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EverymanHYBRID oder 8 Jahre transmediales Serienerzählen

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneEverymanHYBRID ...
...oder 8 Jahre transmediales Serienerzählen

Es beginnt im Jahr 2010. Drei Freunde beschließen aus einer Bierlaune heraus einen Youtubekanal zu gründen, der Fitnesstipps für Leute mit schmalem Einkommen gibt. Gesunde Ernährung, Klimmzüge, das ganze Programm halt. Wobei: Dass ab und an die legendäre Internethorrorgestalt "Slenderman" in den Videos auftaucht - das ist, wie sich in einigen Videos herausstellt durchaus erstmal nichts weiter als etwas geschicktes Marketing für den Kanal. Wobei...

Manchmal bekommen Geschichten eine Art Eigenleben. So wie im Fall des "Slenderman" oder "Slender Man", der 2009 im Internet geboren wurde und seitdem es in diverse Videospiele und einen im August des Jahres anlaufenden Horror-Kino-Film geschafft hat. Da "Slenderman" im Internet entstand, haben die Nutzer*innen und Fans kräftig am Mythos der Figur weitergestrickt. Hintergründe ergänzt. Haben eine Mythologie erfunden. Kurz: "Slenderman" ist ein Kind des Creepypasta-Genres und bis heute vielfältig interpretierbar. Grundzüge der Figur stehen durchaus fest, aber wer heute ein "Slenderman"-Spiel macht, eine Geschichte schreibt, der kann die Figur um Details ergänzen. Copy und Paste und Horror. Creepypasta halt. Den Sprung in den Mainstream schaffte die Figur mit den Computerspielen, die es seit 2012 gibt - und leider auch immer wieder durch Zeitungsmeldungen, in denen die Fiktion mit der Realität verwechselt wurde und Mörder*innen angeblich vom Slenderman zu ihren Taten getrieben wurden. Vermutlich hat man deswegen den Hollywoodstreifen in den Herbst gelegt...

Die Webserie "EverymanHYBRID" hat den damals noch jungen Mythos aufgegriffen. Sie ist zwar nicht die erste Serie, die den "Slender Man" als Figur benutzt - das wäre die in drei Staffeln erzählte Serie "Marble Hornets". "EverymanHYBRID" schafft seit 8 Jahren eine faszinierende transmediale Erzählung, arbeitet mit Alternative-Reality-Games-Strukturen und ist bis heute als Projekt aktiv und offenbar im letzten Drittel der großen Erzählung, die mit den drei Freunden und Fitness-Videos beginnt und sich dann zu etwas Mysteriöserem entwickelt.

Wobei die Handlung an sich mit etlichen doppelten Böden arbeitet und das betrifft auch die verwendete Technik, doch erstmal ein Versuch, die Handlung wenigstens einigermaßen übersichtlich zusammenzufassen: Nachdem die drei Freunde eingestehen, dass der "Slender Man" in den ersten Videos ein Marketing-Gag war, passieren allmählich mysteriöse Dinge. Videos tauchen auf dem Kanal auf, die die Freunde nicht sehen können - wir Zuschauer allerdings schon. Jemand hat offenbar Zugriff auf den Kanal und auch auf Material, das die Freunde aus nächster Nähe zeigt. Irgendjemand bricht in das Haus der Freunde ein, der "reale Slender Man" erscheint und rätselhafte Postkarten sowie merkwürdige Holzkisten - per Post diversen Fans zugestellt und ja, die sind tatsächlich bei uns in der normalen Welt verschickt worden - erzählen eine Geschichte von einem Doktor, der vier Kinder mit dramatischen Missbrauchserfahrungen adoptiert hat. Kinder, die die Namen der Protagonisten tragen - aber eigentlich sind die Kinder des Doktors seit den 80ger Jahren verstorben. Ist das nun ein Zufall, dass die drei Freunde und ihre Bekannte diese Namen tragen? Sind sie die Kinder, die adoptiert wurden? Warum sehen sie bestimmte Videos nicht? Was hat der "Slender Man" vor? Und wie kann es sein, dass Dinge passieren und doch nicht passiert sind? Realitäten scheinen aufeinanderzutreffen, ein mittelalterliches Legendenspiel spielt eine Rolle und wir als Zuschauer versuchen zu begreifen, was da eigentlich genau passiert. Und stoßen auf die Ebene hinter der Ebene der anderen Ebene...

