Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Heyne Science Fiction Classics 41 - Phyllis Gotlieb

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 41: Phyllis Gotlieb
Die Geißel des Lichts

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Gibt es eine eigenständige kanadische Science Fiction? Das ist eine gar nicht so einfach zu beantwortende Frage, denn Science Fiction ist ein internationales Genre, das auf der ganzen Welt Anhänger hat und für das aus den verschiedensten Kulturkreisen Beiträge geliefert werden. In den letzten Jahren wurden hierzulande sogar interessante Werke aus China veröffentlicht, beispielsweise die hochgelobte Trisolaris-Trilogie von Xin Liu. Also was könnte für eine eigenständige nationale SF sprechen, wenn es sich außerdem sogar um den einflussreichsten Sprachraum der Erde handelt, den des Englischen, den man sich mit dem Nachbarland USA und dem Mutterland Großbritannien teilt? Um es kurz zu machen – nicht viel. Der heute vorgestellte Roman wurde sogar als eines der allerersten Beispiele kanadischer SF gerühmt. Das zeugt von Ahnungslosigkeit, denn immerhin waren mit A. E. Van Vogt und Gordon R. Dickson zwei absolute Schwergewichte der internationalen SF kanadischer Herkunft. Oder hat man die beiden unter den Tisch fallen lassen, weil sie in die USA übersiedelten und dann bei US-amerikanischen Verlagen publizierten?

Heyne Science Fiction ClassicsDie kanadische Schriftstellerin und Dichterin Phyllis Gotlieb (1926 – 2000) wurde in Toronto geboren und studierte Sprache und Literatur an der Universität von Toronto. Sie begann ihre schriftstellerische Karriere mit dem Schreiben von Lyrik und wandte sich nach einer Schreibblockade der SF zu. Ihr erster Roman Sunburst erschien 1965. Er wurde auf Deutsch unter dem Titel Die Geißel des Lichts in den Heyne Science Fiction Classics veröffentlicht. Gotlieb publizierte weitere Romane, darunter auch drei mehrbändige Serien. Die meisten dieser Romane sind in einem gemeinsamen Hintergrund einer Galactic Federation angesiedelt. Nur vom Roman Oh Master Caliban! gab eine deutsche Ausgabe bei Heyne, der aber nicht in der Classics-Reihe herauskam. Darüber hinaus wurden nur zwei Kurzgeschichten in deutschen Ausgaben veröffentlicht. Gotlieb ist hierzulande also nicht wirklich bekannt geworden. In Kanada gilt sie dagegen als „Grande Dame der Science Fiction“. Nach ihrem Roman Sunburst wurde der kandadische Literaturpreis „Sunburst Award“ benannt.

Heyne Science Fiction ClassicsSeit dreißig Jahren ist Sorrel Park, eine Kleinstadt in Illinois, ein riesiges Gefängnis. Damals gab es einen Kernschmelzunfall im Reaktor nahe der Stadt, der das Atomkraftwerk in die Luft fliegen ließ. Die eine Hälfte der Einwohner kam bei der Explosion ums Leben, die andere war den Folgen der radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Viele davon sind bereits gestorben, andere leiden an den Langzeitfolgen. Eine beunruhigende Zahl der Kinder, die seither geboren wurden, ist geschädigt. Die meisten davon sind verkrüppelt, verstümmelt, haben Herzfehler oder andere organische Defekte. Doch es gibt auch mutierte Kinder, die PSI-Kräfte entwickelt haben. Eine Reihe davon hat begonnen, diese unkontrolliert und zerstörerisch anzuwenden. Mit großer Mühe konnten siebenundvierzig dieser gefährlichen Kinder in ein Lager geschafft und mit besonderen Sicherungsmaßnahmen von der Umwelt abgeschottet werden. Das Militär hat den Ausnahmezustand erklärt. Sorrel Park ist von der Außenwelt abgeschlossen, die Stadt kommt immer weiter herunter, die restliche Bevölkerung steht am Rande der Verzweiflung und im Lager tickt eine tödliche Zeitbombe.

