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2000 AD - Heimat der Britcomics

2000 AD - Home of the Britcomics2000 AD
Heimat der Britcomics

2000 AD ist seit vielen Jahren das Fundament der britischen Comicindustrie. Es diente als Sprungbrett für international bekannten Autoren und Zeichner wie Alan Moore, Grant Morrison, Mark Millar, Garth Ennis, Steve Dillon, Brian Bolland, Simon Bisley oder Kevin O'Neill. Und doch ist 2000 AD jenseits der Insel eher wenig bekannt. Anlass genug, sich näher mit dem Magazin und Judge Dredd zu beschäftigen, der bekanntesten Figur.


2000 AD - Home of the BritcomicsJede Woche Comics: das Magazin
Nach 37 Jahren und 1900 wöchentlichen Ausgaben (Stand: September 2014) zählt 2000 AD zu den Erfolgsgeschichten auf dem Comic-Markt. Allerdings mit Einschränkungen. Im Ausland konnten sich die Geschichten um Judge Dredd, der Gallionsfigur des Magazins, der in seiner Mega City 1 für Ordnung schafft, indem er Polizist, Ankläger, Richter und Henker in Personalunion ist, nie richtig durchsetzen. Auch in Deutschland war die Serie immer ein Flop, obwohl es an Versuchen nicht mangelte. Selbst in Amerika, das eine solche Figur eigentlich mit offenen Armen aufnehmen sollte, war der Erfolg trotz diverser Verkaufserfolge nie besonders groß oder langwährend.

Das hat zweifellos mit den eigentlichen Inhalten der Serie zu tun. Vordergründig ist es ein Action-Comic in einer SF-Kulisse. Aber es ist quintessentiell britisch, satirisch, manchmal sehr politisch und voller schwarzem Humor. Die dazugehörige Prise Ultragewalt schadet nicht. Allein schon die Tatsache, dass der Held Judge Dredd genau das ist, was große Teile seines Publikums an der Staatsmacht gleichermaßen berechtigterweise fürchten und verabscheuen, ist vielleicht ein Indiz, warum gerade die potenzielle deutsche Leserschaft damit so wenig anfangen konnte.

Aber 2000 AD ist mehr als nur Judge Dredd. Es ist ein Anthologiemagazin mit aberdutzenden von Helden und Serien, das die ganze Bandbreite des Genres abdeckt, von SF, Military-SF über Fantasy bis zum Horror. Im Kern sind die Stories in Darbietung und Inhalt sehr unterschiedlich zu den US-Superhelden, aber auch zur franko belgischen Albenerzählweise.

2000 AD - Home of the BritcomicsDas Produkt:
Da es auf dem deutschen Markt im Prinzip nichts Vergleichbares gibt, zuerst ein paar Daten. 2000 AD erscheint wöchentlich und hat zurzeit einen Umfang von 32 Seiten, zählt man den Umschlag mit. (In Ausnahmefällen gibt es die letzte Seite einer Geschichte auch schon einmal auf der letzten Umschlagseite; in der Regel sind es aber nur 28 Seiten Comics.) Die Größe beträgt 21 x 27,5 Zentimeter, also in der Höhe etwas kleiner als Din A4. Die Ausgaben werden auf dem Cover als "Prog" bezeichnet – Prog 1899 -, ein Überbleibsel aus der Anfangszeit und die Abkürzung für das damals futuristische gemeinte "Programm". Jedes Heft beinhaltet im Schnitt vier bis fünf verschiedene Fortsetzungsgeschichten, die in wöchentlichen Episoden von vier bis sechs Seiten präsentiert werden; gelegentlich gibt es auch Einteiler. Die Länge der kompletten Geschichten ist unterschiedlich, das rangiert von Zweiteilern bis zu zwanzig oder mehr Kapiteln. Eine noch heute gültige Besonderheit besteht darin, dass die Fortsetzungsgeschichten nicht willkürlich in Häppchen geschnitten werden, um dem wöchentlichen Format zu entsprechen. Autoren und Zeichner müssen ihre Geschichten auf das Format zuschneiden; sie sind gezwungen, in vier bis sechs Seiten auf einen zumindest moderaten Cliffhanger hinzuarbeiten. Das fördert natürlich eine temporeiche Erzählweise.

