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Vogelschisse und Stauferherrlichkeit: Heinrich VI. - 11. Epilog

Vogelschisse und Stauferherrlichkeit: Heinrich VI.Vogelschisse und Stauferherrlichkeit: Heinrich VI.
Epilog

Wir befinden uns im Hochmittelalter, oder präziser, in den letzten beiden Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts. Die Landkarte Europas hatte in dieser Epoche noch wenig Ähnlichkeit mit den heutigen Verhältnissen.

Das Königreich Deutschland war fester Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches, eines heterogenen Staatsgebildes.

Marilyn Monroe, James Dean, der Club 27… oftmals ist es der frühe Tod, der aus Berühmtheiten Legenden macht. Heinrich ist noch nicht einmal 33 Jahre alt geworden, und wie sein Vater (der mit 67 oder 68 ertrunken war) und sein Sohn (der immerhin beinahe 56 geworden wäre) war er kurz vor dem Erreichen seines höchsten Zieles unerwartet aus dem Leben geschieden. Friedrich I. Barbarossa war als Oberhaupt der Christenheit auf Kreuzfahrt gegangen, und dessen Enkel wäre es beinahe gelungen, den bereits nach Frankreich geflüchteten Papst niederzuringen. Wäre nur einem der Dreien auch nur ein einziges weiteres Jahr beschieden gewesen, die Landkarte Europas würde heute möglicherweise anders aussehen. Das Heilige Römische Reich, es war kein Nationalstaat gewesen, und so, wie sich Friedrich II. Stupor Mundi mehr als Sizilianer, denn als Deutscher gesehen hat, wäre bei einem endgültigen Erfolg der Staufer eine Loslösung des Kaisertums von der deutschen Königskrone vorstellbar gewesen. In diesem Fall wäre das Imperium tatsächlich der frühe Vorläufer der Europäischen Union gewesen, als der es heute ab und an mal gesehen wird.

Auch auf Heinrichs Tod folgte eine Phase der Wirren, da sein einziger Sohn Friedrich Roger (Friedrich II.) noch ein Kind war, und damit ein Bürgerkrieg ausbrach zwischen Heinrichs Bruder Philipp von Schwaben und dem Welfenkaiser Otto IV., dem Sohn Heinrichs, des Löwen. Der Papst (Innozenz III.) nutzte dieses Tohuwabohu, um sich mit Hilfe einer gefälschten Urkunde große Teile Reichsitaliens unter den Nagel zu reißen, bis er das Gebiet des Kirchenstaates verdreifacht hatte. Otto IV. ließ ihn gewähren: Allein um die Kaiserkrone zu erhalten, akzeptierte er die Annexionen, gab gar das Wormser Konkordat preis und gewährte dem Heiligen Stuhl dazu noch alle Rechte, die Heinrich noch als Verhandlungsmasse im Tausch gegen die Erbfolge aufgeboten hatte.

Auch Konstanze leistete dem Heiligen Vater keinen Widerstand. Ja als Philipp von Schwaben nach Foligno reiste, um von Friedrich Roger von dort zur Krönung nach Aachen zu bringen, kam sie ihm zuvor. Sie übergab ihren Filius stattdessen demütig in die Obhut des Kirchenoberhaupts, und verzichtete gar auf ihre Ansprüche an die Deutsche Krone. Oft wurde ihr dies später als Deutschenfeindlichkeit ausgelegt.

Markward von Annweiler, Diepold von Schweinspeunt und ein paar weitere Parteigänger des Verstorbenen konnten dem Patrimonium Petri nur eine Weile Paroli bieten: Ersterer starb 1202 einen ähnlichen Tod wie sein einstiger Herr Heinrich VI., und Letzterer geriet 1205 in eine Falle, aus der er nur auf recht abenteuerliche Weise wieder entkommen konnte.

Bei manchen Kreuzfahrern verzögerte sich auch die Heimkehr, und so hinderte beispielsweise niemand den Dänenkönig Waldemar II. Sejr ernsthaft daran, sich von Holstein bis zu den Pommerellen eine deutsche Ostsee- Provinz nach der anderen einzuverleiben.

