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Vom ständigen Vergewissern und der Frage nach der Deutungshoheit

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...der Frage nach der Deutungshoheit

Manchmal steht man vor Dingen da wie die römische Soldaten in „Das Leben des Brian“: Während sich vor ihren Augen die Juden untereinander erledigen, stehen sie schulterzuckend mit den Achseln dabei und verstehen es nicht. Dabei wollten doch die Volksfront von Judäa und die judäische Volksfront eigentlich das Gleiche: In den Palast von Pontius Pilatus eindringen, seine Frau kidnappen und dann Forderungen stellen.

Allein, während Brian an dieser Stelle schon ruft, man sollte doch zusammen ringen - also gemeinsam auf das gleiche Ziel zustreben, kommt nur die trockene Antwort: „Tun wir doch.“ Was auch stimmt, denn man greift sich gegenseitig an. Das Ergebnis ist bekannt: Alle tot. Außer Brian.

Diese Phänomen hat man auffallend oft. Also das „ich verstehe nicht, warum sich die Gruppen nicht einigen können“. Oder warum sich alle an die Gurgel gehen müssen, obwohl sie das gleiche Ziel haben. In einem idealen Zustand wären wir alle in der Lage, weise und vernünftig zu handeln. Leider ist die Welt nicht weise geworden und wir werden das im Laufe des Lebens auch nicht allzu oft. Dass Leute selten einer Meinung sind, ist allerdings ja erstmal nichts Schlechtes. Schließlich brauchen wir Rede und Gegenrede in einer Demokratie, brauchen den Meinungsaustausch untereinander. Merkwürdig wird es jedoch dann, wenn wir ein gemeinsames Ziel haben und uns dennoch uneins sind. Fundis gegen Realos. Konservative gegen Liberale. Wir kennen das von der Politik ja nur allzu gut.

Dass immer über die Deutungshoheit verhandelt wird, ist natürlich auch ein Zeichen einer gesunden Demokratie. Dass es jetzt die Möglichkeit gibt, das direkt und ungefiltert zu tun, daran müssen wir uns noch gewöhnen. Auch, wenn der Spruch, das Internet sei für uns alle Neuland verspottet wurde - einige Dinge sind immer noch Neuland. Und einige Dinge müssen wir als Gesellschaft noch verhandeln. Wenn jeder die Möglichkeit hat, etwas zu sagen - und das auch alle tun - dann öffnet sich ein riesiger Meinugnsraum, in dem wir uns zurechtfinden müssen. Wir müssen täglich einordnen, sortieren, uns fragen wer wie was gemeint hat. Auch die ständige Vertiefungen der eigenen Position ist neu. Das sich immer wieder erklären müssen, weil ständig neue Personen dazustoßen und neue Leute uns immer wieder auffordern unsere Standpunkte klarzulegen. Oder auch fragen: Warum sagst du jetzt nichts zu den aktuellen Konflikten in der Welt?

Dieses ständige Herausfordern, das ständige Sich-Vergewissern ermüdet. Selbst, wenn man ständig auf denselben Link hinweist, ist das eine anstrengende und erschöpfende Tatsache. Denn im Netz agieren wir mit Fremden. Im normalen Alltag müssen wir unsere Positionen nicht verteidigen, müssen das nicht ständig erklären, wofür wir stehen. Wer sich gut genug kennt, der kennt den Anderen. Der weiß auch, wie er zu gewissen Fragen steht und muss ihn nicht ständig herausfordern. In Netz aber sieht das anders aus: Ständig werden wir von Fremden angefochten, müssen uns beweisen, müssen uns rechtfertigen für das, was wir sagen und tun. Selbst, wenn wir einen festen Followerkreis haben ist das der Fall - außer, wir sperren unsere  Accounts privat zu und lesen nur noch. Da es ermüdend ist, schleicht sich auch ein häufig gereizter Ton in Debatten. Es ist, als müsste man dem eigenen Kind immer und immer wieder erklären: „Nein, du kriegst jetzt keinen Keks. - Nein. wirklich nicht. - Nein. - Nein, du bekommst keinen, wir essen gleich zu Mittag. - Nein, wirklich nicht.“ Und diese Debatte führen wird dann vor jedem Essen nochmal. Immer - wieder.

