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Das Schicksal geht oft unnatürliche Wege - »Thelma«

ThelmaDas Schicksal geht oft unnatürliche Wege
»Thelma«

Ein Mann und seine Tochter, jene etwa sechs Jahre alt, stapfen durch den Schnee in der Einöde Norwegens. Sie befinden sich auf der Jagd und als ein Reh im Wald sichtbar wird, lädt der Mann seine Waffe. Er legt an und zielt auf das Tier. Das Mädchen, welches ein wenig schräg vor ihm steht, beobachtet das Opfer. Plötzlich schwenkt der Mann das Gewehr und hält auf den Kopf seiner Tochter. Er zögert, dann senkt er den Lauf. Er hat es sich überlegt. Das Reh entkommt.

Verstörende EröffnungDamit beginnt ein Film, der so verwirrend wie verstörend ist und den Zuschauer lange Zeit im Dunkeln lässt. Dabei wird der Betrachter durchaus auf eine falsche Fährte gelockt und dann mit einer Schlusslösung konfrontiert, die so simpel wie genial ist. Man bekommt in der ersten Stunde das Gefühl, einem typischen "Coming Of Age"-Film beizuwohnen. Danach kippt er in ein Mystery-Horror-Drama, das in seiner Spannung zum Fingernagelkauer werden kann.

Die junge Thelma (das Alter des Mädchens wird nicht genau definiert) zieht aus dem Ländlichen nach Oslo um Biologie zu studieren. Sie ist ein streng christlich erzogenes Kind und durch ihr bisheriges Leben in der Abgeschiedenheit verschüchtert. Zunächst scheint Alles in guten geregelten Bahnen zu verlaufen. Sie besucht die Vorlesungen, lernt in der Bibliothek, abends telefoniert sie mit ihrer Mutter oder ihrem Vater. Doch dann bricht sie eines Tages zusammen, es wirkt wie ein epileptischer Anfall. Die Ärztin kann es nicht erklären und bittet Thelma sich nicht allzu große Sorgen zu machen.

Elli Harboe als ThelmaSie lernt Anja kennen, welche einen starken Eindruck bei ihr hinterlässt. Mit ihr geht sie in Szene-Kneipen, verkehrt mit Jungen und trinkt Alkohol. Zunächst entsetzt über das eigene Verhalten sucht sie Hilfe und Absolution bei ihrem Vater. Jener zeigt zwar Verständnis, gibt ihr aber keinen sinnvollen Rat. Es kommt zu einem näheren Kontakt mit Anja und Beide stellen fest, dass sie einander mehr als nur freundschaftliche Zuneigung entgegen bringen. Thelma gerät in Selbstzweifel und wünscht sich, dass Anja verschwinden möge, damit sie in die Normalität zurückkehren kann. Erneut wird sie von einem Anfall überrascht und lässt sich darauf in eine Klinik einweisen, in der sie genauer untersucht wird. Nein, Epilepsie ist es nicht. Als sie zur Uni zurückkehrt ist Anja nicht mehr da und niemand hat sie gesehen. Thelma steht der Verzweiflung nahe und kehrt nach Hause zurück. Sie will das Geheimnis lösen, das sie umgibt, denn ihre Eltern haben ihr verschwiegen, dass die Großmutter noch lebt, die den gleichen Leidensweg durchschreiten musste und heute umnachtet, mit starken Mitteln ruhig gestellt, in einem Pflegeheim dahin vegetiert.

Zuhause angekommen erfährt sie, dass die Alte eine übersinnliche Fähigkeit besitzt die verheerende Folgen hat. Sie kann mit ihrem Willen den Menschen schaden oder sie sogar verschwinden lassen. Dieses hat Thelma nun geerbt. Sie erfährt, dass sie im Kindesalter ihren Bruder, der noch ein Säugling war, getötet hatte, indem sie ihn in einen zugefrorenen See teleportierte. Kurz darauf stirbt ihr Vater. Aber hat sie sich das wirklich gewünscht?

Kaya Wilkins als AnjaSchock- und Effektverliebten, Bloodhounds und Actionfreaks sei spätestens an dieser Stelle geraten den Text nicht weiter zu verfolgen. Was der norwegische Autor und Regisseur Joachim Trier hier zeigt birgt praktisch nichts von alledem. Die Szene, in der Anja verschwindet, da das Fenster hinter ihr splittert und sie quasi von den Scherben durch die Fensteröffnung getrieben wird, mag als einziger Bestandteil zutreffen. Es ist jedoch so abstrakt gefilmt, dass keiner der Vorgenannten damit glücklich sein könnte. Dennoch, ein Film wie THELMA macht deutlich, wie abhängig selbst das Erzählkino von den modernen Techniken geworden ist. Die Kunst ist dabei, diese den Zuschauer nicht merken zu lassen.