Und Philipp von Schwaben schließlich, der seinen Konkurrenten Otto IV. mehr und mehr zu überflügeln begann, fiel dem „Fluch der Staufer“ zum Opfer: Er starb kurz vor Erlangung seines wichtigsten Zieles. Der Pfalzgraf von Bayern ermordete ihn auf der Hochzeit seiner Nichte, und das noch nicht einmal wegen des Bürgerkriegs, sondern aufgrund eines nicht eingelösten Eheversprechens mit einer von Philipps vier Töchtern (Eigentlich hatte der Staufer sogar sieben Kinder gehabt: Er und Irene/ Maria waren in dieser Hinsicht recht fleißig gewesen). Otto IV. widerrief unterdessen sämtliche Zugeständnisse, die er der Kurie gemacht hatte, und heiratete sogar eine von Philipps Töchtern. Aber während er nach Sizilien zog, um selbst staufische Politik zu machen, trat Friedrich Roger auf den Plan, und auch der war bereit, dem Papst alles preiszugeben, nur um selbst die Kaiserkrone tragen zu dürfen.

In all die spezifisch römisch- deutschen Katastrophen mischten sich auch noch internationale, wie etwa die Entartung der Kreuzzüge zu rein politisch motivierten Beutezügen (Vierter Kreuzzug 1203/ 1204; Albigenser- Kreuzzug 1209 – 1229, Stedinger- Kreuzzug 1233/ 1234) oder ihr Scheitern an absolut unchristlicher Menschenverachtung (Kinderkreuzzüge 1212). 1211 gar gelang es dem Almohaden- Sultan Muhammad an- Nasir, kurzfristig einige Gebiete auf der Iberischen Halbinsel zurückzuerobern. Weiter nördlich leitete der Vertrag von Le Goulet anno 1200 das Ende des Angevinischen Imperiums ein, und 1213 erlitte auch die bis dahin recht unabhängig agierende Grafschaft Toulouse in der Schlacht bei Muret eine entscheidende Niederlage.

So also folgte auf das Ende des Staufers seine Verklärung. Die Päpste haben ihn nicht gemocht, aber sie hatten auch mit seinem Vorgänger (Friedrich I. Barbarossa), als auch mit seinen Nachfolgern (Philipp von Schwaben, Otto IV., Friedrich II., Konrad IV.) ihre Probleme gehabt, so daß er in dieser Hinsicht nicht besonders heraussticht.

Tatsächlich wurde Heinrichs Dahinscheiden zunächst beklagt, galt er doch als ritterlicher Herrscher und Garant der Stauferherrlichkeit. Schon als Mitregent seines Vaters widmete ihm Petrus von Eboli bei der Übernahme der Herrschaft über Sizilien eine Ruhmesrede, die mit ihm den Anbruch eines „Goldenen Zeitalters“ verknüpfte. Die Eroberung Siziliens 1194 galt im Reich als Wiederherstellung von Recht und göttlicher Ordnung. Entsprechend wurde es als Ehre des Imperiums und Ruhm des Kaisers gepriesen.

Wie wir eingangs gesehen haben, hat Heinrich VI. in Jugendjahren selbst dem Minnesang gefrönt. Doch er hat auch selbst Künstler gefördert, zumal seine Lebenszeit mit der Hochblüte des Minnesangs zusammenfällt. Schon auf dem legendären Mainzer Hoffest 1184, bei dem er die Schwertleite erhielt, traten so berühmte Troubadoure auf wie Friedrich von Hauen, Heinrich von Veldeke, Guiot de Provins und Doetes de Troyes. Rotbarts Sohn hatte nicht nur Spielleute unter seinen Günstlingen und Protegés, er lieferte auch selbst Anlässe zu Auftritten, etwa bei seiner Heirat mit Konstanze 1186 oder während des Mainzer Hoftages 1188. Albrecht von Johansdorf, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Morungen, Reinmar von Hagenau, Ulrich von Zazikhofen und Wirnt von Grafenberg zählten zu den prominentesten Vertretern dieser Zunft, und sie alle bestritten ihr täglich Brot im Dienste deutscher Fürstenhäuser, wenn nicht gar unter Heinrichs Fuchtel selbst. Es war die Zeit, in der man sich (trotz süd- und nordfranzösischer Einflüsse) auch der eigenen Herkunft und Nationalität, so daß alte „deutsche“ Sagen neu entdeckt und erstmals bearbeitet wurden (darunter u. a. das Nibelungenlied und die Gudrunsage).

