Cassandra
Cassandra
Der Beginn der Geschichte ist gemächlich und bietet Zeit, sich mit den Charakteren und der Situation vertraut zu machen. Familie Prill aus Hamburg hatte eine schwere Zeit hinter sich gebracht und möchte nun einen Neuanfang in einer ruhigeren Umgebung wagen. Mutter Samira und Vater David ziehen deshalb mit Sohn Fynn und Tochter Juno in ein idyllisches und gut erhaltenes Haus aus den 1970er Jahren. Was keiner weiß – auch der Makler nicht – dass sich in diesem Haus der Prototyp eines Smart-Hauses verbirgt. Eine ganze Schrankwand voll elektronischer Bauteile, die eine KI-Haushaltshilfe steuert.
Diese Haushaltshilfe ist in jedem Zimmer per Monitor und zusätzlich mit einem beweglichen Roboter verbunden und nennt sich selbst „Cassandra“. Anfangs ist Cassandra noch ausgeschaltet, doch als die Familie den 70er Jahre Supercomputer im Keller findet, ist es Sohn Fynn, der den Hauptstromschalter umlegt und Cassandra damit aus ihrem langen Schlaf weckt.
Computerspieler, die mit der Reihe „Fallout“ vertraut sind, konnten sich bereits letztes Jahr über die gleichnamige Serie freuen und finden in „Cassandra“ ein paar Ähnlichkeiten zum dortigen Haushaltsroboter „Mr. Handy“. Diese Ähnlichkeit drängt sich aufgrund des historisch angehauchten Designs beider Haushaltshilfen auf. Doch weit gefehlt, denn in dieser Serie hat die Firma OBB viel mehr aus, oder mit Cassandra gemacht, als Rob-Co mit Mr. Handy. Möglicherweise ist diese Assoziation aber vom Schöpfer der Serie, Benjamin Gutsche, gewünscht. Zumindest deutet das Totfahren einer Maus durch Cassandra in ihrer Roboterform relativ am Anfang der Sendung darauf hin. Auch die Eröffnung der Serie, in der ein verunfalltes Auto und eine weinende Frau in den 1970er Jahren gezeigt wird, verstärkt diesen Eindruck. Denn hier wird gleich auf den „Killerroboter“ Cassandra verwiesen. Im Laufe der sechs Episoden wird allerdings schnell klar, dass diese Assoziation nicht zutrifft.
Cassandra stellt sich (zunächst) als freundliche und vor allem nützliche Haushaltshilfe dar. Natürlich weiß der Zuschauer, dass mit der KI irgendetwas nicht stimmen kann und auch drängt sich schnell der Gedanke auf, wie realistisch das überhaupt sein kann, dass in den 1970er Jahren ein solches Smart-Home mit einer künstlichen Intelligenz ausgestattet werden konnte. Immerhin weiß der Zuschauer, dass Computer zu der Zeit allenfalls Datenbanken mit riesigen Speichersystemen waren. Andererseits haben uns Filme wie zum Beispiel „Westworld“ (1973) und auch der Nachfolger „Futureworld“ (1976) in eben genau dieser Zeit erzählt, dass solche Technologie mit Hochleistungscomputern und Robotern alle Möglichkeiten ausschöpfen könnten, wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorzustellen wagen. Also gut. Diese Möglichkeit als denkbar anzunehmen ist Voraussetzung, um „Cassandra“ vorurteilsfrei genießen zu können.
Die Smart-Home-KI Cassandra entpuppt sich mit der Zeit als recht eigenartig. Sie will unbedingt nützlich sein und sieht in Samira Prill, der Mutter der beiden Kinder, schnell eine Rivalin, die es auszuschalten gilt. Dabei setzt Cassandra allerdings vornehmlich auf Intrigen, statt auf Gewalt. Am Ende will sie Vater David und die Kinder schließlich für sich gewinnen.
Interessant dabei sind die Rückblicke in die 70er Jahre, in denen nach und nach aufgedeckt wird, was es mit der KI Cassandra auf sich hat, welche Tragödie sich damals abgespielt hat und auch welche Motivation Cassandra umtreibt, sich derart zu verhalten, wie es schließlich rund 50 Jahre später mit der Familie Prill geschieht. „Zwanghafte Harmonie“ ist hier der Schlüsselbegriff, der letztlich der Kern allen Übels darstellt. Cassandra will mit allen Mitteln eine harmonische Familie „besitzen“ In den Rückblenden wird klar, dass dies nicht so funktionierte und offenbar ist die häusliche KI mit alten Wertvorstellungen gespickt, die nicht mit der Familie Prill kompatibel sind.
Nach dem Fazit gibt es noch einen Abschnitt, in dem auf einige Themen der Sendung näher eingegangen wird. Wer die Serie noch nicht gesehen hat, sollte diesen Abschnitt vorerst überspringen, um sich nicht selbst schon Informationen vorwegzunehmen, die besser mit den einzelnen Folgen der Serie selbst erkundet werden.
Ein paar Versatzstücke sind an bekannte Formate der Science Fiction angelehnt. Das lässt sich wohl auch kaum vermeiden, will man eine Geschichte dieser Art erzählen. Als rein amerikanische Produktion wäre hier vermutlich mehr Action enthalten gewesen. Wahrscheinlich hätten wir es irgendwann mit einer wirklichen Killermaschine zu tun gehabt, die wegen eines Programmierfehlers -oder vielleicht auch durch absichtliche Programmierung – darauf aus wäre, ein Blutbad anzurichten.
