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Die Aussaat - Eine Kurzgeschichte

StoryDie Aussaat
Eine Kurzgeschichte


„Wer bist du, dass du mich verurteilst?“, fragte Gerry, mit Langnamen Gerhard, seinen Ankläger, Joschi, der ihm Vorhaltungen machte. „Ich bin jemand, der arbeitet und Steuern zahlt“, entgegnete Joschi. „Damit nütze ich dem Staat. Du dagegen bist arbeitslos und lebst vom Staat. Du bist eine Liane, eine parasitäre Pflanze, du schadest bloß.“

„Hab dich nicht so!“, sagte Gerry. „Ich kenne dich doch von Kindesbeinen an. Du behandelst die Sekretärinnen schlecht, gegen deine Kollegen intrigierst du, und deinem Chef schmeichelst du, um bald seine Position einzunehmen. Du bist der Riesen-Bärenklau, der drei Meter hoch werden kann und an dem man sich verätzt. Du bist eine invasive Pflanze. Du richtest viel Schaden an mit deinem Gift und deiner Galle.“ „Das ist Wettbewerb“, erwiderte Joschi. „Du kannst oben oder unten sein, du selbst bestimmst dein Schicksal. Natürlich bin ich lieber der Hammer als der Amboss.“  „Ja, ja, ich weiß wohl“, sagte Gerry, „jeder, der Erfolg hat, ist nicht nett.“ „Eben“, gab Joschi zurück, „es geht darum, sich durchzusetzen. Ich habe mich weiterentwickelt, du bist immer noch ein Kind.“ „Nein, du hast dich gar nicht weiterentwickelt“, sagte Gerry, „du warst schon immer so.“ „Der König der Sandkiste war ich, meinst du?“, fragte Joschi zurück. „So ungefähr“, antwortete Gerry. „Haha, das gefällt mir“, sagte Joschi nun. „Ich muss weiter, Gerry, mach´s gut.“ Er ging ein paar Schritte zu seinem Fünfer-BMW, stieg ein und brauste davon.

BMW auf dem Weg in den Osten von Bright Angel
Gerry ging zu Fuß. Schön bunt waren die Bäume.

Einen Autofahrer stören die Blätter nur, weil sie, auf der Straße liegend, glitschig sein können. Für einen Fußgänger hingegen wirken sie wie Schmuck. Man muss Herz haben, überlegte Gerry während des Gehens. Man muss helfen oder zumindest dazu bereit sein. Man muss die Welt besser und menschlicher machen. Auch wenn das stark nach einem Stereotyp klingt, dachte Gerry, so ist es.

Oder ist es der Neid? Natürlich könnte der es sein, überlegte Gerry weiter, der Neid auf Joschi, der erfolgreich ist und deshalb umschwirrt wird von Leuten, die seine Freunde sein wollen, und von hübschen und weniger hübschen Frauen verschiedenen Alters. Joschi ist die Lampe.

Um mich reißt sich niemand, musste Gerry sich selbst eingestehen. Vielleicht war er nur deswegen ein Kümmerer, weil er wenig hatte, wenig sowohl in materieller als auch geistiger Hinsicht. „Ich will mich gar nicht durchsetzen“, sagte er während des Gehens zu sich selbst. Ist es nicht möglich, dass Gerry sich nicht durchsetzen konnte? Das war sicherlich so möglich. Man kann tausende solcher Denkgebäude aufbauen, wusste er. Aber bringt es ihn weiter? Ja oder nein oder möglicherweise. Wenn Joschi nachdenkt, war Gerry klar, denkt er über etwas Handfestes nach. Er ist praktisch und ergebnisorientiert eingestellt, was für ein Wort: ergebnisorientiert! Gerry hingegen dachte oft unbestimmt. So wie er in den Tag hineinlebte, so dachte er auch. Doch gelegentlich war etwas Gutes und Interessantes darunter, aber das verfolgte er dann fast nie weiter. Gerrys gedachte Gedanken wurden durchsichtig. Man konnte aus ihnen nichts entwickeln.