Wo ihn die deutschen Spielleute priesen, da verteufelten ihn freilich die angevinischen (und tolosanischen). Zumal er dadurch, daß es ihm gelungen war, die Ansprüche auf Sizilien durchzusetzen, auch einen frühen deutschen Nationalismus befeuert hatte. Nördlich der Alpen war es bislang eher Tradition gewesen, sich als Einwohner seines Stammesherzogtums zu sehen, also beispielsweise als Sachse, Schwabe oder Bayer. Unfreie Gefolgsleute machten Karriere, und das nicht als Diener ihres Fürsten, der selbst den Ruhm einsteckte, sondern als Ministeriale des Kaisers und Königs von Deutschland. Also waren sie nicht mehr in erster Linie Sachsen, Schwaben oder Bayern, sondern Deutsche… und als solche hatten sie gerade Sizilien erobert, und damit sogar dem ach so allmächtigen Papst die Stirn geboten!

„Das deutsche Volk soll seinen Tod in Ewigkeit beklagen, denn er hat es herrlich gemacht,“ beklagt der Chronist Otto von Sankt Blasien folgerichtig das frühe Dahinscheiden von Rotbarts Sohn, „Hätte er länger gelebt, das Kaiserreich wäre durch seine Mannhaftigkeit und Geisteskraft im Schmuck der alten Würde wiedererblüht.“

Ein Nachruf, wie er auch für die beiden Friedriche gepaßt hätte, die gleichfalls vor Erreichen eines wichtigen Zieles verblichen waren (der eine beim Antritt des Dritten Kreuzzugs, der andere kurz vor dem Triumph über den Papst)! Er macht aber auch deutlich, daß es mal eine „alte Würde“ gegeben hat, die Heinrich nicht zurückzubringen vermocht hat.

Für den Menschen von heute klingen andere Worte dieses Chronisten schon regelrecht gruselig: „Seinen Hingang mögen die Deutschen in Ewigkeit beklagen, denn er hat sie erhoben durch die Schätze der anderen Länder, hat ihren Namen mit dem Schwert in das Gedächtnis der Völker eingegraben, hat bewiesen, wie überlegen sie allen anderen sind.“

Wir haben die Verirrungen des Nationalismus und die Schrecken des Nationalsozialismus noch im Gedächtnis; insofern können wir recht dankbar dafür sein, daß sich Ottos Wünsche nicht erfüllt haben.

Das Andenken an Barbarossas Nachfolger wurde schon bald überschattet von dem darauffolgenden Bürgerkrieg und den Taten seines Sohnes Friedrich II., doch so ganz in Vergessenheit geriet er noch nicht. Im 14. Jahrhundert etwa ziert sein Abbild die Anfangsseiten der Liederhandschriften von Heidelberg (Codex Manesse) und Weingarten (Weingartner Liederhandschrift), quasi als Idealbild eines Ritters. Und natürlich enthalten diese Kompilationen auch die Verse, die ihm zugeschrieben werden.

Das Bild Heinrichs als hochintelligenter, aber rücksichtsloser Gewaltherrscher mit Hunger auf die Welt als Ganzes ist schon von einigen seiner politischen Gegner (so dem byzantinischen Chronisten Niketas Choniates) beschworen worden. Als wissenschaftlich relevante Charakterisierung aber ist es vor allem ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Das mag zum Teil daran liegen, daß bei der Beurteilung seiner Taten weniger auf die ursächlichen Umstände geguckt, als auf ein vermeintlich böses Wesen des Potentaten geschlossen wurde.

