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Der Traumfänger

Story1998 sah ich auf einem Festival meinen ersten Traumfänger. Neugierig fragte ich, wofür dieser Ring mit dem Netz drinnen und den Federn und Perlen draußen gut sein sollte.

Ach?

Die Albträume verheddern sich im Netz und gelangen nicht bis zu mir? Coole Sache ... aber wird der dabei nicht irgendwann voll?

Und so entstand diese Geschichte.


Der Traumfänger

Vielleicht haben Sie diese Gebilde ja selbst schon einmal gesehen: Ringe mit einer Art Spinnennetz, von deren Rand Perlenschnüre mit Federn hängen. Man nennt sie Traumfänger, und sie gehen auf einen indianischen Aberglauben zurück, der besagt, die guten Träume könnten ihren Weg durch die Öffnung in der Mitte des Netzes finden. Die schlechten Träume andererseits sollen sich darin verstricken und gefangen bleiben.

Das war nun genau die Sorte Aberglauben, auf die Gottfried bevorzugt reagierte, und deshalb wunderten wir anderen uns auch nicht besonders, als er sich so ein Ding ins Zimmer hängte. Aber Sie kennen ja unsere Wohngemeinschaft noch nicht - ein Versäumnis, das ich sofort korrigieren werde.

Zuerst wäre da Johannes, der Informatik und Mathematik studiert. Er ist Vegetarier und praktiziert Yoga, hat aber für die verschiedenen Spielarten der Esoterik nur ein verächtliches Lachen übrig. Vor seinem Studium war er einmal Unteroffizier in der NVA und glaubt felsenfest an den letztendlich unvermeidlichen Sieg der kommunistischen Idee.

 

Dazu Friederike: sie glaubt eigentlich an alles, solange es alternativ, esoterisch und/oder ganzheitlich ist. Ihre Studienrichtung tendiert ins Sozialpädagogische. Wir hätten vielleicht sogar eine Beziehung miteinander angefangen, aber mein Aszendent stand im Weg.

 

Schließlich Gottfried: er ist - Entschuldigung, er war Buchhändler und ebenfalls sehr für das Transzendentale zu haben; es verging eigentlich keine Woche, in der er nicht anbot, einem von uns die Karten zu legen. Allerdings hatte er auch einige mehr irdische Interessen, bei denen wir uns recht gut verstanden; beispielsweise gab es eine ganze Menge Filme, die wir beide sehr gern sahen. Ich musste ihm nur in der ersten Woche klar machen, dass ich australische Didgeridoo-Musik wirklich gern höre - aber nicht um zwei Uhr nachts, wenn ich am nächsten Morgen zur Arbeit muss.

 

Und jetzt zu mir: Johannes war bei der NVA, ich war bei der Bundeswehr, und wenn wir die Küche für uns allein haben wollen, tauschen wir Erinnerungen an damals aus. Ich betrachte mich selbst als naturwissenschaftlich-technisch orientiert, ein Science-Fiction-Fan und Liebhaber von Horrorgeschichten á la H. P. Lovecraft und Clark Ashton Smith. Mit Johannes und Gottfried verbindet mich das Talent zum gelegentlichen Herumspinnen, wobei wir zu dritt manchmal Ideen ausbrüten, die keiner von uns alleine gehabt hätte. Synchronizität nennt man so etwas. Meine esoterischen Steckenpferde sind Feng Shui und Wilhelm Reichs Orgonen-Theorie.

 

Meine Brötchen verdiene ich übrigens in der Universitätsbibliothek.

 

Und zuletzt kam da noch Gottfrieds alter Schulfreund Theo für eine kurze Zeit ins Spiel. Ein Death Metal-Fan, wie ich sie eigentlich immer für ein Klischee hielt ...

 

***

 

Es war am Wochenende des Festivals. Von Freitag bis Sonntag spielten Bands und fanden andere Veranstaltungen statt, mit einer Bandbreite vom Death Metal bis zur Wave- und Neoromantik. Ich hatte mir entsprechend viel vorgenommen: Freitag erst die Lesungen im "Cafè Cult", danach die lange Gothic-Nacht im "Nachtasyl" und am Samstag das Filmfestival im alten Autokino. Dort sollte das Programm mit "Dark City" beginnen, danach "Die Mächte des Wahnsinns" und "Die Fürsten der Dunkelheit" - John Carpenter in Hochform, soweit es mich betrifft - und als Abschluss "Hellraiser I + II" bis zum Sonnenaufgang. Merkwürdig, wie sich diese kleinen Nebensächlichkeiten manchmal ins Gedächtnis einbrennen.

 

Gottfried hatte dafür keine Zeit: er besuchte seine Eltern, die ihre Silberhochzeit feierten. Aber sein Zimmer sollte nicht leer bleiben, denn für das Festival hatte er uns seinen alten Kumpel Theo angekündigt. Theo kam per Mitfahrgelegenheit und sah eigentlich ganz normal aus in seinem Parka, den Turnschuhen und seinem Seesack.

Dann zog er sich um. Schwarzes Leder, nietenbedeckte Unterarmschützer, ein Patronengurt um die Hüfte (Johannes und ich einigten uns schließlich auf 12,7 Millimeter), dazu ein kalkweiß geschminktes Gesicht mit aufgemalten Blutstropfen um die Mundwinkel. Als er zum ersten Mal in voller Maske in der Tür unseres Gemeinschaftsraums erschien, da wurde Friederike fast so bleich wie er.

