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Norbert Off Topic - Folge 2: Das Labyrinth der Wörter

Norbert Off TopicFolge 2:
Das Labyrinth der Wörter

Hin und wieder richte ich meinen Fokus gerne auf Filme, die keinem der hier im Zauberspiegel behandelten Genres zugehörig sind. So ist es mir durchaus ein Anliegen, auf solche Werke aufmerksam zu machen. Da aber Themen von außerhalb möglich sind, kann ich mich auch mit dieser kleinen Vorliebe austoben. Ich finde es sehr interessant, sich Filme abseits des Gewohnten anzuschauen. Wer sich berufen fühlt, der kann sich gerne an dieser Reihe beteiligen.

Gerard Depardieu alsGermainDas Labyrinth der Wörter (La tète en friche)
Mal ehrlich, Gerard Depardieu ist schon ein ziemlich hässlicher Vogel. Das seltsame dabei ist, dass er zu den größten Sympathieträgern des französischen Kinos gehört, nicht nur bei jenen der niveauverliebten Klasse. Er ist einer der wenigen Schauspieler in diesem Universum die einfach Alles darstellen können. Okay, als Indiana Jones würde er vielleicht eine unglückliche Figur abgeben, aber abkaufen könnte man es ihm trotzdem. Und weil es so ist, kann er auch mal in einem solch bescheidenen Film einen Mann spielen, dem die Weisheit und Intelligenz nicht in die Wiege gelegt wurde.

Germain ist ein einfältiger Typ, leider nicht mit besonderer Intelligenz ausgestattet. Er ist das, was man gemeinhin einen Dorftrottel nennt, trägt aber sein Herz auf dem rechten Fleck. Er besitzt keinen festen Job, aber er erledigt alle Arbeiten die man ihm aufträgt. Damit verdient er seinen Lebensunterhalt. Er lebt in einem Wohnwagen neben dem Haus seiner Mutter, die ihn immer spüren ließ/lässt, dass er ein unerwünschtes Kind war/ist. Er hat eine Freundin, sie ist Busfahrerin und nur halb so alt wie er. Trotzdem hat sie sich in ihn verliebt. Bald werden sie ein Kind zusammen haben. Wenn er Pause macht, dann geht Germain gerne in den kleinen Park und unterhält sich mit den Tauben, während er sein Brot isst. Jedem der Vögel hat er einen Namen gegeben. Er geht häufig in sein Stammlokal, wo er ein paar Freunde trifft, die ihn zwar nicht für voll nehmen aber immerhin tolerieren. Auch wenn er weiß, dass er kein gebildeter Mensch ist, so fühlt er sich trotzdem mit seinem Leben zufrieden. Doch fehlt da nicht etwas?

Gisele Casadesus als MargueritteEines Tages kommt er in den Park und macht seine übliche Pause. Auf der Bank neben ihm sitzt eine dürre alte Dame die in ein Buch vertieft ist. Sie kommen kurz ins Gespräch, doch dann trennen sie sich. Am nächsten Tag sitzt die Frau wieder da. Sie heißt Margueritte mit zwei "T", weil ihr Vater zu blöd war den Namen auf dem Amt richtig zu buchstabieren. Germain hat, außer ein paar Bilderbüchern und Schulbüchern, seit der Kindheit kein Buch gelesen. Er wurde dadurch rückständig, ist zwar kein Analphabet doch sein Wortschatz ist sehr begrenzt. Margueritte beschließt ihm aus dem Buch vorzulesen, das sie mit sich führt. Sie muss es langsam tun, denn sonst kann er ihr nicht folgen. Nebenbei erklärt sie ihm was einige der Wörter bedeuten und dass man mit ihnen sogar die Welt verändern kann. Germain findet Gefallen an dem Vorgang und so lässt er sich auch an den folgenden Tagen etwas vorlesen. Die Frau schenkt ihm das Buch schließlich, doch als er am Abend darin lesen will wird ihm bewusst, dass er einen erheblichen Mangel an Verständnis besitzt. So schenkt ihm Margueritte bald ein Wörterbuch. Germain kommt aber damit nicht klar, denn "wenn ich nicht einmal weiß, wie Labyrinth richtig geschrieben wird, dann kann ich es darin auch nicht finden."

Vorlesen im ParkEr besucht Margueritte in ihrem Zimmer im Altersheim. Sie eröffnet ihm, dass es mit dem Lesen bald vorbei wäre, denn sie leidet unter einer Augenkrankheit die zur Erblindung führen wird. Darauf beschließt Germain zu lernen um ihr vorlesen zu können. Die Alte ist sehr dankbar dafür, doch plötzlich ist sie verschwunden. Ihre Kinder können sich die Unterstützung für das Wohnen im Altersheim nicht mehr leisten und so kommt Margueritte in eine Massenunterkunft. Germain sucht nach ihr und holt sie schließlich da heraus. Er besitzt jetzt ein Haus, denn seine Mutter ist gestorben. So kann er ihr ein neues Heim bieten.

