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Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 2: Alfred Kubin - Die andere Seite

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 2:
Alfred Kubin: Die andere Seite

Phantastische Literatur in allen ihren verschiedenen Ausprägungen wird allgemein als Teil der Unterhaltungsliteratur betrachtet, um es deutlicher zu sagen der Trivialliteratur. Dass sich aber auch renommierte Autoren der deutschsprachigen Literatur, die zum Teil zu höchsten literarischen Ehren gelangten, mit utopischen und phantastischen Stoffen beschäftigten, wird in dieser Serie aufgezeigt.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:So recht passt der Autor des Romanes, welchen ich Ihnen in diesem Artikel vorstelle, nicht zu den anderen in der Artikelserie. Das liegt nicht am Roman, um den es hier geht, sondern um den Schöpfer des Werkes. Denn Kubin war kein Schriftsteller, sondern Zeichner. Die andere Seite ist sein einziger Roman. Alfred Kubin wurde 1977 im böhmischen Leitmeritz geboren und verbrachte seine Kindheit in Salzburg, wo er ein Gymnasium besuchte. Anschließend machte er in Klagenfurt eine Lehre bei einem Fotografen. Sein nächsten Lebensabschnitt verbrachte er in München, wo er sich ab 1898 dem Studium der Malerei widmete. Ab 1906 lebte er in Wernstein am Inn im österreichischen Innviertel auf Schloss Zwickledt. Der Erwerb dieses Ansitzes wurde möglich, nachdem Kubin eine begüterte Witwe geheiratet hatte. Kubin blieb hier bis zu seinem Lebensende 1959 und widmete sich seinem Werk als Zeichner, Buchillustrator und Druckgrafiker.

Seine Zeichnungen widmen sich vor allem der Darstellung phantastischer Traumvisionen. So ist es kein Wunder, dass Kubin unter anderem Illustrationen zu Büchern von Edgar Allan Poe, E. T. A. Hoffmann, Voltaire, Gérard de Nerval, Gottfried August Bürger und Fjodor Dostojewski schuf, in denen das Phantastische ein wesentliches Element ist. Natürlich hat er auch seinen eigenen Roman Die andere Seite mit 52 seiner eigenen Illustrationen geschmückt. Dass die Nazis von Kubins Werk nicht angetan waren, ist kein Wunder. 63 seiner Werke wurden als „entartete Kunst“ konfisziert.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Die andere Seite entstand während einer Schaffenskrise Kubins 1908 nach dem Tod seines Vaters – man beachte auch den Namen „Patera“ für den Herrn des Traumreiches - und wurde erstmals 1909 veröffentlicht. Der Ich-Erzähler ist ein Alter Ego Kubins, leicht erkennbar dadurch, dass er Zeichner ist und seine Schulausbildung in einem Gymnasium in Salzburg hatte. Dort hatte er einen Freund mit Namen Patera. Nach langen Jahrzehnten, in denen die Verbindung der beiden abgebrochen war, wird der Erzähler von einem Gesandten Pateras besucht. Dieser überreicht ihm eine Einladung seines früheren Freundes, zu ihm in sein Reich zu kommen, weit weg in Zentralasien, wo man sich vom Fortschritt abgewendet hat. Der Erzähler nimmt, neugierig geworden, die Einladung an, die mit einem großzügigen Geldgeschenk verbunden ist, und reist zusammen mit seiner Frau per Bahn nach Kirgisistan, wo die schneebedeckten Berge des Tienschan glitzern. Durch ein verstecktes Tor betreten sie ein eigenartiges düsteres Land, in dem keine Sonne scheint. Patera hat hier die Stadt Perle aufgebaut, indem er aus aller Welt Häuser hierher translozieren ließ. Das Paar richtet sich häuslich ein und lernt die Einwohner kennen, die großteils aus deutschsprachigen Ländern hierher übersiedelt sind. Der Erzähler nimmt eine Stelle als Zeichner bei einer örtlichen Zeitschrift an. Merkwürdig ist aber, dass das Geld unter den Fingern zerrinnt und das Geldgeschenk bald aufgebraucht ist. Jedoch kann man gut überleben, denn der Geldwert ist nicht greifbar. Die Einwohner verhalten sich vorsichtig ausgedrückt seltsam, sie stehen unter einem Bann. Mit längerem Aufenthalt wird die Atmosphäre immer mehr bedrückend. Die Frau des Erzählers hält die Verhältnisse nicht mehr aus und erkrankt. Der Erzähler versucht, zu seinem Freund Patera vorzudringen, welcher im Palast wohnt, einem monströsen Bau in ungeschlachter Größe. Es gelingt ihm aber nicht, die gewünschte Audienzkarte zu erlangen, er scheitert immer wieder an der undurchsichtigen Bürokratie. Endlich schafft es der Erzähler, zu Patera vorzudringen, aber der frühere Freund entpuppt ist ganz anders als erwartet und erhofft:

Seine Gestalt richtete sich völlig auf, wie eine Medusenmaske hing das Haupt über mir. Gebannt, war ich keiner Bewegung fähig, ich dachte nur: „Das ist der Herr, das ist der Herr!“ - Jetzt erlebte ich ein unbeschreibliches Schauspiel. - Die Augen schlossen sich wieder, ein grauenhaft schreckliches Leben trat in dieses Gesicht. Das Minenspiel wechselte chamäleonartig – ununterbrochen – tausend-, nein hunderttausendfach. Blitzschnell glich dieses Antlitz nacheinander einem Jüngling – einer Frau – einem Kind – und einem Greis. Es wurde fett und hager, bekam Auswüchse wie ein Truthahn, schrumpfte winzig klein zusammen – war im nächsten Augenblick hochmütig gebläht, dehnte, streckte sich, drückte Hohn, Gutmütigkeit, Schadenfreude, Haß aus – voller Runzeln wurde es und wieder glatt wie Stein – aber es war wie ein unerklärliches Naturgeheimnis – ich konnte mich nicht abwenden; eine magische Kraft hielt mich wie festgeschraubt, Schrecken überrieselte mich. Jetzt erschienen Tiergesichter: das Antlitz eines Löwen, dann wurde es spitz und schlau wie ein Schakal – es wandelte sich in einen wilden Hengst mit geblähten Nüstern – wurde vogelartig – dann wie eine Schlange. Es war entsetzlich, ich wollte schreien und konnte nicht. In abscheuliche, blutüberströmte und spitzbübisch feige Fratzen mußte ich blicken. Dann trat endlich langsam Ruhe ein. Wie Wetterleuchten fuhr es noch manchmal über das Antlitz – die verzerrten Larven verschwanden und wiederum schlief vor mir der Mensch Patera. Die geschwungenen Lippen fieberten und bewegten sich schnell. Ich hörte wieder diese seltsame Stimme:

„Du siehst, ich bin der Herr! - Auch ich war verzweifelt, da baute ich mir aus den Trümmern meines Gutes ein Reich. Ich bin der Meister!“

zitiert aus: Alfred Kubin: Die andere Seite. München 1975, Edition Spangenberg im Heinrich Ellermann Verlag

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Der Erzähler flieht. Bei der Rückkehr liegt seine Frau im Sterben. In seiner Verwirrung und Verzweiflung erliegt er der Anziehungskraft der Frau des Arztes, welcher er sich in der Nacht nach der Bestattung seiner Frau hingibt. Er benötigt lange Zeit, um die Geschehnisse zu verarbeiten:

Es überfiel mich ein Arbeitsdelirium; im nächsten halben Jahre produzierte ich unter dem Drucke des Schmerzes meine besten Sachen. Ich betäubte mich im Schaffen. Meine Blätter, in der düsteren und fahlen Stimmung des Traumreiches gehalten, sprachen auf verborgene Weise mein Weh aus. Fleißig studierte ich die Poesie der dumpfigen Höfe, der verborgenen Dachkammern, der schattigen Hinterzimmer, staubigen Wendeltreppen, nesselbestandenen Gärten, die blassen Farben der Ziegel- und Holzpflaster, die schwarzen Schlote und die Gesellschaft der bizarren Kamine. Immer wieder auf neue Art variierte ich den einen melanchonischen Grundton, das Elend der Verlassenheit und den Kampf mit der Unsterblichkeit.

zitiert aus: Alfred Kubin: Die andere Seite. München 1975, Edition Spangenberg im Heinrich Ellermann Verlag

Ein schöner autobiografischer Blick auf die Stimmung und Arbeitsweise Kubins.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Der Untergang des Traumlandes steht bevor, als Herkules Bell in Perle eintrifft. Der bullige Pökelfleischkönig aus Philadelphia, wie Patera ein unermesslich reicher Mann, will das Land dem Fortschritt der Neuzeit öffnen und seinen jetzigen Herrscher stürzen. Mit unermüdlicher Arbeit, Bestechung und Proklamationen zum Aufstand kämpft er gegen die herrschenden Verhältnisse an. Der Herr des Landes wehrt sich mit Mitteln, welche die allmähliche Selbstvernichtung einleiten. Zuerst erliegen die Einwohner einem Schlafbann, dem allerdings die Tiere nicht unterliegen, welche sich unheimlich vermehren. Scharen kriechenden und fliegenden Gewürms peinigen die Einwohner, die sich wilden Orgien hingeben. Die Mauern beginnen zu zerbröckeln, die Gewänder verschleißen, bis die Menschen großteils nackt heraumlaufen müssen, die Lebensmittel verderben. Die Menschen verlieren alle Hemmungen, wer nicht den Naturgewalten unterliegt, fällt dem gegenseitigen Morden zum Opfer. Patera und Bell führen einen Zweikampf, in dem Bell die Oberhand behält, wie es den Anschein hat. Nur ganz wenige Menschen entkommen der Apokalypse. Darunter sind der Erzähler, welcher in einer Heilanstalt landet, wo er gegen die Träume behandelt wird, die seinen Geist zu überwuchern drohen, und Herkules Bell, welcher zwar Patera stürzen konnte, aber kein Reich mehr hat, das er beherrschen könnte. Doch Bell hat alles unbeschadet überstanden, ihn kennt heute die ganze Welt. Und Patera? Es bleibt offen, ob er wirklich war oder nur eine Puppe der geheimnisvollen blauäugigigen Eingeboren des Traumlandes, die sie mit ihren magischen Kräften galvanisierten und das Traumreich nach ihrem Belieben schufen und vergehen ließen.