Zum Glück nicht so in „Cassandra“! Diese Miniserie aus Deutschland erzählt im Grunde ein sehr menschliches Drama, das im Laufe der sechs Folgen und den erklärenden Rückblicken in die 70er Jahre ein traumatisches Bild zeichnet. Nur muss man sich auch auf diese Geschichte einlassen können und akzeptieren, dass das Smart-Home in „Cassandra“ so gar nichts mit dem zu tun hat, was ein modernes Smart-Home mit heutiger, oder zukünftiger KI bieten würde.
4 von 5 Sternen erhält „Cassandra“, weil die Serie trotz aller vorauseilenden Erwartungen mit einem geschickten Twist aufwarten kann und die Zeit innerhalb der sechs Folgen gut zu nutzen weiß.
Oftmals wird in Rezensionen zu „Cassandra“ vor allem das „unlogische“ Verhalten der KI und die zu moderne Technik kritisiert.
Zur modernen Technik wurde in diesem Artikel bereits die Vision von West- und Futureworld herangezogen. In Wahrheit waren die Computer der 1970er Jahre natürlich längst noch nicht in der Lage, eine derart komplexe Rechenleistung zu vollbringen, wie sie hier angedeutet wird. Doch ist hier ein interessanter Kunstgriff vorgenommen worden, der bei den meisten Kritiken schnell übersehen wird.
Horst Schmitt (Franz Hartwig) nimmt seine Frau Cassandra (Lavinia Wilson) während ihrer zweiten Schwangerschaft mit in sein Labor, um sie mit einem neuartigen Gerät zu untersuchen. Dabei wird der experimentelle „Vektorschall“ zur Bestimmung des Geschlechts eingesetzt. Eine fiktive Konkurrenzentwicklung zum heute bekannten Ultraschall. Die Ultraschalluntersuchung wurde in der Realität erst Ende der 1970er Jahre als Regeluntersuchung eingeführt. Die Idee der Konkurrenzentwicklung passt hier also gut in die reale geschichtliche Entwicklung.
Damit ist dann auch erklärt, dass die fiktive Firma OBB in der technischen Entwicklung tätig ist und anscheinend einige zukunftsträchtige Innovationen vorbereitet. Im Zuge der realen Entwicklung von Mikroprozessoren Anfang der 1970er Jahre ein breites Feld an Möglichkeiten. Tatsächlich gab es zu jener Zeit verschiedene Entwicklungen in den unterschiedlichsten Bereichen der Technik. Ein System wie in „Cassandra“ war zwar dennoch nicht möglich, aber zumindest ist die dafür genutzte historische Bühne nicht gänzlich abwegig.
Kritiker, die sich über die „unlogische KI“ beschweren, scheinen die Serie nicht bis zum Schluss aufmerksam verfolgt zu haben. Denn das, was zunächst als KI angenommen wird, entpuppt sich schließlich als digitalisiertes Bewusstsein von Cassandra Schmitt. Mit dem Vorgang versucht Horst Schmitt, seiner Frau eine ungeahnte Unsterblichkeit zu schenken, die natürlich auch beinhaltet, dass ihre ganze Persönlichkeit in diesen hochleistungsfähigen Computer übertragen wird. Das Ganze ergibt zum Schluss einen übergeordneten Sinn, wenn klar wird, dass hier die Person Cassandra „computerisiert“ wurde. Ihre Persönlichkeit wird in den Rückblenden Stück für Stück ergründet und erklärt letztlich, warum sie sich als Programm eben genau so verhält. Ihr Wunsch war es, für ihren Sohn Peter immerwährend da zu sein, doch mit der Transformation hat sie schließlich ihre Familie verloren. 50 Jahre später ergibt sich eine neue Chance und Cassandra kann gar nicht anders, als ihrer Persönlichkeit zu folgen, die perfekte Frau und Mutter sein zu wollen. Dass sie dafür zur Not auch über Leichen geht, liegt (im Laufe der Serie offensichtlich) in ihrer Natur.
Ergänzend zum obigen Fazit kann hier zusätzlich festgehalten werden, dass für die Akzeptanz der Integration eines menschlichen Verstandes in ein Computersystem schon eine gehörige Portion Fantasie nötig ist. Bei amerikanischen Produktionen wäre dies vermutlich auch leichter zu akzeptieren, weil wir solche Themen aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten schon länger gewohnt sind. Dabei ist es relativ unabhängig, ob dies in der Gegenwart passiert, wie im Film „Transcendence“ (2014 mit Johnny Depp), oder eben in einer halbwegs passenden Vergangenheit. Im Film „Tron“ (1982) wird sogar ein kompletter Mensch per Laser digitalisiert und später wieder in die reale Welt zurückgebracht.
Insgesamt ist die Geschichte von „Cassandra“ ein waschechtes Drama mit Science Fiction Hintergrund, basierend auf technische Errungenschaften, die diese Erzählung zumindest nicht vollkommen unglaubwürdig machen, sofern man die Sache mit etwas Wohlwollen betrachtet.



