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Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914 - 1. Das bekannte Erbe

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Der viktorianische Schrecken
Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914
1. Das bekannte Erbe

Im Sommer 2022 habe ich Haus des Buches in Leipzig zum Thema einen Vortrag gehalten.

Fest entschlossen, das ganze als Lesefassung zu verschriftlichen, fiel mir beim Umarbeiten, wie das immer so ist, noch so viel ein, dass das ganze jetzt für einen Mehrteiler reicht...

1. Das bekannte Erbe
"Die Leute sind eigentlich immer geneigt, mit einer gewissen Herablassung auf die herabzuschauen, die vor 100 Jahren lebten. Das scheint mir eine ganz spezielle Schwäche des gegenwärtigen Zeitalters zu sein. Diese Eitelkeit sollte, wenn sie auftaucht, am besten so weit wie nur irgend möglich in den Hintergrund gedrängt werden. Es wird viele von Ihnen erstaunen, wenn ich Ihnen sage: das war auch ein Fehler der Menschen des 19. Jahrhunderts. Sie wähnten sich im Zeitalter des Fortschritts. Und auch wenn ich nicht so verrückt bin zu glauben, dass sie wirklich etwas taten, das es wert gewesen wäre, für die Nachwelt festgehalten zu werden, muss doch jeder unvoreingenommene Historiker zugeben, dass ihre Erfindungen zumindest Schritte in Richtung der heutigen Moderne waren. Die Menschen des 19. Jahrhunderts waren keine Idioten. Ich bin mir durchaus bewusst, das dieses Statement bei Ihnen nur Verachtung auslösen wird, wenn Sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen. Aber wer kann schon sagen, ob nicht der Fortschritt in einem halben Jahrhundert genau so überwältigend sein wird wie der, den wir am Ende des 19. Jahrhunderts erlebt haben und dass die Menschen des nächsten Jahrhunderts nicht mit derselben Verachtung auf uns blicken, wie wir auf die, die vor 50 Jahren gelebt haben?" Robert Barr (1850-1912) in seiner Dystopie „The Doom of London“

Schauer-Literatur aus einer doch recht entfernten Zeit, einer Ära ohne Computer, Mobiltelefone und Internet. Warum redet man noch über diese Sachen, warum verfällt der Leser ihnen im besten Fall sogar immer noch, was hat das alles noch mit uns zu tun? Diese dunklen alten Geschichten, sie sollten uns eigentlich nichts mehr angehen, und doch lassen sie uns nicht los, bekannte Stephen King einst im Roman „Tommyknockers“.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Viktorianische Literatur, vor allem die Spannungsliteratur, ist populär wie eh und je. Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes entstand in dieser Zeit, in den 1880er Jahren. Auch ein anderes Werk von ihm lebt weiter:  „The Lost World“ (1912). Der Roman „Jurassic Park“ von Michael Critchton wurde von diesem bahnbrechenden Werk inspiriert – der wiederum Regisseur Steven Spielbergs Phantasie in Gang setzte.  

Übrigens wurde auch die Doyle-Version öfter verfilmt – nicht weniger als 5 mal.

Der Doyle-Roman ist noch heute packend – es geht um eine Urwald-Expedition, die zu einem einsamen, schwer zugänglichen Felsplateau führt, auf dem die Spezies sich nicht weiterentwickelt haben – nicht nur Saurier hausen da, sondern auch monströse feindselige Neandertaler, die den Helden fast den Garaus machen. Das Buch besitzt noch heute Charme, allerdings dürfte der Serien-Erstdruck 1912 im Magazin „The Strand“ noch fesselnder für die Zeitgenossen gewesen sein – dort war er als Fake-Report aufgemacht, mit gefälschten Karten, Bilden und allem Drum und Dran.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Zwei Klassiker des SF-Horrors von H.G. Wells  aus den 1890ern haben die Literatur und die Pop-Kultur bis heute massiv beeinflusst, „Die Zeitmaschine“ und „Der Krieg der Welten“. Eigentlich gedacht als herbe Kritik am Kapitalismus und am Krieg, sind sie dann von Generationen von SF-Autoren auch noch in ganz andere Richtungen weiterentwickelt worden, allein die Invasionsliteratur, die vom „Krieg der Welten“ beeinflusst wurde - fiese Außerirdische, die die Erde bedrohen - würde viele Bände füllen. Die frühen grandiosen Invasions-Novellen von Edmond Hamilton sind vielleicht das Beste, was in der Nachfolge von Wells Roman entstanden ist, insbesondere The Metal Giants (1926), The Moon Menace (1927), The Dimension Terror (1929) und vor allem die Novelle, die zum ersten Mal die Vernichtung einer Metropole durch untertassenförmige UFOs beschreibt: The Polar Doom (1929). Letztlich ist also der Film  „Independence Day“ über Umwege ein Nachkomme von Wells „Krieg der Welten“.