Währenddessen gab Joschi in seinem BMW Gas. „Ich sollte auf den Verkehr achten und nicht nachdenken“, sagte er zu sich und dachte nach. Er verfing sich in Gedanken über Gerry, seinen Freund seit der Volksschule, man könnte auch sagen: in der Volksschule, denn schon danach trennten sich ihre Wege. Gerry besuchte das Gymnasium und Joschi die Hauptschule, später die Handelsakademie. Andere von Joschis Gedanken drehten sich um ihn, seine Fokussierung auf Geld und Einfluss, statt Einfluss kann man auch Macht sagen. Geld ist die Währung des Erfolges. Ein Bankmitarbeiter beurteilt jemanden nach der Höhe seines Gehalts oder Lohnes. Der Wert einer Person ist der seines Verdienstes. Ein einfacher und eindeutiger Maßstab ist das. Auch eine wichtige Zahl ist jemandes Kreditwürdigkeit. Und hätte mich eine Frau gern als Partner, will sie gut versorgt werden. Dann strengt sie sich an, um mir zu gefallen. Nicht weil ich eine solch umwerfende Persönlichkeit bin, dachte er während des Fahrens vor sich hin, sondern weil ich Power habe und es weit bringen kann. Die Frauen haben sehr feine Antennen für das Potential ihres potentiellen Ehemannes. Sollen die intellektuellen Schöngeister über mein Frauenbild lästern, wenn sie wollen, trotzdem ist es so, wie ich es zuvor dachte.

Ich habe zu hundert Prozent Recht damit, was ich gerade früher zu Gerry sagte. Würde er so leben, wie ich es tue, wäre er auch so, wie ich es bin. Er meint wohl, ich wäre nie befangen. Das bin ich wohl ab und zu. Mir ist schon klar, dass nicht alles eitel Wonne ist. Meine letzte Firma verkaufte Teile der Papiermaschine. Drei Tropfen des Abwassers einer Papiermaschine verunreinigen einen Kubikmeter Flusswasser so sehr, dass man sogar sagen kann, dass es tot ist – wenn das Abwasser nicht geklärt wird. Diese Firma hat zwei Papiermaschinen in Indien ausgerüstet, dort gab und wahrscheinlich gibt es keine Kläranlage, was dazu geführt hat, dass der jeweilige Fluss zu einer stinkenden Chemikalie wurde, falls er das nicht vorher schon war. Die indischen Betreiber von Papiermaschinen sagen, dass Umweltschutz ein Luxusthema sei, in erster Linie wollten die Leute Arbeitsplätze. Ja, das kann schon sein, dachte Joschi vor sich hin, aber dem Betreiber ist es am wichtigsten, dass er sein Werk möglichst billig betreiben kann, also keine Kläranlage einsetzen muss.

Und so ganz ist das heute kein Luxusthema mehr. Ich erinnere mich, überlegte Joschi, während er lenkte, Gas gab, bremste, kuppelte und schaltete, als da diese drei Chinesen aus der Provinz Liáoníng in meiner jetzigen Firma waren. Gemeinsam mit dem Chef gingen wir in einen Landgasthof, von dem man ein sehr schönes Panorama hatte, essen. Da sagte der Technikchef der Chinesen, hier könne man bestimmt sehr alt werden. Bei ihnen müsse man froh sein, wenn man fünfundfünfzig werde. Er war jetzt dreiundfünfzig. Ja, ja, das relativiert dann schon, dachte Joschi.

Ganz kurz sah er an sich hinunter, was natürlich ein Wahnsinn ist im Straßenverkehr. Ich bin ein bisschen dick geworden, dachte er. Ich sollte das machen wie Gerry, der geht, er hält sich fit, ist wohl auch deshalb zaundürr. Ich dagegen fahre überallhin, sogar in die Trafik, die nur hundertfünfzig Meter von meinem Wohnhaus entfernt ist. Mit ein- und ausparken brauche ich länger, als wenn ich gehen würde. Aber, ich muss es zugeben, ich zeige ihn gern her, meinen schneidigen Firmenwaachen. Wie ist es doch? Zweier-BMW, guter Mitarbeiter, Dreier-BMW, sehr guter Mitarbeiter, Fünfer-BMW, exzellenter Mitarbeiter, also ich. Dann gibt es noch den Siebener-BMW, den fährt mein Chef, solange er noch mein Chef ist. Das ist die nächste Stufe meiner Evolution.

