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Gefährlich ist das Digitale, nur Analog-Sein ist das Wahre

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneGefährlich ist das Digitale,
nur Analog-Sein ist das Wahre

Die Facebookgruppe von und für Medienpädagogen erheitert mich gelegentlich, ab und an ist sie gar nützlich und dann bricht mal wieder der vorhersehbare Streit zwischen den Befürwortern des Digitalen und den Bewahrern des Analogen aus.

In diesem Falle entzündet es sich an dem kommenden Buch »Störfall Mensch« von Thomas Wehrs.

Digitalität ist böse, weil sie das wahre Leben beeinträchtigt und das wahre Leben findet nur an der frischen Luft statt, also Kinder auf den Spielplatz schicken statt an den Bildschirmen hängen lassen... Andererseits, wenn später nach Fachkräften gesucht wird, wenn später Lehrer damit konfrontiert werden, dass Jugendliche diese Medien nutzen müssen, dann ist natürlich mal wieder keiner da, der ein Verständnis für die tieferen Dinge - nicht für die Nutzung von bunten Oberflächen - des Internets hat. Und ein Verständnis dafür, dass alles in Balance gehalten sein muss. Diese Balance muss aber nun jeder Mensch für sich selbst finden und daher ist das mit Ratgebern auch immer so eine Geschichte.

Im Netz - komisch, warum ausgerechnet hier, sollte die Leseprobe nicht gedruckt per Post verteilt werden, wenn das Internet so schlimm ist, ich frag ja nur - jedenfalls ist diese Leseprobe zu finden und obwohl ich eigentlich seit Spitzer gelassener sein möchte, ich meine, Spitzer erhöht meinen Blutdruck nun auch nicht mehr auf Rekordhöhe, muss ich von jemanden, der systemischer Therapeut ist, dann vielleicht doch andere Dinge erwarten als das, was da kommt.

Der Titel lautet allen Ernstes "Störfall Mensch". Ich frage mich zwar, was der Mensch da stören soll oder was der Störfaktor beim Menschen sein soll, aber gut. "Störfall Internet" ist halt so propgandistisch. Aber schauen wir mal genauer in die Leseprobe hinein...

"Online zu sein ist für die meisten von uns die Regel. Offline zu sein dagegen mit einer besonderen Qualität behaftet." Erstmal ist das nur eine Behauptung, die nicht begründet wird. Zweitens ist das eine Behauptung, die nicht begründet wird. Drittens ist Qualität das, was jemand als Qualität definiert. Wenn ich drei Stunden in einem Livestream jemanden dabei zuhöre, wie er die ganzen Videos meiner Lieblingsserie analysiert - okay, es waren neun Stunden und fragt nicht - dann ist das für mich eine qualitätsvolle Zeit. Ich kann die Diskussionen der anderen Teilnehmer im Chat verfolgen, ich kann nachverfolgen, wie er zu den Schlussfolgerungen kommt, ich kann gleichzeitig auch noch Erkenntnisse gewinnen. Ich kann nicht als Mensch generell für alle festlegen, was Qualität haben soll und was nicht. Ich kann der Meinung sein, dass eine Offline-Aktivität generell höher zu setzen ist als eine digitale Aktivität, aber das ist nur meine Meinung. Die müsste ich begründen. So wie ich das gerade mit meinem Beispiel des Livestreams getan habe. Auch, wenn das hier nur eine Leseprobe und ein Auszug ist, sowas müsste man dann doch begründen.

"Gilt dies nicht vielen als Verweigerung, Ablehnung, Isolierung, bewusste Distanzierung oder gar Rebel- lion? Es scheint, als bedürfe es einer Dosis Mut, sich dies zu erlauben." Immer gerne genommen: Weil das Eine böse ist und das Andere gut und weil ich auf der Seite der Guten stehe - das behaupten leider immer alle Leute von sich - bin ich automatisch auch immer auf der Seite der Rebellion. Yeah. Leider ist das ein rhetorischer Trick, der so alt ist, dass man nicht mehr drauf reinfallen sollte.

