte man mich bei all meinen Unterschlupfwechseln aus den Augen verloren. Und so beschloss die Treasure Security, meine Wohnung unter Beobachtung zu nehmen, in der Hoffnung, dass ich wieder dort auftauchen würde. Und das rettete mir das Leben.“

„So kamst du also zum Orden.“ Noch immer verwendete Mark das „Du“, anstatt den Blutsauger zu Siezen. Irgendetwas musste ihm schließlich an Sabrina und ihm liegen, sonst würde er sie einfach töten. Stattdessen erzählte er ihnen hier seine Lebensgeschichte.

„Und wurde zum Hüter des Schatzes.“

„Aber ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit uns zu tun hat.“

„Der Kreis der Geschichte wird sich bald schließen, nur etwas Geduld noch. Aber wir haben ja alle Zeit der Welt.“

Dann starrte er zu Sabrinas blutendem Arm und leckte sich die Lippen. Und Mark bekam das ungute Gefühl, dass sie so viel Zeit doch nicht hatten.

„Macht es euch gemütlich und hört einfach noch ein bisschen zu.“ Connor Baigent grinste.

„Sehr komisch, Ex-Hüter!“

„Da du keine Geduld hast, werde ich einfach weiter erzählen.“

 

***

 

Mai 2006

Connor saß auf einem klapprigen Stuhl in der Hütte, die er gefunden hatte. Ein raues Knurren drang ihm aus der Kehle.

Er hatte Hunger! Oder besser gesagt Durst! Quälenden Durst.

Einige Stunden lang war er durch den Wald geschlichen. Am Anfang hatte er es einfach nur genossen, wieder draußen zu sein, nicht mehr von der Sonne in sein Motelzimmer gesperrt.

Der Nachteil daran war nur, dass um diese Zeit kaum noch einzelne Menschen unterwegs waren, denen er etwas von ihrem Blut stehlen konnte.

Die ersten Nächte seiner neuen Existenz waren da irgendwie sättigender gewesen. Der Jogger, der die kühle Nachtluft ausnutzen wollte, war sein erstes Opfer gewesen. Danach kam ein Pärchen im Wald, das schon wesentlich schwieriger zu berauben war, einfach deshalb, weil es zwei Personen waren.

Er wusste, dass er Spuren hinterließ, aber er konnte sich kaum kontrollieren, wenn der Blutdurst in ihm erwachte. Deshalb hatte er auch nicht länger im Witch-Stone-Motel bleiben können. Immer in Bewegung bleiben, musste seine Devise lauten.

Wo sollte er jetzt noch ein Opfer finden? Connor hatte es bisher noch nie gewagt, in die Ortschaften zu gehen. Er kannte den Orden gut genug, um zu wissen, dass das sein Tod sein konnte. Mit Sicherheit suchte die Treasure Security schon nach ihm. Deshalb musste er so unauffällig wie möglich bleiben. Und das war dank seines Blutdursts nicht sehr viel!

Kilometer um Kilometer marschierte er, müde wurde er ja nicht mehr. Deshalb kam er gut voran. Es war nun kurz nach Mitternacht. Wo er war, das wusste er nicht wirklich. Er konnte nicht einschätzen, wie viele Kilometer er bereits hinter sich gelassen hatte. Und da er oft den Schutz des Waldes nutzte, wurde die Orientierung noch zusätzlich erschwert.

Ein Ziel würde die Sache erleichtern, dachte Connor sich. Aber da er keine Ahnung hatte, wo er war, musste er einfach weiter marschieren.

Nach gut einer Stunde lichtete sich der Wald merklich. Und nach weiteren dreißig Minuten erreichte er die Baumgrenze. Flaches Land lag nun vor ihm. Wieder kilometerweit. Doch da! In mehreren Kilometern Entfernung… da war doch etwas. Sein Blick war nach dem Biss deutlich schärfer geworden und er konnte jetzt nachts wesentlich besser sehen als normale Menschen. Das Licht des Mondes reichte ihm vollkommen aus. Doch genau konnte auch er nicht sagen, was dort vor ihm lag. Dazu war es noch zu weit weg, es konnte aber mit etwas Glück eine Hütte sein. Licht brannte allerdings nicht.

