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Die Bewandtnis mit Atlantis: 2. Die historische Quellenlage - Scheria und Atalante

Die Bewandtnis mit Atlantis2. Die historische Quellenlage
Scheria und Atalante:
Die unbekannte Vorgeschichte von einer großen Legende

Man sollte meinen, der Untergang einer solchen Hochkultur hätte auch vorher schon die Sagenwelt beschäftigt. Schließlich sollen die Quellen ja ägyptischen Ursprungs sein. Christoph Wagenseil führt an, daß das Wort „Atlantis“ auch eine altägyptische Bedeutung habe, nämlich „Insel ohne Namen“.

 

Ärgerlicherweise sind die Belege in dieser Hinsicht arg dürftig. Was aus der Antike bis in unsere Tage überdauert hat, hat dies den Byzantinern und Arabern, oder aber den Mönchen des Mittelalters zu verdanken, die alte Texte von zerfallenden Pergamenten kopierten, und somit retteten. Freilich wurde hier stets eine Auswahl getroffen, insbesondere nach religiös- dogmatischen Kriterien, und auch so manche Verfälschung schlich sich bei der Übertragung ein. Originale aus der Zeit vor Christi Geburt sind bestenfalls noch als zerfallene Bruchstücke erhalten, und manches Werk ist nur deshalb fragmentarisch bekannt, weil ein anderer Autor ganze Abschnitte daraus zitiert hat.

Nun geht es aber um die Ägypter, und dazu um einen Mythos, der schon alt gewesen sein soll, als ihre Kultur noch jung war. In dem es um ein fremdes Imperium und das Heldentum eines Ur- Athens geht, also um nichts, was man zur Verherrlichung von Kult oder Pharao an die Wände der Tempel pinselt. Wie wahrscheinlich ist es angesichts dieser Umstände, daß sich zu diesem Thema noch Dokumente finden lassen?

Nun, tatsächlich ist ein Papyrus aus der Zeit des Mittleren Reiches (ca. 2000 – 1750 v. Chr.) erhalten geblieben (heute verwahrt in Sankt Petersburg), in dem ein Seefahrer von einer „Insel ohne Namen“ erzählt, auf der ein Geschlecht prächtiger Drachen von einem fallenden Stern ausgelöscht wurde. Freilich wird das Ganze im Süden lokalisiert, in direkter Beziehung zum verklärten Land Punt, und von einer stolzen Hochkultur ist an keiner Stelle die Rede.

Ansonsten gibt es eine Reihe von Sintflutlegenden, aber die sind quer über den ganzen Globus verteilt, und in den seltensten Fällen mit einem Eiland verknüpft. Hier ist man wohl besser beraten, die Ursachen in lokalen Katastrophen oder nacheiszeitlichen Überschwemmungen zu suchen.

Homer (bzw. sein Nachfolger) schreibt in der Odyssee über Scheria, dem Land der Phäaken. Es genoß ein angenehmes Klima, die Palastmauern waren mit Bronze überzogen und der Tempel des Poseidon war weithin sichtbar. Auch sollte seine Flotte recht märchenhaft gewesen sein, und die Schiffe durch „Gedankenkraft“ angetrieben werden. Es war weit genug von Griechenland entfernt gewesen, daß man weder in den Trojanischen Krieg verwickelt worden war, noch jemals von dem ruhmreichen Odysseus, König der Kephallenier, gehört hatte. Dann aber wiederum soll es nahe genug gelegen haben, daß dort Dichter über das Schicksal Ilions zu singen wußten, und das in einer Sprache, die Odysseus verstand. Plutarch und Strabo haben vermutet, daß Scheria im Atlantik gelegen habe, so daß es schon bald mit Atlantis in Verbindung gebracht wurde. Allerdings lebten die beiden Historiker lange nach Plato, so daß er von ihren Überlegungen nichts hätte wissen können. Und daß tatsächlich eine Landmasse westlich von Gibraltar als Vorbild gedient hat, ist eher unwahrscheinlich, denn nach all den langen Seefahrten ist Scheria die letzte Station des Helden, bevor er nach Ithaka heimkehrt.

In der Odyssee wurde aber noch ein weiteres Eiland erwähnt, regiert von einer Tochter des Atlas. Es wird allerdings als „waldumschattet“ und menschenleer beschrieben, ganz anders als Platos dicht bevölkertes Atlantis.

