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Die Blickdiagnose gehört abgeschafft

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneDie Blickdiagnose gehört abgeschafft

Für die damalige Zeit war die Hamburger Polizei Ende des 19. Jahrhunderts enorm fortschrittlich. Modernste Technik. Modernste Wissenschaft. Modernste Kameras. Mit Bildern von Verbrechern füllte man ganze Bildbände. Nicht nur, weil man damit den Einzelnen wiedererkennen konnte falls Zeugenbeschreibungen vorlagen sondern auch weil man wissen wollte: Was macht einen Menschen zum Verbrecher? Wir wissen, dass die Frage komplexer ist, dass Erziehung zum Teil dazugehört, dass manchmal die Umstände dazu führen.

Für die Kriminalisten der damaligen Zeit war aber etwas Anderes ausschlaggebend: Das Aussehen.

Es gab damals die Theorie, dass man zum Verbrecher geboren wurde. Dass aufgrund von Körpermerkmalen man eindeutig sagen konnte: Dieser Mensch wird einmal ein Verbrecher werden. Wer sich schon immer mal fragte, wer das Vorbild für den Polizeichef in „Die Nachtwache“ von Terry Pratchett war: Ein gewisser Herr Lombroso. Grundlegend hierfür waren die Vererbungsgesetze des österreichischen Naturforschers und Augustinerpaters Gregor Johann Mendel. Lombroso glaubte, den typischen Verbrecher von Geburt an aufgrund von Äußerlichkeiten feststellen zu können. So wurden die Länge der Nase, der Abstand der Augenbrauen und die Größe der Ohren gemessen. Falls man als Mensch nun das Pech hatte in diese Raster zu fallen, war man automatisch zum Verbrecher abgestempelt. Was dieser Einfluss dann in den zwölf dunklen Jahren unserer Geschichte angerichtet hat zusammen mit den Theorien von Gobineau muss man wohl kaum erwähnen.

Glücklicherweise sind wir ja nun aufgeklärt und wir wissen, dass körperliche Merkmale nichts mit irgendwelchen inneren Werten des Menschen … Darf ich das nochmal fassen? Gut: Heutzutage sind wir glücklicherweise aufgeklärt und wir wissen, dass es den geborenen Verbrecher nicht gibt, den geborenen ungesunden Menschen aber schon. Oh, moment, wo habe ich nur meine Tastatur: Also, wir sind uns einig, dass Verbrecher nicht geboren werden, sind jedoch der Ansicht, dass andere Körperformen offenkundige Nachteile mit sich bringen, nachdem wir nur einen Blick auf die jeweilige Körperform geworfen haben. Obwohl wir weder der Arzt, noch die Ärztin des jeweiligen Anderen sind. Obwohl wir nicht auf einen Blick wissen können, ob der Andere nun wirklich fett, faul und philosophisch ist. Wobei: Hat das nicht irgendwas mit einer Katze zu tun?

Dass wir so konditioniert worden sind seit Kindesbeinen an ist die eine Geschichte. Kinder wissen es nun mal nicht besser und sehen sich das, was sie denken sollen von den Erwachsenen ab. Aber irgendwann im Laufe des normalen Lebens sollte ja doch die Phase des Verstandes einsetzen, den man selber gebrauchen kann. Und diese Phase scheint ein Großteil der Bevölkerung gerne zu überspringen, denn es ist ja angeblich wissenschaftlich bewiesen, dass Mehrgewichtigkeit immer und auf jeden Fall zu Krankheiten führt während Schlankheit immer ein gesundes Maß von Gesundheit mit sich bringt. Dabei werden auch Schlanke krank - eigentlich eine Binsenweisheit - und tatsächlich erkranken Schlanke ebenfalls an Krankheiten wie Diabetes, haben Rücken, ächzen über Knieschmerzen oder die Hüfte. Wenn Schlanke dies tun, dann ist das ja kein Thema: Es gibt ja Mittel dagegen. Ob Schlanken mit Diabetes 2 ebenfalls empfohlen wird so um die 7 Prozent Körpergewicht zu verlieren? Oder kriege die gleich die passenden Medikamente dagegen beim Arztbesuch?