Der moderne Autor Siegfried Fischer- Fabian nennt in seinem Literaturverzeichnis neben Otto von Sankt Blasien und (für Heinrichs Beiträge zum Minnesang) Günther Jungbluth allein Theodor Toeche als Quelle, der jedoch seine Abhandlung über Heinrich VI. bereits 1867 publiziert hat. Im Text zitiert der Schriftsteller aus der Gegenwart dann auch noch den Dichter Christian Dietrich Grabbe, der 1836 das Zeitliche gesegnet hat. Entsprechend steht sein Buch dann auch in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Fischer- Fabian ist ein populärwissenschaftlicher Schriftsteller, dem man durchaus verkaufsfördernde Verzerrungen unterstellen könnte. Ihm ist sehr daran gelegen, Heinrich VI. zu einer deutschen Version von Shakespeares Richard III. hochzustilisieren, quasi zu einer Art machtgierigen James Bond- Bösewicht des Hochmittelalters. Davon bleibt bei Licht betrachtet allerdings nicht viel mehr übrig, als daß wir es mit einem Potentaten aus den Dark Ages zu tun haben, der wie seine kontemporären Standesgenossen mehr Wert auf den Besitz seines Geschlechtes gelegt hat, als auf Menschenleben. Tatsächlich entspricht Heinrichs Tun inklusive all der pragmatischen Grausamkeiten dem Handeln anderer Potentaten des Mittelalters in ähnlichen Situationen, so daß er nicht als Bösewicht hervorsticht. Letzten Endes müssen wir uns eingestehen, daß nahezu jeder der ach so edlen Heroen der Ritterzeit seine dunklen Seiten gehabt hat. Barbarossa hat Mailand und Crema niedergebrannt, Papst Clemens III. die römische Nachbarstadt Tusculum, Löwenherz ließ 3.000 kriegsgefangene Muslime hinrichten, Sultan Saladin sämtliche Templer und Hospitaliter Jerusalems, seine allerchristlichste Majestät Philipp II. August lebte vier Jahre in Bigamie und Roger II. von Sizilien hielt sich sogar einen Harem. Was vom heutigen Standpunkt aus grausam oder verwerflich anmutet, galt den Zeitgenossen nur dann als verdammenswert, wenn es vom politischen Gegner begangen worden war. Der Herrscher, der sich keine Feinde machte, war auch derjenige, der samt seiner Nachfahren zum Untergang verurteilt war, weil sich alles und jeder bei ihm bediente.

Heinrich VI. die Weltherrschaftsphantasien eines James- Bond- Schurken zu unterstellen, ist bei Licht betrachtet also kaum zu begründen. Daß ihm die Almohaden in Spanien und Nordafrika Tribut zahlen wollten, hatte möglicherweise auch mit den Kreuzzugsvorbereitungen zu tun, denn die Eroberung der ihnen gehörenden Stadt Silve machte ihnen klar, daß ein Heer des vereinigten christlichen Abendlandes nicht unbedingt immer Jerusalem zum Ziel haben mußte. Armenien hatte sich gerade aus der Abhängigkeit des Kreuzfahrerstaats Antiochien gelöst, und tat gut daran, sich einen nominellen Schutzherren zu suchen, mit dem sich die abgeschüttelten Machthaber von Einst lieber nicht anlegten. Zypern war auf das eigenmächtige Betreiben des damaligen Reichsfeindes Richard Löwenherz in die Hände der Templer geraten, so das es ebenfalls einen triftigen Grund hatten, sich Heinrich und seinen Truppen zu unterstellen. Dessen Drohungen gegenüber Byzanz schließlich geschahen in der Absicht, Tribute und eine Transportflotte zu erpressen. In diesem Zusammenhang muß man auch den Anspruch auf jenen Teil Griechenlands sehen, der sich gerade mal für ziemlich kurze Zeit in normannischer Hand befunden hatte; es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß er tatsächlich beabsichtigt hätte, mit „wahnartigen Vorstellungen staufischer Weltherrschaft… das seit dem Jahre 395 in Ostrom und Westrom geteilte Imperium Romanum wieder zu vereinen mit einem – deutschen! – Cäsar an der Spitze“, was ihm nach Fischer- Fabian „die Vernunft zerschmolz“. Wenn all dies herangezogen wird, um Heinrich VI. ein wahnhaftes Allmachtsstreben zu unterstellen, müßte man dies auch für Friedrich I. Barbarossa und erst recht für Richard I. Löwenherz annehmen (so wie für manch anderen Kreuzzugsanführer). Daß sich die Heilig- Römischen Kaiser als Nachfolger der (West-) Römischen Cäsaren gesehen haben, geschah im übrigen nicht aus Größenwahn, sondern im Geiste der Translatio Imperii, die aus religiösen Gründen einen Fortbestand des (West-) Römischen Imperiums verlangte (Nach den Prophezeiungen des Propheten Daniel sollte auf dessen endgültigen Untergang die Apokalypse folgen).