Immerhin hatte er jetzt ein Ziel vor Augen. Er beschleunigte seine Schritte, legte ein Tempo vor, das jeden US-Marine schnell den Atem gekostet hätte.

Nur wenige Minuten später konnte er erkennen, dass es tatsächlich eine Hütte war. Oder zumindest das, was noch davon übrig war. Als er bald darauf direkt vor dem Bau aus Holz stand, konnte er das Ausmaß der Beschädigungen ausmachen.

Das Dach war teilweise eingestürzt, die Fenster waren vernagelt. Die Tür hing mehr schlecht als recht in den Angeln.

Wahrscheinlich stand die Hütte nur noch, weil sie an einen kleinen Hügel gebaut worden war. Die Rückseite schloss direkt daran an.

Menschen waren nirgends zu sehen, das hätte ihn auch verwundert. Ein altes Schild hing noch neben der Tür. Mit dem Ärmel wischte er darüber, dann konnte er es mühsam entziffern.

„Außenstelle der Forstverwaltung ‑ Forschungseinrichtung für Geologie, Biologie und Geschichte“, murmelte Connor vor sich hin. Geologie und Biologie konnte er ja noch verstehen, aber was gab es denn hier Geschichtsträchtiges?

Oder hatte er etwa den Weg zu Fuß zurückgelegt, für den das Prospekt im Motel eine knappe Stunde Autofahrt veranschlagt hatte?

ÜberConnor beschloss, auf den kleinen Hügel zu steigen um sich einen Überblick verschaffen zu können. Weit ging es nicht bergauf, vielleicht fünfzig Meter. Als er oben war, sah er sich bestätigt. Auf der anderen Seite war ein Steinkreis. Einige hohe Menhire standen dort, kreisförmig angeordnet. Manche sahen aus wie ein Tor, weil auf zwei senkrecht stehende Steine noch ein dritter waagerecht gelegt worden war. Dieser Kreis war zwar lange nicht so groß wie Stonehenge, aber er musste sich eingestehen, dass seine ursprüngliche Einschätzung als Stonehenge für Arme auch nicht zutraf.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Kurz nach zwei. Ein Opfer würde er hier und heute sicher nicht finden. Deshalb machte er sich auf den Weg zurück zur Hütte.

Innerhalb weniger Minuten hatte er Fenster, Türen und sonstige Luken, durch die tagsüber eventuell Licht fallen könnte, mit Brettern und Laub geschlossen. Dabei hatte er sogar einen alten Stuhl gefunden.

Und auf dem saß er nun und musste sich eingestehen, dass es ein Fehler gewesen war, nicht sofort intensiver nach einem Opfer zu suchen. Denn er glaubte nicht, dass er noch einen Tag ohne Blut überstehen würde!

Aber was war das? Woher kam dieses Murmeln? Waren das etwa Stimmen?

Nein, das konnte nicht sein. Nicht um diese Zeit!

Wahrscheinlich war es nur das Rauschen der Wälder, das ihm seine Blutgier als leise durcheinander schwatzende Stimmen kostümiert hatte.

Connor schloss die Augen.

Ruhig! Du musst noch einen Tag aushalten! Nur noch einen Tag! Und den verschläfst du sowieso zum großen Teil! Also, bleib ruhig!

 

***

 

In dieser Nacht waren nicht nur Connor Baigent und Vosenius’ Kinder unterwegs. Drei andere Gestalten marschierten ebenso durch den Wald. Und wie Connor waren sie Blutsauger. Elena Tepescu hatte sie geschickt. Die Sippenführerin konnte es sich nicht leisten, den ehemaligen Hüter entkommen zu lassen. Asmodi sei Dank hatte er mit seinen Blutdiebstählen eine recht deutliche Spur hinterlassen.

„Wir hätten ihn uns doch schon letzte Nacht im Motel schnappen sollen!“, sagte Vladek.