Die Autos fuhren nun langsamer, der Verkehr wurde zähflüssig, noch stand nicht alles, aber es war kurz davor. Leider ist diese Stadt nicht groß genug für eine U-Bahn, überlegte er. Die U-Bahn ist wirklich ein tolles Personenbeförderungsmittel. Du gehst hinunter zum Bahnsteig. Auf der Anzeige steht der erste Zug mit einer Zahl dahinter, sagen wir eine Zwei, das bedeutet, dass diese U-Bahn in zwei Minuten einfährt. Darunter steht der nächste Zug mit sagen wir einer Sechs. Innerhalb einer guten Stunde durchquerst du die Bundeshauptstadt sowohl in nördlicher als auch in östlicher Richtung. Mit dem Auto ist das eine kleine Reise.

„Bremsen, ich muss bremsen!“, sagte sich Joschi. „Wenn ich meinem Vordermann ins Heck knalle, gibt´s Probleme, Diskussionen, noch mehr Zeitverlust.“ Jetzt stehe ich, beziehungsweise das Auto, dachte Joschi. Das ist der Stop-Teil, jetzt müsste der Go-Teil kommen. Aber er lässt auch sich warten. „Das nennt sich Stau, worin ich mich nun befinde“, sagte er sich. „Es ist ja kein außergewöhnlicher Zustand, aber ein unangenehmer.“

So ein Mist aber auch!, dachte Gerry. Er saß auf einer Parkbank, seine linke Hüfte brannte, seine rechte stach. „Und das bei drei Kilo Untergewicht“, sprach er zu sich selbst, „wie kann das nur sein?“ Ich gehe ja nicht deshalb weite Strecken zu Fuß, dachte er, weil ich so ein Fitnessfreak bin, sondern weil ich mir kein Auto leisten kann. Mein Fahrrad ist uralt, es sieht aus wie aus dem neunzehnten Jahrhundert, außerdem hat der Vorderreifen einen Patschen. Ich könnte mit dem Stadtbus fahren, doch eine Sechzig-Minuten-Karte kostet 2,20 Euro. Mir mutet das viel an, jedenfalls ist es zu viel für mich. Mit dem Bus fahre ich nur, wenn es wirklich nicht anders geht. Derzeit bin ich auf meine Füße angewiesen. Puh, es tut gut zu sitzen, aber irgendwann muss ich hier aufstehen und weitergehen. Die Schmerzen in den Hüften werden sich verschlimmern, bis ich zuhause bin, werde ich richtiggehend verletzt sein. Ich sollte mich dann weiterhin schonen. Ist das nicht irgendwie arg: Jemand, der in keinem Dienstverhältnis steht und auch sonst nicht arbeitet, soll sich schonen? Das wirkt massiv asozial, war Gerry klar, aber leider war es, wie es war.

Aber um sich zu stauen, ist diese Stadt groß genug, dachte Joschi. Sie bietet nicht den Vorteil einer U-Bahn, doch den Nachteil, dass Autos Stoßstange an Stoßstange stehen, stehen eben, und nicht fahren. Naja, es wird ja nicht lange so bleiben, in einer relativ kleinen Stadt ist auch der Stau nicht besonders groß, oder intensiv, vielleicht ist dies das bessere Wort. Wenn es dann wieder weitergeht, dauert es nicht mehr allzu lange, bis ich zuhause bin.

Zuhause. Was soll ich denn zuhause tun? Mir ein Fertiggericht in der Mikrowelle warmmachen, ein paar Dosenbiere trinken, fernsehen? Zum Lesen habe ich nicht die Ruhe, dabei las ich früher immer sehr gerne. Es ist unübersehbar und nicht bestreitbar: Außerhalb meiner Arbeit führe ich ein uninteressantes Leben. Ich habe keine Hobbys, keine Ehefrau, keine Kinder. Ich bin nur für mich alleine verantwortlich. Sollte ich an meinem Arbeitsplatz Schiffbruch erleiden, würde ich mich fühlen, als wäre ich gar nicht mehr vorhanden. Zum Glück läuft es beruflich bislang gut für mich, aber ich habe kein Abo darauf, dass das auch weiterhin so sein wird. Ich bin jung genug, dass ich in meinem Arbeitsleben noch keinen Plafond sehe, doch wenn das einmal der Fall sein wird, weiß ich nicht, wie ich reagiere, möglicherweise kriege ich Angst, oder ich versuche, diese Decke anzuheben, was wohl nicht von Erfolg gekrönt sein wird.