Auch die dreizehnjährige Shandy Johnson hat besondere Kräfte. Sie manifestieren sich nicht nach außen, aber Shandy ist hochbegabt, was niemand erkannt hat, denn sie ist ein Waisenkind, dessen Eltern an den Folgen der Strahlung gestorben sind, und ohne Schulbildung. Außerdem ist sie eine Undurchdringliche, denn sie kann von telepathischen Kräften nicht geortet werden. Shandy wird trotzdem entdeckt, und zwar von Jason Hemmer, dem Lagerschnüffler, der telepathische Kräfte besitzt. Er ist aber im Unterschied zu den anderen Mutanten nicht eingesperrt, denn er hat sich dem Militär zur Verfügung gestellt, um weitere Mutanten aufzuspüren, damit sie „unschädlich“ gemacht werden können. Jason sieht aus wie ein Neandertaler, vierschrötig, mit einem stiernackigen Kopf, mächtigem Oberkörper, langen Armen, kurzen Beinen und zusammengewachsenen Brauen. Shandy wird gefangengenommen und kommt unter die Fittiche des Psychologen Dr. Urquhart, dem sie einmal bei einem Vortrag ein Fachbuch geklaut und aufmerksam durchgelesen hatte. Urquhart ist ihr nicht böse, denn er entdeckt, dass Shandy sehr intelligent und wissbegierig ist. Aber Oberst Prothero, der Kommandant der Militärs, begegnet ihr mit großem Misstrauen. Er ist persönlich sehr von der Situation betroffen, denn sein Sohn Colin ist einer der eingesperrten negativen Mutanten. Aber nachdem Urquhart sagt, dass Shandys Undurchdringlichkeit für telepathische Kräfte noch von Nutzen sein kann, bleibt sie vorerst in der Obhut des Militärs. Sie verscherzt sich aber weiter das Vertrauen Protheros, als sie ohne vorherige Genehmigung die Personalakten der Mutanten durchsieht.

Die Situation eskaliert, als die Mutanten den scheinbar undurchdringlichen Elektrozaun um ihr Gefängnis überwinden und ausbrechen, eine Spur der Verwüstung, verbunden mit einigen Menschenopfern, hinter sich lassend. Einige haben nicht nur telepathische, sondern auch telekinetische, teleportative und hypnotische Kräfte. Sie vereinigen ihre Kräfte zu einer Art Gemeinschaftsintelligenz.

Ausgelöst von Colin Protheros Schmerz und Erbitterung vereinigten sich vierunddreißig Geister zu einer kritischen Masse und zu einer neuentdeckten Form.

Curtis Quimper, ein Achtzehnjähriger, der seit mehreren Jahren von seinen Kräften wußte, streifte durch die mitternächtlichen Straßen und schrie wortlos seinen Haß und seine Parolen in die Gehirne all jener, die ihn hören konnten. Er hatte drei Kanalisationsdeckel gestohlen und sie vor ein paar Nächten in der Dunkelheit des freien Felds wie Planeten um seinen Kopf kreisen lassen, bevor sie zusammengeprallt und zu Boden gestürzt waren, Maulwürfe in ihren Gängen zermalmend.

Das kann ich mit allem und jenem tun; mit allem, was mir gefällt, und mit jedem, der sich mir entgegenstellt!

Wenn die neugebildete Form ein Rudel war, dann war Curtis Quimper der Anführer.

Harvey King, vierzehn Jahre alt und vor sechs Monaten aus dem Jugendheim entlassen, folgte dem gebieterischen Aufruf. Er hatte im Holzschuppen hinter dem Blumengeschäft auf ein paar alten Säcken geschlafen. Sein Vater war im Gefängnis, und seine Mutter, mit sieben anderen Kindern am Hals, hatte beinahe vergessen, daß er existierte. Die morsche Tür brach splitternd aus den Scharnieren und fiel unter seinem wilden Ansturm; er fiel darüber, rappelte sich auf und rannte weg.