Da die Serie aktuell noch läuft, ist Einiges noch unklar und wir Zuschauer*innen wissen nicht genau, was das Finale bringen wird. Der letzte aktuelle Upload eines Videos erfolgte am 25. April. Und damit wären wir wieder bei der Technik an sich. "EverymanHYBRID" ist eine No- oder Low-Budget-Serie, die seit 8 Jahren auf Youtube läuft. Und nicht nur dort: Es gibt offizielle Twitteraccounts, es gibt Blogs, die Macher*innen haben vor Zeiten uStream für Livestreams genutzt. Kurz: Diese Serie wird über mehrere Kanäle erzählt und daher ist sie eine transmedial erzählte Geschichte. Hinzu kommt noch, dass sie Elemente von einem Alternative-Reality-Game in sich vereint - einem Spiel, das im wahrsten Sinne des Wortes mit der Realität an sich spielt. ARGs nutzen das Internet, um eine Geschichte zu erzählen und meistens auch, um für ein Produkt zu werben. Oder ein Serienerlebnis zu vertiefen. "Lost" hatte zum Beispiel ein ARG, die Dinger waren eine Zeitlang total hipp so um das Jahr 2010. Blogbetreiber*innen fanden seltsame Dinge in der Post - ich hatte vorhin Holzkisten erwähnt - teilweise standen URLs auf merkwürdigen Postkarten oder man erhielt Mails mit Codes. Im Internet findet man dann von den Spielmacher*innen angelegte Seiten, Blogs, Foren mit denen eine Art Schnitzeljagd betrieben wird - im schlechtesten Falle - oder man als Spieler*in direkt angesprochen und mit in eine Geschichte bezogen wird, die unabhängig vom Buch, Serie oder wasauchimmer das Spiel nun vermarkten soll ist. Es kann durchaus sein, dass man dann in seinem Alltag durchaus körperlich auch gewisse Dinge erlebt, das wäre dann die beste Variante. Buchverlage haben das eine Zeitlang genutzt. Da diese Dinge aber Geld kosten - Zeit sowieso - und auch detailliert geplant werden müssen, da klar sein muss wann wer was zu welchem Zeitpunkt sagt - haben Buchverlage das dann schnell wieder sein gelassen. Vielleicht auch, weil nicht klar war, ob der Aufwand wirklich die Verkaufszahlen in die Höhe treibt. Dass das nicht unbedingt der Fall sein muss, sondern dass man ARGs auch nutzen kann, um die Leser*innen und Spieler*innen intensiver an sich zu binden - das hat man offenbar so um 2010 übersehen.

Nun sollte klar sein: Wenn eine Webserie sozusagen in ihrer DNA schon den "Slender Man" enthält, dass dann diese Serie an sich sozusagen für das Internet geboren wurde. Nicht nur das: Auf Youtube hat sich ein "Slenderverse" entwickelt. Eigenständige Webserien, die mal mehr, mal weniger den "Slender Man" als Antagonisten verwenden und durchaus auch ihre eigenen Wege gehen. Wie "EverymanHYBRID" selbst die Figur nur als Aufhänger benutzt - der hochgewachsene Anzugträger kommt auch öfters mal vor - dann aber allmählich eine eigene Mythologie und ein sehr, sehr interessantes Monster entwickelt, dass sich im Laufe der Handlung hier und da anbahnt. (Kudos an den Schauspieler, ich darf natürlich nichts verraten.) Crossover kommen also durchaus vor. Wobei das für den Zuschauer, die Zuschauerin nicht unbedingt offensichtlich ist. Mal laufen sich die Figuren einfach nur über den Weg, mal behebt man gemeinsam eine Reifenpanne. Sicher ist jedenfalls: New Jersey scheint definitiv kein Bundesstaat der USA zu sein, in dem man gerne nachts allein in den Wald gehen sollte. Oder generell leben sollte. Außer, man mag hochgewachsene Gestalten mit langen Gliedmaßen. Und Tentakeln.