Anfangs gab es nur schwarz/weiß, heute sind die meisten Geschichten farbig. Judge Dredd ist immer die erste Geschichte im Heft. Ein (nicht unumstrittenes) Überbleibsel aus der Anfangszeit ist der fiktive (außerirdische) Redakteur Tharg, der auf der Redaktionsseite (innere Umschlagseite) die einzelnen Serien mit vollmundigen Worten und einem heute albern wirkenden Pseudo-SF-Slang vorstellt und Werbung für andere Hauspublikationen macht. Bei seinem Start 1976 kostete die Ausgabe neun Pence, heute sind es zwei Pfund fünfundvierzig, also drei Euro zehn.

2000 AD - Home of the BritcomicsDie Anfänge:
Anfang der 70er war der britische Comic-Markt fest in den Händen zweier Konkurrenten. Die Firmen IPC (International Publishing Corporation) und DCT (DC Thomson) veröffentlichten diverse Comics und Jugendmagazine, teilweise im wöchentlichen Erscheinungsrhythmus. Der Inhalt war streng geschlechterorientiert und jugendgerecht, es gab klare Trennlinien zwischen Girls Comics und Boys Comics. Zu den erfolgreichsten Zeiten gab es wöchentliche Auflagehöhen von 300000 Exemplaren. Aber Mitte der 70er kam langsam die Krise, vor allem die Inhalte der Boys Comics waren nicht mehr attraktiv für die Leserschaft. John Sanders, der Chef von IPC, ging das Risiko ein, zwei freischaffenden Autoren den Auftrag zu erteilen, ein neues Zugpferd zu erschaffen. Riskant deshalb, weil IPC streng hierarchisch organisiert war und die Gewerkschaft immer ein Wort mitzureden hatte. Da hatten es Leute von "draußen" schwer. Pat Mills und John Wagner, beide damals 27 Jahre alt, hatten als Autoren bzw Redakteure für IPC gearbeitet und für Girls Comics wie "Jinty" und "Tammy" geschrieben.

Als Antwort auf die erfolgreiche Kriegscomic-Reihe von DCT "Warlord" entwickelte Mills "Battle Picture Weekly" (1975), später zu "Battle" abgekürzt. Dieses Genre hat es in Deutschland aus verständlichen Gründen nie gegeben; in England war es ausgesprochen populär. Großformatig und auf billigem Papier gedruckt lockten die reißerischen Titel das jugendliche Publikum im Alter von 7 bis 11. "Only One Man can stop the Nazi Death's Heads butchers … Major Eazy!" (Nur ein Mann kann die Nazischlächter der Totenkopfdivision stoppen … Major Eazy) oder "Shark vs E-Boat – Death rears from the sea to taste Nazi flesh!" (Hai gegen E-Boot – der Tod steigt aus den Wellen und frisst Nazifleisch). Wie die amerikanischen Gegenstücke setzten sich die Hefte hauptsächlich aus soldatischen Serienhelden im Zweiten Weltkrieg zusammen, wobei die britischen Kriegscomics deutlich blutrünstiger als die Hefte von DC oder Marvel waren. Auch wenn das meiste davon heute zu Recht in Vergessenheit geraten ist, findet man hier jedoch ein paar Perlen. Zumindest die lange Serie "Charley's War" von Pat Mills und Joe Colquhoun über das Leben und Leiden eines Arbeiterjungen an der Grabenfront des Ersten Weltkrieg ist ein echtes und anerkanntes Meisterwerk.

Mills und Wagner schrieben viele der Geschichten, und Mills ließ bei europäischen und südamerikanischen Zeichnern arbeiten. Darunter auch der Spanier Carlos Ezquerra, der später Judge Dredd visuell entwickelte. "Battle" war ein kommerzieller Erfolg, und Mills entwickelte das Konzept für ein weiteres Weekly, das ein Erfolg und ein Desaster werden sollte. "Action" (1976) war eine Comicanthologie für Jungs und bot Geschichten über Spione, Sport und Abenteuer. Auf den Zeitgeist reagierend waren die Geschichten bewusst verhältnismäßig gewalttätig. Von den Verkaufszahlen sehr erfolgreich erregte "Action" im Gegensatz zu den Kriegscomics heftige Kritik. Das von Ezquerra gezeichnete Cover zu der Serie "Kids Rule O.K" zeigt einen Jugendlichen, der mit einer Kette auf einen am Boden liegenden Polizisten eindrischt. Da das gerade die Zeit der Hooligankrawalle war, liefen verschiedene Elternverbände und selbsternannte Moralwächter Sturm. "Action" kam in die Schlagzeilen. IPC ruderte zurück und entschärfte den Inhalt deutlich, was dazu führte, dass das Magazin dank sinkender Verkaufszahlen im nächsten Jahr eingestellt wurde.