„Das sagst ausgerechnet du?“, antwortete Marek. „Du warst es doch, der sich nicht im Griff hatte und unbedingt erst den Nachtportier aussaugen musste!“

Der Gescholtene senkte den Blick. „Ich hatte eben Hunger.“

„Aber musstest du ihn gleich leer saugen? Hättest du ihn am Leben gelassen, hätte er sich in einen von uns verwandelt. Aber nein, du musstest ja soviel trinken, dass er gestorben ist, bevor er sich verwandeln konnte! Hätten wir nicht erst noch seine Leiche verstecken müssen, hätten wir uns den Hüter noch vor Sonnenaufgang greifen können.“

„Ich weiß! Aber es konnte ja keiner damit rechnen, dass er sich aus dem Staub machen würde. Ob er bemerkt hat, dass wir ihm auf den Fersen sind?“

„Glaube ich nicht. Dann würde er schneller fliehen. Aber ich kann ihn ganz deutlich in unserer Nähe spüren.“

 „Warum verfolgt Elena ihn eigentlich nicht selbst? Schließlich hat doch sie ihn gebissen und er ist ihre Kreatur.“

Marek blieb stehen und sah Vladek in die schwarzen Augen. „Du weißt doch, dass er durch den Biss nicht ihr Diener geworden ist, aus welchem Grund auch immer.“

„Ja, schon.“ Vladek zuckte mit den Schultern. „Aber das geistige Band zu ihm hatte sie doch trotzdem geschaffen, auch wenn es nur dünn war. Warum hat sie das Band mit diesem komplizierten Blutzauber auf dich übertragen, statt ihn selbst zu verfolgen? Hätte sie mit dem Ritual nicht so viel Zeit verloren, hätte sie ihn vielleicht schon in ihren Fängen.“

„Das mag sein. Aber sie hatte wohl etwas Anderes zu erledigen. Sie hat mal was von Drachenblut erzählt, aber mehr weiß ich auch nicht.<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]--> Also, lass mich in Ruhe mit deiner Fragerei!“

Marek drehte sich um und stapfte weiter durch den Wald.

„Wie deutlich spürst du ihn?“, fragte Vladek.

„Er kann nicht weit sein, höchstens einen Kilometer.“

Der dritte Vampir, der bisher nur geschwiegen hatte, meldete sich nun auch zu Wort.

„Wir werden ihn finden. Wir müssen ganz einfach!“, geiferte er. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Dass Vladek und ich ihn finden müssen, ist klar“, sagte Marek. „Aber welches Interesse hast du eigentlich an ihm?“

Der Angesprochene schwieg und kämpfte sich mit verbissenem Gesicht weiter durch das Unterholz. Mit seiner schwarzen Lederhose und den spitzen Cowboystiefeln war er für einen Waldspaziergang eindeutig nicht passend gekleidet.

Marek schüttelte den Kopf. Ein eigenartiger Zeitgenosse war das. Selbst für einen Vampir. Es fehlten nur noch die Sporen an den Stiefeln und ein umgeschnürter Revolvergurt, und der Cowboy wäre perfekt gewesen. Marek erinnerte sich noch, dass Elena nach dem Überfall auf das Herrenhaus gerade den Kleinbus in Bewegung gesetzt hatte, als plötzlich dieser Artgenosse aus dem Gebüsch gesprungen kam, sich mitten auf die Straße stellte und mit den Armen ruderte wie ein Geisteskranker.

Elena stieg in die Eisen und der Bus kam höchstens fünf Zentimeter vor dem Kerl zum Stehen. Elena stieg aus und plärrte auf den Burschen ein. Doch mit zwei, drei leisen Sätzen brachte er sie zum Schweigen. Danach sprach nur noch er und Elena nickte. Am Ende lachte sie, stieg mit dem Kerl in den Bus, stellte ihn den anderen vor und sagte lapidar: „Er wird euch bei der Jagd auf den Hüter helfen.“

Sie hatte weder Marek noch sonst einem aus ihrer Sippe bisher erzählt, was dieser geheimnisvolle Vampir ihr gesagt hatte. Und keiner hatte bisher gewagt zu fragen.