Hat Kubin mit seiner dystopischen Vision den unausweichlichen Untergang der alten österreichisch-ungarischen Monarchie vorausgeahnt oder dargelegt, wie die europäische Zivilisation der militärischen und kommerziellen Übermacht der amerikanischen erlegen ist, was im Roman so trefflich durch die Figur des Herkules Bell personifiziert ist? Im Klappentext der Ausgabe von 1975, die in meinem Besitz ist, steht folgende interessante Aussage über das Werk:

Es hat Kafka, Jünger, Kasack und den ganzen Surrealismus, auch die Gruppe um den „Blauen Reiter“, dem Kubin angehörte, sowie Beckmann, Feininger und Kless beeinflußt.

Kafka ist plausibel, denn als im Roman Das Schloss der Landvermesser K. vergeblich versucht, zum Schlossherren vorzudringen, wird man an sich sicherlich an die ähnliche Szene aus Die andere Seite erinnern. Dieser Roman entstand ja mehr als ein Dutzend Jahre vor Kafkas Werk. Sie können der Auflistung am Ende des Artikels entnehmen, dass in dieser Artikelserie auch Beiträge zu Jünger und Kasack erscheinen werden. An den Text des Klappentextes konnte ich bei der Konzeption der Beiträge zu dieser Serie aber nicht erinnern, denn ich habe das Buch nach meinem Erstlesen vor mehr als 40 Jahren erst wieder für die Erstellung dieses Artikels in die Hand genommen. Mir erscheint außerdem wahrscheinlich, dass Michael Ende Die andere Seite gekannt hat, denn der zweiteilige Aufbau der Unendlichen Geschichte mit dem Wechsel nach Phantasien im ersten Teil und dem Untergang des Traumlandes im zweiten Teil weist eine ähnliche Struktur wie Die andere Seite auf. Außerdem ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Michael Endes Vater Edgar surrealistischer Maler war und Kubin höchstwahrscheinlich gekannt hat. Auch Endes Werke waren für die Nazis entartete Kunst, dieses Schicksal teilte er mit Kubin und Kafka.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:So ist Die andere Seite ein Buch, das heute fast vergessen ist, aber seine Spuren in einer ganzen Anzahl von späteren Werken bekannter Schriftsteller hinterlassen hat. Es ist auch heute noch lohnenswert, in das Buch hineinzulesen, mehr als hundert Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen. Auch an der Filmindustrie ging der Stoff nicht vorbei. Traumstadt, 1973 von Johannes Schaaf gedreht, und mit Per Oscarsson und Rosemarie Fendel in den Hauptrollen, hieß die bildliche Umsetzung des Stoffes. Der Film rückt die dekadente, hemmungslose, ausschweifende Stimmung vor dem Untergang der Traumstadt in den Mittelpunkt, was aber im Roman keine so zentrale Stellung hat. Fellinis Roma könnte da eher Vorbild gewesen sein. Ich habe noch dunkel in Erinnerung, dass Frauen mit riesigen grünen Gummibrüsten herumliefen. Eine kongeniale Umsetzung von Kubins düsteren Visionen war das jedenfalls nicht.


Bibliografie

Deutsche Erstausgabe

Alfred Kubin: Die andere Seite. München und Leipzig 1909, Verlag G. Müller

Für diesen Artikel verwendete Ausgabe

München 1975, Edition Spangenberg im Heinrich Ellermann Verlag


Übersicht aller Artikel:

13.09.2018 Franz Kafka: Der Prozess & Das Schloss
04.10.2018 Alfred Kubin: Die andere Seite
18.10.2018 Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten
01.11.2018 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel
15.11.2018 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen
29.11.2018 Gerhart Hauptmann: Die Insel der großen Mutter
13.12.2018 Ernst Jünger: Heliopolis & Gläserne Bienen
27.12.2018 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom & Das große Netz
10.01.2019 Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten
24.01.2019 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik & KAFF auch Mare Crisium
07.02.2019 Marlen Haushofer: Die Wand
21.02.2019 Günter Grass: Die Rättin

 

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