2000 AD - Home of the BritcomicsIn der Zwischenzeit arbeiteten Mills und Wagner allerdings schon am nächsten Projekt, einer Science-Fiction-Anthologie namens "2000 AD". Zu der Zeit war SF auf dem Markt wenig erfolgreich, aber IPC-Redakteur Kelvin Gosnell, nach Mills der spätere Chefredakteur des Magazins, glaubte eine kommende Marktlücke zu erkennen. Der Film "Logan's Run" war sehr erfolgreich gewesen, "Star Wars" stand in den Startlöchern. Star und Zugpferd des Heftes sollte der alte und aufgemöbelte britische SF-Held "Dan Dare" sein. Dan Dare war von 1950 bis 1967 eine Ikone der britischen Jugendcomics gewesen, aber Mitte der 70er schon lange in Vergessenheit geraten. Zu der Zeit blickte man nach vorn, Nostalgie interessierte niemanden, die Kundschaft schon gar nicht. Die Idee war, rund um Dan Dare eine Comicanthologie wie die erfolgreichen Vorbilder aufzubauen.

Man lockte Mills und Wagner mit einer bis dahin noch nie dagewesen Beteiligung am Urheberrecht. Zu der Zeit erhielten Autoren und Zeichner in England nicht einmal Credits in den Heften, mit der Unterzeichnung seines Schecks verzichtete man auf sämtliche Rechte. Tantiemen oder die Beteiligung an Auslandsverkäufen gab es nicht. Allerdings zog der Vorstand von IPC das Angebot der Beteiligung schnell wieder zurück. Wagner stieg aus dem Projekt aus, um kurze Zeit später nur als Autor zurückzukehren. Mills wollte auch das Handtuch werfen, aber man überredete ihn mit einer Lohnerhöhung. Als Künstler und Autoren verpflichtete er Leute, die schon für "Battle" arbeiteten. Allerdings gab man der Not gehorchend und nach der enttäuschenden Qualität diverser Artwork einigen jungen britischen Künstlern eine Chance. Dave Gibbons (Watchmen), Mike McMahon und Brian Bolland (Batman: The Killing Joke) gehörten zu den Zeichnern der ersten Stunden. Zum Redaktionsteam gehörten Leute wie Kevin O'Neill (The League of Extraordinary Gentleman).

Prog 1 erschien im Februar 1977. Es enthielt folgende Serien:

  • Dan Dare von Mills-Armstrong und Belardinelli.

  • Harlem Heroes von Mills und Gibbons
    eine futuristische gewalttätige Sportlersaga inspiriert von dem Film Rollerball.

  • M.A.C.H.1 von Mills und Enio
    eine Art gewalttätigerer Sechs Millionen Dollar Mann.

  • Invasion von Mills und Blasco
    1999 besetzt die osteuropäische Republik Volgan Großbritannien, Lastwagenfahrer Bill Savage schnappt sich seine Schrotflinte und geht in den Untergrund; ursprünglich wurden die Invasoren als Russen benannt, was man aber in letzter Sekunde änderte.

  • Flesh von Mills und Boix
    zeitreisende Cowboys verarbeiten Dinosaurier zu Fleisch und schlagen sich mit T-Rex rum.


Das Heft verkaufte 350000 Exemplare. Judge Dredd hatte sein Debut erst in der zweiten Ausgabe. Die meisten Serien gab Mills an andere Autoren ab; er selbst verließ den Posten des Chefredakteurs nach 16 Ausgaben, arbeitet aber noch heute als Autor für die Publikation.