"Die bereitwillig erteilte Unterordnung unter die rigiden Gesetze der Digitalisierung verlangt von uns, unser Menschsein in seiner ganzen Komplexität zu verleugnen." - Wir können über die bereitwillig erteilte Unterordnung sicherlich reden. Wobei mir auch hier wieder eine Definition fehlt, denn wenn ich heute mich bewerbe, dann geschieht das in der Regel mit digitalen Mitteln und bin ich nicht bei diversen Jobbörsen registriert, dann bekomme ich auch Jobangebote nicht in der Form mit. Selbst die Agentur für Arbeit setzt voraus, dass man für ihre Jobbörse eine Mailadresse hat. Im beruflichen Umfeld brauche ich digitale Kenntnisse - dazu gehört ja schon allein das Öffnen des Programms, mit dem ich arbeiten muss. Im privaten Bereich können wir über eine bereitwillig erteilte Unterordnung durchaus diskutieren. Kein Mensch muss bei Facebook sein, kein Mensch WhatsApp nutzen, kein Mensch braucht Google Maps, kein Mensch den Zugriff auf die Fahrpläne der Öffentlich-Rechtlichen mit dem Smartphone und kein Mensch braucht die Lokalzeitung im Netz. Man merkt aber schon, dass hier ein Spalt entsteht, wenn man Digitalisierung nur mit Facebook, Instagram, Big Data und anderen Begriff gleichsetzt. Was die Leseprobe übrigens tut, es gibt ein schönes Bullshit-Bingo-Wortraster, das man perfekt mit diesem einen Absatz ausfüllen könnte. Nebenbei ist das natürlich auch eine Einschüchterungs- und Überforderungstaktik des Lesers, wenn Zeile auf Zeile, Wort auf Wort nur Buzzworter zu finden sind.

Doch zurück zum Leben: Natürlich kann ich auf Google Maps verzichten und einen Stadtplan kaufen. Natürlich kann ich auf Zeitungswebseiten verzichten und darauf vertrauen, dass Fernsehen und Radio mir immer die besten aller Informationen zukommen lassen. Wobei auch hier schon die Frage gestellt wird: Wie empfange ich denn mein Fernsehprogramm? Analog wohl kaum noch, sondern auch über Antenne digital. Ebenso das Radio: DAB-Empfänger haben die UKW-Empfänger zwar nicht verdrängt, aber auch hier ist das Radiosignal nicht mehr analog. Reden wir von Digitalisierung, dann müssen wir auch diese Dinge mitnehmen. Die Videothekenkultur ging gerade vor einigen Jahren unter, weil Netflix und Amazon es möglich machen, Filme über die Internetverbindung auszuleihen. Nicht, dass es Videotheken komplett ausgestorben sind. Aber selbst die letzten Blockbuster-Filialen in Alaska sind allmählich dabei zu schließen

Das Menschsein in seiner ganzen Komplexität werde also durch die Digitalisierung verleugnet. Behauptet der Autor. In der Leseprobe. Aha. Ja. Das Menschsein an sich. Nun, es könnte auch durch die Industrialisierung und das Fließband des Henry Ford gefährdet gewesen sein in seiner Komplexität. Oder durch Jobs, die im Niedriglohnsektor sind und die sicherlich nicht dazu beitragen, dass man an die Spitze von Maslows Bedürfnispyramide kommt. Ginge es danach, müssten wir eigentlich lauthals betonen, dass Marx natürlich stets Recht hatte und der Kapitalismus an sich... Das war Sarkasmus.

Wir könnten feststellen, dass eine Ebene der Kommunikation im Internet fehlt: Mimik, Gestik, die Sprachmelodie-Ebene - aber das war vor der Erfindung des Facebook- und Youtube-Livestreams und die ganze Gefühlswelt findet sich halt auch im Netz wieder. Und selbst beim Telefon, das ja so analog ist, fehlt schon eine Ebene. Nun: Eine Bekannte von mir erholt sich gerade von einer Krebsoperation und postet das auf Facebook. In meiner Twittertimeline hat jemand offenbar einen schlechten Tag gehabt und was passiert? Er bekommt Zuspruch von seinen Followern.

Die Komplexität des menschlichen Daseins, der Mensch an sich hört nicht an der Schnittstelle Tastatur-Bildschirm-Internet auf. Das Dasein an sich überträgt sich mit allen Facetten ins Digitale. Falls wir dann noch Virtuelle Realitäten und Augmentierte Wirklichkeiten in unser Leben integrieren... Skype-Chat sozusagen mit virtuellen Gesten... - Leider übertragt sich das Analog ins Digitale mit allen Facetten, mit allen Dummheiten, mit allen blöden Verhaltensweisen. Das lässt sich nicht verhindern.

