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Manchmal kommt die Stadt in Menschengestalt: »Stadt geht los«

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneManchmal kommt die Stadt in Menschengestalt
»Stadt geht los«

Der Roman hat ein Vorwort von William Gibson. Muss also gut sein. Dachte ich damals, als ich aus dem Ariadne-Verlag in der Reihe Social Fantasies John Shirleys „Stadt geht los“ in die Hand bekam. Schön, das Cover der Ausgabe war und ist auch heute noch extrem beschissen. Allerdings sind moderne Cover auch wirklich nicht besser. Warum man einfach nicht City aufs Cover knallt mit der verspiegelten Sonnenbrille und dem Hut, keine Ahnung.

Jedenfalls: „Stadt geht los“ ist der erste Roman von John Shirley, den hat er laut Impressum des Ariane Verlags wohl nochmal etwas umgearbeitet. Diese Fassung war also jetzt auf deutsch erschienen. Prima. Gibson lieferte das Vorwort, muss also ein Cyberpunk-Roman sein - oder? Ähm - nein.

Ein überaus ausgefeilter Roman ist „Stadt geht los“ allerdings auch nicht. Es ist, als ob sich Shirley an die Schreibmaschine setzte und alles rausrotzte, was ihm damals an der Gesellschaft nicht gefiel. Durchaus amüsant, wenn man auf Gewalt-Szenen steht und auch, wenn man ein Faible für Musikschilderungen hat. Unterhaltsam auf alle Fälle. Abgedreht? Nun, der Roman beginnt mit einer Rückblende des ehemaligen Clubbsesitzers Cole. Dessen Stimme mischt sich in die Musikaufnahmen von Catz, seiner ehemaligen Freundin und Sängerin einer Rockband, und erzählt die Geschichte davon, wie eines Abends auf einmal ein Typ mit Spiegelbrille, Cowboyhut und Mantel in Coles Club auftaucht. Da Catz psi-begabt ist, hat sie rasch raus was oder wer das ist. So unwahrscheinlich das auch klingt: Die Stadt San Francisco hat sich materialisiert. Sie hat nicht nur etwas dagegen abgeschafft zu werden, weil neue Technik das Leben in der Vorstadt angenehm machen könnte, sondern sie hat auch was gegen die Mafia, die sie als Krebsgeschwür empfindet zugleich mit den Bossen der Telekommunikationsfirmen. Und die Banken sind auch irgendwie mit drin. Jedenfalls ist der Große Kehraus geplant. Cole wird allerdings feststellen: Ganz ohne Blutvergießen geht es nicht. Und San Francisco, City, hat Pläne mit Cole.

Cyberfpunk? Nein. Science-Fiction? Ja, der Roman spielt im utopischen Jahr 2008, Bargeld ist abgeschafft. Holo-Videos sind Standard, Bildtelefone auch. Insofern: Ja. Da passt dann auch die Psi-Komponente mit rein, denn Cole ist … Na ja, kann man so ein altes Buch spoilern? Eigentlich nicht, aber schön, wenn ihr den Roman unbedingt nachlesen wollt - was ich empfehle - möchte ich die Überraschung am Ende nicht verderben. Bitte. Gerne. Dass seine Freundin Catz psibegabt ist, das habe ich allerdings schon erwähnt und ist auch kein eigentlich nicht so wichtig für die Handlung; im ersten Kapitel kriegt man das um die Ohren gehauen. Wobei Ohren ein gutes Stichwort sind.

Dass der Roman letzten Endes nicht sehr ausgefeilt ist, dass die Figuren blass bleiben und dass es im Grunde ein Rachegeschichte ist - mit sehr viel Blut, Eingeweiden und Waffen, vor allem Eingeweiden - ist ja nicht unbedingt ein Zeichen für einen schlechten Roman. Nicht jeder feinsinnig daherfilosofierte Kunstanspruch ist gegenüber einem Roman gerechtfertigt. Oder: Manchmal ist der Hype ein Hype. Shirleys Erstlingswerk knallt den Lesenden die Botschaften vor den Latz: Konformität ist scheiße. Wenn nötig, dann muss ein Auftand auch blutig werden oder sein. Du bist nur williger Volllstrecker, du hast zwar den Finger am Abzug, aber abgedrückt haben schon längst andere. Und Korruption ist genauso dreckig und übel wie geschmierte Polizisten. Letzteres Motiv findet man ja häufig im Film Noir: Der einsame Detektiv, der sich gegen die beschissene Welt durchballern muss, um vielleicht nicht unbedingt das Gute, aber seine Haut zu retten.