„Hup, hup, hup, hup.“ Einige Autofahrer machen ihrem Ärger Luft. Das bringt doch nichts, dachte Joschi. Bin ich nicht ein superrationaler Mensch? Ja, ich denke nach und analysiere, zum guten Teil bin ich deshalb gut in meinem Job.

Weshalb hat mich eigentlich Gerry früher so heftig angegriffen? Ich tat ja gar nichts, er legte einfach los, woraufhin ich mich verteidigte. Ich nehme an, Gerry war schlichtweg frustriert. Es ist ja nicht so, dass er nie versucht hätte, die Karriereleiter emporzuklettern. Er ist ein gescheiter Mann mit einigen Fähigkeiten, ein guter Mathematiker und zudem kreativ, was eine eher seltene Kombination ist, aber sein großes Problem ist, dass er gewisse autistische Züge aufweist. Für ihn ist es ein Lernprozess, Menschen zu lesen. Ein Durchschnittsmensch und auch ich wissen nach weniger als drei Sekunden, in welcher Gemütsverfassung sich jemand befindet, das funktioniert ganz von selbst. Auf einem Arbeitsplatz ist die Zahl der Fehler, die man sich erlauben darf, nicht besonders hoch. Durch sein ungenügendes Sozialverhalten überschritt Gerry diese Zahl in jedem seiner Jobs bald. So wurde er zu einem Müßiggänger, einem wider Willen, dachte Joschi, ich kenne ihn gut, ich weiß, wie er tickt. Und um sich gut zu fühlen, um sich als nutzbringenden Menschen zu sehen, sucht er Personen, denen er helfen kann. Diese Personen sind wahrscheinlich so stark hilfsbedürftig, dass auch Gerry es nicht übersehen kann. Natürlich ist es eine gute Sache, die er da leistet, aber tut er es nicht für sich selbst statt für jene, denen er seine Hilfe angedeihen ließ?

“Nein, ich will nicht nachhause fahren“, sagte sich Joschi. Ich könnte doch Maja besuchen, die ich vor ein paar Wochen näher kennengelernt habe. „Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maja. Kleine, freche, schlaue Biene Maja. Maja fliegt durch ihre Welt. Zeigt uns das, was ihr gefällt.“ Er sang den Titelsong der Biene Maja, deren Folgen er sich als Kind stets sehr gerne angesehen hatte. Die Biene Maja ist ja ziemlich rund, überlegte er, meine Maja hingegen ist ein Hungerhaken. Sie absolviert gelegentlich kleine Modelauftritte, deshalb. Sie isst so gut wie nichts. Beim Running Sushi bestellt sie drei oder vier Winzigkeiten, weil das billiger ist als das All-you-can-eat-Angebot. Dafür ist meine Maja überhaupt nicht zimperlich. Als sie damals zum ersten von zwei Malen bei mir war, hat sie mich doch glatt gefragt: „Willst du mich ankacken?“ Ich sodann: „Nein, auf keinen Fall! Wie kommst du nur darauf?“ „Ich dachte, das könnte dir gefallen. Du sollst wissen: Ich bin ein Mädchen, das fast alles macht, wobei man das „fast“ auch beinahe streichen müsste.“ Ja, ja, das ist schon so: Solche Frauen lernt jemand wie ich kennen, jemand, der als gewinnorientiert, durchsetzungsstark und oberflächlich gilt.

Joschi rief sie an und redete über die Freisprecheinrichtung seines Firmenwagens mit ihr. Sie habe Zeit, sagte sie, und sie sei zuhause. „Willst du mich sehen?“, fragte Joschi. „Klar, komm vorbei!“, sagte sie.

In so eine Frau darf man sich ja nie verlieben. Sie ist doch wie eine Puppe mit überall an ihr befestigten Preisschildchen: „Dieser Dienst kostet x Euro, jener y Euro, und solltest du mich heiraten, wirst du mir nach der Scheidung einen hohen Unterhalt zahlen.“

Es ist nicht klug von mir, zu ihr zu fahren, dachte Joschi, aber ich möchte nicht den restlichen Tag allein sein.