"Vor Gericht würde der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift eine fortschreitende Entmenschlichung aufführen, die der Mensch an sich selbst vornimmt. Dabei schwerwiegende Indizien aufrollen wie mangelnde Gesprächsbereitschaft, ein gestörtes soziales Miteinander, die Unfähigkeit zu vertrauen, starke Tendenzen zu Vereinzelung, Schablonisierung, Anonymisierung. Auch gehören Scheuklap- peneffekte dazu wie der Rückzug in eine Scheinwelt, in der keine realen Inter- aktionen vorgesehen sind, die Flucht in eine Pseudowirklichkeit, wie sie uns die Medien vorspielen, in standardisierte Gefühlswelten, die keinen echten Nachhall provozieren, in die Unfähigkeit oder Verweigerung, profunde reale Beziehungen auf der Basis von Wertschätzung und Respekt zu pflegen. Die allgegenwärtigen Optionen auf Vervielfältigung und Vervielfachung von Information schaffen mehr Konfusion als Erkenntnisgewinn."

Da rollt der gute Autor aber nun wirklich eine Reihe von niederlastenden und schwerverdaulichen Dingen auf - sortieren wir das mal.

Erstens: Die Fortschreitende Entmenschlichung nur an der Digitalisierung festzumachen ist Unsinn. Falls es eine solche Entmenschlichung gibt. Ja, die momentane Diskussion über gewisse Gegenstände in der Gesellschaft - zugegeben. Aber diese Entmenschlichung betreibt z.B. die BILD nun mit ihrer Agenda schon seit den 50gern. Fremdenhass und Antisemitismus gab es leider auch nach der Entnazifizierung - außer natürlich, wir Deutschen brauchen unbedingt Arbeitskräfte, weil die Deutschen sich zu fein für gewisse Jobs sind oder heutzutage eher Abitur machen als den goldenen Boden des Handwerks zu suchen. Was Facebook und Co. gemacht haben ist, dass sie die verborgenen und bisher nicht bemerkten Abgründe der Gesellschaft offengelegt haben. Früher hätte man fremdenfeindliche Thesen am Stammtisch geäußert und vielleicht noch im Bekanntenkreis beim guten, alten, förderlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Heute ist der Abgrund, der Spalt der Gesellschaft - an dem auch die Politik durchaus Schuld hat und trägt, wer hat uns denn jahrelang eingeredet, Deutschland sei kein Einwanderungsland und das Boot sei voll? - nur sichtbarer geworden.

Zweitens: Genau diese Argumente hätten auch die Gegner des Bücherlesens anführen können. Und das haben sie damals ja, als auf einmal in der Bürgerschicht Frauen und Herren anfingen, Romane zu lesen. Wer ein Buch liest ist nicht gesprächsbereit, das Buch stört das soziale Miteinander des Familienlebens, das gegenseitige Vertrauen ist auch eingeschränkt - der Andere kann sich ja Informationen durchs Leben angeeignet haben, die ich nicht hatte und mich ausstechen im Job oder gar, Gott bewahre, Schriften gegen Kirche, Gott und die Stellung der Frau in der Familie gelesen haben... Ja, Bücherleser ziehen sich zurück, die vereinzeln. Furchtbar sowas. Und weil die nur noch Romane lesen, in denen erfundene Charaktere mit eingeschränkten Eigenschaften, Schablonen fast, vorkommen... Und anonym ist das Lesen eines Buches auch noch? Meine Gott, wir haben eine Revolution im Lande. Wir müssen dagegen vorgehen. Es kann nicht sein, dass das Leben von Büchern die Gesellschaft ins Wanken bringt. Ich bitte euch, Bücherleser haben Scheuklappen auf, ziehen sich in Scheinwelten zurück, kennen nur noch standardisierte Gefühlswelten und scheuen sich echte Beziehungen einzugehen. - Dass wir später eine Salonkultur hatten, in denen über Bücher und Dramen diskutiert wurde, dass aus dieser Salonkultur wichtige Impulse für das Bürgertum kamen, nicht zu vergessen, dass sich Arbeiter-Lesezirkel mit Marx und den anderen Werken auseinandersetzten - das alles müsste man dazu nehmen, um sich zu vergegenwärtigen wie eng, klein und dumpf die Realität des Autors zu sein scheint. Was die Digitalisierung bringen mag, müssen wir sehen.