„Also, spuck’s aus!“, versuchte es Marek noch einmal. „Was willst du von dem Hüter?“

„Das geht dich nichts an! Und jetzt such weiter! Oder soll ich Elena berichten, dass deine Neugier größer ist als dein Wille, ihren Auftrag zu erfüllen?“, fauchte der Angesprochene.

Marek zuckte zurück. „Schon gut, schon gut. Jetzt krieg dich mal wieder ein. Es ist nicht mehr weit. Irgendwo da vorne muss er sein.“

„Da ist eine Hütte. Vielleicht hat er darin Unterschlupf gesucht.“

„Das werden wir gleich feststellen.“

Die drei Blutsauger gingen auf die Hütte zu. Und in der Tat war der von ihnen Gesuchte ganz in der Nähe.

 

***

 

Wie ein Prediger stand Richard Moore mit ausgebreiteten Armen vor den Hexensteinen.

„Seit Jahren studiere ich die Aufzeichnungen von Paul F. Shore“, verkündete er.

Casey stöhnte auf. Nicht schon wieder die Leier von Shore, diesem dünne Bretter bohrenden Schreiberling!

„Von Paul F. Shore wissen wir“, fuhr Richard fort, „dass diese Steine vom Keltenhäuptling Vosenius errichtet wurden. Heil dir Vosenius, Häuptling der Cantiaci.“

„Heil dir, Vosenius“, stimmten auch die anderen Mitglieder der Gruppe ein. Selbst Casey tat aus alter Gewohnheit  mit.

„Doch diese Steine sind nicht nur einfache Steine! Sie sind ein Tor zu den Göttern. Du, Vosenius, hast das Tor durchschritten.“

„Heil dir, Vosenius“, skandierte die restliche Gruppe wieder.

„Und heute werden wir es sein, die dieses Tor durchschreiten! Denn du, Vosenius, wirst uns zu dir holen. So, wie Shore es errechnet hat, wird es geschehen!“

„Heil dir, Vosenius!“

„Heute, meine Freunde, werden wir zu den Göttern gehen. Paul F. Shore lehrt uns, dass die Menschheit von außerirdischen Intelligenzen abstammt, die als Götter verehrt wurden. Auch Vosenius wusste das. Mit der Errichtung dieser Steine schuf er ein Tor zu den Sternen!“

Was für eine gequirlte Scheiße!, zuckte es durch Caseys Hirn.

„Hier werden wir ihre Ankunft erwarten. Hier werden sie uns abholen und in ihre Welt bringen!“

Die werden gerade auf uns gewartet haben. Klar doch!

„Es wird nicht lange dauern, dann werden sie uns zu den Sternen holen, unsere außerirdischen Freunde,“ fuhr Richard fort.

Und wenn nicht, bist du morgen nicht mehr unser Anführer. Casey schielte hinüber zu Peter Sanderson. Dann sah er wieder zu den Steinen.

Nichts geschah. Kein Tor öffnete sich, kein Außerirdischer trat hervor. Natürlich nicht. Sie könnten noch stundenlang hier warten und es würde nichts geschehen.

Doch Casey Sittler täuschte sich. Denn nur Sekunden später geschah etwas, was keines von Vosenius’ Kindern erwartet hätte.

 

***

 

Connor Baigent riss die Augen auf!

Da war es wieder. Und diesmal waren es eindeutig Stimmen! Es klang sogar fast wie ein monotoner Singsang!

Er hielt es nicht mehr aus. Er musste einfach nachsehen. Connor schlich aus der Hütte, versicherte sich erst mit einem Blick aus der Tür, dass nicht irgendwo doch schon die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervor lugten. Doch es war noch so dunkel, wie vor einer zwei Stunden als er die Hütte betreten hatte.

Jetzt wo er draußen stand, hörte er es deutlich. Da waren tatsächlich Stimmen. Auf der anderen Seite des Hügels.

Opfer! Frisches Blut! Diese zwei Gedanken beherrschten von nun an sein Handeln. Er rannte den Hügel hinauf und blickte von dort hinab auf den Steinkreis, der nun von Fackelschein beleuchtet wurde.