Wie weit Wells seiner Zeit voraus war, bezeugt eine häufige, sehr bezeichnende Verwechslung. Erstaunlicherweise begegnen mir auch heute noch immer noch Fans, die das Werk mal eben in den 30er Jahren ansiedeln und nicht in den 1890ern. Vermutlich beruht der Irrtum auf dem gleichnamigen berühmten Hörspiel von Orson Welles (1938), das von Wells' Roman beeinflusst war.

Ein interessantes Charakteristikum bei Wells ist die enge Verzahnung von Horror und Science Fiction gewesen – fast alle seine frühen Romane und Erzählungen sind in beiden Genres angesiedelt. Das gilt vor allem für die „Insel des Dr. Moreau“, (1896) ein Roman über einen verrückten Gelehrten, der versucht, Tiere so umzuoperieren und zu manipulieren, daß sie menschenähnliche Züge annehmen. Auch die Zeitmaschine ist feinster Horror – in ferner Zukunft lauern grässliche Monster, die Morlocks, in den Tiefen der Erde und kommen nachts an die Oberfläche, um die dekadenten Menschen zu fressen – wie sich herausstellt, sind es die Nachkommen des Proletariats, die einst gezwungen waren, unter der Erde für den Rest der Welt zu schuften. (King nannte die die Ausstiegsschächte des Monsters in „Es“ zu Ehren von Wells „Morlock-Löcher“.)

Und natürlich sind da die Vampirgeschichten. Zwei haben die Kultur bis heute geprägt.
Bram Stokers Dracula von 1897 wurde 2022 125 Jahre alt und mobilisierte in England erneut tausende Fans, die sich an der Ruine der Crichton Abbey als Vampire verkleidet versammelten, um ihren Kult-Autor zu feiern.

Dennoch ist „Carmilla“ (1872) vom erstaunlich visionären Pionier der Horror-Literatur, Sheridan Le Fanu vielleicht sogar auf lange Sicht der modernere Roman, zweifellos hatte er größeren Einfluss auf die Vampirliteraturwelle der 1990er Jahre. Eine lesbische Vampirin, die die Ich-Erzählerin verführt, das reicht natürlich auch weit in Moderne. Der stimmungsvolle kleine Roman ist wesentlich kürzer als Dracula, verfehlt aber auch heute seine Wirkung nicht auf den Leser (oder die Leserin) und ist schwer wieder zu vergessen.

Aber all diese berühmtem Werke sind nur die Spitze des Eisbergs. Eigentlich kann man sagen, dass fast alles, was Horror- und Schauerliteraur heute ausmacht, seine Wurzeln im viktorianischen England hat.

Und tatsächlich überrascht nicht nur die Qualität vieler Romane und Kurzgeschichten aus dieser Zeit, sondern vor allem die Quantität. Die Fülle und die Themenvielfalt dieser Literatur ist atemberaubend; vieles, das es nicht in den Kanon geschafft hat, ist vielleicht genauso aufregend wie das, was tausendmal und bis zum Überdruss wiedergekäut und nachgedruckt wird.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Um ein paar Beispiele zu geben:

Die 2016 begonnene große kommentierte Ausgabe mit gesammelten Gespenstergeschichten der viktorianischen Ära, (The Wimbourne Book of Victorian Ghost Stories, herausgegeben von Alastair Gunn) hält jetzt bei Band 22. Weitere Bände sind in Vorbereitung.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Ein weiteres Beispiel: Als Dracula 1897 erschien, wurde der Roman zunächst nicht als besonders herausragend empfunden, da die Konkurrenz an guter Horrorliteratur – von krude bis hochfein – enorm war. Der Roman mußte sich die Aufmerksamkeit mit folgenden anderen Horror- und Dark-Fantasy Bestsellern teilen:

  • „Der Unsichtbare“ von H.G. Wells
  • „Der Skarabäus“ von Richard Marsh , quasi der Ur-Roman des Ägypten-Horrors, neben bei bemerkt ein ausgezeichnetes Buch, und nicht das einzig gute von diesem Autor.
  • Bertram Mitfords finsterer Lost-Race-Roman „Im Zeichen der Spinne“
  • Florence Marryats exzellent geschriebener psychologischer Vampir-Roman „Das Blut des Vampirs“, der sich quasi der Innenansicht widmet – welche Seelenqualen erleidet der Vampir oder die Vampirin, wenn sich ihnen das Schicksal, auf ewig Blut saugen zu müssen, enthüllt?

Es fällt auf, daß die meisten bahnbrechenden Werke der viktorianischen Horrorliteratur in den 1890ern entstanden sind. Aber natürlich sind die sogenannten „Naughty Nineties“ nur der Gipfel, auch davor und danach gibt es Meilensteine.

In den 1880ern erfindet Rider Haggard die Dark Fantasy und begründet das Genre des Lost-Race-Romans, also das Genre, in dem tapfere Expeditionen ins unbekannte Afrika oder den südamerikanischen Urwald vorstoßen und dort Dinge entdecken, die ziemlich schrecklich sind. Ihnen begegnen alte Zivilisationen und sogar Gottheiten, mit denen nicht zu spaßen ist. Ein  damals extrem viel imitiertes und strapaziertes Genre!  Die zwei Ur-Klassiker sollten erwähnt werden:

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-19141885 erscheinen Haggards „König Salonons Minen“ und 1887 der Bestseller „She“ eins der meistverkauften Dark-Fantasy Bücher aller Zeiten im englischsprachigem Raum bis heute – und wen wunderts – die Saga um die jahrtausendealte Göttin des Urwalds, die von einer britischen Expedition aufgestört wird und nun nach der Weltmacht greift, schlägt den Leser auch heute noch in ihren Bann. Die Fortsetzung „Ayesha – Sie kehrt zurück“ (1905) finden manche Fans sogar noch besser.  

Auch die wohl populärste Horror-Novelle der viktorianischen Ära ist recht früh und vor dem „Golden Age“ entstanden: Robert Louis Stevensons' „Dr. Jekill und Mr. Hyde“ stammt von 1886.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914So modern sie erscheint, war sie doch eher der furiose Abschluss einer alten Traditionslinie des Horrors, wie wir noch hören werden, und nicht der Startschuß zu etwas Neuem. Erwähnenswert ist die starke Diskrepanz zwischen den zahlreichen Verfilmungen und dem Original. Das Grauen in der Erzählung ergibt sich aus der Subtiliät des Erzählten, nicht seiner Drastik. Das Abstoßende des Mr. Hyde, der die destruktive Persönlichkeitsseite des netten Dr. Jekyll ist, die der Arzt bei Experimenten loslöst, indem er per Droge eine Persönlichkeitsspaltung erreicht, dies Widerwärtige ist nur schwer zu benennen. Jeder Augenzeuge, der Hyde begegnet, bemerkt sofort seinen instinktiven Widerwillen gegen diesen Mann, kann aber nur schwer oder gar nicht analysieren, was genau ihn auslöst. Äußerlichkeiten sind es eindeutig nicht. Dass jemand abstoßend wirkt, ohne abstoßend auszusehen, macht den dunklen Zauber dieser Novelle aus. Somit geht die Intention der meisten Filme, Mr. Hyde als häßliches verwachsenes Monster darzustellen, völlig an der Absicht des Autors vorbei.

Die Übersicht
Die Übersicht
1. Das bekannte Erbe
2. Maga und die Frauen
3. Themen
4. Dickens, Weihnachtsgrusel und Moral
5. Golden Age und Niedergang
6. Das unbekannte Erbe
7. Gratis-Storysammlungen bei mobileread und RGL. Eine Liste

Kommentare  

#1 mammut 2023-05-08 13:38
Wie immer sehr lesenswert!

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