Immerhin ist hier aber schon der Riese Atlas mit einer fernen Insel verknüpft worden. Was hat er eigentlich mit der ganzen Geschichte zu tun? Der griechischen Mythologie zufolge kämpfte er auf Seiten der Titanen, zu denen auch sein Vater Iapetos gehörte, gegen die Götter. Darum verdammte Zeus ihn, bis ans Ende aller Tage das Himmelsgewölbe auf den Schultern zu tragen. Die Last hinderte ihn freilich nicht daran, mit zwei Frauen eine Reihe von Kindern zu zeugen. In der Herakles- Sage um die Äpfel der Hesperiden wird er mit einem Berg im äußersten Westen der Welt in Verbindung gebracht (Hesperum war der Name des Abendsterns). Perseus schließlich macht ihn (jetzt als sehr groß gewachsener König von Mauretanien beschrieben) selbst zum Berg, indem er ihn mit dem Haupt der Medusa versteinert.

Außerdem kennt die böotische Sage auch noch eine „Atalante“ (was die weibliche Form von Atlas ist), aber die scheint auf die Atlantis- Legende keinerlei Einfluß gehabt zu haben. Bei ihr handelt es sich um eine von einer Bärin aufgezogene Jägerin, die einer frühen Brunhilde gleich nur denjenigen heiraten will, der sie im Wettrennen besiegt. Einer Legende nach war sie auch auf der Fahrt der Argo mit dabei, bei der es ins Schwarze Meer ging.

Aber nicht nur die Sagen beschäftigen sich mit einem Berg Atlas im Westen der damals bekannten Welt. Ja, selbst der Name „Atlantis“ ist keine Erfindung Platos. Denn die Pioniere der Geschichtsschreibung, Herodot und Thukydides, haben alle beide etwas zu dem Thema beizutragen, das so manches Detail der Legende erklären könnte.

Herodot (490/ 480 – um 425 v. Chr.) war der Frühere. Nach eigener Aussage hat er ausgedehnte Reisen unternommen, doch nicht jedes Volk und jede Region, die er behandelt, hat er aus eigener Anschauung gekannt. Viele seiner Informationen beruhen auch auf bloßem Hörensagen, und das ist wohl mit ein Grund dafür, warum sein Werk durchsetzt ist mit Mythen, göttlichem Eingreifen, Übertreibungen und frei Erfundenem. Unter den Völkern, die er beschreibt, sind auch die „Atalanten“, und sie lebten sogar im äußersten Westen der damals bekannten Welt. Laut seiner Schilderung war es bei ihnen unüblich, sich Namen zu geben. Sie würden auch keine lebenden Wesen essen, und ihr Schlaf wäre stets traumlos. Wenn die Sonne zu heiß scheint, würden sie Verwünschungen in ihre Richtung ausstoßen. Sie lebten in Salzhütten, da Niederschläge dort unbekannt waren, und siedelten an einem Salzhügel mit Quelle, an den das Atlas- Gebirge grenzte. Letzteres wäre steil, kreisförmig im Umriß und so hoch, daß man seinen Gipfel vor lauter Wolken nie zu Gesicht bekäme. Die Atalanten behaupteten, es würde den Himmel selbst stützen, und sie wären nach ihm benannt.

Man mag sich denken, daß der Nordwesten Afrikas nicht zu den Regionen gehört, die Herodot persönlich bereist hat. Aber aller offenkundigen Phantasie zum Trotz präsentiert er uns weder die stolzen Bewohner eines mächtigen Archipels, noch deren Nachfahren: Es sind einfach nur die Eingeborenen des Atlas- Gebirges (oder der Ahaggar- Berge, wenn man Thorwald C. Franke folgen möchte).

Ergänzend sei angefügt, daß es in seinen Werken auch noch einen Fluß namens „Atlas“ gibt, der zusammen mit zwei weiteren „großen Flüssen“ (Auras und Tibisis) von den „Höhen des Haimos“ nach Norden fließt. Er lag jedoch nicht westlich von Gibraltar, sondern nordöstlich von Griechenland, und es ist auch nirgends die Rede davon, daß er auf einer Insel oder durch eine Ebene hindurch verlaufen würde.

Thukydides (460 – nach 400 v. Chr.), der sich sehr um die Realität bemüht, beschreibt eine Flutkatastrophe auf Euboea, und erwähnt dabei mehr am Rande, daß sich eine andere Überschwemmung „in der Nachbarschaft von Atalante, einer Insel vor der Küste von Ost- Lokrien“ ereignet hätte.