Lavonne Hurley, ein krüppelhaftes Mädchen, dessen Geist so verbogen war wie sein verwachsener Körper, lief hinkend und mit den Armen rudernd die Straße hinunter. Ihre Schulter schmerzte schrecklich, weil eine Schwester ihr am Tag zuvor den Arm auf den Rücken gedreht hatte, aber sie war zum erstenmal in ihrem Leben ganz und gar glücklich. […]

Donatus Riordan schlug in seinem Bett kreischend um sich. Er war bucklig und halb gelähmt, und die Kinder nannten ihn wegen seines mühsamen Stotterns Doydoy. Er hatte ein bequemes Bett in einem sauberen Zimmer; er wurde geliebt und umsorgt; seine Eltern waren anständige und gute Leute, deren Erziehung sein moralisches Empfinden geprägt hatte. Aber die strahlungsgeschädigten Gene seiner Elten hatten seinen Chromosomansatz verändert, und er wußte sich nicht zu helfen.

Als seine Eltern ins Kinderzimmer kamen, schwebte er schreiend und mit den Armen fuchtelnd über seinem Bett; seine gelähmten verkümmerten Beine waren in Laken und Bettdecke verheddert; er befreite sich von ihnen und verschwand, bevor die Eltern ihn erreichten. Es gab ein unheimliches schmatzendes Geräusch, als die Luft in den Raum eindrang, den er ausgefüllt hatte.

(Zitiert aus: Phyllis Gotlieb: Die Geißel des Lichts. München 1981, Heyne SF 3794, S. 42f)

Niemand kann den vereinten Kräften der Mutanten zur Geistesbeeinflussung widerstehen, nur die undurchdringliche Shandy. Der große Nachteil der Ausreißer ist aber, dass sie von unterdurchschnittlicher Intelligenz sind und nicht wirklich einen Plan haben, außer sich an ihren vermeintlichen Unterdrückern zu rächen. Zudem kommt es auch zu internen Auseinandersetzungen um die Führung der Bande. Shandy und Jason geraten in die Gefangenschaft der Ausreißer und müssen um ihr Leben kämpfen. Letzten Endes ist es dem Geschick und der telepathischen Undurchdringlichkeit Shandys zu verdanken, dass die negativen Mutanten wieder festgenommen und wieder zurückgebracht werden, dieses Mal aber ohne nochmalige Ausbruchsmöglichkeit. Bei der Reflexion der Geschehnisse zwischen Dr. Urquhart und Shandy kommt auf, dass parapsychische Kräfte kein Zeichen von Übermenschentum sind, sondern gerade im Gegenteil von menschlichem Abfall.

„Psychopathen haben Gehirnwellen wie Kinder... In einem Buch über Jugendkriminalität las ich einen Satz, der mir im Gedächtnis haften blieb: >Ihr Verstand scheint primitiver organisiert. Nun, das haben sie mit allen anderen Geschöpfen gemeinsam, die telepathische Fähigkeiten haben. Mit anderen Worten, wir haben es mit nichts anderes als einer Fähigkeit zu tun, die Tieren eigen ist... für zivilisierte Menschen zwar interessant, aber Merkmal eines Entwicklungsrückstands...< Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel, Jason? Du bist ein bescheidener, uneitler Mensch.“

Er starrte sie an, und seine anfängliche Entrüstung machte einem Schmunzeln Platz. „Selbst wenn deine abenteuerliche Logik sich als stichhaltig erweisen würde, was ich bezweifle“, erwiderte er, wieder ernst werdend, „ist es eine gefährliche und abwegige Theorie, weil sie darauf hinausläuft, daß die Lagerinsassen als Tiere betrachtet werden“.

Shandy schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ich versuche zu sagen, daß der Psychopath schon durch die Chromosomen seiner Eltern zu dem programmiert wird, der er ist. Die Mitmenschen sehen einen gesund aussehenden Jugendlichen von durchschnittlicher Intelligenz und gesundem Verstand vor sich, dem nichts als ein Gewissen zu fehlen scheint, also folgern sie, daß er falsch erzogen wurde. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, daß der Defekt schon vor der Geburt in ihm angelegt ist, wie etwas bei einem mongoloiden Kind, sei es durch ein geschädigtes oder ein zusätzliches Chromosom... Und vielleicht ist dieser Defekt nichts anderes als eine genetische Rückartung, ein Zurückfallen auf eine entwicklungsgeschichtlich primitivere Ebene wie etwa die des Neandertalers.

