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Meine vielen Ichs haben nach dem Tod sicherlich ein gutes Leben

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... haben nach dem Tod sicherlich ein gutes Leben

Dass wir täglich mehrere Rollen spielen, dass wir mal Erwachsener, Kind, mal Untergebener, mal Chef sind, diese Tatsache ist wohl unbestritten.

Dass diese vielen Rollen Ausprägungen eines Ichs sind ist auch dementsprechend logisch, bis man anfängt über die Sache nachzudenken. Da kommt Buchtitel mit der Frage daher, wer man denn sei und wenn ja wie viele?


Dazu ist es gut, sich dran zu erinnern, dass Maslow bei der obersten Stufe seiner Bedürfnispyramide nach der Selbstverwirklichung auch noch eine Stufe draufsetzte. Transzendenz.

Nachdem wir uns selbst verwirklicht haben - und nachdem alle anderen Bedürfnisse abgegolten wurde, man kann keine Stufe bei Maslow überspringen - streben wir die Transzendenz an. Und haben sie im Internet eigentlich auch schon fast beinahe erreicht. Jedenfalls für eine der vielen Rollen, die wir im Internet spielen. Wir suchen in dieser letzten Stufe nach etwas, was außerhalb unseres eigenen Selbst liegt - das kann für die einen Gott sein, für Sheldon in der Big Bang Theory ist es die Verschmelzung des Menschen mit der Maschine, die Singularität. Die dieser, wie er in einer Folge ausrechnet, aber wohl nur unter Umständen selbst erleben wird. Wenn wir unseres Selbst gewiss sind, dann fangen wir an etwas zu suchen, was uns über den Tod hinaus noch Sinn gibt oder etwas, mit dem wir erinnert werden wollen.

Dafür bietet das Internet, das ja angeblich nichts vergisst, eine schöne Möglichkeit. Man baut seine Homepage auf, man schreibt Kommentare in Foren, man arbeitet an einem Aspekt seiner Persönlichkeit, die erinnert werden soll. Manchmal baut man sogar noch zwei, drei andere Ich-Konstrukte auf und lässt diese im Internet fröhliche Urstände feiern. Ja, wir wollen für etwas erinnert werden, ja, wir suchen auch im Internet nach etwas, was Größer ist als wir. Manche schaffen dafür ein Administratoren-Ich für die Wikipedia, andere wiederum leiten Facebook-Gruppen, wieder andere versuchen in ihrem Blog für eine lebenswerte Stadt einzutreten. Abgesehen davon, dass man auf diese Art und Weise natürlich auch seine sozialen Bedürfnisse befriedigt, denn nur weil etwas virtuell erfolgt ist es für das Gehirn nicht unwirklicher - auch wenn es nach circa 150 Freunden aufgibt Generell. Egal ob virtuell oder analog.

Doch diese verschiedenen Rollen, diese verschiedenen Ichs in die wir schlüpfen und die wir unbemerkt von uns selbst an- und ablegen könnten uns tatsächlich überleben, könnten nach unserem analogen Tod virtuell noch ihre Rollen spielen. Zwar würden sie nicht mehr aktualisiert, sie würden nur einen IST-Zustand festhalten - es sei denn wir bestimmten nachdrücklich im Testament, wer unsere Passwörter bekommt und wer was löschen darf und soll, das Vertrauen darauf dass unsere Erben unseren Willen allerdings auch einhalten ist eines, das ebenfalls über den Tod hinausgeht. Sie wären ein Echo, dass ohne Ursprung im Netz noch nach hallt. Foreneinträge mit Meinungen, Diskussionen, Debatten - sie stünden noch im Netz und würden erst dann endgültig gelöscht wenn der Betreiber den Stecker zieht. Denn obwohl gesagt wird, das Internet vergäße nichts trifft das nur auf das Internet zu, dass wir selbst am Leben erhalten. Die Identität, die in Geocities bis 2009 lebte ist heute nicht mehr zu finden - Yahoo hat den Stecker gezogen. Das Posterous-Blog mit den vielen Bildern - es existiert nur noch in der Erinnerung. Ob Bilder und Einträge auf Facebook für die Ewigkeit sind bestimmen nicht wir, sondern es bestimmt ein kommerzieller Konzern in Amerika. Wenn irgendwann die Kosten für den eigenen Server nicht mehr bezahlt werden - dann verschwindet die virtuelle Existenz, die sich in der Homepage manifestierte in den Orkus. Selbst die Way-Back-Machine kann dann nur noch allenfalls Postkartenschnappschüsse der eigenen Existenz anbieten. Was hinter der bunten Oberfläche liegt, das ist dann nicht mehr sichtbar.

Vielleicht ist das die eigentliche Tragik und vielleicht auch die Gnade unseres Zeitalters: Dass wir uns schon zu Lebzeiten transzendieren können, dass wir eine Fülle von Dingen finden können, die unserer Suche nach einem Sinn ein Ende setzen können. Dass andererseits aber auch alle Mails, alle Kommunikation, selbst diese Kolumne hier genauso flüchtig ist wie alles, was mit uns zu tun hat. Wie wir mit dieser Tragik umgehen, das haben wir noch nicht erforscht - ein Ausdrucken von wichtigen Mails ist auch keine Lösungs wenn die Tinte des Druckers nach 30 Jahren verbleicht... Und das Ansammeln von Festplatten voller Daten ist auch keine Lösung - mag sein, dass die nächsten Betriebssysteme völlig andere Formate haben. Vielleicht sollten wir uns daher schon zu Lebzeiten damit auseinandersetzen, dass wir vielleicht doch das, was uns Wert erscheint auf analoge Materialien reproduzieren. Vielleicht ist das die Möglichkeit ein Ich zu archivieren, dass mit Selfies und mit den modernen Mitteln der Inszenierung erhalten werden möchte - allenfalls bleibt nur der Trost, dass die anderen Ichs im Netz noch eine Weile uns überleben werden. Auch das ist eine Art von Transzendenz.

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