Lokrien lag und liegt in der Mitte Griechenlands. Und das erwähnte Atalante ist nicht etwa für alle Zeiten im Meer versunken: Das Eiland dieses Namens liegt immer noch in seiner Bucht, und der Ort Atalanti hat sich zur Provinzhauptstadt gemausert.

Das Selbe läßt sich jedoch nicht von Helike sagen. Ich meine damit nicht den gleichnamigen Ort in Hispanien, vor dem der karthagische Feldherr Hamilkar Barkas sein Leben verloren hat, sondern die alte ionische Kultstadt an der Küste Achaias. Im Jahre 373 v. Chr., also zu Platos Lebzeiten, ist sie in nur einer Nacht von einem Erdbeben zerstört, und für alle Zeit überspült worden. Gerade mal die Baumwipfel vom heiligen Hain Poseidon- Tempels sollen noch aus den Fluten geragt haben. Nun war Helike kein Atlantis, aber ihr Untergang mag als Vorbild gedient haben für jemanden, der über das Unglück Atalantes schreiben wollte.

Schon in meinem Aufsatz zum Trojanischen Krieg habe ich angemerkt, daß einen das Gleichsetzen von Namen arg aufs Glatteis führen kann. Darum führe ich als Beispiel nur die Veneti an, bei denen es sich um bretonische Kelten, um nahe Verwandte der Illyrer, oder aber um frühe Slawen handeln kann. Also muß auch Atalante nicht unbedingt gleich Atalante sein.

Doch sollte Plato wirklich den Fehler begangen haben, eine lokrische Insel mit einem gleichnamigen Land im fernen Westen durcheinander zu bringen? Er kannte Lokrien, genauso wie seine Zuhörer. Schließlich stammte eine der Hauptfiguren der Atlantis- Dialoge, Timaios, aus einer lokrischen Kolonie in Unteritalien. Und was da vor der Küste überspült worden war, war weder „größer als Asien und Libyen zusammen“ gewesen, noch das Zentrum eines mächtigen Königreichs. Ja, dadurch, daß er sein vorgeschichtliches Imperium „Atlantis“ nannte, ging er sogar das Risiko ein, daß man es mit dem lokrischen Atalante (oder gar Helike) gleichsetzte, und ihn damit dem Gespött preisgab.

Diese Annahme setzt freilich voraus, daß er die besagte Passage vollständig gekannt hat. Es ist aber genauso gut möglich, daß ihm die Erwähnung Lokriens entgangen ist, oder aber er aus anderer Quelle die unvollständige Geschichte erfahren hat, beispielsweise von seinem Onkel Kritias oder seinem Lehrer Sokrates. Dann nämlich wäre es nur wahrscheinlich, daß er die Berichte von der „versunkenen Insel Atalante“ mit Herodots Land im fernen Westen in Verbindung brachte. Denn daß er Herodot gelesen hatte, ist schon deutlich daran zu erkennen, daß er bei seiner Schilderung von Atlantis hier und da dessen Stil imitiert.

Und genau hier liegen Hund und Hase im Pfeffer begraben: Plato läßt die Sage in der Timaios von Kritias erzählen, der sie wiederum von einem älteren Namensvetter hat, der sie von Dropides kennt, dem sie von Solon unterbreitet worden ist, der sie wiederum von einem Priester aus der ägyptischen Stadt Saïs weiß. Mit anderen Worten: Der Philosoph kennt die Legende nach eigenem Bekunden nur aus mindestens sechster Hand! Das erinnert sehr an die berühmten Geschichten, die ein Bekannter des Schwagers eines Arbeitskollegen erlebt haben soll. Meist sind die Fakten dabei entstellt, und so manches Detail stammt eher vom Cousin des Vetters, als vom Vetter selbst.

Und in der Kritias dann fällt dieser Dropides auch noch weg. Stattdessen soll Platos Onkel nun als Zehnjähriger in einem Gedicht des eigentlich gar nicht als Poet bekannten Solon gelesen haben, aber seltsamerweise später nie wieder.

So verwundert es auch nicht, daß Platos Bericht unter seinen Zeitgenossen auf ein geteiltes Echo gestoßen ist. Selbst sein Schüler Aristoteles nannte ihn einen „Mythos“.