Er beamte sich weg von seinem Fünfer-BMW, der im Stau steht. Er reiste nach Grado im Sommer, wo er einst einen Urlaub verbracht hatte. Zuerst kommt man an Aquileia mit den römischen Ausgrabungen vorbei, und dann fährt man diesen Deich entlang nach Grado, links und rechts das Meer. In Gedanken ging er diese bogenförmige Brücke entlang, und er sah den Möwen zu. Eine Römerstraße war viel schmäler als gedacht, wusste Joschi.

Gerry nahm eine Kunststoffbox aus seinem Rucksack, darin waren ein Wurst- und ein Käsebrot. Er aß sie und trank dazu Mineralwasser spritzig aus einer 1,5-Liter-Waldquelle-Flasche. „Man muss die Welt besser und menschlicher machen, habe ich das nicht zuvor nach meinem Streit mit Joschi gedacht?“, fragte er sich selbst. Das war eine rhetorische Frage, deren Antwort Ja lautete. Sagt das nicht auch jede Steuerhinterzieher, der sein Geld in vermeintlich gemeinnützigen Stiftungen parkt?, was wieder eine rhetorische Frage darstellt, deren Antwort … Ach, lassen wir das! In erster Linie will ich doch mein eigenes Leben verbessern, dachte Gerry. Ich hätte so gerne eine vielfältige Existenz, mit Abwechslung, Reisen, Spannung, Festen und Liebschaften. Mein Leben ist doch nur das eines Flatliners, der lebt nämlich gar nicht mehr. Ich bin unglücklich und unzufrieden, und ich wüsste nicht, wie ich das ändern sollte.

Es war eine Gemeinheit von Joschi, mich sinnbildlich als Liane zu bezeichnen, aber so falsch ist dieser Vergleich gar nicht. Wohl habe ich mich mein Leben lang bis vor ein paar Jahren bemüht, selbständig und unabhängig zu sein, habe gelernt und gearbeitet, mit vollem Einsatz. Das mit dem Lernen hat geklappt, aber das mit dem Arbeiten leider überhaupt nicht. Ja, es stimmt. Ich lebe von Sozialhilfe. Das ist äußerst beschämend für mich. Dadurch, dass ich sich in Not Befindenden helfe, sammle ich Pluspunkte, dennoch ist meine Lebensbilanz klar negativ.

Die Feldfrucht bin ich nicht. Kartoffeln, Weizen, Mais, wohlschmeckend und nahrhaft, aus denen genau das wurde, was in ihren Samen steckte, das kann ich nicht sein. Womöglich bin ich tatsächlich Unkraut, ein Gewächs, welches die Ernte mindert. Aber ich bin heimisches: Ich bin die Brennnessel oder der Schachtelhalm oder der Löwenzahn oder das Wilde Stiefmütterchen oder das Johanniskraut oder der Sauerampfer oder der Klee in der Magerwiese. Ich kann auch die Lupine oder die Goldrute oder der Almrausch sein oder die Wicke, die besonders bei mit Pflanzenschutzmitteln gespritzten Getreidefeldern vorkommt.

Trotzdem erscheint mir Joschi wie eine invasive Pflanze, was ich ihm ja während unseres Streits vorhielt, als ich ihn als Riesen-Bärenklau bezeichnete, der der König der eingeschleppten Unkrautarten ist. Weniger schlimm sind das Drüsenspringkraut, das bei Wasser gut gedeiht, und der Riesenknöterich, die beide aus Japan stammen. Aber sie sind schlimm genug.

Ich wäre als Unkraut von hier kommend und würde auch nur daheim florieren. Joschi würde als Unkraut möglichst schnell und besonders aggressiv auftreten. Und er würde alles daransetzen, immun gegen Unkrautvertilgungsmittel zu werden.

Das war nun meine kleine Unkrautkunde, überlegte Gerry, räumte die Kunststoffbox und die Mineralwasserflasche wieder in den Rucksack, zog den Reißverschluss zu, stand auf, schlüpfte in die Trageschlaufen des Rucksacks und ging wieder los. Die Schmerzen in den Hüften waren jetzt geringer, aber doch vorhanden.