Insofern haben wir es bei Rotbarts Sprößling mit einer Herrschaft zu tun, die auf Recht und Ordnung fußt, aber auf das jeweilige Problem zugeschnittene Auslegungen erlaubt. Gewaltherrschaft ist etwas anderes. Jericke deutet seine Politik als „staatsmännische Diplomatie“ und meint sogar: „Aber noch viel seltener übertraf ein Nachfolger seine Vorgänger in seiner politischen Kunstfertigkeit in einem solchen Maße wie es dieser Kaiser tat, der zu Unrecht im Schatten des eigenen Vaters und Sohnes steht.“

Was aber führte denn nun zur sogenannten „Stauferherrlichkeit“? Nun, es sind Ereignisse, die eigentlich gar nichts mit dem Herrschergeschlecht zu tun haben, nach dem sie benannt worden sind. Tatsächlich ist gar nicht bekannt, wie sich die Familienmitglieder selbst bezeichnet haben; die Bezeichnung Staufer (nach dem Berg Hohenstaufen bei Göppingen, auf dem die gleichnamige Stammburg steht) wurde erst von Historikern des 15. Jahrhunderts eingeführt. Die als Kampfruf verwendete Bezeichnung Waiblinger scheint da zeitgenössischer zu sein, ist ihre italienische Variante Ghibelline doch schon für das Jahr 1215 bezeugt.