(Zitiert aus: Phyllis Gotlieb: Die Geißel des Lichts. München 1981, Heyne SF 3794, S. 128f)

Ein wirklicher Übermensch hätte ganz andere Eigenschaften. Er müsste moralisch sein, gegen schädliche Einflüsse der Umgebung unempfindlich, er würde beobachten, lernen und sich selbst entdecken, um dann einen wertvollen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Shandy ist ein solcher Mensch.

Der Roman wurde in Kanada (und darüber hinaus) zwar großteils begeistert aufgenommen, war aber durchaus nicht unumstritten. Gotlieb verarbeitete einige krude Theorien, unter anderem, dass Menschen mit mesomorphem Körpertyp anfälliger für kriminelle Verhaltensweisen als ektomorphe oder endomorphe Tpyen wären, und dass besonders Menschen aus der Unterschicht mit Herkunft aus Einwanderergruppen besonders gefährdet seien, mutierte Nachkommen mit negativen Eigenschaften zu bekommen. Hier ist ein mindestens unterschwelliger bis offener Rassismus zu konstatieren, den viele begeisterte Leser der Lichtgestalt Shandy übersehen hatten. Ich unterstelle der Autorin durchaus, dass sie das beabsichtigt hat. Den Roman als Klassiker hochloben kann ich deswegen nicht. Das Zusammenwirken von Jugendlichen in einer Kollektivintelligenz hat Theodore Sturgeon in seinem berühmen Episondenroman Baby Is Three (auf Deutsch: Die neue Macht der Welt; auch: Baby ist drei) weitaus eindrucksvoller geschildert. Zudem halte ich es nicht für angebracht, einen Roman bereits relativ bald nach dem Erscheinen in der Originalausgabe (1964) in einer übersetzten Ausgabe (1981) als Klassiker zu bezeichnen. Da sollte man doch abwarten, wie „zeitlos“ das Werk ist, außer es handelt sich um solche bahnbrechende Knaller wie Der Wüstenplanet oder Neuromancer, die einen so durchschlagenden Eindruck machten, dass sie fast unmittelbar nach Erscheinen in die Ruhmeshalle aufgenommen wurden. Das ist hier aber nicht der Fall. Man kann das Werk als interessanten SF-Roman für Jugendliche sehen, der bedauerlicherweise durch einige umstrittene Aussagen entwertet wird.

Es kommt noch ein Kritikpunkt dazu, den man allerdings diesem Roman nicht speziell vorwerfen kann: Man war lange der Meinung, dass die Folgen von radioaktiver Strahlung zu Mutationen verbunden mit parapsychischen Eigenschaften führen könnten. Speziell in den ersten Jahrzehnten nach 1945 war dieser Glaube weit verbreitet. Auch ein SF-Dauerbrenner wie Perry Rhodan lebt zu einem beträchtlichem Teil von Mutantengeschichten. Ich bin der Ansicht, dass wir uns von diesem – zugegebenermaßen sehr beliebten – Szenario verabschieden sollten. Mittlerweile hat es jede Menge von Ereignissen gegeben, bei denen radioaktive Strahlung in hoher Dosis freigeworden ist: die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki 1945, die Atombombenversuche der Supermächte in den darauf folgenden Jahren, die schweren nuklearen Unfälle von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima neben weiteren vertuschten Unfällen in der UdSSR. Die Konsequenzen: Strahlungsopfer, Schilddrüsenkrebs, erhöhte Missbildungsgrate bei Neugeborenen, aber keine Telepathie, Telekinese, Teleportation, Fernhypnose und weitere Fähigkeiten aus der Märchenkiste. Es wird Zeit, sich anderen Ufern zuzuwenden.


Titelliste von Phyllis Gotlieb

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Originalausgabe des Werks angeführt.

1981

3794 Die Geißel des Lichts

Originalausgabe 1964 unter dem Titel Sunburst


Zur Titelliste der Heyne Science Fiction Classics

Zum ersten ArtikelZur Übersicht

  

 

Tags: Science Fiction and Fantasy

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.