Sechs junge Männer standen dort unten. Sie trugen seltsame weiße Kutten.

Verdammt, so viele! Das war riskant! Wer waren die überhaupt, dass sie hier so einen Mummenschanz aufführten? Eine Sekte? Oder einfach nur verrückte Jugendliche.

Es war Connor im Endeffekt auch egal, für ihn hatten die Menschen dort unten nur einen Zweck: Nahrung.

„Hier werden wir ihre Ankunft erwarten. Hier werden sie uns abholen und in ihre Welt holen!“, rief nun einer von den Männern.

Also wirklich eine Sekte.

„Es wird nicht lange dauern, dann werden sie uns zu den Sternen holen, unsere außerirdischen Freunde.“

Doch keine Sekte, sondern Bescheuerte.

Im gleichen Moment musste Connor selber grinsen. Ein Vampir, der nicht an Aliens glaubte. Ob E.T. an Vampire glaubte?

Langsam setzte er sich in Bewegung und ging den Hang hinab. Er brauchte einen Plan! Vielleicht gelang es ihm, einen von ihnen niederzuschlagen und die anderen zu verjagen.

Ein Grinsen stahl sich in sein Gesicht, als ihm etwas Besseres einfiel: Er würde sich als ein Außerirdischer ausgeben und einfach eine der Weißmützen bitten, ihn zu begleiten.

 

***

 

Im gleichen Moment als Connor den Hügel auf der einen Seite hinab gingen, erreichten auf der anderen Seite Elena Tepescus Jäger den Anstieg. Nur wenige Minuten später standen sie auf dem Hügelkamm.

„Verdammt, das ist er tatsächlich!“, keuchte der Vampir mit den Cowboystiefeln.

„Natürlich ist er es. Ich kann ihn spüren, schon vergessen?“, ereiferte sich Marek.

„Dann lass ihn uns packen“, sagte Vladek.

„Er gehört mir!“, sagte der Cowboy. Und dann plärrte er: „Connor Baigent, du Bastard!“

 

***

 

Connor zuckte zusammen. Er war den Hügel gerade zur Hälfte hinuntergeschlichen, als hinter ihm die Stimme erklang! So lange hatte er sie nicht gehört, hatte sie verdrängt, ja fast vergessen. Doch jetzt als er sie hörte, nach diesen langen Jahren, kam es ihm vor als wäre all das erst gestern gewesen.

Er drehte sich um. Tatsächlich! Sein Gehör hatte ihn nicht getrogen. Oben auf dem Hügel stand jemand, mit dem er hier niemals gerechnet hätte.

„Tureille!“, sagte Connor. „Das ist ja mal eine Überraschung! Neue Hose?“

„Du hast meine Charlotte getötet“, spie Tureille ihm entgegen.

„Deine Charlotte?“ Connor lachte auf. „Du verdrehst die Tatsachen! Wie hast du mich gefunden?“

„Ich beobachte dich schon seit Jahren. Aber im Schutz des Ordens warst du für mich unangreifbar. Doch dann kam der Überfall auf das Herrenhaus. Dort konntest du leider entkommen. Aber ich habe mich so gut mit der Dame verstanden, die dich zu dem gemacht hat, was du jetzt bist, dass sie mich eingeladen hat, an dieser kleinen Jagd teilzunehmen. Aber auch die schönste Jagd hat einmal ein Ende. C’est la vie!“

Da erst sah Connor, dass Tureille nicht alleine war. Neben ihm wuchsen noch zwei Schatten in die Dunkelheit. Kaum hatte Connor sie wahrgenommen, schon rannten die drei Kreaturen den Hügel hinab. Und an der Spitze Pascal Tureille! Der Vampir, der vor Jahren sein Leben zerstört hatte.

Was sollte er tun? Alleine würde er gegen die drei nicht ankommen. Ein wahnwitziger Plan fasste in diesen Momenten in ihm Fuß. Er rannte den Hügel hinunter, auf die UFO-Jünger zu, die dem Wortwechsel regungslos gefolgt waren.