Man spurt die ganze Wut, dieses kolossale Frust-Schieben auf die Gesellschaft. Nicht ohne Grund gehören zum Roman auch ausgreifend erzählte Musik-Auftritte. Hard Rock. Heavy Metal. Die wichtigen Szenen des Romans sind immer mit Musik verbunden. Manchmal mit Mainstream-Pop - City spricht durch das Radio zu Cole - meistens aber sind kreischende Gitarren und hämmernde Bässe dabei, wenn Cole und Catz etwas für City erledigen. Ich kann mir vorstellen, dass bei einer Verfilmung des Romans da wirklich Musik und Bild Hand in Hand gehen könnten. Aufstand und Rock haben ja schon immer gut zusammengepasst. Ich würde nur zu gerne wissen, wie dieser Angstrock, der öfters im Roman erwähnt wird, klingt …

Wobei: Ist das der Aufstand der Gerechten? Da kommen nicht nur Catz im Laufe des Romans ernsthafte Zweifel, sie selbst wird von City schließlich aussortiert. Und die Art und Weise, wie der Avatar von San Francisco gegenüber Cole argumentiert, sie erinnert stark an Rechtfertigungen von anderen weniger gerechten Spießgesellen. Nein, nicht Cole hat gemordet, City hat es getan. Oder wenn man so will: Die Unterbewusstsein der braven Bürger*innen haben es. Cole war nur der Mann, der zufälligerweise den Finger am Abzug der Waffe hatte. Sich also freisprechen kann von aller Schuld, weil: Er hat keine. Das Gemetzel ist Citys Verantwortung; ein Handlanger wäscht sich somit das Wissen rein. Natürlich erinnert das an die Ausflucht, man habe doch nur Befehle ausgeführt. Ein wenig Stirnrunzeln ist also erlaubt, wenn John Shirley diese Begründung aus Citys Hut zieht. So richtig greift sie nicht.

Letzten Endes ist die Frage am Ende des Romans auch: Hat dieser Aufstand, dieser Große Kehraus dauernden Erfolg? Sicher, Mafia und Co. sind am Ende zermanscht. Das Übel ist beseitigt. Die Bürger*innen können sich wieder getrost vor den Fernseher setzen. Alles ist gut. Jedoch: Das hindert Menschen letzten Endes nicht daran, die Stadt irgendwann auf der Suche nach einem ruhigerem Ort zu verlassen. Das könnte schön sein, ein Häuschen mit Garten. Wenn zudem erwähnt wird, dass die U-Bahn eine neue Linie bekommen hat, die direkt von den Vororten durchfährt - was bleibt da noch an Zukunft für City? Abgesehen davon: In einer Stadt, in er permanent irgendwelche Morde begeht werden, möchte man auch Dauer nun auch nicht unbedingt wohnen. Die Verwandlung von City wird unaufhaltsam sein. Die Vorstadt mit ihren kleinen Wohnschachteln und der Einförmigkeit, diese Vorstadt-Idylle gegen die John Shirley hier auch wütet - sie wird sich auf Dauer nicht vermeiden lassen.

Cole entdeckt übrigens das Paradies dann doch noch. Er bemerkt es nur nicht so ganz. Dann nämlich, als er nächsten durch die Stadt wandert und sich im Homosexuellen-Viertel verliert. Eine paradiesische Welt, in der Männer Männer und Frauen Frauen lieben, in der Drag Queens umherstolzieren und alle dank des Impfstoffes ein fröhliches und unbeschwertes Liebesleben vollführen können. Impfstoff? Sicher: 2008 gibts es zumindest bei Shirley einen Impfstoff gegen HIV. Dass dieser Spaziergang durch die Nacht nach diversen Gewalttaten erfolgt, das ist mit Sicherheit kein Zufall. Shirley hätte Cole auch einfach so nach Hause gehen lassen können. Doch er kontrastiert die Gewalt, die „notwendige Gewalt“ laut City, mit einem gelöst heiterem Karneval. In diesem ist der sich entfremdete Cole Fehl am Platz. „Geh nach Hause“, meint in einer Bar eine Drag Queen zu ihm. „Ja, mache ich,“ murmelt Cole, um zu Hause dann seinen Ärger, seinen Schock und seine Wut an City auszulassen. Shirley kommt hier nicht mit der platten Devise, dass am Ende die Liebe gewinnt. Der Roman endet auch nicht damit, dass Cole und Catz sich in die Arme sinken - das machen die schon etwas früh … Ups, Spoiler. Nein, Shirley setzt hier nur ein kurzes Atemzeichen, ein Aufatmen bevor dann wieder sehr, sehr böse Dinge geschehen. Mit Waffen. Und Eingeweiden.

„Stadt geht los“ hat die Gnade des jugendlichen Punks, der gegen Barrikaden stürmen darf und dem Establishment den Stinkefinger zeigt. Das einmalige sich Auskotzen-Dürfen über die Profitgier, die Konformität und generell auch das Leben. Wenn man schon wütet, dass richtig. Und wir Lesenden werden mitgerissen von dieser Wucht, von den Bildern, von den Ereignissen bis schließlich alles ein Ende findet. Das Ende eines Punkband-Abends die Kehle raus ist, die Wut herausgeschrien und man einen zugedröhnten Schädel hat. Und man nicht mehr so ganz sicher ist, ob wirklich alles real war, was man so erlebt hat. 

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