 

Theo kam nie vor Sonnenuntergang aus Gottfrieds Zimmer, und er achtete sorgfältig darauf, dass ihn kein Sonnenlicht beim Schlafen störte. Wenn er mal was brauchte, versorgte er sich aus unserem Kühlschrank oder an verschiedenen Tankstellen, und von seinen bevorzugten Konzerten und den Parties danach im "Hammerwerk" kam er Freitag und Samstag erst kurz vor Sonnenaufgang zurück. Ich glaube, Friederike fiel ein Stein vom Herzen, als Theo am Sonntagabend samt seinem Seesack abreiste. Er traf nur ganz kurz mit Gottfried zusammen; sie tauschten einen Händedruck und ein paar Erinnerungen aus, Theo lud seinen alten Kumpel ein, ihn doch einmal in Köln zu besuchen... und dann war er weg. Gottfried erklärte kurz, er sei todmüde, und ging in sein Zimmer. Er öffnete das Fenster, zog die Rollos hoch und legte sich schlafen.

 

Etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang wurden wir alle durch einen entsetzlichen Schrei geweckt. Ich habe so etwas nie vorher gehört, und ich möchte eigentlich auch nie wieder einen solchen Schrei hören müssen. Ich stürzte in meiner Schlafanzughose aus meiner Tür und sah Gottfried in der Tür zu seinem Zimmer liegen.

 

Er sah grauenerregend aus. Blut lief ihm aus Nase, Augen und Ohren; an manchen Stellen blutete er auch aus der bloßen Haut, und das Weiße seiner Augen war völlig rot. Alles, was er noch von sich gab, war ein tonloses Krächzen; seine rechte Hand zuckte einmal, zweimal, verkrampfte sich, und dann war es aus.

 

Ich rief sofort den Notarzt, aber der konnte auch nur noch den Tod feststellen. Er sagte, so etwas habe er noch nie gesehen - irgend etwas müsse Gottfrieds Blutdruck in unglaubliche Höhen getrieben haben.

 

Viel später nach der Autopsie erfuhr ich, dass Gottfried bei seinem Tod genug Adrenalin für zehn Männer im Blut hatte und dass fast alle Blutgefäße im Gehirn geplatzt waren.

 

Nach dem Anruf beim Notarzt setzten wir uns alle in die Küche und schauten uns minutenlang nur gegenseitig mit großen Augen an; wir standen alle unter dem gleichen Schock. Schließlich stand ich auf und ging hinüber ins Gottfrieds Zimmer; die Beamten der Kriminalpolizei, die viel später eintrafen, nahmen mir das ziemlich übel, aber ich hatte die schwache Hoffnung, irgend etwas zu finden, was mir diesen grausamen Tod verständlicher machen könnte. Unterwegs hörte ich die Klingel und betätigte den Türoffner - das musste wohl der Notarzt sein.

 

Friederikes Katze Hathor stand vor der offenen Tür; sie machte einen Buckel, fauchte und floh. Ich erinnere mich daran, dass es draußen langsam hell wurde, dieses seltsame fahlgraue Licht kurz vor Sonnenaufgang, und mein Blick fiel unwillkürlich auf Gottfrieds Traumfänger; es erschien mir so, als ob er dieses Halblicht schlucken würde. Als läge ein Schatten über ihm, geworfen von etwas, das ich nicht sehen konnte - was man aber auch meiner rückwirkenden Einbildung zuschreiben mag.

 

Ich fiel. Ich stürzte aus ungeheurer Höhe auf eine gewaltige Ansammlung zyklopischer Steinbauwerke zu. Ich wusste, dass es mich beim Aufschlag zerschmettern würde, und das war gut so, denn so würden die entsetzlichen Kreaturen, die ich dort unten immer deutlicher warten sehen konnte, mich zumindest nicht lebend in Stücke reißen!

 

Dann kam ich wieder zu mir. Mein Herz hämmerte wie verrückt, Friederikes Haar hing mir ins Gesicht und Tränen tropften auf mich herab. Johannes hielt meinen Arm fest, in den der Notarzt irgendein starkes Beruhigungsmittel injiziert hatte, und durch das Fenster fiel der erste Sonnenstrahl auf den Traumfänger. Ich hörte einen hohen, klirrenden Ton, und dann zersprang das Ding in unzählige Holzsplitter.

***

 

Ich habe seitdem etwas mehr über Traumfänger erfahren. Die Indianer sagen, dass die gefangenen bösen Träume sich im Tageslicht auflösen. Aber bei uns hatte Theo dafür gesorgt, dass kein Licht auf den Traumfänger fallen konnte. Und als Gottfried heimkam und die Rollos hochzog, da war es bereits dunkel ...

 

Ich weiß nicht, ob Sie meine Erklärung glauben wollen. Weiß Gott, ich wollte es nicht, aber ich finde einfach keine andere, plausiblere oder gar wissenschaftlich verständliche Begründung, genauso wenig wie der Arzt bei Gottfrieds Autopsie. Die aufgestaute psychische Energie von Theos schlechten Träumen und ein kleines bisschen von Gottfrieds eigenen hatten den Traumfänger bis zur Grenze seines Fassungsvermögens aufgeladen und waren dann schlagartig frei geworden, und der unglückliche Gottfried war der Blitzableiter.

 

Als ich den Raum betrat, war wohl nur noch ein schwacher Rest vorhanden. Aber wäre nicht die Sonne aufgegangen, dann hätte es für mich wahrscheinlich auch noch ausgereicht. Und bis heute kann ich nicht aufhören, mir die Frage zu stellen:

Wusste Theo, was er tat?

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