Das WörterbuchFür mich ganz persönlich gehört DAS LABYRINTH DER WÖRTER zu den liebenswertesten Filmen die ich je sehen durfte. Ruhig, beinahe betulich, erzählt er seine kleine Geschichte, irgendwie familiär zu nennen. Dabei wird er getragen von zwei exzellenten Schauspielern, die ihre Rollen absolut glaubwürdig verkörpern und perfekt miteinander harmonieren. Depardieu beweist einmal mehr seine äußergewöhnliche Klasse und Begabung. Im Making Of kann man ein paar Momente erhaschen, da er den intelligenten und witzigen Unterhalter gibt, der die komplette Crew bei Laune hält. In jenem Moment, da die Kamera zu laufen beginnt, änders sich sein Gesicht und sogar der Ausdruck der Augen. Von einer Sekunde zur anderen wird er zum einfältigen Trottel. Er spielt diesen nicht, er ist es! So ist es kein Wunder, dass Regisseur Jean Becker sich sehr positiv über ihn äußert. Der Mann geht in seiner Rolle auf wie kaum ein anderer.

Dennoch bekommt er in diesem Film sozusagen ernste Konkurrenz. Gisèle Casadesus ist in der Rolle der Margueritte mehr als einen Hingucker und Hinhörer wert. Dieser kleinen und zerbrechlich wirkenden Persönlichkeit verleiht sie Magie und nicht nur Germain verfällt ihrem einfachen aber gebildet wirkenden Charme.

Und wieder: Vorlesen im ParkEs gibt Momente in diesem Film, in die ich mich richtig verliebt habe. So etwa jene Szene am Anfang, da Germain zu den Bänken kommt und die Tauben zählt. Margueritte beobachtet ihn dabei.

"Warum zählen Sie die Tauben?"
"Ich muss doch wissen ob alle da sind."

Das bringt ihn mit der Frau ins Gespräch, zumal er ihr erklärt, warum er jedem Vogel ob dessen Eigenarten einen bestimmten Namen gegeben hat. Der Mann ist nicht wirklich dumm, was Margueritte schnell merkt. Er besitzt eine ganz eigene Intelligenz, die von "normalen" Menschen schwer zu begreifen ist. Ob der nicht stattgefundenen Erziehung und den ständigen Ausgrenzungen fehlt ihm jene Bildung, die von der Allgemeineit erwartet wird.

Meine Lieblingsszene, die gleichzeitig für den Film von elementarer Bedeutung ist, findet kurz vor dem Finale statt. Germain bringt ein selber gekauftes Buch mit in den Park, in dem er noch bis spät in die Nacht lesen geübt hat, unterstützt von seiner Freundin. Er weiß, dass die Frau erblinden wird und er ist fest entschlossen ihr die Bücher zu erhalten. So bittet er sie die Augen zu schließen und ihm zuzuhören. Natürlich kennt sie das Buch, doch es ist ihr eine Freude, die Worte aus dem Mund des Mannes zu hören. Ist es das Wissen etwas bewirkt zu haben, das sie lächeln lässt? Er ist ein anderer Mensch geworden und verblüfft sogar seine Freunde im Lokal mit seinem neuen Wissen.

Der Weg nach HauseNebenbei erzählt der Film noch von der Hassliebe zwischen Mutter und Sohn. In kleinen Flashbacks werden Szenen aus der Kindheit von Germain gezeigt. Ständig wird er von seiner Mutter abgekanzelt und in der Schule lachen sie nur über ihn. In der Gegenwart muss er pausenlos auf seine Mutter aufpassen, die ob Alkohol und Zigaretten immer mehr der Wirklichkeit entgleitet. Als sie stirbt geschieht etwas Seltsames. Ihre Rente, all ihr Hab und Gut hat sie für Germain gespart. Sie war unfähig ihm ihre wahren Gefühle zu zeigen und hielt so ihre Liebe im Verborgenen. Dennoch findet er erst in Margueritte jene Mutter die er immer gebraucht hat.

Für mich steckt in dem Film die Erkenntnis, dass es meistens die einfachen Dinge sind dich glücklich machen können. Es muss nicht immer höher, schneller und weiter gehen. Auf der Bank zu sitzen, ein Buch zu lesen, den Worten eines Menschen lauschen, oder einfach nur den Tieren bei ihrem Treiben zuzuschauen – das Leben dadurch reflektieren zu können – eben mal inne zu halten und die Zeit langsamer an sich vorbei streichen lassen. Ein Mann von etwa 50 Jahren und eine Frau von über 90 Jahren zeigen mir wie es funktionieren kann. Liebe ist ein vielschichtiges Zauberwort.