Da hätte man eigentlich meinen sollen, Plato hätte jede Doktrin seiner Ära befolgen müssen, um seinen Schriften die größtmögliche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Doch stattdessen bricht er sogar mit der religiösen Überlieferung. Sein Atlas ist Sohn Poseidons und König von Atlantis, und kein Himmelsträger und Nachkomme des Titanen Iapetos. Hat er da nicht sogar eine ähnliche Anklage riskiert, wie sie seinem Lehrer Sokrates zum Verhängnis geworden ist?

Nun kannten die Griechen keine heiligen Schriften, so wie es zum Beispiel im Nahen Osten der Fall gewesen ist. Zwar beschäftigten sich gleich ihre ersten großen Dichter, Homer und Hesiod, damit, die Legenden über die Götter und Halbgötter festzuhalten, doch waren sie ohne dogmatische Funktion. Die großen Tragödiendichter des fünften vorchristlichen Jahrhunderts hatten keinerlei Hemmungen, den Stoff den Erfordernissen ihrer eigenen Werke anzupassen, und sie wurden deswegen nicht angegriffen. Ja, das Theaterspiel galt sogar als religiöse Handlung, so daß die eigenmächtigen Änderungen damit gleichsam sanktioniert wurden.

Schließlich darf man auch nicht vergessen, daß wir uns aller Leistungen der Griechen zum Trotz immer noch 1800 Jahre vor der Erfindung des Buchdruckes befinden (bzw. 1500 Jahre, wenn man die Chinesen aus der Zeit der südlichen Sung- Dynastie mit berücksichtigt). Die gelehrten Schriften, die in dieser Zeit entstanden und mit Eifer zitiert und kopiert worden sind, waren längst nicht jedermann zugänglich. Die meisten Menschen waren gar nicht in der Lage, den Wahrheitsgehalt einer Geschichte zu überprüfen. Ja, sie waren sogar auf die Sänger, Erzähler und Schauspieler angewiesen, die ihnen die Welt der Mythen nahe brachte.

Doch wo man bei den inhaltlichen Details schon mal Fünfe gerade sein ließ, da war man in Fragen des Kultes weniger gnädig. Hier ist auf Termine und Vorschriften um so genauer geachtet worden. Dabei sind Abstammungslinien von eher untergeordneter Bedeutung. Tatsächlich sind die Stammbäume der einzelnen Gottheiten von Region zu Region unterschiedlich. Erst recht zu Abweichungen kam es, wenn die Sagen anderer Völker mit Hilfe der interpretatio graeca auf hellenische Verhältnisse übertragen wurden. In diesem Kontext hat Plato wohl nicht mit Repressalien rechnen müssen, als er Atlas zum Sohn des Meeresgottes Poseidon gemacht hat.

Nichtsdestotrotz ist er damit von der bisher verbreiteten Ansicht abgewichen. Mag man ihn deswegen auch nicht der Häresie bezichtigt haben, er riskierte es doch, für einen Lügner gehalten zu werden. Er brauchte also mindestens einen lokalen oder ausländischen Kult, auf den er sich berufen, und für den er Zeugen nennen konnte. Er hat den Priester in Saïs angeführt, und in der Umgebung von Saïs siedelten schon seit drei Jahrhunderten Griechen – Selbst, wenn diese die Variante mit Poseidon nicht kannten, hätten sie sie jederzeit im Tempel überprüfen können. Damit mußte er sich einigermaßen sicher gewesen sein, daß man ihn in dieser Beziehung nicht hat angreifen können. Und tatsächlich ist uns auch keine einzige antike Quelle erhalten geblieben, die ihn in dieser Hinsicht attackiert. Man muß es ihm also abgenommen haben.

Hätte er uns mit der Geschichte um Atlantis eine Lüge auftischen wollen, hätte er sich am besten in allen anderen Einzelheiten an die Orthodoxesten aller Lehrmeinungen gehalten. Aufgrund seiner Familie und seiner Bildung waren sie ihm ja schließlich bekannt. Trotzdem hat er das im Falle der Herkunft des Atlas nicht getan. Man könnte es als Indiz dafür werten, daß er die Sage von Atlantis tatsächlich nicht frei erfunden hat. Ausgeschmückt vielleicht, so wie es auch Herodot mit seinen Berichten getan hat, aber an einen wahren Kern hat er womöglich geglaubt.

 

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