Drittens: "Die allgegenwärtigen Optionen auf Vervielfältigung und Vervielfachung von Information schaffen mehr Konfusion als Erkenntnisgewinn." Ja. Stimmt. Es ist ja nicht so, dass der Buchdruck zu Zeiten Luthers das nicht auch hervorgebracht hätte: Konfusion. Oder die Möglichkeit, Töne auf Schallträger zu pressen und wieder abzuspielen. Auf Wachs, Schellack oder Vinyl. Information ist ja erstmal Information. Die allgegenwärtigen Optionen gibt es nicht erst mit dem Internet. Vorher gab es Enzyklopädien auf CD-ROM. Davor gab es Lexika in dreißig Bänden. Die Option auf das Wissen für alle - die gabs halt bis zu Luther nicht. Insofern wäre ich vorsichtig mit dem Gebrauch dieser Wörter. Ob mehr Information gleichzeitig mehr Konfusion bedeutet - das wäre zu durchdenken. Falls der Autor hier auf Fake News und Konsorten abzielt: Allein schon die Tatsache, dass es mehrere TV-Sender gibt, die Informationen vervielfältigen und glücklicherweise nicht gleichgeschaltet sind - allein dieses Tatsache führt schon bei Menschen zu Konfusionen, wenn ein Thema von zwei Sendern unterschiedlich aufgearbeitet wird. Wie können nur Menschen unkonfusiert in den Tag starten, wenn sie drei oder vier Zeitungen abonniert haben, wenn sie den Spiegel, den Stern, den Focus und noch das Goldene Blatt lesen? So viele Informationen auf gedrucktem Papier in den klassischen Medien... Das kann doch nicht gut sein.

Erkenntnisgewinn aus Informationen muss jeder Einzelne für sich gewinnen. Wie man an diese Erkenntnisse kommt - die Methoden - sollten Eltern, Lehrer oder gescheite Mitmenschen anderen Menschen vermitteln. Erkenntnisse aber kann ich nur für mich gewinnen und allenfalls davon ausgehen, dass der Nächste vielleicht ähnliche Dinge wie ich für sich erkannt hat. Diese Erkenntnisse muss ich nicht unbedingt im Gespräch von Angesicht zu Angesicht gewinnen, die kann ich auch beim Durchlesen eines Kommentarstrangs bei Facebook haben. Etwa, dass es Leute gibt, wie wirklich finden, Anchovis gehören auf die Pizza. Oder schlimmer noch, es gibt Leute, die wollen Döner ohne Scharf.

Das Entscheidende ist: Was mache ich mit den Erkenntnissen. Was mache ich mit dem, was sich bei Facebook lese, bei Twitter erfahren, bei Instagram sehe? Wie gehe ich damit um und was prägt mein Leben? Ich kann Kants sämtliche Werke gelesen, aber nicht verstanden haben. Ich kann Facebook nutzen, ohne mir Gedanken über Algorithmen zu machen. Woher ich meine Informationen beziehe ist nicht belanglos - alles andere als dass - aber wenn ich mich in meiner analogen Filterblase mit BILD, RTL, RUSSIA TODAY und dem FilmFilmFilmFilm eingerichtet habe, dann werde ich Informationen aus dieser Blase nicht hinterfragen. Und weiß Gott, wer Bus und Bahn wird, wird genau diese Sorte von Menschen kennen, die sich miteinander über Dinge unterhalten, die für sie die letztendliche Wahrheit sind.

Man kann und darf kritisch über die Digitalisierung reden und nicht alles, was diese bringt, ist von Vorteil. Nicht alles, was die Industrialisierung brachte, war okay und man muss nur einen Blick in die Werke von Dickens werfen, um das zu wissen. Doch genauso wenig wie die Luditen letztendlich Erfolg hatten, so wenig werden gewisse Leute Erfolg haben, die sich gegen eine Revolution stellen, von der sie sich offenbar abgehängt fühlen. Nichts dagegen, dass wir eine Balance bewahren müssen zwischen Technik und Leben. Zwischen Zeit, die wir am Computer verbringen und Zeit, in der wir miteinander ein Stück Torte verzehren. Aber wie diese Balance auszusehen hat? Die Antwort darauf muss jeder selber rausfinden. Das ist halt leider so, wenn ein Erwachsener ist. - Obwohl offenbar viele immer noch Leute haben wollen, die für sie denken und sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Oh Kant, leuchte denen  doch bitte in ihren Träumen heim.

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