„Hup!“ Joschis Hintermann hupte ihn an. Er sah in den Innenrückspiegel: Der Hintermann war eine Hinterfrau, die grimmig blickte. Es ging weiter. Endlich! Kupplung, erster Gang, rollen, zweiter Gang, sachte beschleunigen. Rot strahlten die Rückleuchten der Autos vor ihm. Bremsen. Warten. Wieder anfahren. Ruckelig lösten sich die Autos voneinander. Bald konnte Joschi satt fünfzig im dritten Gang fahren.

Berufsverkehr nennt sich das, worin ich nun fahre, überlegte Joschi. Also nicht das Richtige für Gerry, hahaha! Nein, stimmt doch nicht, Gerry hat ja einen Beruf gelernt: Er ist Ingenieur. Aber er arbeitet eben nicht. Um ihn auszuschließen, müsste diese Art von Verkehr Arbeitnehmerverkehr heißen, doch dann wären wieder die Arbeitgeber außen vor gelassen. Nicht weiterdenken, nicht weiterdenken!“, sagte sich Joschi. „Das ist doch alles Blödsinn.“

Ihm kam etwas ganz anderes in den Sinn: Gerry hält mich für einen Arsch, was ja gar kein Wunder ist: Ich kultiviere ja das Arschsein. Es soll den Leuten signalisieren: Legt euch nicht mit mir an! Ihr werdet den Kürzeren ziehen. Doch das ist Schauspielerei, für mich selbst, im Privaten, will ich kein Arsch sein.

Ich erinnere mich, wie ich bald nach meiner Matura mit meinem Chef in Rumänien mit dem Auto unterwegs war. Er machte sich andauernd über Einheimische auf Fuhrwerken oder auf Fahrrädern lustig. Ich lachte mit, anfangs nur, um ihm zu gefallen, später wurde das Mich-über-die-Armen-lustig-Machen völlig üblich. Es gehörte zu dieser Reise wie Diesel für den Audi des Chefs, der hier übrigens motorină heißt.

Wieder zuhause erklärte mir rasch meine damalige Freundin, dass ich ein mieser Typ geworden sei. Kurz darauf war sie dann nicht mehr meine Freundin. Das brachte mich zum Nachdenken. Hatte ich nicht auch manchmal Phasen von Traurigkeit oder Verzweiflung? Klar hatte ich die. Ich nahm mir vor, mich nicht mehr so überheblich zu geben. Außer wenn es für meinen Job dienlich war, was oft der Fall war. Für mich alleine wollte ich dagegen mitfühlend sein, allerdings ohne meine Empathie allzu offen zu zeigen.

Gerry kann mich jetzt gar nicht richtig beurteilen. Als Jugendliche waren wir dicke Freunde, aber das ist lange her. Er sieht nur meine Oberfläche, oder er will sie sehen. Er müsste doch wissen, dass ich immer anders bin, als ich von außen zu sein scheine.

Noch ein paar Schritte, dann war Gerry zuhause. Vierter Stock, zum Glück Lift, 32 äußerst beengte Quadratmeter, aber ein großer Flachbildfernseher, ist ja billig heutzutage. Er sperrte die Wohnungstür auf, machte Licht, drehte die Heizung im Zimmer auf. Von seinem Balkon, dessen Fläche zuzüglich zu den 32 Quadratmetern kam, hatte er einen schönen Ausblick, aber jetzt nicht, weil es bereits dunkel war.

Ein paar Minuten später hatte Gerry die erste DVD in den Player geschoben. Er saß auf dem Sofa, neben sich die Fernbedienungen. Filme schauen war seine Leidenschaft! Er kannte sich auch gut bei ihnen aus. Wenn er riet, wie die Handlung weitergehen würde, lag er meist richtig. Doch da er weder ein Drehbuch schreiben noch Regie führen noch die Kamera bedienen oder schauspielern konnte, blieb nun die passive Rolle als Konsument für ihn übrig. Er hatte ein Abo für 16,90 Euro monatlich bei der Videothek „Videopalast“. Damit konnte er sich drei Filme oder Teile von Serien gleichzeitig ausborgen, ohne Limit.