In Memoriam: Gisèle Casadesus  starb im Alter von 103 Jahren am 24. September 2017 in Paris

Das Labyrinth der Wörter Das Labyrinth der Wörter
(La tète en friche)
Darsteller:    
Gerard Depardieu (Germain)
Gisèle Casadesus (Margueritte)
Claire Maurier (Jacqueline [Mutter])
Maurane, Sophie Guillermin, Anne Le Guerner.
Produktion: Louis Becker für ICE 3, KJB, France 3, Studio Canal, DD Productions
Regie: Jean Becker
Drehbuch: Jean Becker, Jean-Loup Dabadie nach einem Roman von Marie-Sabine Roger
Kamera: Arthur Cloquet
Musik: Laurent Voulzy

Frankreich 2010

Farbe – 2,35:1 – 79 Minuten

Erstaufführung: 9. Mai 2010
Deutsche Erstaufführung: 2. Oktober 2010
DVD/Bluray: Concorde Home Entertainment

Bilder: Cover und Screenshots der deutschen DVD (Concorde Home Entertainment)

Kommentare  

#1 Heizer 2018-08-16 13:02
Schöner Film.
Mein erster GD Film war „Wahl der Waffen“.
Interessant, wie sich der Schauspieler dann weiterentwickelt hat.
Nun wird es etwas offtopic, Herr Aichele. Sorry, wenn ich Ihren Beitrag nutze, um eine Frage zu stellen.
Ich suche einen Filmtitel.
Ich habe schon gegoogelt, aber irgendwie kam ich nicht weiter. Ich dachte, dass GD die Hauptrolle spielte, aber ich habe mich wohl geirrt.
Inhalt (nach meiner Erinnerung) :
Im 18. Jahrhundert erfindet ein Mann aus der französischen Provinz eine raffinierte Bewässerungsmethode ( oder ein Kanalsystem....?)
Für die Finanzierung wäre der König der richtige Mann (Ludwig der 14. ... der 15......der 16....??)
Problem: um den Regenten mit seinen Entwürfen bekannt zu machen, muss er sich bei Hof „vorarbeiten“.
Das heißt, er muss sich durch die Hofschranzen, den Hofstaat etc. durchkämpfen, um irgendwann mal an der Speisetafel des Louis zu sitzen.
Dies geschieht durch das richtige Palavern zur richtigen Zeit. Das Umfeld des Königs erweist sich als rhetorisches Minenfeld. Intrigen auf hohem Niveau, kleine Eitelkeiten etc. werden durch den Dialog entschieden. Eine falsch gesetzte Pointe....ein Satz, der nicht auf mehreren Ebenen funktioniert....oder ein Thema, dem es an Esprit fehlt und Du bist wieder raus aus dem Spiel.
Oder kurz: Gunst oder Missgunst werden aufgrund von geistreichen Unterhaltungen verhandelt .
Letztlich scheitert unser Held und kehrt zurück in die Provinz. Weiß jemand den Titel?
#2 Jürgen Höreth 2018-08-17 14:12
Grandioser Film, wirklich herzerwärmend und mit grandiosen Akteuren
#3 Norbert 2018-08-18 21:01
Hallo Heizer. Entschuldige die späte Antwort. Zunächst einmal würde ich es begrüßen, wenn du mich einfach Norbert duzen würdest. Wir befinden uns hier auf einer Fanseite von Gleichgesinnten. Das "Sie" und die Anrede "Herr/Frau" mit dem Nachnamen klingt für mich zu distanziert.
Ich muss leider sagen, dass ich den durch die Inhaltsangabe gesuchten Film nicht kenne. Bis vor wenigen Jahren habe ich mich mit dem europäischen Kino nur selten auseinander gesetzt. Auch muss ich gestehen, dass ich Filme wie den von dir gesuchten nicht so gerne sehe. Aber wenn, zugegeben, dann lieber aus England oder Frankreich. Die Leute dort haben es irgendwie besser drauf das entsprechende Zeitbild zu erzeugen und dementsprechend auch mit den richtigen Darstellern zu besetzen.
Vielleicht kann dir jemand weiterhelfen, ich muss leider passen.
#4 Heizer 2018-08-22 00:18
Norbert. Ich hatte hier schon Pläusche mit Lesern, die übers „Sie“ abgewickelt wurden.
Einem honorigen Community Mitglied konnte ich es nur schwer beibringen, mich nicht „Herr Heizer“ zu nennen.
„ Jeder Jeck is anders“, wie man in Köln sagt.
Ansonsten:
Bitte nicht bei mir entschuldigen, weil:
1. Ich schau hier auch nicht jeden Tag rein
2. ....es Dir „ein paar Leute mehr“ hier (und anderswo) krumm nehmen könnten.
Der Film den ich suche, sollte ein französischer sein......aber so wie es aussieht, habe ich alle überfordert..... ;-) nicht jedes Filmrätsel ist einfach zu lösen.
Jedenfalls gefällt mir dein unaufgeregter Stil.
Bestes wünscht Guido.

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