"Wir haben ungefähr 200 CGI-Aufnahmen in dem Film. (…) Ich bin ein Fan von (Andrei) Tarkovsky und Terrence Malick, sowie deren Gedanken, dass die fühlbare, physische Welt eine wichtige Rolle in einem Film spielt. CGI soll dieses lediglich unterstützen. Ich habe vorher nicht geahnt wie schwer es ist, splitterndes Glas, Tiere oder Feuer zu kontrollieren." *

Zarte BandeNein, das Genre des Mystery-Thrillers wird weder neu erfunden noch neu definiert. Dennoch ist mir spontan kein Film bekannt auf den er Bezug nehmen würde. Er besitzt eine sehr eigenständige Bildsprache und Erzählstruktur, die den Zuschauer zuweilen herausfordert. Es geht einher mit den Schauspielern, welche man glücklicherweise auch als solche bezeichnen kann und die sich der in sich geschlossenen Welt, die der Film erschafft, exzellent anpassen. Wie so oft ist das Geheimnis, welches entschlüsselt wird, ein wenig an den Haaren herbei gezogen, doch davon leben Filme dieses Horror-Subgenres seit jeher. Das ist weder eine Schwäche noch eine Verwerflichkeit, denn der wesentliche Bestandteil solcher Filme ist das Erzeugen einer Atmosphäre, die den Zuschauer gefangen nimmt und ihn dadurch das glauben lässt was da vor ihm abläuft. Dazu tragen auch oder gerade die Darsteller bei, deren Mimik aussagekräftig sein muss um die entsprechende Stimmung zu schaffen.

"Nun, wir haben hier eine herausragende Schauspielerin vor uns. Elli Harboe ist ein großes Talent mit ihren 22 Jahren. Ich finde, sie füllt ihre Rolle sehr geschickt und engagiert. Auch ist sie mutig. Sie nahm extra Unterwasser-Training, weil sie ihre Stunts selber machen wollte. Das bedeutete Stunden um Stunden in Wassertanks, geleitet von Stuntleuten." *

Wissenschaftliche AnalyseJa, Elli Harboe hinterlässt einen tiefen Eindruck. Wenn man am Ende des Films angekommen ist, dann wird es schwer vorstellbar, dass eine andere junge Frau diese Rolle ausfüllen könnte. Still, in sich gekehrt, zeitweilig auch mal offen und provokant, wenn sie das Leben der "normalen" Teenager teilt, sie lässt die emotionalen Regungen glaubwürdig erfahren. Das ist wichtig, gerade bei einem Film von solch ruhiger Erzählweise. Nur wenn es gelingt mit der Protagonistin zu empfinden kann man dem Film auch über die Lauflänge folgen. Wahrt man Distanz, dann droht er bald in Langeweile zu kippen. Dabei spielt es auch für einen männlichen Zuschauer keine Rolle, dass die Beziehung zwischen Thelma und Anja sich zu einer lesbischen Liebe entwickelt. Es geht um das Erwachen fremder Empfindungen, denn letztlich berührt der Film auch das derzeit sehr angesagte "Coming-Of-Age"-Drama.

"Ich denke, meine Charaktere besitzen alle Verletzlichkeit. Mehr als alles Andere findet dieses seinen Grund in meiner Neugier am menschlichen Verhalten und der daraus resultierenden Verletzlichkeit, sowohl bei Männern wie bei Frauen." *

Anja verschwindetNun ist THELMA keine Charakterstudie, aber ohne Einblick in das Seelenleben der Protagonistin funktioniert der Film nicht. Sie selber ist sich ihrer übersinnlichen Kraft nicht bewusst und erst durch die Anfälle, die einer Epilepsie zu gleichen scheinen, beginnt sie etwas zu ahnen. Der Aufenthalt in der Klinik bringt keinen wirklichen Fortschritt, doch der Besuch bei ihrer Großmutter öffnet ihr Augen und Bewusstsein. Aber erst als sie wieder nach Hause zurückkehrt und ihr klar wird, dass sie die Schuld am Tod ihres Bruders trägt und wie es geschehen ist, versteht auch der Zuschauer die Eingangssequenz. Der Film ist nicht verschachtelt erzählt, aber man muss bereit sein, ihm und seinen Geheimnissen zu folgen und ein paar Gedanken sowie Phantasie zu investieren.

"Ich hoffe die Zuschauer werden es mögen. Ich weiß, wir bewegen uns irgendwo zwischen einem philosophischen Drama und einem B-Horror-Film, aber das wirkt befreiend. Es ist das, was mir daran gefallen hat. So hoffe ich, dass die Zuschauer das annehmen was ich hier versucht habe." *

Mir gelang dieses – mühelos. Allerdings: "B"? Finanziell wohl, aber optisch und inhaltlich ganz gewiss nicht.

ThelmaThelma
(Thelma)
mit Elli Harboe (Thelma), Kaya Wilkins (Anja), Henrik Rafaelsen, Ellen Dorrit Petersen, Grethe Eltervag, Magne Markusdotter Solem, Anders Mossling
Produktion: Thomas Robsahm für Motliys, Eurimages, Nordisk Film
Regie: Joachim Trier
Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt
Kamera: Jakob Ihre
Musik: Ola Flottum

Norwegen/Dänemark/Schweden 2017

Farbe – 2,35:1 – 116 Minuten

Uraufführung: 20.08.2017
Deutsche Erstaufführung: 22.03.2018

DVD/Bluray-Vertrieb: Koch Media

* Joachim Trier, zitiert nach THE VERGE.COM

Cover und Screenshots der deutschen DVD (Koch Media)

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