2000 AD - Home of the BritcomicsAuch wenn die Verkaufszahlen naturgemäß sanken, sollte 2000 AD sämtliche seiner Konkurrenzprodukte überdauern. Krisen gab es genug. Das Objekt wurde mehrmals weiterverkauft. Aus IPC wurde Fleetway, das Teil der Maxwell Group wurde. Fleetway wurde an die skandinavische Mediengruppe Egmont weitergereicht. Von dort ging es an den britischen Spieleentwickler Rebellion (Sniper Elite), der das Magazin zurzeit verlegt. Von London zog man nach Oxford um.

Profitabel war das Projekt unter dem Strich meistens. Im Laufe der Jahre gab es eine fast schon unübersichtliche Zahl an Nachdrucken der diversen Helden, in denen die Fortsetzungsgeschichten als Komplettausgaben vorliegen. Anfangs beschränkte man sich meist auf die beliebtesten Serien wie Judge Dredd oder die Fantasy-Saga Sláine, heute verwertet man viele Serien als Tradepaperback. Es gibt Crossover-Produktionen mit anderen Comic-Verlagen, die teilweise außerordentlich erfolgreich waren. Das Crossover Judge Dredd und Batman "Judgement on Gotham" (1991) von Grant/Wagner und Artist Simon Bisley hat sich ca. 500000 mal verkauft. Es gibt Videospiele, Rollenspielsysteme und viele Novelisations. Es gab einen Hollywoodfilm mit Sylvester Stallone, "Judge Dredd" (1995), der allgemein enttäuschte und sowohl als finanzieller wie auch als kritischer Flop gilt. In neuerer Zeit gab es eine britische Produktion, "Dredd" (2012), die als Achtungserfolg gilt. Und es gibt das monatlich erscheinende "Judge Dredd Megazine", das gerade die Nummer 350 erreicht hat und mittlerweile eine Mischung aus längeren Strips im Dredd-Universum und Artikeln über die Comicszene darstellt. Natürlich gibt es die Ausgaben auch in digitaler Form.

Neben Judge Dredd gibt es Woche für Woche neue Comics und im Gegensatz zu den kreativ erstarrten US-Serien ständig neue Konzepte und Figuren. Das liegt nicht zuletzt an der veränderten Rechtesituation, Autoren und Zeichner sind nicht zuletzt durch John Wagners jahrelange Bemühungen beteiligt und behalten das Copyright. Die thematische Bandbreite ist flexibel. Sie reicht von klassischer Space Opera und Abenteuer zu Fantasy und Horror. Es gibt in sich abgeschlossene Serien, die in Vergessenheit geraten sind, und Serien, die seit Jahrzehnten laufen. Leute wie John Wagner und Pat Mills arbeiten noch immer für das Magazin, viele Newcomer haben den Sprung nach Amerika geschafft. Und obwohl die Zeit den Titel 2000 AD schon lange überholt hat, bietet es noch immer abwechslungsreichen Lesestoff und häufig gelungene Artwork, die eine echte Alternative zum US-Markt bietet.

Im zweiten Teil beschäftige ich mich mit Judge Dredd.

Quellen:
Sämtliche Zitate und Zahlen aus:

  • Thrill-Power Overload – 2000 AD The First Thirty Years von David Bishop (Rebellion, 2009)
  • Judge Dredd The Mega-History von Colin M. Jarman und Peter Acton (Lennard Publishing, 1995)

 

© Andreas Decker

Kommentare  

#1 Heiko Langhans 2014-09-29 09:26
Ich hoffe auf eine langfristige Betrachtung, gerne 40 Teile oder mehr :D - hau in die Tasten, Andreas!
#2 GuentherDrach 2014-09-29 13:38
Schön. Meine Kenntnis britischer Comics ist bisher seltsamerweise und leider recht rudimentär (gelegentlich Dredd, Durham Red, Slaine, Dexter & Sinister und natürlich die Sachen, die über den Umweg über Amerika dann bekannt wurden, V for Vendetta und so), aber ich würde gerne mehr erfahren. Also, bin gespannt.
#3 Harantor 2014-09-29 21:49
Bis jetzt sollen es drei Teile werden ... Aber mal schauen, ob Andreas sich motivieren lässt.
#4 Andreas Decker 2014-10-01 20:04
Danke. Schön dass es interessiert.

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