Wer aber hat jetzt die Deutungshoheit im Netz? Für die Einen sind es die alten Gatekeeper, die Journalisten, Zeitungen, Verlage. Für die Anderen sind es Personen, die angeblich das aussprechen, was man ja so nicht sagen darf. Dass dies ein Trugschluss ist - schließlich sagen die Leute ja das durchaus - ist da nebensächlich. Influencer*innen, die mit Rabatten wedeln, Fitnessgurus, die mit Verboten drohen - letztendlich ist die Frage, wer die Deutungshoheit im Netz hat eine, die so individuell ist, dass man sie vielleicht gar nicht beantworten kann. Sicher: Die alten Zeitungsmarken, die Öffentlich-Rechtlichen, die Experten*innen können immer noch Themen setzen und dafür sorgen, dass man sich an die Gurgel geht. Es genügt ja schon eine medizinische Studie, um aufzuzeigen, wie verschieden da die Meinungen sind.

Doch warum gehen sich Leute wegen Kleinigkeiten die Gurgel, wenn sie ein gemeinsames Ziel verfolgen? Oder warum gründen wir Deutsche offenbar nicht einen Verein für etwas, sondern drei, vier oder fünf für eine gemeinsame Sache? Weil wir starrköpfig, ungehobelt, rechthaberisch und zornig sind? Weil wir Unterschiede nicht stehen lassen können, sondern unbedingt eine große harmonische Familie sein möchten? Dabei sind Familien gerade nicht unbedingt harmonisch und Richter*innen könnten eine Menge über Streitigkeiten erzählen, die nur aufgrund eines überhängenden Baumzweigs entstanden sind. Vielleicht ist der Mensch so angelegt, dass das große harmonische Glück, die große harmonische Gemeinschaft - na ja, der letzte Versuch war ja auch nicht besonders glücklich - einfach nicht erreicht werden kann? Sind wir wirklich, wie Hobbes meinte, der Wolf des Anderen? Permanent auf der Suche nach Schwachpunkten, auf die wir zustoßen können?

Im Netz könnte man den Eindruck schon haben. Wie gezielt da provoziert, süffisant angemerkt, wie oft unverhohlen gehetzt wird … Das kann nun nicht unbedingt etwas mit dem Verschwinden der Person hinter einem Bildschirm zu tun haben, kann die Anonymität nun nicht erklären. Schließlich bringen Menschen sich auch von Angesicht zu Angesicht um. Aber die Hemmschwelle ist niedriger, weil man ja „nicht erwischt werden kann“ oder weil das Instrumentarium, das für Recht sorgen sollte, wirkungslos ist. Wenn der eine Account geblockt ist, macht man rasch einen anderen auf. Man hüpft von Identität zu Identität und genießt es unendlich: Das Beleidigen und Niedermachen. Manchmal ist es erschreckend, in die Abgründe des Netzes zu blicken, in die Parallelwelt von Telegramm und Parler. Da kann man den Glauben an einen vernünftigen Umgang mit dem Netz schon verlieren.

Allerdings: Sollte man die Deutungshoheit nun diesen Leuten überlassen? Dann wäre der Schritt zur nächsten Diktatur nicht mehr weit, vor allem wäre dann der Rückfall in die Barbarei kaum aufzuhalten. So mühselig das ständige Vergewissern der eigenen Meinung, der Verteidigung des eigenen Denkens ist - es ist notwendig. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Minute für Minute. Wir gehen uns vielleicht für das dasselbe Ziel an die Gurgel - aber im besten Falle ist es die Demokratie, die das Ziel ist. Und solange Meinungsvielfalt und -freiheit nötig sind, um Positionen zu verhandeln … und solange wir fähig sind auch unsere Meinungen ändern zu wollen und zu können, solange müssen wir manchmal auch wie die römische Soldaten da stehen und achselzuckend zusehen, wie sich Leute an die Gurgel gehen.

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