Der Storch bringt die Kinder. Eindeutig bewiesen. Wer im Netz danach sucht, wird ein oder zwei wissenschaftlich exakte Papiere finden, die genau das zu beweisen scheinen. Man setzt die Kurve der Storchpopulation in Bezug zum Kindersegen und zack, fertig. Es ist bewiesen. Je mehr Störche eine Region hat, umso mehr Babys gibt es dort. Dabei weiß jeder Statistiker den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität zu schätzen. In diesem Fall haben wir eine signifikante positive Korrelation. Aber keine Kausalität. Hier fehlt nämlich ein dritter Faktor: Der der Umwelt. Die Regionen, die stark industrialisiert sind, haben weniger Störche, da es sich um eher städtische Regionen handelt. Aus dem gleichen Grund haben sie auch weniger Babys, da Familien sich eher im ländlichen Bereich ansiedeln. Logisch? Klar. Jetzt ja.

Ernährungsstudien sind immer eine Gratwanderung. Schließlich können Menschen nicht über einen längeren Zeitraum unter Laborbedingungen untersucht werden. Was gerne gemacht wird: In Ernährungsstudien werden die Teilnehmer häufig rückblickend über ihre Ernährungsweise und ihren Gesundheitszustand der letzten Jahre befragt. Jedoch: Wer erinnert sich schon präzise daran, was er Monate oder Jahre zuvor gegessen hat? Selbst, wenn man aktuell ein Ernährungstagebuch führt - die ein oder andere Mahlzeit, die jemanden im schlechten Licht darstehen lässt, die verschweigt man doch dann gerne. Wissenschaftlich bessere Ergebnisse liefern Interventionsstudien. Dabei bekommen die Testpersonen genaue Anweisungen, wie sie sich ernähren sollen. Nachteil hier: Vorerkrankungen können nicht ausgeschlossen werden, weil die Menschen diese ja schon mitbringen. Was übrigens auch immer der Studie von 1959 vorgeworfen wird, die zeigt, dass Diäten in aller Regel scheitern - allerdings gibts mittlerweile auch mehr Studien dazu, die genau dasselbe zeigen. Es gibt noch einige andere Unwägbarkeiten, die man gerne mal beim Standard nachlesen kann. Da Ernährungsstudien also auch immer mit Kausalitäten zu kämpfen haben - gerade was die menschliche Ernährung anbelangt - kann also kaum gesagt werden, dass etwas so ist wie es ist. Es ist nicht unmöglich, sicherlich, aber so einfach ist es nicht wie die Presse das immer vermuten lässt. Vermutlich fehlt noch ein Faktor bei Diabetes 2, den wir bisher nicht kennen, vielleicht übersehen wir auch Dinge generell. Dass der Darm bei der Ernährung eine zentrale Rolle spielt wissen wir auch erst seit einigen Jahren. 

Selbst wenn, nur weil jemand aufgrund seine Gewichtes erkrankt ist können wir ihm das nicht auf der Straße ansehen. Genügend Krankheiten führen zu einer radikalen Abnahme - Diabetes 1 zum Beispiel ist mit einer dünnen Körperform assoziiert. Wer an Depressionen erkrankt ist, dessen Hungerempfinden ist ebenfalls gedämpft und der nimmt ab. Sehe ich eine Depressionserkrankung Menschen auf der Straße an? Nein. Sehe ich eine Krebserkrankung, die zur Abnahme führt, den Menschen auf der Straße an? Nein. Genauso wenig, wie ich vom Ansehen auf den geborenen Verbrecher schließen kann, kann ich beim Bummel durch die Stadt erkennen: Der ist krank, der ist gesund. Das geht einfach nicht und sollte auch einleuchtend sehen. Überhaupt ist die Gesundheit Privatsache - ich sollte mich da auch nicht unaufgefordert einmischen oder meinen Senf zu irgendwelchen Formen abgeben, weil das mir nicht zusteht. Denn ob jemand krank ist oder nicht, kann nur das jeweilige Medizinpersonal feststellen. Man stelle sich mal vor, man würde heutzutage von der Polizei angehalten, weil die Länge der Nase bewiesen hat, man würde demnächst ein Verbrechen ausüben … Absurd? Richtig.

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