Auf jedem Fall war dieses adelige Haus nicht nur mit Größe und Gloria verknüpft, sondern auch mit einem romantisch- dramatischen Untergang, der im tragischen Schicksal des idealistischen, sechzehnjährigen Teenagers Konradin mündet. Es läßt sich durchaus als Allegorie für das Heilig Römische Reich selbst auslegen, denn mit diesem einstmals mächtigsten Imperium des Abendlandes ging es von nun an bergab. Es erwies sich zunehmend als bequemer Selbstbedienungsladen, an dem sich die Nachbarn von Frankreich bis Schweden immer wieder gern bedienten. Hungersnöte, Seuchen und schließlich die kleine Eiszeit begleiteten den Fall, während die Fürsten immer wichtiger, und die Könige und Kaiser zunehmend bedeutungsloser wurden. Schließlich traten Teilstaaten wie Österreich und Preußen an die Stelle des zersplitterten, zusammengeschrumpften und belanglos gewordenen Imperiums, das anno 1806 in den napoleonischen Kriegen endgültig zu bestehen aufhörte. Doch wo sich die Fürsten mit ihrer eigenen Wichtigkeit abgefunden hatten, da unterschätzten sie den Nationalstolz des einfachen Volkes. Die Franzosen hatten ihre Grande Nation, die Briten ihr Empire und selbst die Niederländer fühlten sich nach den Befreiungskriegen gegen die Spanier als Einheit – In der Mitte Europas dagegen konkurrierten eine Reihe protziger, aber belangloser Kleinstaaten miteinander, von denen keiner ein ganzes Volk repräsentierte. Wo persönliche Größe manchen Schichten verwehrt blieb, da eignete sich die Sehnsucht nach nationaler Größe immer wieder gern als Ersatz. Es war im Grunde genommen der Trotz derjenigen, die von den letztendlichen Gewinnern der Napoleonischen Kriege um ihren Patriotismus betrogen worden waren. Kurz gesagt: Große Teile der Deutschen wollten auf etwas stolz sein. Ein Landgraf von Hessen- Homburg oder ein Großherzog von Mecklenburg- Strelitz eigneten sich dazu aber eben nicht so sehr, als vermeintlich große Herrscher aus einer vermeintlich großen Vergangenheit. Dies in alle Einzelheiten zu schildern, würde einen eigenen Aufsatz erfordern, doch wußte Bismarck diesen ganz spezifischen Minderwertigkeitskomplex zu nutzen, um das zweite deutsche Kaiserreich aus der Wiege zu heben, unter Preußens Führung und mit explizitem Bezug auf das erste, das römisch- deutsche Reich. Und plötzlich war da etwas in der Mitte Europas, das nicht nur La Grande Nation, Dänemark und den eigenen Ableger Österreich in die Schranken wies, sondern mit Wilhelm II. auch noch eine große Klappe bekam und Ansprüche auf einen „Platz an der Sonne“ anmeldete. Das aktiv Kolonien annektierte, die sich eigentlich andere gewünscht hatten (was freilich die Wünsche der Eingeborenen gewesen sind, interessierte die beteiligten Groß- und Mittelmächte nicht wirklich). Eine Nation mit solchen weit ausgreifenden Ansprüchen brauchte natürlich auch eine entsprechende Tradition, wollte sie nicht auf ewig als Parvenu dastehen. Arminius wurde als Hermann, der Cherusker genauso bemüht wie Friedrich II. von Hohenzollern oder Martin Luther, um dem Staat, den man im Krieg gegen Frankreich 1870/ 1871 aus der Taufe gehoben hatte, eine Geschichte, und damit eine Legitimation zu geben. Dazu gehörten natürlich auch die Staufer, in deren Tradition man die neuen deutschen Monarchen setzte. Daß der historische Schriftsteller Felix Dahn dem weißbärtigen Kaiser Wilhelm I. mit dem Spitznamen Barbablanca belegte, ist da eine eher lustige Anekdote. Auch das Kyffhäuserdenkmal wurde in dieser Ära errichtet.

Diese übersteigerte Selbstverliebtheit war allerdings kein speziell deutsches Gefühl; vielmehr ließen sich sämtliche führenden Nationen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dazu verleiten, sei es nun Belgien oder Japan. Man möge sich diesbezüglich nur den Beginn der „inoffiziellen Nationalhymne Großbritanniens“ ins Gedächtnis rufen: „Rule Britannia! Britannia rule the waves!“ Und wo der Chauvinismus des einen Staates kritisiert wurde, geschah es in der Regel vornehmlich deswegen, weil er dem eigenen Chauvinismus im Wege stand. Die größten Kritiker der Elche sind bekanntlich selber welche – Auch noch in der Gegenwart! Wer mir nicht glauben möchte, daß solche Selbstgerechtigkeiten auch heute noch zum Tragen kommen, dem empfehle ich als besonders abschreckendes Beispiel den Film Der Wind und der Löwe mit Sean Connery: Dessen Botschaft ist im Wesentlichen, daß man alles darf, wenn man nur US- Amerikaner (oder ein süßer Jerry Maus) ist. Dabei werden geschichtliche Fakten zugunsten tumben Säbelrasselns und nationalistischer Prahlerei verkehrt, obwohl die zugrundeliegende historische Begebenheit alles andere als rühmlich für die Vereinigten Staaten gewesen ist. Aber was zählen schon historische Tatsachen, wenn man die Selbstgerechtigkeit auf seiner Seite weiß?

Die Eigenmächtigkeiten eines Donald Trump seien da gar nicht erst berücksichtigt, der unter dem Motto „America first!“ Schutzmasken stehlen läßt, und Unternehmen zu bestechen sucht, Medikamente exklusiv für seine Landsleute zu produzieren.