Eine Webserie wie "EverymanHYBRID" oder der Serienkosmos, der es umrankt, hat in der Regel allerdings ein Problem: Sie muss künstlich glaubhaft sein. Einerseits wegen der Figuren vor der Kamera. Wir Zuschauer*innen wissen, es ist eine Geschichte, die erzählt wird, eine erfundene Fabel, ein auf die Bühne von Youtube gebrachtes Theaterstück. Dennoch müssen die Figuren so glaubhaft sein, dass man ihnen abnehmen könnte, dass die Dinge wirklich in ihrer Welt so geschehen, wie wir sie sehen. Die typischen Jungen und Mädchen von Nebenan, die in sehr seltsame Dinge gezogen werden und die versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Daran kann eine solche Webserie durchaus dann scheitern und nicht jede Serie des "Slenderverse" hat wirklich interessante und glaubhafte Charaktere. "EverymanHYBRID" schon. Vor allem, weil die Charaktere sich auch entwicklen. Natürlich wird es in einer Horror-Geschichte immer darum gehen, dass die Figuren tiefer und tiefer in dunkle Abgründe blicken, dass mehr und mehr Schreckliches passiert, dass nach und nach der Wahnsinn droht. Happy-Ends sind nicht unbedingt sicher. Daher müssen die Schauspieler vor der Kamera nun den Balance-Akt der Glaubwürdigkeit schaffen.

Andererseits muss die Webserie auch einen ernsthaften Grund mitliefern, warum Leute ständig mit Videokameras in ihrem normalen persönlichen Alltag unterwegs sind, Dinge permanent filmen und diese Sachen dann auch noch auf Youtube hochladen. Was an Körpern bei "EverymanHYBRID" verbraucht wird - vor allem ab der ungefähren Mitte der Serie - ist schon sehr, sehr hoch. Nicht, dass man wirklich Eingeweide und Blut sehen würde, aber ja: Figuren sterben. In großer Zahl. Im normalen Alltag würde man sicherlich Videos, in denen solche Taten auch nur angedeutet werden auf Youtube nicht zu Gesicht bekommen, weil Youtube das virtuelle Hausrecht ausübt. Wirkliche Gräueltaten finden auf anderen Plattformen statt. (Ebenso natürlich wie Porn. Habe ich gehört. Niemand geht auf Pornseiten, genauso wie auch niemand die BILD liest...) "EverymanHYBRID" bedient sich des Tricks, dass gewisse Videos für die Protagonisten auf derem eigenen Channel nicht zugänglich sind. Für die Betrachter*innen, für den Fan an sich aber schon. Allerdings dann auch eigentlich für die Polizei in diesem Serienuniversum und ja, da knackt es dann etwas: Videobeweise einer Gewalttat sollten bei knapp aktuell 62.000 Follower*innen schon rein zufällig von Polizeibeamten*innen oder besorgten Bürger*innen, die diese Dinge bei der Polizei melden, gesehen werden. Auch fragt sich, warum die zahlreichen Gast-Youtuber*innen nicht den logischen Schritt ergreifen, bei gewissen Dingen einfach mal die Polizei zu fragen... Um Gameomat an dieser Stelle zu zitieren:

"Wegen - PLOT!"

Und genau wegen diesem Plot, wegen der Originalität der Macher*innen, die mit nichts weiter gewappnet als einem Internetzugang und Kameras dabei sind, eine der wohl mit am längsten laufenden Youtubeserien zu produzieren - genau deswegen gibt es begeisterte Fans. Diesseits und jenseits des Kanals. Nic Nocturne von Night Mind, der aktuell 6 Erklärvideos von je anderhalb Stunden zur Serie erstellt hat, soll an dieser Stelle das Schlusswort haben - :

"Die Liebe, die die Zuschauer zu dieser Serie entwickelt haben ist jenseits von dem, was ich erwartet hatte. Die Hälfte von euch, die (in den Kommentaren) erklärt haben, wie sehr sie diese Serie mögen, waren nicht vom Anfang dabei, weil die Serie zu kompliziert erschien. (...) Die Macher der Serie haben es geschafft, dass Fans ihre Häuser verlassen haben, um auf Entdeckungstour zu gehen, schufen so Erinnerungen und Erfahrungen die sonst nicht erschaffen worden sein würden. Es gibt einfach kein vergleichbares Homebrew-Alternative-Reality-Game, das so etwas ermöglicht hätte."

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