Der Film startete, die Stadt der Zukunft auf einem neuen Planeten, fliegende Autos, Lautsprecherstimmen, riesige Neoreklamen. Die galaktische Geschichte entrollte sich.

Joschi lenkte seinen Firmenwagen bei nun flüssigem Verkehr. Um zu Maja zu gelangen, hätte er jetzt rechts abbiegen müssen, aber er fuhr weiter. Das ist eine Fotze und keine Frau!, dachte er. Ich will das nicht, nein, ich möchte nicht bei ihr sein. Zudem ist sie gar nicht so gut im Bett. Sie glaubt wohl, sie wäre eine Sexgöttin, das trifft aber überhaupt nicht zu.

Für die Fotze würde mich Bleistift-Strichmännchen eine Feministin mit diesem rot-blauen Radiergummi ratzfatz ausradieren. Oje, oje, zum Glück hat es keine gehört!

Ein paar Minuten folgte Joschi noch dem Straßenverlauf, dann bog er nach links ab. Sein Ziel kam nach dem nächsten Dorf. Kurz blieb er stehen und sandte Maja eine Whatsapp-Nachricht, die „I´m sorry“, lautete, danach schaltete er sein Smartphone aus.

Sein Ziel war eine Ahornallee, nicht ganz einen Kilometer lang. Alleen sind mittlerweile selten geworden, weil sie gefährlich für motorisierte Verkehrsteilnehmer sind. Zwischen zwei Bäumen parkte Joschi den Fünfer-BMW. Er sah sich die gelb und rot verfärbten Ahornblätter, wenige waren noch grün, im Licht der Scheinwerfer seines Wagens an. Es gab auch orangefarbene und braune Blätter. Joschi fand das wunderschön. Wie in Kanada ist das hier, nur wärmer, dachte er.

Er setzte sich wieder in seinen Wagen, danach beging er einen schweren Fehler, der sich mit einem geradezu unwahrscheinlichen Zufall traf. Und zwar löschte Joschi das Scheinwerferlicht, bevor er den Wagen startete. Durch die Windschutzscheibe des verdunkelten Wagens blickend, sah er zwei Mal zwei Scheinwerfer ihm sehr rasch entgegenkommen. Aus unerfindlichen Gründen dachte Joschi nicht daran, die Scheinwerfer wieder einzuschalten. Er blieb einfach sitzen und schaute und hörte die lauter werdenden Motorengeräusche.

Im Polizeibericht stand später, dass zwei junge Männer ein illegales Autorennen entlang der Allee veranstaltet hatten. Der in Führung gelegen habende Porsche hatte, auf der Überholspur fahrend, Joschis Fünfer-BMW frontal gerammt. Joschi starb im Wrack.

Rettung in nicht mehr genutztem Gebäude im Landeskrankenhaus Klagenfurt von Bright Angel

Zum Autor
Bright Angel (Pseudonym) wurde Mitte der 1960er Jahre in Kärnten geboren. Er ist ein unsteter Geist und ein rollender Stein. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und fotografiert. Er veröffentlichte Lyrik, Kurzprosa und Fotos in Zeitschriften und Anthologien und bei „Erozuna“, „Zukunftia“, „Gangway“ und „zugetextet.com“ im Internet.

Veröffentlichungen:

  • Gedichte in „Driesch“, Nr. 5  im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 27 im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „TrokkenPresse“, Nr. 5 im Jahr 2011.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 2 im Jahr 2012.
  • Gedichte in und Gedicht auf „Brückenschlag“, Band 28 im Jahr 2012.
  • Miniaturen in „WORTSCHAU“, Nr. 17 im November des Jahres 2012.
  • Gedichte in „Spring ins Feld“, 13. Ausgabe, Dezember des Jahres 2012.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 29 im Jahr 2013.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 3 im Jahr 2013.
  • Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 59, 09/2013.
  • Kurzgeschichte in der Anthologie „Mein heimliches Auge, Das Jahrbuch der Erotik XXVIII“ vom konkursbuch Verlag
  • Claudia Gehrke im Jahr 2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 60, 12/2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 61, 04/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 62, 08/2014.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 63, 11/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 64, 04/2015.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 67, 04/2016.

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