Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Nein, muss ich nicht: Die Pandemie und die Selbstoptimierung

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneNein, muss ich nicht
Die Pandemie und die Selbstoptimierung

Selbstoptimierung ist definitiv in. Das Beste aus sich selbst herausholen. Dazu haben wir alle schicke Gadgets wie Armbänder, Uhren. Die Waage funkt die Kilos an die Fitness-App. Wie runtastic wir waren teilen wir in allen sozialen Medien. Durch Social-Media-Accounts werden wir angefeuert: Hol das Beste aus dir raus. Sei die beste Version deiner Selbst. Und wenn du noch dieses Pülverchen trinkst, dieses Sportprogramm buchst, dann erreichst du sicherlich dein Ziel.

Und vor allem jetzt in der Pandemie, wo wir alle ja schön zu Hause bleiben sollen oder müssen ist es die Pflicht der Bürger, sich fit und in Form zu halten. Denn wehe, man hat ein paar Kilos zu viel. Dann schnappt die Beschämung auf. Und man will doch ein gutes Beispiel sein. Oder? ODER?

Homeoffice können sich nur privilegierte Leute leisten. Die Leute mit den weißen Hemden nämlich, die schon vorher überwiegend in der Verwaltung, in der IT, in Bürojobs steckten. Wer mit Zahlen, Daten und Fakten zu tun hat, der kann seinen Arbeitsplatz nach Hause verlagern - falls das Internet schnell genug ist. Homeoffice ist ein Privileg. Ein Privileg der Besserverdienenden in der Regel. Double Income, No Kids nannte man mal eine Beschäftigtenklasse - doppeltes Einkommen und keine Kinder. Dass jemand, der keine Kinder hat und dessen Freizeit darin bestand, sich mit den Kollegen nach Feierabend zur After-Work-Party zu treffen nun genügend Zeit sich selbst fortzubilden und nach der Pandemie perfekt Chinesisch sprechen kann - dass dieser jetzt also Zeit und Muße hat um sich selber fit zu halten ist kein Wunder. Wer Privilegien hat, kann diese natürlich auch genießen.

Wenn du gerade Bescheid bekommen hast, dass du Kurzarbeitergeld bekommst, deine Kinder erstmal wieder nicht zur Schule gehen können und du in einer relativ kleinen Wohnung in einem nicht so tollem Viertel der Stadt wohnst - dann hast du sicherlich erstmal anderes zu tun als sich für den nächsten VHS-Kurs für Chinesisch einzuschreiben. Dann ist die Priorität erstmal: Wie komme ich durch die nächsten Tage, Wochen, Monate? Die Miete ist weiter zu bezahlen, Strom läuft weiter, Essen muss auf den Tisch. Trotz der Tatsache, dass du Einkommenseinbußen hast. Und den ganzen Tag Kinder zu beschäftigen ist eine Aufgabe, der man dann auch gegenübersteht. Und vielleicht auch mal begreift, warum Kindergärtner*innen besser bezahlt werden sollten … Da bleibt keine Zeit für Selbstoptimierung. Es ist ja schon ein Erfolg, wenn du mal am Abend eine Runde um den Block spazieren gehen kannst, wenn die Kinder im Bett sind. Dann zu fordern, dass man doch die freie Zeit für Nützliches verwenden soll ist eher Hohn als Motivation.

Was irritiert - woher wollen alle Leute eigentlich wissen, dass ich nicht schon die beste Version meiner Selbst erreicht habe? Woher wollen Leute die Gewissheit nehmen, dass ich nicht so zufrieden bin wie ich momentan bin? Und warum werden Leute immer wütend, wenn ich das propagiere, dieses „ich will so bleiben wie ich bin.“ Ja, klar, du darfst so bleiben wie du es willst. Doch es genügt der leiseste Anschein der Faulheit, es genügt der leiseste Verdacht des Nicht-Leistungs-Erbringens. Jenseits von Pausen und Urlaub, die eigentlich ja nur dazu dienen, dass du mit vollen Kräften zurück ins Berufsleben kommst und dann schön weitermachst wie bisher, jenseits dieser Formen ist das einfache Da-Sitzen nicht anerkannt. Außer du nennst es Mediation und es hilft dir im Berufsleben. Dann schon. Jedoch einfach nur Dazusein, ohne Sinn, ohne Zweck, ohne die Anforderung später dann wieder leisten zu können - das ist unheimlich.

Es stellt die Leistungsgesellschaft komplett in Frage. Wenn ich sein kann, wie ich bin, wenn ich mit meiner Stellung im Betrieb zufrieden bin, dann torpediere ich die Karriereleiter. Die man unbedingt und um jeden Preis immer erklettern sollte. Das ist einfach unheimlich und fragwürdig. Wer sich nicht verbessern will, der wird abgeschrieben. Wer nicht das Letzte aus rausholt und noch zusätzliche Überstunden macht, mit dem ist nichts anzufangen. Dass Leistung um jeden Preis jedes Jahr Born-Out und Depressionen fördert nimmt man halt in Kauf. Und selbst wenn man eine Work-Life-Balance einführt, passiert das nicht, um sich komplett zu erholen. Sondern nur, um festzustellen, wann ich in den Pausen noch weiterarbeiten kann ohne dass ich komplett umfalle

Dass diese Ideal des Fit-Seins den Breitensport vollkommen unterwandert und dass es auch hier nicht mehr um die reine Freude an der Bewegung geht: Keine neue Erkenntnis. Auch hier aber stößt man auf Wut und Zorn, wenn man feststellt: ich mache keinen Sport. Ich sehe es nicht ein, nur weil ihr ein bestimmtes Bild eines Körpers habt mich dessen zu unterwerfen. Es reicht für mich, wenn ich eine Stunde spazieren gehe, mit den Kindern tobe, wenn ich beim Hausputz durch die Wohnung tanze. Denn das ist Bewegung, die mir Spaß macht. Da Bewegung aber keinen Spaß machen soll, sondern in der Regel dazu da ist irgendwelche Ziele zu erreichen, ist das Unverständnis an dieser Stelle durchaus verständlich. Höher. Schneller. Weiter. Nur: Warum? Und wozu? Und wenn ich an der Spitze angekommen bin, was ist dann? Dann kommt ein Anderer, der besser ist und das Spielchen beginnt von vorne?

Eine Pandemie ist kein Bildungsurlaub. Und schon der Begriff des Bildungsurlaubs stellt die Frage auf, was das jetzt eigentlich sein soll: Entweder habe ich Urlaub oder ich bilde mich weiter. Es ist zwar notwendig, dass ich dafür freie Zeit habe, aber der Begriff sagt ja schon: Ich lerne nicht für mich alleine, ich lerne wieder für die Arbeit. ich werde für den Chef nützlicher. Ich bin für den Chef nicht nützlich, wenn ich nur tagelang die Südwand anstarre. Was für mich äußerst erholsam sein kann, aber ich habe mich ja da nicht irgendwie gebildet. Und das werde ich auch während einer Pandemie nicht können. Eine Pandemie ist ein Ausnahmezustand. Es gibt kein normales Leben in einer Pandemie. Ich werde sicherlich eine Art Alltagsroutine entwickeln müssen, die dann vielleicht normal werden wird - aber das, was ich sonst in meinem Leben tue ist beschnitten. Von daher: Bevor das nächste Mal wieder irgendjemand damit angibt, er habe fünf Sprachen gelernt, könne jetzt super programmieren und dann habe er auch noch zusätzlich einige Kilos verloren ... freundlich nicken und gehen. Tugendprotzer kann eh keiner ausstehen.

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.