Dabei hätte das Dritte Reich eigentlich jedem lehren müssen, zu welchen Verirrungen und Unmenschlichkeiten es führen kann, sich und die seinen zu überhöhen. Denn für uns ist leider nur zu oft identisch mit gegen die anderen. Und wo von Patriotismus die Rede ist, muß man sorgsam ein Auge darauf haben, ob damit ein Gefühl des Heimwehs beschrieben wird (individuell oder kollektiv), oder nur egoistischer Nationalismus kaschiert werden soll.

Ja, es hat sie gegeben, die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, das aus dem Ostfränkischen Reich hervorgegangen ist, und später einmal den Zusatz Deutscher Nation getragen hat. Und ja, aus ihm sind sowohl mächtige Herrscher, als auch große Dichter und Denker hervorgegangen… wie bei so vielen anderen Staaten auch. Welche Bedeutung hat es jedoch für die Gegenwart?

Ja, natürlich ist derjenige, der aus den Fehlern der Vergangenheit nicht lernt, dazu verurteilt, sie zu wiederholen ! Aber ist das Wissen um das Vergangene auch ein Grund, sich selbst für das Geschehene auf die Schulter zu klopfen?

Wer jetzt die dreizehn Jahre Tausendjähriges Reich auf einen „Vogelschiß“ in der glorreichen Deutschen Geschichte reduzieren möchte, der muß sich belehren lassen, daß sie so glorreich nicht gewesen ist. Diese Vorstellung entstammt vielmehr der Verklärung, die während des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat. Nationalstolz erwuchs in Zeiten, in denen es keine Nation gab, um letzten Endes nicht die eigene kulturelle Identität zu verlieren.

Heute haben wir ein Land, das man meinetwegen auch „Vaterland“ nennen mag. Und seine Existenz ist auch nicht bedroht, weder durch „links- grün- versiffte Alt- Achtundsechziger“, noch durch Migranten von außen. Aber ist dies ein Grund, sich auf sein Bestehen etwas einzubilden? Stolz kann man eigentlich nur auf Dinge sein, die man selbst oder in Kooperation mit anderen erreicht hat. Insofern kann man durchaus mit Wertschätzung darauf blicken, welchen Beitrag man mit seiner Arbeit, seinem Engagement, seinem Wahlzettel oder seinen Steuergeldern zum Gemeinwesen geleistet hat. Auf die Leistungen von „Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck“ stolz zu sein, ist freilich genauso albern, wie auf den ersten Landgang eines Fisches aus der Verwandtschaft von Tiktaalik roseae stolz zu sein. Warum einen Gutenberg und einen Goethe preisen, aber nicht Bi Sheng oder Giovanni Bocaccio? Warum gibt es keine Dokumentation über die Entwicklung des Computers, in der Charles Babbage und Konrad Zuse Erwähnung finden? Schließlich mag das kulturelle Umfeld zwar die eine oder andere Leistung begünstigen, aber es sind immer noch die Menschen selbst (gleich ob Genies, Arbeitstiere oder funktionierende Teams), welche die herausragenden Leistungen erbringen, die anschließend gefeiert werden. Ein Albert Einstein, der in Deutschland geboren wurde, in der Schweiz die spezielle Relativitätstheorie entwickelte und in die Vereinigten Staaten emigrierte, bleibt letzten Endes in erster Linie Albert Einstein. Als Beamter in der Schweiz hätte er letztendlich nicht viel Gehör gefunden, und in Deutschland wäre er im KZ gelandet, aber für seine wissenschaftlichen Leistungen selbst ist es schlußendlich ohne Belang, welcher Nationalität er angehört hat. Nicht Deutschland, nicht die Schweiz und nicht die USA sind auf die Formel e = m • c² gekommen, sondern eben er allein.

Er darf darauf wahrhaftig stolz sein. Ich jedoch nicht, und Alexander Gauland auch nicht.

Literaturverzeichnis
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MAJOR, John: Historiae majoris Britanniae

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