„Hilfe!“, schrie er und wedelte mit den Armen. „Helft mir! Diese Verrückten wollen mich töten!“

Dann hatte er die sechs Männer erreicht, doch die Vampire waren nur gut zweihundert Meter entfernt.

„Was ist los?“, fragte einer der Männer.

„Das sind Verrückte, ihr müsst mir helfen“, sagte Connor.

Noch gut hundert Meter.

Connor griff nach einer Fackel, von diesen Verrückten konnte er doch keine Hilfe erwarten.

Dann waren seine Jäger heran.

„Ergib dich, Connor!“

„Niemals!“

„Du hast doch keine Chance.“

„Wenn ihr mich haben wollt, müsst ihr mich schon holen!“

„Du hast es so gewollt. Packt sie!“

Sofort schlugen Marek und Vladek nach Vosenius’ Kindern. Es dauerte kaum zehn Sekunden, da lagen die ersten beiden stöhnend am Boden. Sofort packten sie sich die nächsten beiden, während Pascal und Connor sich gegenüber standen und anstarrten.

Dann sprang Pascal vor, wollte Connor mit einem Tritt von den Beinen holen. Der sprang zurück, schlug mit der Fackel zu. Funken stoben auf, als die Flamme das Gesicht des Gegners traf.

„Diesmal ist es nicht wie vor 27 Jahren, Tureille.“

„Stimmt, diesmal rettet dich der Orden nicht mehr.“

Im Hintergrund hörte Connor wie wieder jemand stöhnend zu Boden ging. Kurz darauf hörte er ein Schmatzen und Schlürfen.

Tureille täuschte einen Angriff an, sprang wieder zurück und ließ Connor ins Leere laufen. Ein harter Schlag auf seine Hand und er verlor die Fackel, seine provisorische Waffe. Sofort setzte Tureille nach, schlug hart nach seinem Gegner und krallte sich in dessen Hemd. Die vordere Hemdtasche riss. Und heraus fiel das Leinenkissen.

Nun mischte sich auch ein zweiter Vampir in den Kampf ein, sein Gesicht war blutverschmiert. Connor sah sich nun zwei Gegnern gegenüber. Den dritten konnte er nicht sehen, aber hören. Schritte näherten sich ihm von hinten. Dann ein Tritt in die Kniekehlen, er musste nachgeben und fiel auf die Knie.

„So gefällst du mir, kniend vor mir, Connor Baigent“, spottete Pascal Tureille.

 

***

 

Gegenwart

„Du hattest also keine Chance. Aber warum bist du trotzdem hier?“, fragte Mark, als Connor in seiner Erzählung stockte.

„Alles hat seine Gründe, Hüter.“

Mark sah, wie Connor wieder nach Sabrinas blutigem Arm schielte.

„Hast… hast du das Leinenkissen wieder bekommen?“, fragte Mark. Seine Kehle war trocken und spröde.

Connor schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Bluttropfen zu nehmen, der sich an Sabrinas Mittelfinger gebildet hatte.

„Nein, habe ich nicht“, sagte er schließlich, stand auf und ging mit funkelnden Augen auf Sabrina zu.


 


Wird fortgesetzt

<!--[if !supportFootnotes]-->

<!--[endif]-->

<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Hüter Nr. 4 - „Drachenblut“ v. Stefan Albertsen

<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> Hüter Nr. 3 - „Rotbarts Fluch“ v. Horst von Allwörden

<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> Hüter Nr. 2 - „Sie stirbt, wenn du nicht würdig bist“ v. Oliver Fröhlich

<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> Hüter Nr. 3 - „Rotbarts Fluch“ v. Horst von Allwörden

<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> siehe Der Hüter-Spezial 2 "Feuerstühle des Satans" (Juni 2007)

<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]-->              Siehe Hüter Nr. 1 „Das Spiel der Hexe“ v. Harry B. Foster

<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]-->              siehe Hüter Nr. 4 „Drachenblut“ von Stefan Albertsen

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.